Das Ochsenfurter Männerquartett - Leonhard Frank - E-Book

Das Ochsenfurter Männerquartett E-Book

Leonhard Frank

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Beschreibung

Aus den Lehrjungen der ehemaligen Würzburger Räuberbande sind tüchtige Gastwirte, Gärtner, Lokomotivführer, Lederhändler und Familienväter geworden. Aber die Folgen des Ersten Weltkrieges haben sie um ihre Existenzgrundlage gebracht. Als Männerquartett hoffen sie, sich eine Weile über Wasser halten zu können. Unerwartete Hindernisse sind zu überwinden, ehe sie in Ochsenfurt ihren ersten – und einzigen – Auftritt erleben. Hoffnungsträger sind ihre Kinder Thomas und Hanna, die sich für eine vernünftige und sozial gerechte Weltordnung engagieren. – Leonhard Frank zeigt sich auch in diesem Roman als vorzüglicher Erzähler und Zeitchronist.

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Informationen zum Buch

Aus den Lehrjungen der ehemaligen Würzburger Räuberbande sind tüchtige Gastwirte, Gärtner, Lokomotivführer, Lederhändler und Familienväter geworden. Aber die Folgen des ersten Weltkrieges haben sie um ihre Existenzgrundlage gebracht. Als Männerquartett hoffen sie, sich eine Weile über Wasser halten zu können. Unerwartete Hindernisse sind zu überwinden, ehe sie in Ochsenfurt ihren ersten – und einzigen – Auftritt erleben. Hoffnungsträger sind ihre Kinder Thomas und Hanna, die sich für eine vernünftige und sozial gerechte Weltordnung engagieren. Leonhard Frank zeigt sich auch in diesem Roman als vorzüglicher Erzähler und Zeitchronist.

Leonhard Frank

Das Ochsenfurter Männerquartett

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Über Leonhard Frank

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

I

In Würzburg, wo der Main, die Stadt durchfließend, seinen schönsten Bogen zieht, wo die dreißig patinierten Kirchtürme stadtbeherrschend in den Himmel stoßen und generationenlang sich nichts geändert hat, wo von alters her der Sohn, wenn der Vater starb, die Metzgerei übernahm und führte, bis auch er starb, waren durch den Krieg und seine Folgen Bankguthaben und Sparkassenbücher zu Papier geworden.

Auch Oskar Benommen, der Besitzer der Bäckerei und Weinwirtschaft »Zum Schwarzen Walfisch zu Askalon«, war von den Mehl- und Weinschulden trotz zähester Gegenwehr aus seinem schmalen, verräucherten Goldgrübchen hinausgedrückt worden.

In seiner Jugend hatte er den Athletenverein »Goliath« und den Skatklub »Bargeld lacht« gegründet. Der Durst seiner Freunde, zusammen mit dem der übrigen Stammgäste, die nicht Karten spielten, nicht stemmten und viel tranken, hatte ihm eine sichere Existenz und allmählich steigenden Wohlstand verbürgt.

Dieser zielbewußte Mann, der in seinem Kreise immer die Hauptrolle gespielt und schon als Zwölfjähriger eine Knabenbande angeführt hatte, entschlossen, Würzburg niederzubrennen und nach dem Wilden Westen zu ziehen, wo die Freiheit winkte, stand an einem windigen, naßkalten Märzmorgen des Jahres 1927 auf der Mauer des Festungsgrabens, in dem vor nun fast dreißig Jahren allnächtlich seine Bande am Lagerfeuer versammelt gewesen war, und blickte trüben Sinnes hinunter auf die Stadt.

Seitdem sie ererbtes und erworbenes Vermögen, ihre Existenz und damit auch einen guten Teil der Achtung ihrer noch wohlhabenden Mitbürger verloren hatten, waren Oskar Benommen und seine Schulkameraden wieder öfter den Schloßberg hinaufgestiegen zum Schauplatz ihrer Jugendstreiche und Jugendsehnsucht, in den Festungsgraben, wo niemand war, der sich zuerst überlegen mußte, ob er den Hut ziehen solle.

Unten lag grau die Stadt im feuchten, grauen Dunst. Der Main führte Hochwasser, trüb und grau wie dieser Tag. Über die alte Brücke raste ein Metzgerwagen. Der hohe Gaul scheute und warf die Beine. Der zu leichte Wagen fuhr in Schlangenlinien.

Oskar Benommen wandte sich um zu seinem Jugendfreund auf der Birkenholzbank, die vom Verschönerungsverein gestiftet worden war. »Das Fuhrwerk gehört dem Metzger Fritz. Der hat sich grad noch durchgerappelt. Waren auch schon ungedeckte Wechsel im Umlauf.«

Der Mann auf der Birkenholzbank, der als Junge ein hervorragendes Mitglied der Bande gewesen und später Mitglied des Skatklubs »Bargeld lacht«, des Gesangvereins »Zwischen grünen Bäumen« und Vater dreier Kinder geworden war und schon vor eineinhalb Jahren beim Tode des Chefs seine Stellung als Rechtsanwaltsschreiber verloren hatte, stellte den Mantelkragen hoch, preßte fröstelnd die Arme an sich und sagte: »Hohaho! Da hat die Schwiegermutter Geld gegeben.«

»Du sagst noch hohaho? Bist noch lustig? Du hast, scheint’s, immer noch nicht genug Prügel bekommen vom Leben.«

»Wenn ich nicht hohaho sag, geht’s mir auch nicht besser.«

»Das ist ja richtig. Aber wo du die Laune noch hernimmst, möcht ich wissen.« Ein Windstoß riß ihm den Hut vom Kopfe, hinunter in den Hof des Brauereigebäudes, das am Fuße der Festungsmauer stand, so tief, daß die beiden in den zwanzig Meter hohen Kamin oben hineinsehen konnten.

»Hohaho, Hauptmann! Oh, Oskar, früher wärst du an der Mauer hinuntergekrabbelt; jetzt gehst du schön solide den Berg hinab, klopfst ans Tor und fragst brav, ob du deinen Hut holen darfst. Das ist der Unterschied.«

Oskar, ein willensstarker Mann, seit langem zur Untätigkeit gezwungen und auch heute noch, als Dreiundvierzigjähriger, ehrgeizig wie ein Knabe, hatte nicht wenig Lust, den lebensgefährlichen Abstieg an der zwanzig Meter hohen Mauer zu wagen, rollte jedoch wortlos und verächtlich die wulstigen Negerlippen nach außen und schritt den Schloßberg hinab.

Als er mit seinem Hute wieder zurückkam, saßen neben dem Schreiber noch zwei frühere Mitglieder der Bande fröstelnd auf der Birkenholzbank.

»Jetzt fehlt nur noch Theobald Kletterer«, sagte der Schreiber. »Dann könnten wir ein Quartett singen, hinunter in das schöne Tal.« Sein Lachen klatschte kurz und echolos in die kalte Luft.

Die drei auf der Bank bildeten zusammen mit Theobald Kletterer das stadtbekannte Männerquartett »Zwischen grünen Bäumen«. Auch Oskar war seit fünfzehn Jahren Mitglied, hatte aber bis heute noch nicht gelernt, den Vereinspfiff richtig zu pfeifen. Er war unmusikalisch.

»Also und, ich sag euch, mir ist nicht zum Lachen. Ich weiß oft gar nicht mehr, wo ich die fünfzehn Pfennig für das elende Glas Bier in der Singprobe hernehmen soll. Aber also und, eins mußt du doch manchmal trinken, du mußt, also sonst verreckst du«, sagte Hans Lux.

Er trug einen Vollbart, schwarz wie seine glühend schwarzen Kohlenaugen. Vor einem Jahre, kurz vor seiner Beförderung zum Lokomotivführer erster Klasse, war er abgebaut worden und hatte seither keine Arbeit finden können.

Die dreißig Kirchenglocken läuteten. Die Turmuhren schlugen zwölf. Minuten später war die alte Brücke schwarz von Menschen, die noch Arbeit hatten und zum Essen eilten. Die vier blieben hocken, eng aneinandergepreßt. Sie hatten Zeit.

Georg Manger, dessen Glasauge in reinstem Kobaltblau glänzte – das natürliche war graugrün, aber er liebte Blau –, sagte in merkwürdig frischem Tone: »Ach, so kann’s ja gar nicht mehr lange weitergehen.« Er stellte den Kopf schief wie ein Kanarienvogel und sah nach rechts, obwohl alle drei links von ihm saßen. Seit dem Tode seiner Frau blickte er beim Sprechen immer nach rechts.

»Wenn Falkenauge das sagt, muß es so sein. Daran ist kein Zweifel. Morgen wird dein Nachfolger kommen und zu dir sagen: ›Herr Manger, hier haben Sie Ihre Lederhandlung wieder.‹« Der Schreiber machte eine einladende Handbewegung. »Treten Sie ein, bitte sehr!«

»Laß ihn in Ruh. Es ist keine Kleinigkeit, wenn einer alles verliert«, sagte Oskar, »und gar, wenn einer, wie ich, noch dazu das Haus voll Kinder hat, die fressen wollen!« Er hatte vier Kinder.

Nur Theobald Kletterer, der im Quartett mit viel Takt und Gemüt den zweiten Tenor sang, besaß die ererbte Gärtnerei noch. Warenschulden hatte er nie gehabt, denn Blumen, Laub und Gräser zog er selbst, und Leichenkränze waren auch in diesen schweren Jahren gebraucht worden.

»Also und, es ist kalt.«

»Mit meinem Obsthandel war’s auch nichts«, sagte Falkenauge nach rechts.

»Hundekalt! Also und, ich geh.«

Es war der Schreiber, der den Einfall hatte, ein Feuer zu machen im Festungsgraben.

Drei sammelten alte Zeitungsfetzen und das Fallholz der Haselnußsträucher und Linden und rissen gemeinsam einen langen, dicken, abgestorbenen Ast vom wilden Apfelbaum. Oskar, immer noch der weitaus stärkste von allen, schleppte vier schwere Steinquader herbei, die aus der mürben Mauer gefallen waren, und ordnete sie als Sitzplätze um die Feuerstelle herum. Der Boden war feucht. Am Fuß der Mauer klebten noch die schmutzigen Schneekrusten.

Nach einigen Minuten lohte eine hohe, klare, kaum sichtbare Flamme in das blaukalte Tageslicht.

Der Schreiber verteilte Zigaretten. Rauchend saßen sie um das Lagerfeuer herum.

»Hohaho, die Friedenspfeife? Genau wie früher ...! Und so dumm, wie wir damals waren, sind wir auch heute noch.«

»Laß nur gut sein!« Oskar drehte sich um, denn seine Vorderseite war heiß, der Rücken eisig kalt. »Das wär gar nicht so dumm gewesen, wenn wir Buben damals nach Amerika durchgebrannt wären. Dann hätten wir die ganze Sauerei hier nicht mitmachen müssen und wären sicher besser dran als jetzt.«

»Hohaho, als Büffeljäger!«

»Nein! Aber vielleicht als wohlhabende Geschäftsleute!«

Auch die anderen drehten sich um. Alle saßen mit dem Rücken gegen das Feuer und blickten jeder in eine andere Richtung.

»Also und, es muß etwas geschehen, du mußt doch irgendwie Geld verdienen, wenn du weitermachen willst ... Was meint ihr, daß ich letzthin getan hab? Das ist ja schon das Letzte. Das kann man ja gar nicht erzählen. Weil da in der Zeitung gestanden hat, daß eine ihren Brillantring verloren hat, bin ich rumgelaufen in der Stadt, überall, und hab gesucht. Also und, nicht nur den Ring! Ich hab überhaupt Brillanten gesucht, eine ganze Woche lang. Es wird doch genug verloren! Wo etwas geglänzt hat auf dem Pflaster, bin ich hingestürzt! Aber also und, es war immer nur Spucke.«

»Brillantensucher! Hohaho, auch ein Beruf!«

»No, ich hab versucht, mit Schokolade zu handeln. War auch nicht besser. Einen Laden um den andern, straßauf, straßab, alles hab ich abgeklopft. Kein Mensch kauft«, sagte Oskar. »Dann hab ich’s mit Backstein probiert für den Ziegelgauner in Höchberg. Aber wer baut denn? Genausogut hätt ich die Backsteine in den Schokoladeläden und die Schokolade in den Baubüros anbieten können.«

»Also und, hinten heiß und vorne kalt.« Er drehte sich um. Auch die anderen drehten sich wieder um.

Falkenauge blickte nach rechts.

»No, was denn? Red schon!« ermunterte der Schreiber.

»Mit meiner Vertretung von Gartenmöbeln war’s auch nichts. Die Leut setzen sich, scheint’s, ins Gras heutzutag.« Er drehte den Kopf wieder zum Feuer.

Alle schwiegen. Alle hatten schon alles nur mögliche versucht, ohne Erfolg.

Oskar stocherte im Feuer. »Für euch wüßt ich ja was, für euch drei und für Theobald Kletterer, für das Quartett, mein ich. Mir ist das schon vor einer Woche eingefallen. Es ist zwar ein bißchen verdreht, deswegen hab ich’s ja auch für mich behalten. Aber in der Not ...«

»Wenn er welche hat, hohaho!«

»Laß doch deine Witze! Es ist doch schließlich ernst genug.«

»Also und, was ist es denn?«

»Gott, ich war da letzthin im Varieté, selbstverständlich am Sonntagvormittag, da kostet es doch keinen Eintritt.« Er sprach plötzlich viel schneller, eintönig, mit unnatürlich hoher Stimme, und sah dabei niemand an. »No, und da ist so ein Kunstpfeiferquartett aufgetreten. Die haben gepfiffen, sonst nichts. Hat ja ganz schön geklungen. Aber ich hab mir damals gleich gedacht, das könntet ihr auch ... Natürlich Gesang!«

Schon als das Wort »Varieté« gefallen war, hatte der Schreiber die Hand unauffällig zum Mund gehoben. Jetzt preßte er sie mit aller Kraft darauf. Die Augen quollen aus den Höhlen.

»Dir ist alles zum Lachen! Wenn du was Besseres weißt, mir kann’s recht sein. Ich hätt ja sowieso nichts davon, ich gehör ja nicht zu eurem Quartett.« Auch er lächelte. Aber dabei bebte seine Oberlippe mit dem stachligen Schnurrbart, der genauso fahlbleich war wie sein Gesicht, kaum zu unterscheiden von der Haut.

»Es ist doch einfach eine Tatsache, daß die Leut, wenn sie auch nichts zu fressen haben, immer noch zu den Vergnügungen laufen.«

Der Schreiber ließ die Hand fallen. Sein Gesicht war noch rot. »Das wär mir auch noch ein Vergnügen, unsern Gesang anzuhören!«

Falkenauge blickte blitzschnell nach rechts, wieder zum Feuer und wieder nach rechts: »Es fragt sich, ob sich das überhaupt mit der Ehre des Vereins verträgt, daß wir für Geld auftreten.«

Das Feuer war abgebrannt. Nur an den Rändern flackerte hin und wieder ein kleiner Zweig auf. Vereinzelte große Regentropfen versanken zischend in der glühenden Asche. Falkenauge erhob sich und sammelte neues Brennmaterial.

»Theobald Kletterer macht vielleicht gar nicht mit. Der hat’s ja nicht nötig«, sagte der Schreiber. »Weißt du, im Vereinslokal zu singen, das laß ich mir gefallen. Aber wenn einer seine dreißig Pfennig Eintrittsgeld bezahlt, dann will er auch dafür was haben. Das wissen wir doch von uns. Wir machen ja auch Krach, wenn’s nichts ist.«

Oskar sprach immer noch unnatürlich hoch und ohne jemand anzusehen: »No, ich sag dir, die Kunstpfeifer waren auch nicht besser.«

»Und dann mußt du dir auch vergegenwärtigen, wie wir mit Falkenauge da droben stehen auf der Bühne. Er glotzt doch immer nach rechts, auch beim Singen. Und sein himmelblaues Aug ...! In Würzburg tret ich einmal nicht auf.«

»Es gibt doch noch mehr Städte auf der Welt ... Das muß eben organisiert werden. Von einer Stadt in die andere.«

»Ah, so meinst du das! So richtig! Nicht nur da bei uns ... Dann müßtest du unser Impresario sein. Da wären wir wenigstens so ziemlich sicher, daß wir, hohaho, keine Prügel bekommen!«

Falkenauge kam mit einem Arm voll Reisig und einigen dicken Ästen zurück. Es rauchte, es knisterte, leckte. Und flammte auf. Sie beugten die Oberkörper zurück.

»Dann sollen sie uns eben ausschließen, wenn’s die Vereinsehre nicht verträgt.« Das hatte er sich während des Holzsammelns überlegt.

Oskar fühlte, daß sein Plan schon etwas Anklang fand, und sah jetzt nicht mehr in die Luft. »Ihr müßt natürlich tadellos elegant angezogen sein. Ihr müßt euch vier Fräck machen lassen. Weiße Binde und auch Lackschuh! Weiße Weste!«

»Und wer soll das bezahlen?«

»Leinenanzüge wären billiger. Also und, ich hab von meiner Ziehmutter noch Leinen in der Schublade. Prachtvolles weißes Leinen!«

»Warum nicht im Trikot?« fragte der Schreiber in falschem Ernst und wurde schon kirschrot. »Stellt euch das vor: wir vier auf der Bühne, Männerquartett in rosa Trikot!« Zuerst kam ein abgehacktes »Ha!« Er hatte schon keine Luft mehr. Dann kam tief aus der Brust herauf ein krachendes, stürmisches, befreiendes Gelächter, das alle mitriß.

Hans Lux, der Lokomotivführer, erholte sich zuerst und wurde gleich ganz ernst. »Dann teilen wir zu fünft, wenn du unser Impresario bist ... Also und, aber die Fräck?«

Der Schreiber, der immer alles verspottete und immer alles kameradschaftlich mitmachte, sagte: »Da müssen wir doch ein Spezialprogramm haben.«

Aber Oskar hatte sich schon alles ausgedacht. »Am besten ist es, ihr singt eure alten Lieder. Das haben die Leut gern ... ›Nach der Heimat möcht ich wieder‹ ...«

»Nie wieder!«

»Halt’s Maul!«

»Vielleicht auch ›Das Elschen von Caub‹ und ›In einem kühlen Grunde‹ ... Eben Gemüt!«

»Im Trikot!« Er zwang sich zum Ernst. »Ich weiß nicht, die Fräck und die Lackschuh, die Bahnkarten – du mußt übernachten – und alles andere, das kostet Geld. Und überhaupt!«

»Wenn ihr unterdessen einen andern Verdienst findet, einen solideren, um so besser! Aber in unserer Lage ...«

Jeder dachte an seine Frau, an die fällige Miete, an die Kinder.

»Wenn doch nun einmal alles andere nicht geht ...! Kletterer macht sicher mit. Der war doch immer für die Kunst. Die paar Leichenkränz kann ja derweil seine Frau zusammenbinden ... Die Hauptsache sind die vier Fräck. Und natürlich muß ich auskundschaften, wo ihr auftreten könnt, und daß sich’s auch lohnt.«

»Ja, die Fräck, mein Lieber!«

Ein Windstoß trieb die Asche hoch. Falkenauge sah nach rechts, sagte aber nichts – Asche war ihm ins Gesicht geflogen. Die Turmuhr schlug zwei. Alles sah plötzlich so öde und hoffnungslos aus, das zähe, ausgebleichte Gras im Graben, die nassen Mauern, der starrende, dürre Haselnußstrauch. Der Himmel war trüb. Sie erhoben sich schweigend. Sie sahen plötzlich alt und verhärmt aus.

Nachdem sie den Schloßberg verlassen hatten und in der Felsengasse standen, die so still, so alt, so eng, so krumm und grau war, als ob sie aus Felsen herausgehauen worden wäre, erschien ihnen die Idee, mit ihrem Gesange Geld verdienen zu wollen, unausführbar.

Oskar ging am »Schwarzen Walfisch« vorüber. Das war keine Kleinigkeit. Und daß auch der neue Wirt vor dem Bankrott stand, war nur ein geringer Trost.

Als der Schreiber heimkam, stand sein Mittagessen auf dem Tisch: ein Teller Linsensuppe, kalt geworden, mit grauer Haut überzogen. »Mach sie halt noch einmal warm.« Er lehnte sich zurück, Hände in den Hosentaschen, und blickte trüb vor sich hin.

Zu Hause benahm er sich ganz anders als in Gesellschaft seiner Freunde, sprach wenig, machte nie einen Scherz, war ganz leblos und erdrückt von der Aussichtslosigkeit, eine Stelle zu finden. Wenn er überhaupt einmal für Stunden zu Hause blieb, stand er reglos am Fenster und blickte hinunter auf die alte Brücke. Er kannte jeden. Und obwohl jeder wußte, wie schwer und fast unmöglich es war, Stellung zu finden, schämte er sich doch, daß er sich seit eineinhalb Jahren untätig umhertrieb. Seine magere und nicht mehr hübsche Frau hatte kürzlich ihr drittes Kind geboren und konnte sich kaum noch aufrecht halten. Schweigend stellte sie die gewärmte Linsensuppe auf den Tisch und strich dabei ihrem Mann übers Haar.

Auch in Falkenauges Wohnung, die aus einem großen, sehr niedrigen Zimmer bestand, befanden sich nur noch die zwei Betten, ein Stuhl und der mit graumarmoriertem Wachstuch überzogene Tisch. Alles andere war gepfändet, versetzt, verkauft.

Bis jetzt hatte er sich nicht entschließen können, das zur Zeit überflüssige zweite Bett auch noch zu verkaufen. Denn die Betten, aus lyrageschmücktem Mahagoniholz, paßten zusammen, und er trug sich mit dem Gedanken, wieder zu heiraten. Aber die Miete mußte bezahlt werden. Er machte sich auf den Weg in die Gasse der Altwarenhändler.

Auch bei diesem schweren Gange hielt er den Kopf schief aufwärts, Nase empor, merkwürdig frisch, als ob ihm nichts geschehen könne. Aber das tat er nur deshalb, weil sein Auge ein wenig schielte und er nur bei dieser lebensmutigen Kopfhaltung geradeaus sehen konnte.

So schritt er vorüber am Haus des Schreibers, der in seiner kahlgewordenen Wohnung seit Stunden hinter dem Fenster stand, reglos, hoffnungslos, und auf die alte Brücke hinunterblickte. Falkenauge erwiderte den Gruß, indem er den Arm hob wie ein Artist, und bog in die Lumpengasse ein.

Auf der einen Seite waren die Fleischhallen, wo das Fleisch gefallener Tiere billig verkauft wurde, eine Schmiede, Kürschner- und Färberwerkstätten, jüdische Fellhandlungen, vor denen blutige Hasen- und Ziegenfelle zum Trocknen an Nägeln hingen, die Werkstatt eines Gipsers, der heilige Marien und Jesuskinder goß und rot und blau bemalte, und in den krummen Häuschen gegenüber ein Altwarenladen neben dem anderen. Hosen, Röcke, Uniformen hingen vor den Türen. Auf dem ausgefahrenen, verluderten Pflaster lag ein dicker Streifen Kuh- und Pferdemist. Durch die Lumpengasse wurde das Vieh zum Schlachthof getrieben.

Es regnete. Der Wind pluderte Hosen und Frauenröcke auf. Die Altwarenläden waren vollgestopft mit allen nur erdenklichen Gegenständen, die das Leben im Laufe von hundert Jahren hier angesammelt hatte. Während der letzten zehn Jahre hatten viele Leute alles verkauft, und nur wenige hatten kaufen können.

Kinder standen vor den schmutzigen Schaufenstern und betrachteten sehnsüchtig den verzauberten Plunder. So war auch Falkenauge oft gestanden, das Geld in der schwitzenden Hand, stundenlang schwankend, ob er den alten Revolver, eine Seeräubergeschichte, einen gebrauchten Clownanzug oder den ausgestopften grünen Papagei kaufen solle, der auch jetzt noch, nach dreißig Jahren, auf seinem Stäbchen saß und zur verstaubten Goethebüste hinüberblickte.

Schon stand in diesem Schaufenster neben dem zerknüllten Messingtrichter des alten Grammophons der schwarze Trichter eines Rundfunklautsprechers. Die Errungenschaften der neuen Zeit kamen etwas verspätet in die Lumpengasse. Aber sie kamen.

Der erste Händler schüttelte den Kopf, als Falkenauge noch gar nicht gesagt hatte, wieviel er für sein Mahagonibett haben wollte. Der zweite ging schweigend in seinen Laden zurück, als er den Preis vernahm. Einer bot drei Mark für das Bett mitsamt der Matratze.

Ein Metzgerbursche zerrte ein Kalb am Strick durch die Gasse. Falkenauge sah interessiert zu, wie das Kalb die Vorderbeine stemmte und nicht vom Fleck zu bringen war. Der Metzger versuchte, das Tier zu schieben, er schob und drückte, bis die Hinterhufe zwischen den Vorderbeinen baumelten. Plötzlich hüpfte das Kalb von selbst in lustigen Sprüngen voran, dem Schlachthofe zu.

Falkenauge schritt stramm durch die Gasse, Kopf schief erhoben, Mund gespitzt, wohlgemut und ablehnend lächelnd, als liefen sämtliche Händler bietend hinter ihm her. Er trug ein elegantes, abgestepptes Covercoatmäntelchen, das noch aus der guten Zeit stammte.

Vor dem Eckhause, dessen ganze Front bis zum ersten Stock hinauf mit alten Kleidern behangen war, stand ein hochgewachsener Zigeuner, der den Wert seiner Geige, die er verkaufen wollte, zu steigern suchte, indem er auf ihr spielte. Der Händler hatte die Tür geschlossen und kam gar nicht mehr aus seinem Laden heraus. Kinder standen um den Zigeuner herum, und der Schutzmann überlegte, ob er diesen zu farbigen Mann nicht mitnehmen müsse.

Am Türpfosten des Nebenladens hing eine auf Taille geschnittene, sehr kurze, hellblaue Husarenjacke, weiß verschnürt, am anderen Pfosten ein verknitterter, riesig langer Frack mit speckigen Aufschlägen, und darüber ein Brautschleier, der vom Myrtenkränzchen herabhing.

Das sah aus, als ob ein paar alte Eheleute in ihrer Not auch noch das Letzte, das sie mit der glücklichen Zeit ihres Lebens verband, herausgekramt und verkauft hätten.

Viel Wahl hatte Falkenauge nicht mehr. In den meisten Läden war er schon gewesen, und einige, deren Besitzer er als schlechte Zahler kannte, kamen nicht in Frage. Die fette Händlerin stand neben dem Frack.

»Was sucht der Herr?«

Und wie er dann vor ihr stand, Kopf scharf nach rechts, sagte sie: »Er ist sehr gut erhalten und ganz auf Seide gearbeitet.«

Falkenauge blickte aber gar nicht den Frack an, sondern die farbige Husarenjacke, die links hing. »Ich habe ein Mahagonibett zu verkaufen. Fast neu!«

»Das Mäntelchen, das Sie da anhaben, würde ich in Tausch nehmen gegen den Frack.«

»Das Holz ist eingelegt. Eine Lyra! Und das Seitenteil hat Rosen.«

»Ein Bett kaufe ich nicht. Ich kaufe überhaupt nichts. Aber wenn Sie noch etwas drauf legen ... Das Mäntelchen ist schon abgetragen.«

»Mein Mantel ist noch tadellos und auch auf Seide.« Er schlug ihn zurück.

Der Zigeuner machte einen seltsamen Sprung auf die Händlerin zu und präsentierte ihr mit tiefer Verbeugung wortlos Geige und Bogen.

Sie begann sofort auf das Gesindel zu schimpfen und sah sich nach dem Schutzmann um.

Erst als Falkenauge, auf dem Wege zu Oskar, ohne Mäntelchen frierend schon auf der alten Brücke war, überm Arm den Frack, fiel ihm wieder ein, daß er eigentlich beabsichtigt hatte, ein Bett zu verkaufen, um die Miete bezahlen zu können, nicht aber einen alten Frack zu erwerben und sein Mäntelchen loszuwerden.

Er trat in einen der Halbkreise, in denen seit Jahrhunderten die Brückenheiligen stehen. Er mußte überlegen. Ihm kamen plötzlich zu viele Gedanken auf einmal. Daß er den Frack hatte, war ja gut. Jetzt war er in der Hauptsache ausgerüstet zum Auftreten. Das Mäntelchen mußte da riskiert werden. Aber die Miete?

Sooft er an die Miete dachte, sah er seine Frau, wie sie in ihrem grauen Kleide am Fenster saß, in den stillen Nachmittagsstunden, und Wäsche ausbesserte. Die war tot. Das war vorbei. Das sagt sich so leicht: Vorbei. War ja aber so schwer, so sinnlos alles, seit sie nicht mehr am Fenster saß, wenn er heimkam. Zu was die ganze Quälerei!

Er dachte an die verwitwete Besitzerin des kleinen Waffenladens, bei der er jahrelang die Munition gekauft hatte für seinen Vogelstutzen. Falkenauge war Vorstandsmitglied des Vogelstutzenklubs »Löwenjagd« und hatte der Witwe viel Kundschaft zugeführt.

Schon oft hatte sie ihn ins Hinterstübchen gebeten zu einer Tasse Kaffee. Und ihm war jedesmal gewesen, als ob rechts neben dem Gewehrschrank seine Frau gestanden hätte.

Es dämmerte schon. An einem fremden Frachtschiff, das geruhsam abwärts schwamm, leuchteten die Signallichter auf, und aus dem Ofenröhrchen der Kajüte stieg Rauch: Das Abendessen wurde gekocht. Kirchenglocken läuteten wieder. Die hatte Falkenauge früher gar nicht mehr gehört. Jetzt machte ihn die ewige Läuterei immer ganz trostlos.

›Ich zünd lieber kein Licht an, wir sitzen schöner im Dunkeln, hat sie das letztemal zu mir gesagt. Ob sie damit was gemeint hat ...? Gut, daß ich das Bett noch hab‹, dachte er und schritt weiter. »Aber die Miete?«

In dunklen Stahl- und Eisenläden gedeihen rote Backen nicht. Die Witwe hatte das bleiche, schon etwas welke Gesicht und die gelben, schmalen Hände stiller Frauen, die langsam altern, Rehaugen, rostbraun wie ihr dickes Haar, dazu einen gutgehenden Munitionsladen mit Werkstätte, in der ein junger Büchsenmacher Gewehre reinigte und reparierte.

Zwei Buben, der eine ohne Strümpfe in alten Stiefeln, die ihm viel zu groß waren, blieben stehen in einiger Entfernung von dem Frack, den Falkenauge vergessen hatte. Ganz heran wagten sie sich nicht. Sie wichen zuerst sogar noch etwas zurück. Es war ein bißchen unheimlich, daß da ein Frack über der Brückenbrüstung hing, neben dem heiligen Kilian.

»Wir könnten ihn hinunterwerfen ins Wasser. Wenn er dann schwimmt, sieht’s aus, als ob einer ertrunken wäre.«

»Und wenn wir erwischt werden?«

Falkenauge kam gerade noch rechtzeitig zurück. Der mit den zu großen Stiefeln stieg schon auf den Sockel des heiligen Kilian, den zusammengeknüllten Frack unterm Arm.

Ein alter Rentier in vertragenen Kleidern, der alles verloren hatte, blickte den Knaben, die davonsausten, geistesabwesend nach, beugte sich über die Brüstung, ging hinüber auf die andere Seite, blickte verstörten Gesichtes auch hier in die Tiefe. Plötzlich sah er sich um, ob ihn niemand beobachtete, und schritt verstört weiter. Seine Lippen bewegten sich im Selbstgespräch.

Oskar Benommen saß, als Falkenauge in das schiefe Dachzimmer trat, mit heißem Kopf am Tische vor einem Haufen Rechnungen, Quittungen, Gerichtsbeschlüssen und Pfändungsurteilen. Er hatte auch seine Wohnung verkauft, um die Hauptgläubiger befriedigen zu können, und war mit Frau und vier Kindern in dieses verwinkelte Dachloch übergesiedelt, durch das, einen Meter unter der Decke vom Fenster bis zur Tür, sich ein dicker, geweißter Dachstuhlbalken zog, an dem eine Ringschaukel hing und, mit den Kniekehlen in den Ringen, Kopf nach unten, der jüngste Sohn. Parallel mit dem Balken lief durch das ganze Zimmer das rostige Ofenrohr.

»Jetzt gib schon Ruh! Die paar hundert Mark wirst du mit der Zeit auch noch aufbringen«, sagte Frau Benommen.

Sie hatte sich in den siebzehn Ehejahren wenig verändert. Ihr Gesicht war noch weiß wie Mehl und kugelrund. Nur der Hals war tiefer in die runden Schultern gerutscht. Auf ihrem Busen lagen ein paar Semmelbrösel, die von dieser weit und waagrecht vorgeschwungenen Rundung nicht herunterfallen konnten.

»Freut mich, daß du kommst.« Das klang unnatürlich. Oskar war sein Leben lang gewohnt gewesen, sicheren Boden unter den Füßen zu haben, kraftvoll zu schweigen und in dieser selbstbewußten Ruhe ohne sichtbaren Hochmut ein wenig auf die Umgebung herabzusehen.

Auch während der ganzen fünfzehn Jahre seines Gastwirtsdaseins war er seinen Jugendidealen, die einem zielbewußten Athleten verboten, Alkohol zu trinken, treu geblieben. Sogar bei den schwersten Saufgelagen hatte er nur immer wieder die begeisterten und schon schwankenden Athleten mit großer Geste aufgefordert, ihre Gläser zu leeren auf zukünftige Vereinsmeisterschaften, selbst aber stets eine nüchterne kleine Wendung büfettwärts gemacht und sein volles Glas wieder in die Ecke gestellt neben den unbrauchbaren Zigarrenabschneider, der die Münchener Frauenkirche darstellte.

»Ich hab schon den Frack.« Falkenauge legte ihn auf den Tisch.

Wie ein verzweifelt Kämpfender, der noch Lebenskraft hat und nach jeder Hoffnung greift, griff Oskar nach dem Frack. Ihm wurde warm dabei. Sein Gesicht wurde rosa. Der ganze Plan, der Verzweiflung entsprungen, entsprach seiner Auffassung von Solidität nicht.

Er hielt den Frack weit von sich. »Wo hast du denn das Ungetüm aufgegabelt? Da gehst du ja zweimal hinein.«

»Ein bißchen groß ist er.«

»Also, mein Lieber, ich will dir ja die Freude nicht verderben ...«

»Du meinst, er ist nichts?«

»Zieh ihn einmal an.«

Falkenauge war nicht klein. Aber der Frack reichte ihm bis zu den Knöcheln. Er mußte einem Riesen gehört haben.

»Aus dem Frack kannst du dir einen Mantel machen lassen.«

»Ich hab ihn ja gegen meinen Mantel umgetauscht.« Er beugte sich vor und prüfte bekümmert die Länge.

»Den kann man nicht kleiner machen«, sagte Frau Benommen, zupfte sachverständig, hob einen Schoß und ließ ihn bedauernd wieder fallen. »Er ist ja auch schon gar zu abgewetzt. Es wär schad fürs Geld.«

Ihr zweiter Sohn, der neben dem winzigen Öfchen saß und »Die Reise um die Welt« las, kicherte ins Buch hinein, weil Falkenauge in dem Frack dem bekannten Grotesk-Filmschauspieler glich, den er im Kino gesehen hatte.

»Da müssen Sie eine Frau mitnehmen, das nächstemal, wenn Sie wieder Kleider kaufen«, sagte Frau Benommen, und Falkenauge blickte nach rechts.

»Wart auf mich. Ich bin in zehn Minuten wieder da.« Oskar sauste wie ein Junge die Treppe hinunter und ins »Wiener Café mit Damenkapelle«, ließ sich illustrierte Zeitschriften bringen und riß ein Blatt heraus, auf dem ein eleganter Herr im Frack abgebildet war.

Der Kaffee kostete fünfzig Pfennig. »Das fängt schon gleich mit Spesen an.« Er zog sein Notizbuch, schrieb das Wort »Auslagen« und notierte die fünfzig Pfennige.

Als er zurückkam, fragte der Schreiber, den die Unruhe und der Druck von zu Hause fort zu seinen Freunden getrieben hatten: »Hast du auch den Hut?« Und da Falkenauge vollständig begriffsstutzig zurückblickte: »No, bei der Höchberger Landstraß auf dem Krautacker hat doch den ganzen letzten Sommer eine Vogelscheuche gestanden. Das war doch der Frack. Da irr ich mich doch nicht. Und oben drauf war ein steifer Hut ... Den hast du nicht?« Es gelang ihm, ernst auszusehen.

»Der Herr Wiederschein muß immer seine Scherze machen«, sagte Frau Benommen tröstend. Und ihr Mann legte den eleganten Herrn auf den Tisch.

»Die Sach muß viel praktischer angepackt werden. Ihr müßt doch tadellos elegant sein. Die Fräck muß der Firnekäs machen, und zwar nach dem Modell da.«

Der Sohn unterbrach »Die Reise um die Welt«. Dieses Blatt, auf dem außer dem eleganten Herrn auch »Im Flugzeug nach dem Mars« abgebildet war, kannte er. Vergangenen Sonntag war er neben seinem Vater, der an den Inhaber des Cafés Schokolade hatte verkaufen wollen, auf der roten Plüschbank gesessen und hatte vergebens gebettelt, dieses Blatt herausreißen zu dürfen.

Nun trat er zurück und blickte verwirrt und scheu den Vater an, der gesagt hatte, das dürfe man nicht tun, das sei Diebstahl.

»Ich hab mir’s vom Oberkellner geben lassen.« Er schnitt den »Flug nach dem Mars« herunter und gab ihn seinem Sohne.

In den Städten, die an einem Flusse liegen, wählen die meisten Selbstmörder den Tod im Wasser. Sie sind am Flusse aufgewachsen, der Fluß fließt durch ihr Leben, in ihrem Blute, durch ihre Träume und nimmt sie, wenn sie nicht mehr weiter können, zu sich.

Als die drei das Flußufer entlangschritten, stießen sie auf eine schwarze Gruppe, Fischer, Frauen, Kinder, die um den Rentier herumstanden, der eine Stunde vorher von der Brücke aus hinunter ins Wasser gestarrt hatte.

Jetzt lag er auf dem Pflaster, mit Stroh zugedeckt. Nur die nassen Stiefel ragten heraus. Beim Kopf stand eine rotleuchtende Laterne, es war schon dunkel.

Nachdem er fünfundvierzig Jahre Tag für Tag bis in die Nacht hinein hinter dem Schanktisch seiner kleinen Weinstube gestanden, Tausende Hektoliter schoppenweise ausgeschenkt, freundlich und herablassend seine Gäste bedient und – stolzer Herrscher in seinem Reiche – unzählige Streitigkeiten geschlichtet hatte, ohne Widerspruch zu dulden, war er als siebzigjähriger Mann und achtunggebietender Besitzer eines mündelsicher angelegten Vermögens in den Ruhestand getreten und einige Jahre später, gleich Millionen Leidensgenossen vollständig verarmt, in das städtische Asyl aufgenommen worden.

»Ja, im Armenhaus konnt’s der nicht aushalten. Der nicht! So ein Charakter verträgt das nicht. Da wundere ich mich gar nicht. Und wieder hinaufarbeiten können so alte Leute sich auch nicht mehr«, sagte, käseweiß geworden, Oskar Benommen und blickte hinunter auf die nassen, starrenden Stiefel wie auf ein ihm drohendes Schicksal.

Er fror im Rückenmark und spannte beim Weitergehen energisch die Muskeln. Auf dem ganzen Weg zum Schneidermeister Firnekäs sprach er kein Wort mehr und war immer einen Schritt voraus.

Das Elefantengäßchen beginnt mit einem wuchtigen Torbogen, auf dem ein altes Haus steht. Dann wird das Gäßchen immer enger wie ein Elefantenrüssel, und an der engsten Stelle, wo zwei nicht nebeneinander gehen können, wohnte der Schneidermeister Firnekäs, ein überaus stiller Mann, der keinem Verein angehörte, keine Freunde hatte, nie in Gesellschaft im Wirtshaus saß, wochenlang kein Wort sprach, auch nicht mit seiner Frau, und dann plötzlich, wenn etwas in ihm reif geworden war, seinen Satz demjenigen sagte, der in diesem Augenblick vor ihm stand.

Seit dreißig Jahren hatte er im ganzen Gesicht, auch auf der Stirn und den verquollenen Augenlidern, einen Ausschlag, der, niemals bekämpft, zu seiner Gesichtsfarbe geworden war: ein giftiges Scharlachrot.

Herr Firnekäs saß auf dem Schneidertisch und nähte, fädelte ein, biß den Faden ab. Seine Frau brachte eine henkellose, zersprungene Schale aschgrauen Kaffees. Er sah die Aschensoße an und, sprechenden Blickes, die Frau.

»Ich kann nicht immer frischen kochen. Ich hab doch keine Zeit. Ich muß doch das Karlchen flegen. Das Karlchen braucht viel Flege.« Sie konnte das P nicht aussprechen. Ihre graue Gesichtshaut sank faltenbildend herab auf den riesigen Kropf. Die schiefe, immer nasse Unterlippe hing bis zum Kinn.

Dieses fünfzigjährige, zahnlose, hinkende, hautüberzogene Skelett hatte vor sieben Monaten noch ein Kind geboren und liebte es über alles.

Sie trug die graue Soße in die Küche und goß sie wieder in den Kaffeetopf zurück, ließ Wasser in einen schwarzen Eisentiegel, warf in das kalte Wasser ein Stück Schweinefett und gelbe Rüben, setzte das Gericht aufs Feuer und ihr Karlchen auf die Herdplatte neben das Wasserschiff.

Die dicke Nachbarin, die einen arbeitslosen Mann, vier Kinder und nichts im Küchenschrank hatte, trat in den Türrahmen und bat verlegen um einen Kochlöffel voll Mehl. Frau Firnekäs half bereitwillig den Nachbarn, die noch weniger hatten als sie.

»No, wie geht’s?« fragte Oskar Benommen gepreßt und gespreizt.

»Wie es unsereinem eben jetzt gehen kann, in dieser Zeit, nicht wahr, Herr Firnekäs?« antwortete der Schreiber für den Schneider, und Falkenauge lächelte frisch und verlegen nach rechts.

Der Schneider war herabgestiegen und sagte gar nichts. Gegenwartsereignisse ergriffen ihn nicht. In ihm gingen Dinge vor und reiften, die er auf seine Weise empfand und nicht mit dem Kopfe kontrollierte. Das Zentimetermaß hing wie eine Kette um seinen Hals. Er war ein arbeitsamer Mann, hatte viele Außenstände, verließ aber nur nach Ablauf einer gewissen Zeit, wenn er innerlich soweit war, im selben Augenblick den Schneidertisch, ging zu einem Schuldner und vertrank das einkassierte Geld auf einen Sitz.