Das Potenzial des Inneren Kindes nutzen - Petra Dannemeyer - E-Book

Das Potenzial des Inneren Kindes nutzen E-Book

Petra Dannemeyer

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Beschreibung

Gebrauchsanleitung fürs Glück Viele Menschen haben das Gefühl, nicht das Leben zu leben, das sie sich wünschen. Die Unzufriedenheit kommt diffus daher – schwer erklärbar und damit scheinbar unveränderlich. In der Literatur wird oftmals das verletzte innere Kind als Ursache dieser Probleme ausgemacht. Gewiss spielt es eine Rolle – doch, so die Botschaft dieses Buches: Du bist zu alt, um deine Eltern verantwortlich zu machen! Petra und Ralf Dannemeyer verfolgen einen anderen Ansatz: Die Entdeckung des Wesenskerns, des „Wer-ich-wirklich-bin“. Sie identifizieren sieben emotionale Gifte, die sich wie ein grauer Schleier um den Wesenskern legen, bis der Mensch „vergessen“ hat, wer er wirklich ist. Die Autoren zeigen Wege auf, den Wesenskern wieder erstrahlen zu lassen und sich damit von Einschränkungen und Konditionierungen emotional zu befreien. Zahlreiche Selbstcoaching-Übungen dienen der sofortigen Umsetzung im Alltag. Ein psychologischer Mutmacher, eine Gebrauchsanleitung fürs Glück!

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Seitenzahl: 415

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Petra Dannemeyer & Ralf DannemeyerDas Potenzial des Inneren Kindes nutzenDein Weg zu emotionaler Freiheit

Über dieses Buch

Gebrauchsanleitung fürs Glück 

Viele Menschen haben das Gefühl, nicht das Leben zu leben, das sie sich wünschen. Die Unzufriedenheit kommt diffus daher – schwer erklärbar, scheinbar unveränderlich. In der Literatur wird oftmals das verletzte innere Kind als Ursache dieser Probleme ausgemacht. Gewiss spielt es eine Rolle – doch, so die Botschaft dieses Buches: Du bist zu alt, um deine Eltern verantwortlich zu machen! Petra und Ralf Dannemeyer verfolgen einen anderen Ansatz: Die Entdeckung des Wesenskerns: wer ich bin. Sie identifizieren sieben emotionale Gifte, die sich wie ein grauer Schleier um den Wesenskern legen, bis der Mensch „vergessen“ hat, wer er ist. Die Autoren zeigen Wege auf, den Wesenskern wieder erstrahlen zu lassen und sich damit von Einschränkungen und Konditionierungen emotional zu befreien. Zahlreiche Selbstcoaching-Übungen dienen der sofortigen Umsetzung im Alltag. 

Ein psychologischer Mutmacher, eine Gebrauchsanleitung fürs Glück! 

Bonusmaterial: 7 Online-Meditationen

Dr. phil. Petra Dannemeyer und Ralf Dannemeyer (lic. rer. publ.) beschreiben sich selbst als „Architekten der Veränderung“. Seit mehr als 20 Jahren begleiten sie Einzelpersonen und Organisationen durch Veränderungsprozesse. Er studierte Journalistik und arbeitete als Wissenschaftsjournalist. Sie studierte Philosophie, Psychologie und Pädagogik und leitete eine psychologische Beratungsstelle. Das Ehepaar lebt in Weimar und Ammoudia (Griechenland).

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2020

Coverfoto: © pzaxe – 123rf.com

Autorenfoto: Matthias Eckert – www.fotowerkstatt.com

Illustrationen im Buchinneren: Katja Czech; Christian Berger (Abbildungen zum Persönlichkeitspentagramm und zum Meridianklopfen; www.mindreflection.de)

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2020

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0070-3

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0084-0 (EPUB), 978-3-7495-0086-4 (PDF),  978-3-7495-0085-7 (MOBI).

Dieses Buch dient Menschen, deren Interesse primär ihrem persönlichen Wachstum gewidmet ist. Was die Leserinnen und Leser damit in der Praxis anfangen, unterliegt ihrer eigenen Verantwortung. Insbesondere ist der Inhalt nicht als Ersatz für ärztliche oder psychotherapeutische Behandlungen zu verstehen.

Für all die Menschen, die sich uns anvertraut, die mit uns geforscht,
die uns zugehört und mit uns um neue Erkenntnisse gerungen haben.

Dieses Buch ist eine Hommage an die Liebe und die Kraft der Menschen.

Zur Einstimmung: zwei Vorworte in einem

„Du bist zu alt, um deine Eltern verantwortlich zu machen.“

Dieser Satz begleitete mich, Petra Dannemeyer, in meiner therapeutischen Arbeit immer wieder. Dreizehn Jahre lang leitete ich eine psychologische Beratungsstelle. Es kamen Manager und selbständige Handwerker mit psychosomatischen Störungen, weil es ihnen nicht gelang, ihre beruflichen und privaten Herausforderungen unter einen Hut zu bringen. Oder Eltern, die vor dem Scherbenhaufen ihrer zerbrochenen Ehe standen und nun wenigstens für die gemeinsame Erziehung ihrer Kinder nach einer guten Lösung suchten. Ich arbeitete mit Frauen, die noch als Erwachsene unter den ihnen zugefügten Schmerzen und Demütigungen aus der Kindheit litten. Besonders beklemmend war es für mich, wenn Mädchen und Jungen aus dem örtlichen Kinder- und Jugendheim mir nach zumeist langwieriger Blockade ihre Geschichte offenbarten. Ich erlebte, was es bedeutet, wenn einem kleinen Menschen die Seele gebrochen wird. Der Heimleiter, ein guter Freund und Kollege, schickte mir auch Jugendliche. Er hoffte, dass sie im therapeutischen Einzelsetting lernen würden, ihre unbändige Wut zu zügeln.

Meine scheinbar so verschiedenen Fälle hatten einen gemeinsamen Nenner: Die Menschen sehnten sich nach Liebe und Glück. Doch sie fühlten sich als Opfer und litten darunter. Allein fanden sie keinen Ausweg aus dieser Rolle.

Das war vor 27 Jahren. Ich kam damals aus der Forschung und fühlte mich noch unerfahren in therapeutischen Dingen. Doch ich brannte darauf, verborgene Muster und Strukturen in meinem neuen Wirkkreis zu ergründen. Die Frage, die mich während dieser Zeit umtrieb, kann ich heute beantworten: Was genau ist es, das diese Menschen von ihrer emotionalen Not befreit? Was könnte ihnen, jenseits von „Tsjakkaa“ und Problembagatellisierung, nachhaltig helfen? Und da setzte sich der Grundgedanke dieses Satzes durch: Du bist zu alt, um deine Eltern verantwortlich zu machen.

Ich begriff, dass es ihnen nicht half, den Eltern oder den Umständen die Schuld für die eigene Lebensgestaltung zuzuschreiben. Das lenkt nur ab vom eigentlichen Thema und vom eigenen Potenzial. Emotional frei werden setzt voraus, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Das bringt die Menschen neu in Kontakt mit ihrem Wesenskern, mit ihren Träumen und Sehnsüchten. Wem es gelingt, den Fokus auf sich selbst zu richten, findet bald einen Weg, die emotionalen Verstrickungen der Vergangenheit zu entwirren und abzustreifen.

Dieser Lösungsansatz war und ist für mich die Antwort auf meinen selbst gestellten Forschungsauftrag: Warum erleben sich einige Menschen als Opfer – gefangen in Unzufriedenheit, Wut oder einer stabilen Grundtraurigkeit –, während andere mit einem durchaus ähnlichen Schicksal ein glückliches Leben führen? Diese Forschung führe ich in meiner Arbeit als Trainerin und Coach auch heute weiter. Das Ergebnis, den heutigen Stand der Erkenntnisse, findest du in diesem Buch.

*

„Man muss sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen.“

Dieser Satz von Viktor Frankl* begleitete mich, Ralf Dannemeyer, in meiner Arbeit als Wissenschaftsjournalist und inspiriert mich heute als Coach und Trainer. Ich erlebte, wie Frauen und Männer auf den oberen Stufen der Karriereleiter unter dem Druck des eigenen Anspruchs oder der öffentlichen Meinung zusammenbrachen. Ich weiß, wie sich eine Schreibhemmung anfühlt – und wie der dadurch aus den Tiefen des Unbewussten aufsteigende Selbstzweifel das Leben verdunkelt. Ich erlebe heute als Coach und Trainer, wie erfolgreiche Menschen an Auftrittsangst leiden, Konflikte nicht aushalten oder an dem Gedanken verzweifeln, Aufträge und Erfolge könnten ausbleiben.

Ein Aspekt verbindet diese Menschen: die Angst, Opfer zu werden. Völlig unabhängig vom konkreten Thema schlummert sie gut getarnt im Unbewussten. Sie zeigt sich nicht als die Illusion, die sie in Wahrheit ist. Sondern sie spült diffuse weitere Ängste aus dem Inneren hoch: Wehe, wenn du ausgelacht oder kritisiert oder allein gelassen wirst! Wehe, wenn du versagst und deinen Job verlierst!

Die Betreffenden werden meist nicht Opfer einer zwingenden Realität, sondern ihrer Ansprüche und Ängste und, vor allem, der uralten Überzeugung, nicht zu genügen.

Sie lassen sich von sich selbst ziemlich viel gefallen!

Seit über 30 Jahren treibt mich die Frage um, wie Menschen ein gelingendes Leben führen können, wie sie ihren Sehnsüchten folgen und ihre Träume wahr werden lassen. Die Ergebnisse dieser Forschung findest du in diesem Buch.

*

Der Weg zu emotionaler Freiheit ist unser Herzensanliegen in der gemeinsamen Arbeit. Wir beide sind ihn selbst gegangen. Wir wissen, wie steinig er manchmal sein kann. Wie steil es anfangs nach oben geht und wie beängstigend mitunter auch die Abgründe sind, die sich bei einem Rückschritt plötzlich auftun können. Und wir beide haben erfahren, wie leicht es ist, an sich selbst zu zweifeln, anderen die Schuld zu geben und sich als Opfer zu fühlen. Wir wissen aber auch, wie unbefriedigend dieser Zustand ist. Und wie viel beglückender es ist, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, die Aufstiege zu wagen und auch in die Abgründe zu schauen. Nach Lösungen zu suchen und Rückschritte mit Gelassenheit zu korrigieren.

Wenn dir das nur ein-, zweimal gelingt, weißt du, dass du es kannst! Und damit hast du die große Magie der Veränderung entdeckt: lieben und vertrauen. Liebe zu dir selbst und Vertrauen in die eigene Kraft. Wenn es dir gelingt, dich aus alten Verstrickungen zu befreien, wirst du erkennen, was dein ureigener Wesenskern ist – also: wer du bist. Dann möchtest du wahrscheinlich erforschen, wonach du dich schon dein Leben lang sehnst und wie du deine tiefste Sehnsucht Realität werden lässt.

Dieses Buch lüftet das Geheimnis um diesen Wesenskern: Was er ist, wie er sich hinter den Masken des Egos versteckt und wie du seinen grauen Mantel in den schönsten Farben neu erstrahlen lässt. Sei gespannt!

Wir zeigen dir in diesem Buch Möglichkeiten, deinem Inneren Kind zu begegnen und dich aus den Verstrickungen deiner Vergangenheit zu befreien, deine Eltern oder die Umstände endlich aus der Verantwortung für dein Leben zu entlassen und dir von deinem Ego nicht mehr alles gefallen zu lassen.

Das ist unserer Ansicht nach die Voraussetzung für ein glückliches, selbstbestimmtes Leben. Tief in deinem Inneren wächst damit eine Kraft, die dich auch in Krisen stärkt, damit du diese leichter meistern kannst.

Unser Buch ist dafür geschrieben, Liebe in die Welt zu senden. Unser leitendes Motiv, unsere tiefste Sehnsucht ist es, die Erde zu einem Ort zu machen, an dem Menschen sich einander emotional frei und zugleich mit Respekt und Wertschätzung zuwenden. Diese Veränderung beginnt bei der Liebe zu sich selbst. Denn nur wenn du in der Lage bist, dich selbst aufrichtig zu lieben, wirst du wissen, wie du diese Liebe mit anderen teilen kannst.

Wir wünschen dir viel Spaß mit diesem Buch, wir wünschen dir Aha-Erlebnisse und die Kraft und den Mut, Neues auszuprobieren.

Willkommen in unserer Welt!

Deine Petra Dannemeyer 

Dein Ralf Dannemeyer

PS: Es wird dir schon im Vorwort aufgefallen sein, dass wir einfach „du“ sagen, wie in unseren Seminaren. Das schafft für uns die Nähe und das Vertrauen, die aus unserer Sicht der Nährboden für eine motivierende Lernatmosphäre sind. Oder, um es mit dem Philosophen Martin Buber (1962, Seite 79 f.) zu sagen: „Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Liebe ist die Verantwortung eines Ich für ein Du. Am Anfang steht die Beziehung. Der Mensch wird am Du zum Ich.“

PPS: Ein paar Worte zu unserer Genderregelung. Wir finden, dass Formulierungen wie „Teilnehmerinnen und Teilnehmer“, „Klientinnen und Klienten“, „Politikerinnen und Politiker“ Texte in die Länge ziehen, den Lesefluss stören und gestelzt klingen. Andererseits schließt eine rein männliche Formulierung fast die Hälfte der Menschheit sprachlich aus (laut Deutsche Stiftung Weltbevölkerung [2019] leben heute 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde – 3,82 Milliarden Frauen, 3,89 Milliarden Männer). Deshalb wechseln wir im Text zwischen den Geschlechtern, wählen mal die feminine, mal die maskuline Form. Und gelegentlich nutzen wir, wenn es sich gut in den Lesefluss einfügt, das Gendersternchen, also zum Beispiel Kämpfer*in oder Spieler*in. Gemeint sind immer Männer und Jungen, Frauen und Mädchen ebenso wie Transgender – eben alle Menschen dieser einen Welt.

*  Viktor Frankl (1905–1997) war Neurologe und Psychiater. In seinem Buch … trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (2018) beschreibt der Österreicher, wie es ihm gelang, an einem Ort der größten Unmenschlichkeit den Glauben an den Sinn des Lebens aufrechtzuerhalten.

TEIL I: WAS IST DIE MITGIFT?

Wir beginnen unsere Reise durch dieses Buch mit einem großen Wunder: der Geburt eines Menschen. Der Wesenskern ist noch unangetastet. Der Mensch ist emotional frei. So kommen wir auf diese Welt.

Doch damit ist es bald vorbei. Noch bevor unser Gehirn so ausgebildet ist, dass wir unseren Wesenskern bewusst leben könnten, haben wir vergessen, wer wir sind. Denn wir leben in einer ständigen Liebe-Angst-Polarität. Die macht uns glauben, es wäre gefährlich, uns so zu zeigen, wie wir sind. Also setzen wir Masken auf und spielen unsere Rollen. Die Angst vor der Verletzung unseres sogenannten Inneren Kindes lässt uns nach bestimmten Mustern „schwingen“. Immerzu. Dabei entfernen wir Menschen uns immer weiter von unserem Wesenskern und büßen in diesem Prozess der Entfremdung von uns selbst immer mehr von unserer emotionalen Freiheit ein.

Wir zeigen in diesem Buch, dass wir Menschen im Grunde Königinnen und Könige sind oder Heldinnen und Helden oder – na, jedenfalls ganz besondere Wesen. Aber leider ist davon nicht mehr viel zu spüren, wenn wir erst unsere emotionale Freiheit verloren haben.

Doch der Reihe nach: Lies im ersten Teil, welche Strukturen und (Familien-)Regeln dazu führen, dass wir vergessen, wer wir sind. Damit bist du gut vorbereitet auf den zweiten Teil. Der hilft dir, eine Strategie zu entwickeln, mit der du dir deine emotionale Freiheit Stück für Stück zurückholst. Dann kannst du deine tiefste Sehnsucht leben.

Sei gespannt!

1. Geburt und Vergessen

„Ein neugeborenes Baby ist wie der Anfang aller Dinge – es ist Staunen, Hoffnung, Traum aller Möglichkeiten.“

– Eda J. LeShan*

1.1 Wir kommen emotional frei auf die Welt

Wie erlebt ein Fötus seine Geburt? Wir wissen es nicht, können es nicht wissen. Das Neugeborene kann es uns nicht mitteilen. Und wenn es ein paar Jahre später über die Fähigkeit verfügt, zu denken und die Gedanken in Worte zu fassen, kann es sich nicht mehr erinnern. Wenn wir so wenig über die Wahrheit sagen können, arbeiten wir gern mit der Theorie des Als-ob (Vaihinger, 2013). Das ist ein philosophischer Ansatz, bei dem etwas ganz und gar Unrealistisches für einen Moment als wahr unterstellt wird. Das Ziel sind Forschung und Erkenntnisgewinn. In diesem Buch wirst du häufiger die Wirkung der Theorie des Als-ob erleben. Tun wir einstweilen mal so, alsob das Neugeborene uns von seiner Geburt berichten könnte. Dann würde es vielleicht Folgendes sagen:

Das Baby: „So erlebe ich meine Geburt“

„Der Raum, der mich umgibt, ist dunkel und warm. Ich fühle mich schwerelos. Aus der Ferne kann ich Geräusche wahrnehmen, mal lauter und dann wieder leiser. Ich werde sanft geschaukelt. Manchmal spüre ich, wie etwas den Raum um mich berührt. Es fühlt sich sanft an. Alles ist vertraut und sicher, schon seit langer Zeit. Doch heute spüre ich einen Impuls. Ich weiß jetzt, dass die Zeit gekommen ist, diesen Raum zu verlassen. Der Weg führt in einen winzigen engen Tunnel. Ich werde es schaffen, ihn zu durchqueren.

Und jetzt spüre ich auch, dass ich Hilfe bekomme. Eine starke Anspannung, ein Pressen in dem Raum um mich, hilft mir, meine Reise zu beginnen. Ich komme ein Stück voran. Dann die zweite Anspannung, und wieder schiebe ich mich vorwärts. Die Geräusche außerhalb des Raumes werden lauter. Plötzlich wird es um mich herum heller und kühler. Und dann gibt der Tunnel mich frei. Ich bin orientierungslos, habe für einen kurzen Moment Todesangst, denn das Licht blendet mich und mir ist, als ob ich ersticke und vielleicht ins Bodenlose falle. Doch ich will leben!

Mit einem lauten Schrei befreie ich mich von meiner Angst. Plötzlich kann ich atmen. Ich spüre, wie ich getrennt werde von dem Wesen, in dessen Raum ich gelebt habe. In mir ist der tiefe Wunsch nach Wärme und Berührung. Und schon werde ich geschaukelt, fast so wie in dem Raum. Ich werde sicher gehalten und eingehüllt in weichen Stoff. Ich rieche das Wesen, welches mich mit einem Lächeln ansieht. Es riecht so ähnlich, wie es in dem Raum roch, in dem ich so lange gelebt habe. Und dann schmecke ich die Brust, die mich sofort nährt. Ich bin voller Glück und Liebe. Es ist einzigartig, auf dieser Welt zu sein.“

So oder ähnlich könnte ein Baby seine Geburt erleben, wenn es auf dieser Welt willkommen geheißen wird.

Genauer wissen wir es von den Müttern, denn sie können es uns erzählen:

Die Mutter: „So erlebe ich die Geburt meines Kindes“

„Meine Hände umschließen sanft die Wölbung meines Bauches. Es hat sich wieder bewegt. Mit sanfter Stimme spreche ich zu ihm. Seit Tagen warte ich darauf, dass die Reise beginnt. Jetzt scheint es so weit zu sein. In dem Zimmer, in dem ich mein Kind zur Welt bringen werde, umgeben mich helle Farben; ich sehe ein Wasserbecken, ein großes Bett und ein Windspiel, dessen Töne mich sanft einhüllen. Am Bett steht ein CTG – also ein Wehenschreiber. Er hat mir vor ein paar Minuten signalisiert, dass das Kleine seine Reise bereits begonnen hat.

Ich nehme einen tiefen Atemzug und rieche den angenehmen Duft frischer Kräuter. Meine Bauchdecke zieht sich unter den Kontraktionen der Wehen zusammen. Es ist ein Schmerz, der sich so anders anfühlt als all die psychischen und körperlichen Schmerzen, die ich in meinem Leben bisher kennengelernt habe. Der Schmerz verbindet sich mit dem Gefühl tiefer Liebe, tiefen Vertrauens in meine Kraft und großer Hoffnung. Ich weiß, dass ich das hier schaffen werde. Und indem ich das denke, kommen mir auch Zweifel.

Kann ich eine gute Mutter sein? Wird sich mein Kleines wohlfühlen? Werde ich es so lieben können, dass es glücklich wird? Und wird es mich lieben? Die nächste Schmerzwelle reißt die Zweifel mit sich fort. Ich konzentriere mich auf das, was jetzt geschieht. Und als hätte das Kind nur auf diesen Moment gewartet, befreit es sich aus der Enge und wird ans Licht gespült. Kurz ringt es nach Luft, dann erfüllt ein greller Schrei den Raum. Das Baby schließt die Augen, als wäre es vom Licht geblendet, und sein Kopf bewegt sich suchend hin und her. Die Hebamme trennt die Nabelschnur, die uns noch immer verbindet. Ein beglückender und zugleich schmerzhafter Prozess. Nicht, dass die Durchtrennung der Nabelschnur körperliche Schmerzen bereitet, nein: Es tut seelisch so sehr weh, dass ich weinen möchte. Denn jetzt ist die Einheit zwischen uns aufgehoben, wir sind zwei getrennte Wesen in einem gemeinsamen Leben. Doch im Moment mag ich die Trennung nicht akzeptieren. Sanft wiege ich das Kind in meinen Armen und spüre erneut die Verbundenheit zwischen uns. Bewundernd schaue ich auf mein Kind. Es ist, als wären wir eingehüllt in ein sanftes Leuchten.

Ich merke ihm die Anspannung der letzten Stunden nicht an. Ich spüre die Liebe, die von ihm ausgeht, das Vertrauen und die Authentizität. Es hat keine Angst, obwohl es doch gerade erst seinen seit Monaten vertrauten Raum verlassen hat. In der neuen Welt ist es lauter, heller, kühler, und mein Baby ist plötzlich auf sich allein gestellt. Die Nahrung, die es in meinem Körper einfach so bekommen hat, muss es sich jetzt selbst holen, es muss allein atmen und es könnte fallen, wenn ich es nicht halte. Doch das Kind vertraut der neuen Welt, von der auch ich ein Teil bin. Es ist eingeschlafen und seine Sanftheit rührt mich zu Tränen. Ich lasse es zu und weine – vor Glück.“

1.2 Das einzigartige Potenzial des Menschen

Wenn ein Kind auf die Welt kommt, trägt es Licht und Liebe in seine neue Umgebung. Sein einzigartiges Potenzial ist gewissermaßen sein Begrüßungsgeschenk. Ob und wie es sich entwickelt, wie intensiv das Licht in den folgenden Jahren im Leben des Menschen strahlt, ob die Liebe sich immer weiter entfalten darf oder verkümmert – das hängt von vielen Faktoren ab. Vor allem von der Qualität der Beziehungen zu den für das Kind wichtigsten Menschen.

Was können wir lernen, wenn wir Babys beobachten? Sie geben sich allem, was sie erleben, vollkommen hin. Vielleicht beobachtet das Kind ein Mobile, das über seinem Bettchen hängt. Oder es entdeckt, wie es an einem Greifling Glockentöne erzeugt. Oder wie es Stoffwürfel stapeln und den Stapel wieder umwerfen kann: All dies geschieht mit voller Hingabe. Es sieht, hört und fühlt dabei unendliche Welten – ein sich ständig wandelndes schöpferisches Szenario. Babys sind authentisch, unschuldig, arglos, kreativ und neugierig. Was sie tun, geschieht mit kindlicher Einfachheit – ursprünglich, klar, voller Hingabe.

Gleich nach der Geburt zeigt das Baby ein besonderes Interesse für seine wichtigsten Bezugspersonen, für die menschliche Stimme und das Gesicht. Vom ersten Tag an – und noch davor, also während der Schwangerschaft – entsteht eine Beziehung zwischen dem Kind und den Menschen um es herum. Wenige Wochen nach der Geburt beginnt das Kind, die Mama zu „spiegeln“: Öffnet sie den Mund, streckt die Zunge heraus oder spitzt die Lippen zu einem Kussmund – macht das Baby dasselbe. Oder es versucht, die Mama nachzuahmen, so lange, bis es gelingt. Und wenn diese die Bewegungen oder Töne des Babys nachahmt, strampelt das Kind und dankt mit einem wonnevollen Lachen. Was da zwischen dem Baby und seinen nächsten Bezugspersonen entsteht, lässt sich nur mit dem Zauber vergleichen, den frisch Verliebte erleben. Genau so funktioniert das Spiel des Verliebens und des Flirtens: Die Partner beobachten einander, erahnen und ertasten, was den anderen bewegt. Dann versuchen sie, Signale auszusenden, und beobachten genau, ob sie damit eine Reaktion des anderen hervorlocken können. Dieses Spiel der Liebe, dieser Resonanzaufbau zwischen Menschen, steht nicht nur am Anfang einer erwachsenen zwischenmenschlichen Beziehung. Damit beginnt auch das menschliche Dasein, das Leben: Liebe!

Ein Kind wird – hoffentlich – in Liebe gezeugt und als Liebe geboren. Es ist gewissermaßen aus dem Stoff gemacht, aus dem Liebe in einem umfassenden Sinne gemacht ist. Der Mensch verfügt damit zu Beginn seines Lebens über ein Potenzial, das wir seinen Wesenskern nennen möchten. Dieser Wesenskern besteht aus den folgenden sieben Seinsaspekten:

Liebend sein.

Das Kind gibt bedingungslose Liebe. Und es braucht bedingungslose Liebe. Nicht nur, um sich wohlzufühlen, um glücklich zu sein. Sondern, um sich zu entwickeln, unter Umständen sogar, um überleben zu können.

Intuitiv sein.

Lachen, Toben, in die Hände klatschen, komische Geräusche ausprobieren, Chaos anrichten und Fratzen schneiden: Kindliches Spiel bedeutet Leichtigkeit und Spaß. Das Kind erlebt sich dabei in verschiedenen Rollen, erprobt ständig neue Situationen und erlebt eine beinahe unendliche Fülle an Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten. Dabei probiert es die Dinge intuitiv aus, handelt aus sich heraus und erkundet Muster und Regeln, was es mag und was nicht und wie die Dinge funktionieren. Deshalb ist das kindliche Spiel unabdingbare Voraussetzung für Entwicklung, Veränderung und das Entstehen sozialer Kompetenz.

Arglos sein, vertrauen.

Auch Misstrauen ist eine dem Kind noch unbekannte Kategorie. Denn Misstrauen setzt zweierlei voraus: eine (negative) Erfahrung und die Generalisierung derselben. Beides ist Kindern fremd.

Authentisch sein.

Das Kind zeigt seine Gefühle offen. Ob wonnevolles Lachen und Strampeln oder Weinen und Schreien – alles wird unmittelbar gezeigt. Ohne dass eine Strategie oder eine Absicht dahintersteckt. Es hat noch keine Maske, keine Persönlichkeit, keinen Plan. Es ist emotional frei.

Neugierig sein.

Der Mensch wird mit einem großen Fragezeichen geboren. Wie ist diese Welt? Was kann ich hier erleben, erfahren, lernen? Wie funktionieren die Dinge? Was kann ich tun, um sie zu verändern? Wie kann ich einen anderen Menschen am besten erreichen, für mich gewinnen, lieben? Diese angeborene Gier auf Neues ist die Bedingung für Lernen und für Veränderung.

Kreativ sein.

Das Kind ist, während es seine Welt erforscht, praktisch unbelastet von Erfahrung und Vorwissen. Diese Freiheit ist der Zustand echter, unbändiger Kreativität. Ein kreativer Mensch probiert andauernd irgendetwas aus, um den Dingen und Menschen in der Umgebung ihre Geheimnisse zu entlocken. Wer, wie mancher Erwachsener, die Dinge ausschließlich „richtig“ machen will, wählt dafür nur Wege, die von anderen herausgefunden wurden. Das ist nicht kreativ. Das Kind kennt den richtigen Weg nicht. Es ahnt jedoch, dass es einen gibt. Deshalb experimentiert es und darf „Fehler“ machen. Diese erlebt es jedoch nicht als Fehler, sondern als eine Möglichkeit, die nicht so gut funktioniert. Also probiert es eine andere aus, bis es funktioniert. Das ist echte Kreativität, das ist Schöpfertum!

Unschuldig sein.

Das Kind kommt als unschuldiger Beobachter auf die Welt. Es bewertet nichts und niemanden, sondern es erlebt forschend seine Umgebung. Es hat noch keine Vergangenheit, in der es für irgendetwas hätte verantwortlich werden können. Schuld oder Verantwortung sind deshalb keine Kategorien, die ein Kind kennt oder von sich aus kennenlernen würde. Aus dieser Unschuld erwachsen die Klarheit und der Mut, alles erst einmal zuzulassen, alles zu erleben und die Welt zu erforschen.

Zu diesen Seinsqualitäten kommt eine klare zeitliche Orientierung: Das Kind interessiert sich für alles, was ist – die Gegenwart. Das Neugeborene verfügt bis etwa zum dritten Lebensjahr über ein sogenanntes implizites Gedächtnis: Es kann sich an Gerüche erinnern, den Herzschlag der Mutter und wie es durch Saugen an die ersehnte Milch kommt. Erst später, etwa ab dem dritten Lebensjahr, entwickeln Kinder langsam die Fähigkeit, zwischen gestern, heute oder morgen zu unterscheiden. Die generelle Gegenwartsorientierung ermöglicht dem Kind Entwicklung, macht es gewissermaßen zu einem Veränderer, einem Entwickler, einem Schöpfer.

Wenn Arglosigkeit, Liebe, Neugierde, Intuition, Authentizität, Kreativität und Unschuld sowie der Fokus auf das Hier und Jetzt den Wesenskern eines kleinen Kindes ausmachen, was ist dann mit uns Erwachsenen? Was bleibt davon übrig? Und wie werden wir die, die wir heute sind?

Die gute Nachricht: Unser Wesenskern, der angeborene, bleibt immer unser Wesenskern. Er ist das Geschenk unseres Inneren Kindes. Eine unzerstörbare Ressource.

Die schlechte Nachricht: Im Laufe unserer Entwicklung, auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen, vergessen wir Menschen das. Wir leben dann nicht mehr entsprechend unseres Wesenskerns und unseres Potenzials, sondern auf der Grundlage der Regeln anderer Menschen. Manchmal ist das gut so, wenn die Regeln lebensfreundlich und großzügig sind und dem Kind helfen, sein Potenzial, sein Selbstwertgefühl und seine Selbstliebe zu entfalten. Manchmal verursachen die Wertvorstellungen, Glaubenssätze und Regeln der nächsten Bezugspersonen viel psychologisches Leiden, das nachhaltig die Zukunft des Menschen beeinflussen wird: Vielleicht fühlt es sich an, als ob wir auf der Bremse stehen, wenn wir privat oder beruflich gern etwas verändern würden. Vielleicht leidet unser Selbstwertgefühl oder das Selbstvertrauen. Oder es macht uns traurig, dass andere erfolgreich sind und etwas tun können, was wir so gern tun würden – uns aber nicht trauen. Diese und noch viele andere Limitationen entstehen, während wir unseren Wesenskern vergessen. Doch wie kann es sein, dass der Mensch seinen Wesenskern einfach so vergisst? Auf den folgenden Seiten beschreiben wir, wie es dazu kam.

Die zweite gute Nachricht: Es ist nie zu spät, dies zu korrigieren! Dazu müssen wir unseren Wesenskern vom Staub alter Zeiten befreien. Auch ein Diamant, der verstaubt, verliert seine Strahlkraft. Putzen wir also unseren Wesenskern – und er erstrahlt neu in vollem Glanze und funkelt dann in allen Farben des Diamanten. Was da funkelt und strahlt, ist das Geschenk unseres Inneren Kindes, das wir dann, nun als Erwachsene, leben dürfen. Wie genau „Wesenskern putzen“ funktioniert, wie genau wir ihn erkennen und dann unser Potenzial leben – davon berichtet dieses Buch. Doch zunächst müssen wir ein Geheimnis der menschlichen Existenz lüften, um zu verstehen, wie wir unseren Wesenskern vergessen konnten.

*  Eda LeShan war eine amerikanische Schriftstellerin, Fernsehmoderatorin, Beraterin, Erzieherin und Dramatikerin. Sie galt als „Stimme des Respekts für die Integrität der Kinder“.

2. Die Liebe-Angst-Polarität – ein Dilemma der menschlichen Existenz

„Was hat uns so ruiniert? Das Hirn so glatt poliert Dass uns nichts mehr berührt? Was ist mit uns passiert? Wo ist denn nur die Liebe, Liebe, Liebe?“

– Sarah Connor (Auszug aus ihrem Song „Ruiniert“ auf der CD „Herz Kraft Werke“)

Liebe ist das Grundgefühl und das Grundbedürfnis, mit dem der Mensch in diese Welt kommt: Das Neugeborene schenkt Liebe – bedingungslos. Und es braucht die Liebe der Mutter oder der nächsten Bezugspersonen, um überleben zu können – ebenso bedingungslos. Doch bald in der kindlichen Entwicklung gesellt sich der mächtigste Gegenspieler der Liebe hinzu: die Angst. Sie warnt die Menschen davor, die Liebe wieder zu verlieren.

Diese Liebe-Angst-Polarität beeinflusst ein Leben lang unsere menschliche Existenz: Sie bestimmt, wie wir die Welt wahrnehmen und damit unsere Emotionen, unser Körper- und unser Lebensgefühl. Sie definiert gewissermaßen, wie viel oder wie wenig Glück wir uns erlauben.

Die positive Variante:

Das Leben ist vorwiegend von psychischem und körperlichem Wohlbefinden geprägt. Der Mensch ist glücklich. Lebenskrisen und Alltagsstress belasten zwar auch ihn gelegentlich, doch er überwindet sie rasch und kehrt in seinen seelischen Normalzustand zurück.

Die negative Variante:

Eine Grundtraurigkeit oder die Angst vor Versagen prägen das Leben. Ständig gibt es Probleme im Beruf oder im Privatleben. Krisen und Alltagsstress werfen den Menschen leicht aus der Bahn, er ist anfällig für psychosomatisches Leiden.

Die Liebe-Angst-Polarität trifft uns alle. Worin wir Menschen uns unterscheiden, ist die Macht, die sie auf uns ausübt, und die Art, wie wir damit umgehen. Welcher Pol wirkt mächtiger: die Liebe oder die Angst? Und wie kann der Mensch sich verändern? Können wir die Liebe in uns stärken und die Angst transformieren?

JA, wir können.

Doch wenn wir das möchten, müssen wir zuvor verstehen, wie alles so kam, wie es heute ist. Und noch eines müssen wir ergründen: Wer wir sind. Denn wer du bist, ist etwas ganz anderes, als wer du vorgibst, zu sein. Und das hat Folgen.

Ergründen müssen wir, welche Masken wir uns im Laufe unseres Lebens aufgesetzt haben, mit denen wir anders wirken wollen, als wir in Wahrheit sind. Und warum wir diese Masken aufgesetzt haben und warum wir an ihnen festhalten. Ist diese Arbeit an uns selbst getan, können wir Stück für Stück und jeden Tag ein bisschen mehr wieder werden, wer wir sind. Fangen wir also an, zu verstehen.

2.1 Der Kampf um das Leben und die Liebe

Der Mensch und seine Angst kommen vielleicht gleichzeitig zur Welt. Erleben alle Neugeborenen ihre Geburt als Trauma? Wir wissen es nicht, wir können sie nicht fragen. Oft ist zu lesen, „sanft“ Geborene wären später glücklicher und gesünder, während sogenannte „Schreikinder“ wegen ihres Geburtstraumas so oft und so untröstlich schreien würden. Diese Auffassungen müssen nicht falsch sein, doch wissenschaftlich sind sie unbewiesen. Klar ist, dass die mit der Geburt einhergehende Umstellung auf die Bedingungen der Außenwelt immer eine enorme Veränderung für das Neugeborene darstellt: Neun Monate lang war der Embryo im sicheren und 37 Grad warmen und dunklen Mutterleib gut aufgehoben. Bei seiner Geburt muss sich das Kind durch den Geburtskanal kämpfen und sich selbst befreien. So gelangt es an einen ganz und gar unbekannten Ort, wo es, ohne die geringste Möglichkeit der Einflussnahme, bedrohliche Dinge über sich ergehen lassen muss. Die Nabelschnur wird durchtrennt, das Baby muss allein atmen. Es hat noch kein Gefühl für seine körperlichen Möglichkeiten und Grenzen, weiß noch nichts mit seinen Ärmchen und Beinchen anzufangen und hat keine Ahnung, was es heißt, ein Individuum zu sein. Möglicherweise gibt es bei der Geburt Komplikationen. Vielleicht hat die Nabelschnur den Hals umschlungen, sich Flüssigkeit in der Lunge gesammelt oder das Kind musste für einen medizinischen Eingriff unmittelbar nach der Geburt von der Mutter getrennt werden.

Vielleicht verlief auch alles ganz komplikationslos und es musste „nur“ erleben, dass es auf einmal heller, kühler, lauter und viel hektischer war als je zuvor. Allein das ist eine verstörende Begrüßung auf dem Planeten Erde. Deshalb ist es gut, wenn das Baby sich so schnell wie möglich beschützt und geliebt fühlt.

Der Mensch in seinem Wesenskern ist Liebe

Wenn alles gut läuft, wird das Neugeborene rasch nach seiner Geburt direkt auf den Bauch der Mutter gelegt, sanft abgetrocknet und mit zuvor angewärmten Tüchern zugedeckt. In Geburtshäusern ist das selbstverständlich. Auch in vielen Kliniken werden medizinische oder pflegerische Interventionen, die mit einer Trennung des Babys von der Mutter einhergehen, nach Möglichkeit hintenangestellt. Eine Trennung ist im Normalfall auch gar nicht notwendig. Wiegen, Messen und Medikamentengabe können in der Regel warten. Selbst während der meisten medizinischen Untersuchungen oder beim Nähen des Dammschnitts darf das Baby auf dem Bauch der Mutter liegen bleiben.

Nach den Belastungen der Geburt soll es sich bei dieser ersten Begegnung willkommen und angenommen fühlen, den vertrauten Herzschlag seiner Mutter wieder hören, ihren bekannten Duft riechen, ihre Wärme wieder spüren, Nahrung, Schutz und Liebe bekommen. Idealerweise haben Mutter, Vater und das Kind jetzt mehrere Stunden ungestörte Zeit miteinander. Gemeinsam können Mutter und Kind sich von den Anstrengungen der Geburt ausruhen. Der Geruch und die weiteren Wahrnehmungen am Körper der Mutter sind dem Baby vertraut, es fühlt sich geborgen und sicher. In den ersten beiden Stunden nach der Geburt setzt zudem der natürliche Saugreflex am intensivsten ein. Unter idealen Bedingungen bewegt sich das Kind selbstständig zur Brust, nimmt die Brustwarze und fängt an zu saugen. Eltern beschreiben diese Zeit der Annäherung oft als ein überwältigendes Erlebnis.

Nehmen sie das Neugeborene mit Zuwendung, Fürsorge und Liebe an und erkunden seine Bedürfnisse, darf die Entwicklung eines tiefen emotionalen Bandes zwischen Mutter, Vater und Kind nun ihren Lauf nehmen. Dann wächst diese zarte Verbindung und wird jede Stunde und jeden Tag immer intensiver. Psychologen nennen diesen Prozess „Bonding“ (engl. für Verbindung) und meinen damit die Entwicklung des emotionalen Bandes zwischen Eltern und Kind. Heute weiß die Wissenschaft, dass diese Phase entscheidende Bedingungen dafür setzt, dass der Mensch körperlich und seelisch gut aufwachsen kann, wie er künftige Beziehungen zu anderen gestaltet und empfindet, wie er mit neuen Situationen umgeht, wie optimistisch oder pessimistisch er das Leben meistert. In einer gelungenen Bonding-Phase schlagen Babys gewissermaßen ihre Wurzeln für ihre spätere Selbständigkeit und ein gelingendes Leben.

Der Prozess des Bondings ist langfristig. Im ersten Lebensjahr, einer besonders sensiblen Lebensphase, lernt das Baby in einer liebevollen Familie jeden Tag, dass es gut aufgehoben ist. Damit stabilisieren sich sein Vertrauen in die Eltern und sein Vertrauen in die Welt. Und, vor allem, in sich selbst.

Es ist vielleicht die stärkste und wichtigste Bindung, die ein Mensch im Laufe seines Lebens eingeht. Beim Baby bilden sich Urvertrauen und die Sicherheit, alles zu haben, was es zum Leben braucht. Den Eltern schenkt diese Bindung viel Kraft, vielleicht unbändige Kraft. Sie wussten mitunter gar nicht, was in ihnen steckt. Plötzlich sind sie in der Lage, für ihr Baby alles zu geben. Wenig Schlaf? Spielt keine Rolle! Nervenaufreibende Situationen? Werden gemeistert! Die meisten würden ihr Leben opfern, wenn sie dadurch das ihres Kindes retten könnten.

Diese Liebe der Eltern zu ihrem kleinen Kind ist von Natur aus an keine Bedingungen geknüpft. Werden Kinder bedingungslos geliebt, entsteht ein Urvertrauen dieser Art:

Ich werde geliebt.

Ich brauche nichts dafür zu tun, damit Mama und Papa mich lieben.

Ich bin liebenswert und wundervoll.

Ich bin das, was ich bin – ihr Kind.

Diese Art der Liebe ist ihrem Wesen nach aus der Perspektive des Kindes einfach da. Der Fötus war schon während der Schwangerschaft im Seinszustand reiner Liebe symbiotisch verbunden mit der Mutter. Und auch jetzt, nach der Geburt, muss es nichts TUN, es muss nur SEIN. Leider reicht unsere Sprache nicht aus, dies vollständig zu erklären. Wir können diesen Seinszustand nur annähernd beschreiben – wir können ihn nur erleben und fühlen:

Das Kind ist total offen und verbunden – gewissermaßen in einem Zustand des Einsseins mit sich und seiner Umgebung. Mit jeder Erfahrung fühlt es sich verbunden mit allem, was es kennenlernt: die Tiere, die Bäume im Wald oder die Gänseblümchen auf der Wiese, den Sand auf dem Spielplatz oder den Strand und das Wasser des Meeres auf der ersten Urlaubsreise mit der Familie.

Bei dem Baby ist dieses Einssein noch so total, dass es keine Vorstellung davon hat, was „getrennt sein“ bedeutet. Es hat noch kein Bewusstsein seines Selbst als ein von allen anderen Menschen unterscheidbares Geschöpf. Sieht es in den Spiegel, erkennt es nicht, dass es sich selbst sieht. Sein erstes gesprochenes Wort lautet meistens „Mama“. Das Kind bezeichnet also mit seinem ersten Wort nicht sich selbst, sondern sein wichtigstes Gegenüber, die „Mama“ oder den „Papa“. In seinen wichtigsten Bezugspersonen erkennt und entdeckt es sich selbst. Für sich selbst steht ihm noch gar kein Wort zur Verfügung. Es verfügt noch nicht über ein Selbst-Bewusstsein. Erst später lernt das Kind, sich allmählich als eigenständiges, von Mama und Papa unterschiedliches Wesen kennen.

Dieses „Leben im Sein“ bedeutet auch, dass das Kind zwei Zustände „fühlt“: Liebe, die allgegenwärtig ist, und Unbehagen. Das ist der Zustand, der stört: etwa hungrig sein, allein sein oder in einer vollgemachten Windel stecken. Darauf reagiert das Kind unmittelbar und sofort durch ein kräftiges Schreien. Und auch das geschieht aus dem Seinszustand heraus. Darüber hinaus verfügt es noch über keinerlei Unterscheidungen und Motive. Im Gehirn fehlt es noch an den Nervenzellnetzwerken, die es dem Kind ermöglichen, sein Unbehagen zu „verstehen“. Es fühlt sich einfach unbehaglich und schreit – oder es liebt einfach und lacht; und es braucht die Resonanz der nächsten Bezugspersonen. Erhält es diese – wird die Windel zum Beispiel spielend und lachend gewechselt – dann verstärkt das seine Liebe.

Dieses Prinzip zu verstehen ist wichtig, wenn wir verstehen möchten, wer wir sind oder: wer das Innere Kind in uns ist. Es verlangt nicht nach Liebe. Sondern es liebt. Liebe zu verlangen oder sie zu erbitten, bedeutet, jemand anderem die Verantwortung dafür zu geben, ein eigenes Defizit auszugleichen. Das Neugeborene empfindet kein Defizit. Selbst dann nicht, wenn eine Besonderheit es körperlich oder geistig limitieren sollte. Denn der gegenteilige Zustand – also: Nicht-Liebe – ist ihm einstweilen völlig unbekannt. Im Seinszustand der Liebe gibt es nichts als Liebe, das Gegenteil existiert nicht. Das gilt natürlich aus dem Erleben des Kindes heraus, das unbewusst verläuft. Die aus Bewusstheit – aus „Gelerntem“ – gespeiste Sicht der Erwachsenen ist eine ganz andere.

Um es noch mal ganz deutlich zu sagen: Der Mensch in seinem Ursprung, seinem Wesenskern, ist Liebe – und nichts anderes.

Mama und Papa, Oma und Opa geben Liebe. Liebe als Gabe unterscheidet sich stark von der Liebe als Seinszustand. Aus der Gabe wird, wie wir am Ende dieses Kapitels noch sehen werden, eine Mitgift. Während das Kind nichts will (also ohne Intention liebt), gibt die Mutter ihre Liebe und hat dafür ein Motiv. Vielleicht mehrere.

Anna beschreibt ihr Motiv so: „Meine Liebe bewirkt, dass es meinem Kind gut geht, dass es mit mir und seiner Familie verbunden und zugleich frei ist. Ich eröffne ihm den Raum, in dem es sich selbst und die Welt erfahren, mit jeder eigenen Erfahrung ein neues Stück über sich hinauswachsen darf und dabei immer autonomer und immer freier wird. Und ich weiß, dass der Preis dafür ist, dass es mich eines Tages nicht mehr braucht. Genau das ist mein Ziel: Dass es dann aus sich heraus entscheidet, ob, wie oft und wie intensiv es mit mir sein will. Mein Kind ist dann frei.“

Starke Worte? Ja, Worte, mit denen Anna ihre besondere Art der Kunst des Liebens umschreibt. Bei ihr ist die Mutterliebe nicht bloß ein Gefühl, sondern aktives Wirken: Sie gibt jede Zuwendung und jeden Schutz, den das Kind braucht. Und sie fördert alle Aktionen und Aktivitäten, die dem Kind Erfahrungen ermöglichen. Ihre Liebe basiert auf einer inneren Einstellung, die das Dasein und das Sosein ihres Kindes bedingungslos bejaht und unterstützt und ihm Entwicklung ermöglicht.

Doch es bleibt dabei: Die Gabe der Liebe – also TUN – trifft auf den SEINszustand Liebe. Wir kommen auf den nächsten Seiten darauf zurück, wenn wir die immense Bedeutung dieser Unterscheidung – Liebe tun / Liebe sein – für die weitere menschliche Entwicklung erforschen. Anna, die ihrem Kind Liebe ausschließlich um seiner selbst willen gibt, liebt auf eine andere Art als Eltern, die aus ihrer individuellen Bedürftigkeit heraus „lieben“.

Diese Mütter oder Väter haben die entwicklungsfördernde Liebesgabe von ihren Eltern nie oder nur zu kurze Zeit oder nicht ausreichend bekommen. Deshalb dursten viele selbst nach Liebe und Selbstentfaltung.

In dem Maße, in dem sich die Bedürftigkeit der Mutter oder des Vaters auf ihre Beziehung zum Kind auswirkt, wird das Motiv eigennütziger. Meist unbewusst zwar, doch das Handeln im Alltag beeinflussend, spielt der Nutzen der Mutter oder des Vaters eine Rolle, zum Beispiel

um sich selbst gut zu fühlen,

um der Umwelt zu zeigen, dass sie gute Eltern sind,

um ein Kind zu „haben“ (jemanden, der abhängig ist, gewissermaßen zu „besitzen“),

um innere Leere zu füllen,

um eigene Glaubenssätze und Wertvorstellungen auf das Kind zu übertragen und „durchzusetzen“.

Damit trifft eine mit Erwartungen und Bedingungen verknüpfte „Gabe“ Liebe auf den Seinszustand der Liebe beim Kind. Jetzt kann eine unheilvolle Entwicklung ihren Lauf nehmen, die ganz und gar anders ist als die zuvor beschriebene Liebesbeziehung, die Bindung, Urvertrauen und Sicherheit entstehen lässt. Denn die emotional unfreien und bedürftigen Eltern werden ihre Bedürftigkeit unter Umständen über das Kind befriedigen wollen. Gelingt ihnen das nicht, werden sie eventuell enttäuscht oder böse auf das Kind sein. Damit wird dem Kind eine Verantwortung zugeschoben, die es nicht zu tragen in der Lage ist: Schuld.

„Du bist schuld, dass Mama sich schlecht fühlt.“

„Du bist undankbar und erwiderst meine Liebe nicht.“

„Du kannst mir das nicht antun, immerzu nur schreien, obwohl ich doch alles tue, damit du zufrieden bist.“

Ob diese Worte ausgesprochen werden oder nicht, ob den Eltern ihre Motive bewusst sind oder nicht: Das Kind kann auch nonverbale Botschaften „verstehen“. Darin hat es Übung. Neun Monate lang hat es jede Lebensäußerung, jede Emotion, jeden Zustand der Mutter erlebt. Es hat gewissermaßen „studiert“, wie sich Lust, Freude und Gelassenheit im Vergleich zu Wut, Trauer und Stress in der Atmung und im Heben und Senken der Bauchmuskeln oder in der Stimmlage ausdrücken. Auch der entsprechende Geschmack wird vom Embryo wahrgenommen und nach der Geburt am Körper der Eltern wiedererkannt. In der Stillzeit riecht die Mutter unterschiedlich, je nachdem, ob sie in Ruhe oder in Anspannung ist. Das Neugeborene schmiegt sich an – oder es schreit, quengelt und wendet sich ab. Denn es spürt jede Stimmung; es „weiß“ ganz viel über die Mutter, während diese ihr Kind erst kennenlernen muss. Es kann das zwar noch nicht denken, weil sein Gehirn noch nicht so weit entwickelt ist, aber es kann intensiv beobachten und fühlen. Denn es „erfährt“ die Eltern und seine Umgebung und speichert alle Informationen tief in seinem Unbewussten.

Die gespeicherte Information mag übersetzt vielleicht lauten: „Ich bin verantwortlich für den emotionalen Zustand der Mama.“ Die körperliche Nabelschnur ist dann zwar getrennt. Die emotionale Nabelschnur wird jedoch nun fest installiert. Das Kind hat die erste Dosis der sieben Gifte verabreicht bekommen, die seine Zukunft prägen werden. Wir kommen auf diese Gifte im nächsten Kapitel zurück.

Aus dem Zustand der bedingungslosen Liebe jedenfalls ist jetzt eine an Bedingungen geknüpfte Gabe geworden. Die Erwachsenen können sie geben und auch wieder nehmen – ganz wie sie wollen.

Während das Kind bisher nur Liebe und Unbehagen als Seinszustände kannte, kommt nun eine Kategorie hinzu: die Angst.

2.2 Der Gegenpol von Liebe ist die Angst

Ein Kind ist am Anfang seines Lebens ganz und gar von seinen nächsten Bezugspersonen, allen voran der Mutter, abhängig. Ohne ihre Nähe, Verbundenheit und Hilfe kann es nicht leben und nicht wachsen. Es braucht bedingungslose Liebe oder, entwicklungspsychologisch ausgedrückt, eine stabile Bindungsbeziehung, auf die sich das Kind in jeder Situation verlassen kann. Fließt diese Resonanz zwischen Mutter und Kind, fühlt es sich geborgen und glückselig. Die sogenannten Wohlfühlbotenstoffe Dopamin, Opioide und Oxytocin spielen im Gehirn eine sanfte, fröhliche Melodie. Das Leben ist hell und bunt. Das Kind atmet frei und gleichmäßig.

Entzieht die Mama hingegen die bedingungslose Liebe, bleiben die gewohnten Wohlfühlbotenstoffe plötzlich aus. Der Mandelkern, das emotionale Angstzentrum im Gehirn, arbeitet sogleich auf Hochtouren. Das zu erleben ist schlimm schon für Erwachsene. Für das Kind fühlt sich das an wie der nahe Tod: Es bangt um sein Überleben! Die Liebe ist fort, die Angst hat die Regie übernommen.

Eigentlich hat das Kind, wenn es auf die Welt kommt, unserer Meinung nach nur drei Ängste „erfahren“:

Die Angst vor gleißendem Licht. Denn das Neugeborene hat die Erfahrung gemacht, aus völliger Dunkelheit im Bauch der Mutter plötzlich ins Helle gezogen zu werden.

Die Angst vor lauten Geräuschen oder lauten Stimmen. Schon der Fötus hat wahrgenommen, ob die Stimmen „draußen“ sanft und wohltönend klingen oder laut und hektisch. Die emotionale Verfassung der Mutter hat es ebenfalls wahrgenommen, etwa in welchem Tempo sie ihre Bauchdecke bewegte. Es verfügt also bereits über sinnesspezifische Informationen darüber, welche Töne mit welchen Emotionen verbunden sind.

Die Angst zu fallen. Vom Zustand der Schwerelosigkeit und gleichzeitig der Begrenztheit der Gebärmutter wechselte das Kind in eine Welt, die scheinbar unbegrenzt ist und in der es den Halt verlieren kann, wenn die Mutter es nicht hält.

Wahrscheinlich sind dies evolutionsbiologische Ängste, und vielleicht kommen noch einige wenige hinzu. Menschen ohne jede Furcht vor potenziell gefährlichen Situationen hätten über lange Strecken der Menschheitsgeschichte kaum Überlebenschancen gehabt. Was wir von ihnen genetisch mitgenommen haben, diente dem Überleben des Homo sapiens. Es sind also „nützliche“ Ängste.

Und dann setzt das Lernen ein. Das Kind erwirbt neue Ängste. Welche davon ein Segen sind und welche ein Fluch, wird sich später zeigen – sowohl im Leben des betreffenden Menschen als auch in diesem Buch.

Am Anfang jedenfalls steht die Angst, allein gelassen zu werden. Sie trifft auf das Verlangen zu überleben. In einer kindlichen Logik bedeutet Verlassensein die Bedrohung des Überlebens – also Todesangst.

Das Leben nimmt seinen Lauf, aus dem Baby wird ein Kleinkind, ein Kindergartenkind, ein Schulkind, ein Jugendlicher, eine junge Erwachsene. In diesen Jahren weicht, wenn sie denn überhaupt vorhanden war, die bedingungslose Liebe immer mehr und immer öfter der Erfahrung, dass man für die Liebe etwas tun muss. Dass sie eben nicht ohne Bedingung ist.

Keine Mutter, kein Vater, kein Pädagoge im Kindergarten oder in der Schule kann dem Kind diese Erfahrung ersparen: dass es für sein Verhalten und Handeln ein Feedback erhält. Das Kind soll schließlich irgendwann nicht mehr in die Windeln machen, sondern den Topf und später die Toilette benutzen. Es soll sich bald selbständig waschen, die Zähne putzen, die Schuhe binden. Laufen soll es lernen, und dann auch wieder Stillsitzen. Schlafen, weil Mittagszeit ist, obwohl es doch gern toben würde. Selbständig essen, und zwar, bitte schön, ohne dabei zu kleckern. Dabei auch noch Löffel, Gabel, Messer bestimmungsgemäß nutzen, statt mit Essen und Besteck herumzuspielen. Und die Füße auf den Tisch legen geht, obwohl es sich doch so heimelig anfühlt, gar nicht. Kindergarten und Schule beginnen pünktlich, und Mama oder Papa müssen auch zur Arbeit, also wird das Kind in der Früh zur Eile angetrieben. Im Kindergarten darf es zwar spielen, doch vielleicht entsprechen die Spielauswahl und die Atmosphäre eher der Laune der Erzieherin als der Lust des Kindes. Und in der Schule muss es stillsitzen und sich geistig mit Dingen befassen, die es vielleicht gerade überhaupt nicht begeistern. Möglicherweise ist die Lehrerin oder der Lehrer auch noch langweilig oder allzu streng und eine angsteinflößende Person, die alles Mögliche weiß – nur nicht, wie man ein Kind glücklich macht und motiviert.

Kurzum: Der Prozess der Sozialisierung zielt darauf, dem Kind systematisch seine ursprünglichen und natürlichen körperlichen und emotionalen Impulse und Verhaltensweisen abzugewöhnen und durch ein „sinnvolles“ und sozial akzeptiertes Verhalten zu ersetzen. Sinnvoll und sozial akzeptiert? Aus Erwachsenensicht, gewiss. Auch aus der Sicht des Kindes? Das kommt darauf an …

Lernen muss das Kind, damit es sich in der Gesellschaft zurechtfindet. Und lernen will es, weil es wachsen und eigene Kompetenzen erwerben will. Groß werden im körperlichen wie im geistigen Sinne: Schau, wie groß ich bin, und schau, was ich schon kann. Und dann applaudieren die Eltern, klatschen in die Hände, rufen „Bravo“ – sie feiern mit ihrem Kind den neuen Fortschritt – Tag für Tag! Damit schaffen sie etwas, was das Verlangen des Kindes nach Nähe und Resonanz mit dem Bedürfnis nach Autonomie und Entwicklung verbindet: Es darf sich gleichzeitig verbunden und frei fühlen. Das Kind lernt und entwickelt sich, weil es Lust darauf hat und täglich neu begeistert über sich selbst und seine Umwelt ist. Das wäre die positive Variante. Wir nennen sie Resonanzlernen: Das Kind lernt, weil jemand es liebevoll begleitet, sich über jeden Fortschritt mit ihm freut. Und Imitationslernen: Das Kind „spiegelt“ die ihm besonders zugewandten Mitglieder seiner Gemeinschaft, ahmt zum Beispiel Körperhaltung, Mimik und Gestik der Mutter oder des Vaters oder der älteren Geschwister nach, später vielleicht auch einer bewunderten Lehrerin, eines Künstlers oder einer Sportlerin. Das Kind wächst mit Lust und Freude jeden Tag ein Stück mehr über sich hinaus, weil es zu seiner Gemeinschaft dazugehören möchte.

Doch das ist nicht allen Kindern vergönnt. Viele erleben das Gegenteil des freudigen Resonanz- und Imitationslernens. Wir möchten dieses Gegenteil Dissonanz- und Dressurlernen nennen. Hier ist die Angst das Lernmotiv: Angst vor Strafe oder Angst davor, die Liebe und das „Dazugehören“ zu verlieren. Was passiert da genau? Vier Fallbeispiele:

Franz, ein heute 60-jähriger Kriminalpolizist, erzählt: „Mein Vater hat mich gelehrt, was gut und richtig ist. Wenn ich etwas falsch gemacht habe oder nicht lernen wollte, dann setzte es Kritik und Ohrfeigen – bis ich es konnte. So habe ich gelernt, meine Schuhe zu binden, vernünftig zu essen, aus der Schule gute Noten nach Hause zu bringen und vor allem: pünktlich, ehrlich und redlich zu sein. Das war eine harte Schule. Doch sie hat mich auf den richtigen Weg gebracht. Bei der Erziehung meiner zwei Kinder habe ich auf die Schläge verzichtet. Trotzdem war ich sehr konsequent und ließ nichts durchgehen.“ Franz glaubt, sagt er, dass viele der Delinquenten, mit denen er beruflich täglich zu tun hat, in ihrer Kindheit härter hätten angefasst werden müssen. Dann wären sie vielleicht nicht auf die schiefe Bahn geraten. Was er dabei unterschlägt: Sein Sohn kehrte seinem Zuhause bereits mit 15 den Rücken, haute einfach ab. Er fand Freunde und etwas, das sich wie Zuneigung und Liebe anfühlte, im Drogenmilieu. Er lebt heute, 30-jährig, nach einer Therapie drogenfrei und baut sich ein neues Leben auf. Vielleicht ist dieses Beispiel ein etwas extremer Fall von Dressurlernen und seinen möglichen Folgen.

Doch es geht nicht darum, wie dramatisch die Ereignisse tatsächlich, ob sie also in einem objektiven Sinne „schlimm“ und traumatisierend waren. Es geht um das subjektive Erleben des Kindes, um die in ihm ausgelösten Emotionen. So kann ein aus Erwachsenensicht scheinbar nichtiger Anlass für das Kind unter Umständen extreme und lang anhaltende Wirkungen nach sich ziehen, etwa wie bei Lea (34):

Sie möchte gern malen. Doch als sie in unserem Seminar Stifte und Papier zur Hand nimmt, um ihre Gefühle aufs Papier zu bringen, verliert sie plötzlich den Mut und die Lust. Sie legt die Malutensilien resigniert zur Seite und weint. Im Gespräch beschreibt sie ihre Gefühle so:

Die kreative Phase beginnt im Kopf: „Ich habe eine unbändige Lust zu malen. Deshalb habe ich auch in einem Hobbygeschäft alles eingekauft, was ich dafür brauche. Wenn ich die Sachen zusammenstelle, entsteht in mir ein schönes Gefühl, eine Sinfonie aus Farben und Formen. Ich fühle mich leicht und fröhlich.“

Lea will das in Handeln umsetzen: „Dann mische ich die Farben und fange an zu malen. Plötzlich schnürt sich mein Hals zu, das Herz schlägt schneller und meine Brust verengt sich. Ich bekomme Atemnot. In meinem Kopf ist Leere.“

Wir beschreiben den emotionalen Zustand einer erwachsenen Frau. Was Lea in Bezug aufs Malen über sich glaubt, klingt so: „Ich bin zu ungeschickt. Ich bin eine Versagerin. Ich eine Künstlerin? Niemals, du Närrin.“

Die Coachingarbeit mit Lea fördert den Anlass zutage, der zu dieser Blockade führte. Dreißig Jahre zurück: Die kleine Lea, vier Jahre alt, spielt allein im Garten. Aus Gräsern und Wiesenblumen stellt sie ein Sträußchen für die Mama zusammen. Stolz auf sein Werk, flitzt das Mädchen zur Haustür und klingelt. Mama öffnet, und Lea will ihr das Geschenk reichen. Doch die Mama lacht laut: „Das sind keine Blumen, das ist Unkraut. Lass es draußen liegen. Kannst du nicht einmal etwas Vernünftiges basteln?“