Die Ursache - Leonhard Frank - E-Book

Die Ursache E-Book

Leonhard Frank

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Beschreibung

Ein Plädoyer für die Menschlichkeit. Der erfolglose Schriftsteller Anton Seiler kehrt als Erwachsener in die Stadt seiner Kindheit zurück. Er sucht seinen sadistischen Klassenlehrer von damals auf, den er für seine seelische Zerrüttung verantwortlich macht und zur Rechenschaft ziehen möchte. Doch als er seinem Peiniger von einst gegenübertritt, gerät die Situation außer Kontrolle: Seiler ermordet den Lehrer und wird vor Gericht gestellt. Er beginnt, den Ursachen nachzuforschen, die zu seiner Tat geführt haben

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Informationen zum Buch

Ein Plädoyer für die Menschlichkeit.

Der erfolglose Schriftsteller Anton Seiler kehrt als Erwachsener in die Stadt seiner Kindheit zurück. Er sucht seinen sadistischen Klassenlehrer von damals auf, den er für seine seelische Zerrüttung verantwortlich macht und zur Rechenschaft ziehen möchte. Doch als er seinem Peiniger von einst gegenübertritt, gerät die Situation außer Kontrolle: Seiler ermordet den Lehrer und wird vor Gericht gestellt. Er beginnt, den Ursachen nachzuforschen, die zu seiner Tat geführt haben.

Leonhard Frank

Die Ursache

Erzählung

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Über Leonhard Frank

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Lisa Ertel gewidmet

Zuerst 1915 veröffentlicht

I

Der gänzlich mittellose Dichter Anton Seiler, der in Berlin im Laufe von vierzehn Jahren die Illusionen der Jugend verloren und infolge seiner schweren Armut vergebens dagegen gekämpft hatte, sich seelisch verschmutzen zu lassen, unterlag im Winter 1907, ohne die Ursache ermitteln zu können, eines Tages dem unwiderstehlichen Zwang, in die kleine Stadt zu fahren, wo er als Sohn eines Schreinergesellen geboren worden war.

Durch den riesigen Aufwand resultatlos verbrauchter Energie war sein Gesicht scharf geworden wie das eines Verbrechers. Alle Reisenden im Abteil weigerten sich innerlich, den Dichter in die Unterhaltung mit einzubeziehen, und alle verstummten plötzlich vor Verwunderung, weil die scharfe Verbrechermaske seines Gesichtes unerwartet von einem traurigen Lächeln zerbrochen wurde, als er dem kleinen Mädchen zunickte, das im Laufgang stand und ihn lächelnd ansah.

In der Nacht vor der Reise hatte der Dichter von einem Schulausflug durch den heimatlichen Laubwald geträumt. Der gefürchtete Lehrer Mager geht voraus und wendet sich drohend um. Da wechseln wie damals die zwei Rehe über den Waldweg. Besonnte Morgendämpfe. Vogelgezwitscher. Die Fröhlichkeit geht durch mit dem Achtjährigen, über den drohenden Lehrer hinweg, und reißt alle Schulkameraden mit. Von Zweig zu Zweig mit dem Eichhörnchen emporfliegend, sitzt er auf dem höchsten wippenden Ast der Baumkrone und singt in wildem Glück hinauf in den blauen Sommerhimmel. Tief unten staunen die Schulkameraden. Plötzlich ist der Himmel tintenschwarz. Alle Schulkameraden sitzen Milch trinkend fröhlich im Wirtshausgarten – er allein steht vor dem Zaune. Der Lehrer Mager hält ein kirchturmgroßes Glas voll Milch in der Hand, in der anderen das Herz des Achtjährigen, stopft es ihm ins Gehirn und schließt den Kopf wieder. Mit diesem ununterbrochen schmerzhaft zuckenden Druck hinter der Stirn erlebte der Dichter die peinigenden Demütigungen späterer Jahre traumhaft vergrößert noch einmal.

Die Fingernägel tief in die Kopfhaut gekrallt, in dem Bemühen, das Gehirn freizulegen und den Druck herauszureißen, erwachte er, wußte nicht mehr, was er geträumt hatte, fand sich später plötzlich auf dem Bahnhof und sah dann stundenlang aus dem Fenster auf die vorübergleitende Landschaft.

»Tanten, Anfangsgründe!« hörte er wie aus weiter Ferne den ihm gegenübersitzenden Herrn zwei Damen zurufen.

»Ja, das ist keine Erziehung.« Die Damen waren dick und klein, und beide trugen Klemmer. Die vier kurzen Beine baumelten gleichmäßig über dem Kokosteppich.

Der Dichter war vergebens bemüht, sich an seinen Traum zu erinnern.

Eine der Damen sagte: »Wenn’s auch pedantisch ist, das ist ganz gut für den Jungen.«

»Ja, ich kann auch gar nicht anders. Anfangsgründe sind die Hauptsache.«

»Ganz gut für den Jungen!«

»Nein, es ist nicht gut für den Jungen«, sagte der Dichter plötzlich und blickte die Damen an.

»Wie meinen?«

»Es ist auf keinen Fall gut für den Jungen.«

Der Schaffner rief etwas Unverständliches. Der Zug fuhr langsam in die Station ein.

Das Gesicht des Dichters war wieder gespannt und scharf.

Aus dem Gefühl heraus, daß die Reisenden nicht nur weiterfuhren, sondern immer an ihm vorbeigefahren waren, verließ er ohne zu grüßen unsicher das Abteil und den Zug. Verlegen empfand er beim Durchqueren der Bahnhofshalle den Kontrast zwischen seinen neuen Lackschuhen und dem alten, schmutzigen Anzug.

Auf der Treppe blieb er zurückweichend stehen vor dem bekannten Platz, den Kirchtürmen, dem Geruch der Heimatstadt. Rasend schnell durchliefen die Erinnerungen sein Gehirn: Armut, Prügel, Demütigungen, Schulqualen. Er zog den Kopf zurück und blickte geduckt auf die Stadt. »Dieses böse Tier hat mir die Seele krank gemacht«, flüsterte er. »Nein, ich habe kein Gepäck.«

Der Dienstmann ging wieder zu seinen Kollegen. Und der Dichter fühlte sich gedemütigt, als er die geringschätzig musternden Blicke der Dienstmänner sah.

»Ich habe doch längst erfahren, daß ich ohne Gepäck kein Mensch bin«, sagte er, nachdem er sich die ganze Bahnhofsstraße hinunter gequält hatte, und taumelte erschrocken gegen ein Schaufenster, weil er glaubte, der schräg über die Straße auf ihn zukommende Herr sei Herr Mager, sein Lehrer.

Ein Schuster, der ein Paar schwebende Röhrenstiefel an den Stulpen trug, begrüßte den Herrn mit dem Titel Kanzleirat. Der Herr trat schnell von einem Fuß auf den anderen und beschwerte sich, zornig mit den Händen fuchtelnd, weil seine Schuhe knarrten. Der Schuster beugte sich hinab, drückte prüfend das Oberleder und zuckte die Schulter – da sei nichts zu machen. Der Kanzleirat fauchte speichelspritzend den Schuster an und schritt knarrend davon.

Im Dichter, der während der ganzen Reise vergebens darüber nachgegrübelt hatte, was ihn gezwungen habe, in die Heimatstadt zu fahren, war durch den unvermittelt plötzlichen Haß auf seinen Lehrer die Denkfähigkeit vollständig ausgelöscht worden.

Er lehnte noch gelähmt am Schaufenster und sah dem Kanzleirat nach, den er für seinen Lehrer gehalten hatte. Allmählich stellte die Denkfähigkeit sich wieder ein und mit ihr die vom Lehrer Mager erlittenen Demütigungen, die er in den vierzehn Berliner Jahren oftmals kritisch durchdacht hatte. »Diese Demütigungen können nicht der Grund meines Hasses sein«, flüsterte er. »Aber ist es denn möglich, daß demütigende Kindheitserlebnisse, die man vergessen hat, im Gefühlsleben eines erwachsenen Menschen ein dunkles Dasein weiterführen und plötzlich einen Haßausbruch verursachen?« Der Druck unter seinem Brustbein sprach dafür.

»Aber was war es …? Was war es?« flüsterte er, schloß die Augen und horchte, ohne zu denken, nach innen. Plötzlich roch er Kaffee, sah den Vater, wie er am frühen Morgen die Wohnung verließ, und eine Frau, die zum Fenster hinaus »Caro« rief–Erinnerungsfetzen, die er anfangs in keinen Zusammenhang bringen konnte, die sich jedoch durch ein weiteres Glied (der Hund fährt kläffend nach ihm) zu einem bestimmten Schultage verdichteten. Seine Beklemmung steigerte sich. Er sieht die Bankreihen. Frohe Aufregung unter den Schülern. Plötzlich wird ihm heiß. ›Wegen des Schulausfluges!‹

»Schulausflug?« fragte der Dichter sich immer noch, als er schon die enge, dumpfriechende Treppe zur Elternwohnung hinaufstieg. Belastet und verwirrt blieb er vor der Gangtür stehen, ohne zu läuten, weil er fühlte, daß er nahe daran war, die Ursache seines Hasses gegen den Lehrer zu finden. »Schulausflug durch den Wald … Wald.« Da verlor er wieder das Gedächtnis so vollständig, daß er nicht wußte, wo er sich befand, als der Vater die Tür öffnete und erstaunt zurückwich, weil sein Sohn ihm »tückisch … tückisch« ins Gesicht sagte.

»Kommst du endlich einmal zu uns?«

»Ja, wegen des Lehrers!«

»Wegen des Lehrers …? Geh nur hinein, Anton, zur Mutter. Ich muß in die Singprobe.«

»So …? Bist du immer noch Vorstand des Gesangvereins ›Zwischen grünen Bäumen‹?«

»Ja freilich!« Der Vater lächelte freundlich und schüttelte seinem Sohne die Hand, eilig, um rechtzeitig in die Singprobe zu kommen. »Geh nur hinein zur Mutter.«

Schweißnaß geworden, begrüßte er die Mutter, der schnelle Tränen in die Augen stiegen.

»Nun, Mutter«, sagte er weich und unterdrückte das Schluchzen.

»Das weiß ich nicht, wie lange ich hierbleibe.«

Die Mutter legte die Fingerspitzen, die von der Hausarbeit stumpf geworden waren, an den Mundwinkel.

»An was denkst du denn, Mutter?«

»In diesem Bett schläft der Vater und ich in dem.«

Der Dichter sah im einzigen Zimmer umher, in dem seit Jahrzehnten nichts verändert worden war. Nur der Stahlstich nach einer Kreuzigung von Rubens fehlte. »Ich schlafe eben wie früher auf dem Kanapee … Wo ist denn der Christus?«

»Den hab ich für eine Mark verkauft.«

»So, du hast den Christus verkauft …? Unsern Christus?«

»Ja. Oh, Gott! Es ging halt nicht anders … Womit soll ich denn deine schönen Schuhe putzen? Wir haben nur unsere Fettglanzwichse.«

»Jetzt muß ich dich aber doch fragen, Mutter. Sag, bist du denn wirklich soviel kleiner geworden?« Er sah verwundert hinunter auf ihren weißen Scheitel, und sie lächelnd auf zu ihm. »Ich war doch nie größer.«

›Und das Leben könnte so schön sein‹, dachte der Dichter. ›Reisen, Arbeit, Ruhm, eine Frau mit weißem Gesicht und dunklen Augen. Das Schlafzimmer – schön beleuchtet.‹ – »Hast du’s erfahren, Mutter? Einsperren wollten sie mich, wegen meines Artikels.«

»Ja, ich hab’s gelesen … Ich hab ihn aber verstanden. Ich sag dir, ich hab deinen Artikel gut verstanden.«

»Sie nannten mich einen Weltverbesserer.«

»Ja, ja … Wenn der Vater nächstes Jahr wirklich eine Mark Wochenlohn mehr bekommt, dann geht’s uns auch besser. Dann wird’s schön sein.«

»Fünfundsechzig ist der Vater jetzt?«

»Oh, ins Siebenundsechzigste geht er!«

›Guter Gott, dann wird’s schön sein, glaubt sie … Immer noch Illusionen, immer noch!‹ dachte der Dichter. Sein Leben lag entlarvt vor ihm. »Dann wird’s schön sein«, sagte er, überkommen plötzlich von Zärtlichkeit, worauf die Mutter beglückt ihn neben sich aufs Kanapee zog.

Da schritt durch die nach vierzehn tödlich harten Jahren zum ersten Male wieder empfundene Weichheit der Lehrer. Das Gesicht des Dichters wurde spitzig.

Es klingelte. Der Dichter war so abwesend, daß er nicht bemerkte, wie die Mutter aus dem Zimmer ging.

›Schulausflug … Durch den Wald‹, dachte er, den Atem angehalten, und horchte dabei gleichzeitig auf das Schimpfen der Frau in der Küche.

›Wie ein junges Mädchen sieht sie jetzt aus‹, dachte der Dichter gerührt, als er seine Mutter ansah, die verlegen zurückkam. Bis zum weißen Scheitel war ihr die Schamröte gestiegen.

Seine Gedanken kehrten sofort zum Schulausflug zurück.

»Die Milch …«

»Die Milch?« unterbrach der Dichter entsetzt.

»Weil ich die Milchrechnung nicht bezahlen konnte.«

»Halt!« brüllte er und sprang auf. »Nein, still!« Mit der Hand hielt er die Mutter weg und blickte starr auf das Kindheitserlebnis, das er plötzlich scharf und klar sah. Sein ganzer Körper begann zu zittern, sein Gesicht verzerrte sich wie das eines Verfolgungswahnsinnigen, den der Arzt in eine Krise versetzt hat. Bebend klammerte er sich an die Mutter an. Der Traum blitzte auf. Und seine weiß gewordenen Lippen formten die Worte: »Weil ich bei dem Schulausflug die zehn Pfennige nicht hatte, um das Glas Milch bezahlen zu können …«

»Anton! Anton! Oh, Gott! Was ist denn …? Willst du ein Glas Milch?«

»… ließ mich der Lehrer nicht mit in den Wirtschaftsgarten gehen. Ich mußte vor dem Zaune stehen … vor allen Schulkameraden.« Er stieß ein klagendes Wimmern aus.

»Anton, komm doch zu dir! Ich geb dir Wasser … Ein Glas Milch!«

Da flehte der Dichter kindlich: »Oh, bitte, Glas Milch …! Mir auch Milch!«

Als die Mutter zurückkam, war die Krise vorüber. Lächelnd saß er auf dem Kanapee und nahm glücklich wie ein Knabe die Milch aus der Mutter Hand.

»Acht Jahre war ich alt, damals.«

»Was ist denn?«

»Ganz vergessen hatte ich es.«

»Von was redest du?«

»Später! Ich erzähl es dir später.« Er hob das Milchglas. »Die Milch ist nicht bezahlt?«

»Jetzt warum redest du so …! Das richt ich schon alles noch.«

»Mutter, Milch muß man bezahlen können … Sonst leidet man siebenundzwanzig Jahre lang darunter.«

»Dich versteh ich nicht mehr.«

Er stellte das Milchglas auf den Tisch zurück, ohne getrunken zu haben. »Ihr seid also immer noch so furchtbar arm?«

»Oh, Anton …! Aber wenn der Vater jetzt eine Mark Wochenlohn mehr bekommt, dann geht’s uns besser. Wir sehen getrost in die Zukunft.«

»So wird man zum Weltverbesserer.«

»Das Brot soll jetzt auch um drei Pfennige billiger werden … Erinnerst du dich noch? Als Junge bist du oft an die Rückseite der Infanteriekaserne gegangen, um Kommißbrot von den Soldaten zu bekommen. Die essen lieber Weißbrot.«

»Und einmal haben die Soldaten einen Eimer voll Spülwasser über mich geschüttet, anstatt mir Brot zu geben.«

»Tropfnaß bist du heimgekommen.« Die Mutter legte dem Dichter die Hand auf die Schulter und lächelte. »So naß wie ein Hund, der ins Wasser gefallen war! Oh, und fettig warst du!«

»Und der Vater hat mich geprügelt dafür.«

»Ja no, weil halt dein ganzer Anzug verdorben war.«

Der Dichter sagte nachdenklich: »Viele solche Dinge! Aber das mit der Milch hatte ich vergessen.«

»Trink sie doch!«

»Warum nicht!«

»Und ich muß jetzt ins Bett, Anton. Der Vater muß schon um fünf Uhr auf die Arbeit … Ich richt dir das Kanapee zum Schlafen.«

Sie legten sich nieder. Der Perpendikel der Schwarzwälder Uhr glitt zwischen Mutter und Sohn hin und her.

›So viele Familien es gibt, so viele Wohnungsgerüche gibt es‹, dachte der Dichter. »Hier riecht’s nach Schweiß und Stroh«, flüsterte er im Halbschlaf. »Nach Vater.«

»Der Vater kommt auch bald heim.«

»Das Käfiggitter ist aus Gold.«

»Was sagst du?«

»Nein, ich habe kein Gepäck.«

»Schläfst du?« Die Mutter horchte auf die Atemzüge ihres Sohnes und verlöschte die Kerze.

Den folgenden Tag, beim Spaziergang durch das Heimatstädtchen, schienen dem Dichter die Häuschen kleiner geworden, zusammengeschrumpft, zur Hälfte in die Erde gesunken zu sein.

Als er noch einmal durch die einzige Geschäftsstraße ging, war er schon im Bilde seiner Kindheit. Nichts hatte sich verändert im Städtchen. Nur dreißig Meter Asphalt waren in der Geschäftsstraße gelegt worden. Lächelnd beobachtete er die Bürger, die stehenblieben und sich befriedigt über den Asphalt unterhielten.

Der Dichter ging in ein Café, durchblätterte die neuesten Zeitungen und fand, daß er sie schon vor seiner Abreise in Berlin gelesen hatte. Wie einen Automobilrennfahrer, dessen Motor auf der Strecke aussetzt, befiel ihn Beklemmung, in dem Bewußtsein, sich in einer Stadt zu befinden, die drei Tage hinter der Welt herlebte.

Die Öde steigerte sich, da es ihn beim Rückweg wieder zur Geschäftsstraße zog, die ihm schon nichts mehr Neues bot.

Er bog in die Lochgasse ein. Sie war dunkel und so eng, daß die Dachrinnen der krummen Häuserreihen sich fast berührten.

Erst als er schon vor dem Hause stand, dachte er daran, daß auf seine Frage hin die Mutter ihm gesagt hatte, der Herr Lehrer Mager wohne jetzt in der Lochgasse.

›Früher wohnte er doch am Rennweg.‹ Der Dichter las den Namen auf dem Porzellanschild, blickte am Hause empor und fragte sich mißtrauisch, wieso denn erst jetzt, da er schon vor dem Hause stand, ihm einfiel, daß die Mutter gesagt hatte, der Lehrer Mager wohne jetzt in der Lochgasse.

Da erinnerte er sich, daß er nach dem ergebnislosen Versuch in der Eisenbahn, sich seinen Traum ins Gedächtnis zu rufen, flüchtig daran gedacht hatte, den Lehrer zu besuchen. Dieser wiederholten Vergeßlichkeit wegen steigerte sich sein Mißtrauen. ›Fehlt mir vielleicht der Mut, den Lehrer zu besuchen, weil ich diese Angelegenheit zweimal von mir wegschob?‹

Plötzlich raste sein Herz, durch den Entschluß, die Treppe hinaufzusteigen. Die Angst des Schulknaben war ihm in die Brust gesprungen. In Gedanken stand er vor dem Lehrer, achtjährig, und mußte die Augen schließen und die Hände tastend vorstrecken, um ein Minimum von Selbstbeobachtung erübrigen zu können.

»Aber ich bin doch fünfunddreißig Jahre alt«, sagte er laut, las grübelnd den Namen auf dem Schild, klinkte die Haustür auf – da verschwanden Jahre und Lebenserfahrung. Als Schulknabe schlich er angstbefangen aus der dunklen Lochgasse.

»Es ist mir also unmöglich?« fragte er sich und blieb stehen in der sonnigen Geschäftsstraße. »Bringe die Angst nicht heraus aus mir …? Ist das mit allem empfangenen Leide so? Trägt der Mensch alle erlittenen Demütigungen mit sich herum, bis ins hohe Alter? Wird sein ganzes Leben davon bestimmt …? Ich fahre einfach nach Berlin zurück. Was geht mich der Lehrer an«, sagte er und ging in der Richtung der Wohnung seiner Eltern, um Abschied zu nehmen.

Im Spiegelglas eines Schaufensters sah er sein Gesicht – ein trotziges Schulknabengesicht. Verblüfft starrte er es an, so daß es sich unter seinem Blick in das verblüffte Gesicht eines Mannes verwandelte.

»Mit Trotz ist nichts erledigt«, flüsterte er. Dennoch wandte er sich plötzlich um und eilte dicht an den Häuschen entlang, fluchtartig zum Bahnhof.

II

»Den Sack mit Ihren Sachen habe ich auf den Speicher getragen«, sagte seine Berliner Wirtin und blieb kampfbereit im Flur stehen. »Mein neuer Zimmerherr hat die zwei Großen vornehinaus gemietet, und da hat er Ihre Kammer dazu gewollt.«

»Ich hatte ja nicht gekündigt.« Der Dichter blickte unausgesetzt aufs Flurfenster, gegen das die harten Schneeperlen prasselten.

»Mein neuer Zimmerherr hat gleich für zwei Monate vorausbezahlt.«