Fremde Mädchen - Leonhard Frank - E-Book

Fremde Mädchen E-Book

Leonhard Frank

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Beschreibung

Neuentdeckte Geschichten eines großen Erzählers Die Sammlung präsentiert Leonhard Frank als einen der erfolgreichsten und unterhaltsamsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Das Resultat jahrelanger Recherchen des Herausgebers: die Entdeckung unbekannter Geschichten und Erstfassungen bereichern das bisherige Erzählwerk. Entstanden zwischen 1912 und 1961, verblüffen die Geschichten durch ihre stilistische Präzision und eine farbige Bildwelt. Die jungen Männer und Frauen, familiärer Bevormundung ebenso ausgeliefert wie den Zwängen in Schule und Beruf, büßen ihre Ideale ein und scheitern in dem Verlangen nach Anerkennung und Liebe. Geringfügige Anlässe, eine abschätzige Bemerkung, der liegengelassene Hut, ein defekter Wecker, werden zum Auslöser unerbittlicher Geschehnisse. Als Alternative zur Welt der "sehnsuchtslosen Herzen" erscheinen Jahrmarkts- und Zirkusszenen und vor allem die Natur in ihrem Rhythmus von Werden und Vergehen. Franks Erzählungen von Liebe und Tod bleiben durch ihre innere Wahrhaftigkeit im Gedächtnis.

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Leonhard Frank

Fremde Mädchen

Geschichten der Leidenschaft

Herausgegeben von Dieter Sudhoff

Informationen zum Buch

Neuentdeckte Geschichten eines großen Erzählers

Die Sammlung präsentiert Leonhard Frank als einen der erfolgreichsten und unterhaltsamsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Das Resultat jahrelanger Recherchen des Herausgebers: die Entdeckung unbekannter Geschichten und Erstfassungen bereichern das bisherige Erzählwerk.

Entstanden zwischen 1912 und 1961, verblüffen die Geschichten durch ihre stilistische Präzision und eine farbige Bildwelt. Die jungen Männer und Frauen, familiärer Bevormundung ebenso ausgeliefert wie den Zwängen in Schule und Beruf, büßen ihre Ideale ein und scheitern in dem Verlangen nach Anerkennung und Liebe. Geringfügige Anlässe, eine abschätzige Bemerkung, der liegengelassene Hut, ein defekter Wecker, werden zum Auslöser unerbittlicher Geschehnisse. Als Alternative zur Welt der »sehnsuchtslosen Herzen« erscheinen Jahrmarkts- und Zirkusszenen und vor allem die Natur in ihrem Rhythmus von Werden und Vergehen. Franks Erzählungen von Liebe und Tod bleiben durch ihre innere Wahrhaftigkeit im Gedächtnis.

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Der Hut

Jahrmarkt

Fünf Pfennige

Gotik

Der Erotomane und diese Jungfrau

Die Gesangvereinsprobe

Der Irre

Kindheit

Jünglinge

Der Streber

Schauspielerin. Erzählung

Der Beamte. Novelle

Die Schicksalsbrücke. Eine Erzählung

Die Flucht. Novelle

Ein liederlicher Hund

Atmen

Gedächtniskirche

Bridge

Die Vorstandssitzung

New Yorker Liebesgeschichte

Emil Müller

Im Schneesturm

Das Porträt

Berliner Liebesgeschichte

Der Heiratsvermittler

Der Blockwart

Liebe im Nebel

Besuch im Kloster

Nachwort

Zeittafel

Quellennachweis

Der Herausgeber

Über Leonhard Frank

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Der Hut

Lächelnd trat am Mittwoch der Dichter Melchior Schulter in zinnoberrotem Sweater, eine weiße Wollmütze auf dem Kopfe und einen zweisitzigen Rodelschlitten auf dem Rücken, zum Architekten Lorenz Hall ins Zimmer. Zog, als Aufforderung mitzukommen, wortlos einen weichen, grünen Hut aus seiner Brusttasche. Für Lorenz Hall, denn der trug nur steife, zum Rodeln untaugliche Hüte.

Eine Stunde später, die Bahn war schlecht gewesen, ging Lorenz Hall mit des Dichters Hut wieder nach Hause.

Am Freitag früh brach der Dichter Melchior Schulter beim Schlittschuhlaufen in den See ein und ertrank.

Als Lorenz Hall am Abend ins Restaurant kam, wartete der Kellner mit den braunen Hundeaugen schon auf ihn, bei der Türe.

»Nein, so ein Unglück! Ein so junger Mensch.«

Mit dem pomadisierten Scheitel kroch er Lorenz Hall ins Gesicht, der sich, ärgerlich über die Vertraulichkeit des Kellners, brüsk losmachte, aber doch, um ihn nicht zu beleidigen, fragte: »Was denn?«

»Tot ist er!« rief der Kellner wissensfreudig. »Ihr Freund ist tot.«

»Wer ist tot!« fuhr Lorenz Hall den Kellner wütend an, und er konnte sich trotz angestrengtem Nachdenken an keinen seiner Bekannten erinnern, außer an einen Schulkameraden, den er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, der Buchbinder geworden war, Oskar Benommen hieß und jetzt eine Weinkneipe betrieb.

Der Kellner klatschte mit dem Handrücken auf die Zeitung und rief beleidigt: »Er ist doch im See ertrunken. In allen Blättern stehts ja. Ihr Freund – na, wie heißt er doch?«

Die Augen Lorenz Halls funkelten vor Wut, als er die Hand nach der Zeitung ausstreckte.

– im See ertrunken – Er suchte nach dem Namen – Schulter, der hoffnungsvolle Dichter. Da sah er eine riesenhohe graue Mauer vor sich, trat einen Schritt zurück, empfand nichts und konstatierte sofort, daß er nichts empfand, weder Schmerz noch Trauer, nur, vorher war er sehr hungrig gewesen, und jetzt schien es ihm unmöglich, jemals wieder etwas zu essen, denn er hatte das Gefühl, als blähe sich ein nebelgrauer Kinderluftballon in seinem Magen. Voll und leer zugleich war sein Magen.

Der Kellner reichte die beiden Handflächen dar, »in allen Zeitungen stehts«. Die Hände klatschten auf die Schenkel nieder.

Ein Literat, dessen Kopf mit doppelscharfer Brille über den weit aus den Höhlen stehenden Augen und weichem, breitem Mund einem Riesenfrosch glich, sagte breiig:

»Und schon sind die Nachrufe da. In allen Blättern ist er jetzt die größte Hoffnung Deutschlands gewesen. Und vorher haben ihm alle Redaktionen seine Arbeiten zurückgeschickt. Pä. Saubande. Er war ein starkes Talent. Das habe ich immer gesagt. Aber so, wie’s jetzt heißt – das ist natürlich übertrieben.«

Warum bin ich nicht erschüttert, fragte sich Lorenz Hall, während er durch das Lokal schritt, wo hinten am Kleiderständer sich ein anderer Kellner wand.

»A so ein junger Mensch. A, der wär achtzig Jahr alt word’n«, er stieß die Fäuste in die Luft: »so g’sund, wie der war. Es is aber aa a Leichtsinn«, flüsterte er Lorenz Hall ins Ohr, »von dem Menschen. Das Eis war eben noch nicht fest genug, und da is er eibrochen. G’funden hams ihn no nit. Die Eisdecke, wissens, sie können ja nit zu.«

Wenn er aber jetzt ins Lokal tritt und lacht. Lorenz Hall sah zur Türe. Dann müßte ich ihn schimpfen, dachte er und stöhnte innerlich vor Sehnsucht nach Schmerzempfindung, nach Begreifen, weil der Dichter nicht eintrat.

Vor dem Kaffee sah er gedankenlos interessiert einem Chauffeur zu, dem es nicht gelang, seinen Motor anzuwerfen. Plötzlich raste der Motor, daß der bebende Wagen auf dem Asphalt hin und her glitt, der Chauffeur sprang auf, verderblich krachend hakte die Übersetzung ein, und der Wagen schoß mit bockigen Sprüngen und allmählich gleichmäßiger laufend die dunkle Straße hinunter.

Lorenz Hall ging weiter. Die Straße war fast menschenleer. Eine Trambahn kam in voller Fahrt die Straße herauf. Ein Mann sprang knapp vor dem Wagen über den Fahrdamm. Lorenz Hall suchte verwundert nach dem Mann, als die Trambahn vorbeigesaust war. Der Mann war verschwunden. »Ah, der ist aufgesprungen. Wie lautlos das geht. Sind die Augen offen von Melchior Schulter unter der Eisdecke? Oder ist ein Eishäutchen darüber gefroren? Sind sie vereist – die blauen Augen? Eisklötzchen darauf? Und der Mund? Ist sein ganzer Körper vereist? In Eis eingepackt – – – wie argentinisches Fleisch. – Ein Gedanke, der so nahe liegt, roh muß der nicht sein.«

Ein kleiner Straßenverkäufer lief hartnäckig neben Lorenz Hall her, eine große Strecke. Lorenz Hall blieb stehen und sah gedankenlos auf den Kleinen, kaufte ein paar Schnürsenkel und steckte sie in die Tasche. »Auf Wasser kann man nicht gehen. Eine Eisdecke bildet sich. Darauf kann man gehen. Sonderbare Plastik. Er sauste über die Eisdecke hin, mit allen Segeln der Lust sauste er in den Tod, hinein in das Eisloch.« Lorenz Hall schloß die Augen.

Da hörte er aus der Ferne die fremdartigen Töne einer Negertrommel und sah eine Palmenlandschaft und nackte schwarze Weiber mit farbigen Fetzen um die Lenden. Als er die Augen öffnete, sah er einen weißen Kalkwagen aus Eisen, dessen Deckel gleichmäßig dumpf auf- und zuklappte, die dunkle Straße entlangfahren; der Kutscher pfiff monoton dazu. Da schloß er noch einmal die Augen und war sofort wieder im Negerdorf.

Lorenz Hall hatte sich ein Zimmer provisorisch möbliert in einem Neubau, um dessen Fertigstellung bequemer überwachen zu können. Außer ihm wohnte niemand im Hause. Die noch nicht vom Gebrauch gefügten Treppenstufen knarrten, als er in den vierten Stock hinaufstieg, und die feuchtkalte Dunkelheit roch nach Kalk und Tünche.

Im Zimmer zündete er eine Kerze an. Da hing des Dichters Hut rund und dunkel am Nagel.

Er legte sich ins Bett. Nachtgeräusche knackten in die Stille. – Junge Mauern leben, dachte er, die müssen sich erst zurechtrücken, alte Mauern leben auch, die bröckeln ab. Dazwischen ist Bestand. – Er schlief ein und träumte die ganze Nacht von seinem Schulkameraden Oskar Benommen, der jetzt eine Weinkneipe in der Heimatstadt betrieb.

Am Morgen war es kalt und hell im Zimmer – grün und neu hing des Dichters Hut am Nagel.

Lorenz Hall schrieb sofort an seine Mutter und fragte, wie es dem Oskar Benommen ginge. Sie schrieb zurück, dem gehe es gut, er sei, obwohl erst vierundzwanzig Jahre alt, schon verheiratet, habe sogar schon ein Kind, und habe sich jetzt ein neues Klavier angeschafft für seine Wirtschaft, die ausgezeichnet gehe. Daß Oskar Benommen Meisterschaftsathlet von Bayern geworden sei, werde er, Lorenz Hall, ja wissen.

Der Oskar Benommen soll nur vorsichtig sein mit Neuerungen, dachte Lorenz Hall, in einer kleinen Stadt kann so etwas für das Geschäft leicht gefährlich werden. Und dann paßt ja auch in so eine kleine Weinkneipe eine Gitarre viel besser.

Der Polier trat ins Zimmer mit seinem dicken, grauwollenen Tuch um den Hals und in der Hand seinen zerknüllten steifen Hut mit dem weißen Kalkpatzen darauf.

Immer noch derselbe Kalkpatzen auf dem Hute wie vor dreiviertel Jahren, als wir den Grund für das Haus ausgehoben haben, dachte Lorenz Hall.

In der anderen Hand trug der Polier einen runden Kübel voll grüner Farbe.

Ob die Farbe so recht wäre.

»Wir streichen die Wände nicht grün«, sagte Lorenz Hall, ohne zu wissen warum, und sofort setzte er wütend hinzu: »Sonst breitet sich der grüne Hut über das ganze Haus aus. – Was wollen Sie denn noch?«

Der Polier stotterte etwas und ging.

Lorenz Hall wickelte den Hut in Papier ein und trug ihn den ganzen Tag mit sich herum, solange er am Bau beschäftigt war.

Abends nahm er ihn mit in das Restaurant und erzählte seinem Freund, einem Schriftsteller, und einer bekannten Dame, die mit dabeisaß, wie er zu dem Hut gekommen war, und schloß erregt:

»Was soll ich denn mit dem Hut anfangen? Ich kann ihn doch nicht seiner Mutter zuschicken.«

»Korrekt wäre, wenn Sie der Mutter den Hut schickten«, sagte die Dame, sie hatte ein volles, weiches Gesicht, gepflegt und weiß wie Mehl und fast kein Kinn.

»Etwa so – die Mutter sitzt zu Hause, der Hut kommt an mit einem Brief. Sehr geehrte Frau – hier ist der Hut von Ihrem Sohn, der ertrunken ist. Nein, nein! – Selbst tragen kann ich ihn auch nicht. Oder wegschenken, einem armen Menschen. Sonntags setzt er ihn auf, geht in die Kneipe, spielt Karten. Was soll denn des Dichters Hut dabei?«

»Aber ich verstehe nicht«, die Dame sah beifallheischend den Schriftsteller an, »hier diese Pietät.«

»Pietät! Das ist keine Pietät! Ich weiß nicht, was es ist. Der Hut ist einfach da. Ungeheuer da. Vielleicht weil er so neu ist?«

»Ich würde Literatur daraus machen«, sagte lächelnd der Schriftsteller. »Nein, nein! entschuldige!«

»Und wenn ich den Hut zum alten Gerümpel stecke in die Dachkammer, sehe ich auch nur immer die Dachkammer und den Hut darin. Es handelt sich überhaupt nicht um den Hut. Der ist ja nur so sehr da, weil etwas anderes nicht da ist«, sagte Lorenz Hall gequält und ging weg in eine Weinstube und trank drei Glas Wein hintereinander aus.

Er war sofort betrunken.

»Hören Sie!« er faßte den Kellner beim Ärmel. »So wird die Sache sein! Vor einigen Wochen war Schulter in meiner Heimatstadt, und es ist sehr möglich, bei einer so kleinen Stadt sehr leicht möglich, daß er in die Weinkneipe von Oskar Benommen geraten ist, dem Meisterschaftsathleten.«

»Soll ich Ihnen ein Selterwasser bringen? Das dämpft.«

»Ja, Wasser. Und der Athlet hat ihm gefallen. Ausgezeichnet. So sehr, daß er etwas von ihm angenommen hat, eine Bewegung, oder so. Und wie Schulter dann zurückgekommen ist – bleiben Sie da! habe ich vielleicht, ohne es zu wissen, diese neue Bewegung an ihm bemerkt, die ich als Kind an Oskar Benommen gekannt habe. Und deshalb fiel mir Oskar Benommen ein, als ich erfuhr, daß Schulter ertrunken ist.«

»Ich bringe Ihnen ein Wasser, das ist das beste.«

»Ja, so wird’s sein.«

Lorenz Hall ging. Es war Mitternacht und still und kalt.

In der Nähe seiner Wohnung sah er bei einem Haus dicke Rauchschwaden unterm Dach hervorquellen und roch Brandgeruch.

Er lief zum Feuermelder, läutete, rannte zurück zur Brandstelle, brüllte zu den Fenstern hinauf, hämmerte mit Fäusten und Füßen gegen das Haustor, brüllte immerzu »Feuer! Feuer!«, und dabei rollten ihm die schweren Tränen des endlich befreiten Schmerzes von den Wangen herunter.

Ein Fenster tat sich auf.

Flackernde Flammen näherten sich erst lautlos die Straße herauf, dann erscholl stürmender Hufschlag und stürmendes Läuten. Die Feuerwehr kam angetobt.

Befehle ertönten. Das Haustor wurde aufgebrochen, Menschen in weißen Nachtgewändern erschienen an den Fenstern des brennenden Hauses, sahen empört hinunter auf die Straße, begriffen nicht gleich – und verschwanden dann schnell von den Fenstern. In den Nachbarhäusern rasselten Rolladen. Mechanische Leitern schossen lautlos in die Höhe bis über das Dach hinaus in den klargrünen kalten Mondhimmel. Die Dampfspritze summte dunkel, und ihre blankgeputzten Kupferteile blitzten im Fackelschein. Ein Mann stand auf der Dachrinne und hieb mit der Hacke auf das Dach ein. Eine Feuersäule schoß in den Himmel hinauf. Dünne, weiße Wasserstrahlen kreuzten sich über dem Feuer.

Etwas Rundes, Dunkles flog von unten in die Höhe und fiel in die Flammen. Lorenz Hall sah den Hut in die Flammen fallen, wandte sich stracks um und ging, heulend von seinem Schmerz durchblutet, die Hände in den Taschen, die Arme fest an die Seiten gepreßt, mit emporgezogenen Schultern schnell weg.

Jahrmarkt

Es war Mittag drei Uhr. Die Lokalbahn hatte neue Scharen Bauern ins Städtchen geschleppt und auf den Markt geworfen. Immer noch polterten dichtbesetzte Leiterwagen durch die beiden Turmtore. Der Nachmittagsgottesdienst war zu Ende. Die Bauern, die auf der breiten Treppe vor der gedrängt vollen Kirche knieten, erhoben sich und schlugen das Kreuz. Voller Orgelklang begleitete Bürger, Kleinleute und Bauern, die langsam aus dem Portal quollen, sich auf der Treppe ausbreiteten und die Augen schließen mußten, plötzlich aus der Kirchendämmerung vor das sonnenlichtüberflutete Gewühl auf dem Markt gestellt.

Die Schiffsschaukeln und das Karussell sausten.

»Schi – fferin du Klei – – ne, fah – – re nicht allei – – ne«, »An der Saa – – le hel – – – – lem Stra – – – han – – – de«, spielten die Orgeln, die während des Gottesdienstes geschwiegen hatten, durcheinander und trugen die Töne weit durch die Luft, daß die Marktbesucher sie schon hörten, wenn Hügel und Bäume die Turmspitze des Städtchens noch verdeckten.

Das Markttreiben hatte seinen Höhepunkt erreicht. Die Honoratioren, die am Marktplatz wohnten, saßen an den Fenstern. An fast allen Fensterrahmen, rund um den Platz, waren Kinderluftballons angebunden, die in der Luft schaukelten.

Die Händler strahlten und stopften sich, während sie Stoff abmaßen, Waren einwickelten, Geld einkassierten, rasch ein paar Brocken in den Mund, schwitzten und waren zufrieden.

Staub, der Geruch der Waren, der Schweine und des Bauernschweißes erfüllte die Luft. Am hohen Himmel die weiße Sonne glühte herab auf die wimmelnde Menschenmasse. Musik, Grunzen, das Quieken der Ferkel, das Feilschen der Bauern, Schreien, Lachen, Jauchzen schmolz zusammen zu einem tosenden Brausen, daraus manchmal der Ton einer Kindertrompete, das Kreischen einer Dirne stach.

Um den mit Stricken abgegrenzten Vorstellungsraum der Seiltänzergruppe stand eine vier- bis fünffache Menschenmauer und wartete.

Neben dem grünen Wagen, hinter einem Stück Vorhang, richtete eine alte Frau ein fünfjähriges Mädchen für die Vorstellung her. Grüne Strümpfe und das rosa Ballettröckchen hatte es schon an. Die Alte steckte ihm noch ein Kränzchen von weißen Papierrosen in das Haar. Das Kind ließ alles mit sich machen, ließ sich herumdrehen, am Röckchen zupfen, ohne sich zu beteiligen. Es lutschte an einer Zuckerstange. Die Alte färbte dem Kinde noch mit Zichorienpapier die Lippen rot und schob es wortlos weg in den Vorstellungsraum.

Das Kind kletterte auf das Podium, das sich in der Mitte befand.

Auf dem Podium stand regungslos, in grellgrünem Trikot, ein großer, starker Mann mit schwarzem Schnurrbart, die Hände im Rücken, den einen Fuß vorgestellt, und sah auf die Menge herab. Neben ihm stand mit fest durchgedrückten Waden, eine Hand in der Hüfte, ein sechzehnjähriges Mädchen in weinrotem Trikot, mit fuchsrotem Haar, das offen im Rücken hing. Sie hatte fast noch keine Brüste, lange, dünne Arme und ein braunes, mageres Gesicht.

Der Clown vor den dreien hob den großen zerknüllten Schalltrichter aus Messingblech an den Mund und brüllte, jedes Wort langsam und deutlich aussprechend, daß es dumpf über den ganzen Markt hindröhnte:

»Galavorstellung! Die große Galavorstellung der weltberühmten Künstlertruppe Harreman nimmt ihren Anfang! Die weltberühmte Künstlertruppe Harreman beginnt mit der großen Galavorstellung! Anfang! Anfang! Die Vorstellung beginnt! Anfang!«

Der Mann und das Mädchen reckten sich und sprangen vom Podium.

Der Mann blies die Trompete, das Mädchen schlug die große Pauke, der Clown die Trommel. Das Kind im Ballettröckchen stand auf dem Podium und lutschte an seiner Zuckerstange.

Was der Schalltrichter nicht ganz vermocht hatte, vollendete der Höllenlärm dieser Kapelle, der alle Orgeln übertönte. Von allen Seiten des Marktplatzes strömten die Bauern herbei. Die Produktion begann.

Mann und Mädchen standen eng Leib an Leib. Die Armmuskeln des Mannes schwollen. Der dunkle, weinrote Körper des Mädchens glitt langsam senkrecht am Männerkörper in die Höhe, über den Kopf des Mannes und, mit dem Kopf nach unten, am Rücken hinunter; wieder langsam in die Höhe, immer höher, bis das Mädchen Hand stand auf den emporgereckten Händen des Mannes. »Hoppla!« Der Mann schnellte das Mädchen in die Luft, der Körper überschlug sich, sie stand auf den Beinen.

Mann und Mädchen sprangen einige Schritte vor und forderten den Applaus heraus, wobei das Mädchen den Fuß rückwärts stellte, so daß nur die Fußspitze den Boden berührte; mit geschlossenen Augen, den Kopf tief im Nacken, rollte sie, vom Kinn weg, weich den Arm auf.

Ein Bürger sagte sonor: »Bravo.« Der Bauer neben ihm sah ihn erst an und fing dann an zu klatschen. Das Klatschen setzte sich fort und wurde unter Bravorufen allgemein.

Von jetzt ab achtete der Bauer scharf darauf, daß ihm niemand zuvorkam, den Applaus einzuleiten.

Beim Postgebäude hatten die Seiltänzer einen Mast in die Erde gerammt, der hoch über die Häuser hinaus in den Himmel ragte. Gegenüber, bei der Kirche, ragte ein ebensolcher Mast in die Luft. Ein stark hängendes Seil, quer über den ganzen Marktplatz, verband die beiden Maste. Von dem Seile hing in der Mitte senkrecht ein Strick herunter bis auf das Pflaster des schmalen Ganges, den die dicht beieinanderstehenden Buden frei ließen.

Während noch der starke Mann das Kind im Ballettröckchen im Kreis um seinen Kopf wirbelte, daß man befürchtete, er werde plötzlich nur noch das dünne Ärmchen in der Faust halten, sah man einen schmierigen, zerlumpten, dicken Mann mit einem zerlöcherten Schlapphut auf dem Kopf an dem Strick hinaufklettern, der von dem Querseil herunterhing.

Der starke Mann im grünen Trikot schimpfte: der Stromer solle herunterkommen, er ließe sofort die Polizei holen, was der Lump da oben zu suchen habe.

Der Mann mit dem Schlapphut saß in der Mitte des Seiles, so daß das gestraffte Seil zu beiden Seiten von ihm weg schief zu den Masten emporstieg. Er wippte sich im Schwung, und bald flog er dahin und zurück, in Haushöhe über der staunenden Menge.

Da fing er an, sich auszuziehen, und schleuderte Hose und Rock weit hinaus in die Luft. Wo sie niederfielen, wich man zur Seite. Der starke Mann machte Gesten des Entsetzens. Der Stromer saß aber immer noch vollkommen angezogen auf dem schwingenden Seil.

Wieder zog er einen Rock aus und noch zwei Röcke und noch drei Hosen. Man lachte, denn immer saß er angekleidet auf dem Seil. Röcke, Röcke, Hosen, drei Westen, acht, fünfzehn Westen, unglaubliche Lumpen flogen durch die Luft.

Die Menge war an die Häuser, rund um den Marktplatz, zurückgewichen. Der Mann war jetzt weniger dick. Das Seil schwang.

Der Clown beim grünen Wagen stieß plötzlich einen fürchterlichen Schrei aus. Alles erschrak und sah auf ihn. Er lachte und deutete in die Luft.

Da saß das weinrote, schlanke Mädchen auf dem schwingenden Seil.

Die Bauern sahen sich an, schlugen sich auf die Schenkel, ein Gemurmel wuchs aus der Menge, hier und da ein lautes Lachen, alle Köpfe lagen im Nacken, weiße Bärte stachen in die Luft.

Das Mädchen schnallte sich einen Riemen an die Fußfessel des einen Beins, und das andre Ende des Riemens schnallte sie an das Seil fest. Hin und her schwang das Seil. Immer höher. Sich mit beiden Händen festhaltend schwang sie die Beine nach vorne, wenn das Seil vorflog, so daß sie waagrecht, mit hohlem Rücken auf dem schwingenden Seil lag.

Die Musik setzte schmetternd ein und brach ab. Der starke Mann breitete weit die Arme aus gegen die Menge und brüllte:

»Der Riesenluftsprung! Der Riesenluftsprung! Fräulein La Lola wird sich erlauben, ihren weltberühmten, lebensgefährlichen Riesenluftsprung auszuführen!«

Da, das Seil war vorgeschwungen, daß es fast in gleicher Höhe mit den Mastspitzen war – da stieg der Mädchenkörper weich vom Seil in den Himmel hinauf und sauste, mit dem Kopf voran, weit hinaus in die Luft. Man packte sich an den Armen. Ein paar Weiber schrien auf. Die Orgeln schwiegen.

Das eine Bein an das Seil gefesselt, den Kopf und die ausgestreckten Arme nach unten, sauste der dünne, weinrote Körper mit nachflatternden, fuchsroten Haaren in mächtigem Bogen durch die blaue Luft, über den ganzen Markt, hin und her, hin und her.

Es war still. Das Schreien der in der Luft herumzuckenden Schwalben tönte in die Stille. Dann brach der Beifallssturm los.

Als das Mädchen, einen alten Männerrock um den Schultern, mit dem Blechteller sammeln ging, waren es nur wenige, die sich vom Zahlen auf die Seite drückten. Die meisten Bauern suchten ihre Kupferstücke zusammen. Mit dünner Stimme, die sich manchmal überschlug: »Trinkgeld! Trinkgeld! Den Künstlern ein Trinkgeld! Gebt ein Trinkgeld!« rufend, wandte sich das Mädchen durch die Menge. Alte Weiblein hoben die Röcke und holten aus dem dritten Unterrock ihre Lederbeutel und gaben. Die Bauernkinder waren stolz, ihren Pfennig in den Blechteller legen zu dürfen.

Es war ein großer Erfolg.

Fünf Pfennige

Nachdem Anton Seilgeher dem Mädchen aber die Druckknopfbluse geöffnet hatte, mit einem wohlberechneten Riß, und sie seine Lippen auf dem Nacken fühlte, wehrte sie sich immer weniger.

Da sah er sich als Jungen, wie er seiner Schwester die Bluse schloß. Die Druckknöpfe schnappten ein, aber die meisten gingen immer wieder von selbst auf.

Er war, die Lippen auf des Mädchens Nacken, noch nicht fertig mit dieser Erinnerung und dem Gedanken, daß seine Schwester jetzt gar nicht hierhergehöre, wollte, halb abwesend, dem Mädchen die Bluse von den festen Schultern ziehen, da riß sie sich los, und schlug ihm ins Gesicht! »So weit geht’s nicht!« – Sie muß gefühlt haben, daß ich an etwas anderes dachte. Wie fein selbst ein so robustes Mädchen in dieser Sache empfindet. »So weit geht’s nicht? So weit geht’s also nicht. Wie kann ich herausbekommen, wie weit es bei Ihnen geht? Ich müßte eben wissen, warum es bei Ihnen nicht so weit geht. Aber dafür kann’s zehntausend verschiedene Gründe geben. Vielleicht, weil Sie einmal im Hotelnebenzimmer das Bett haben knacken hören.« – Ich hätte nicht auslassen dürfen; vielleicht war, ohne daß sie es klar weiß, verletzte Eitelkeit der Grund.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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