Das Puzzle des Todes - Karlheinz Moll - E-Book

Das Puzzle des Todes E-Book

Karlheinz Moll

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Beschreibung

In den frühen Morgenstunden wird in der malerischen Altstadt von Ravensburg ein Mann tot aufgefunden. Neben der erdrosselten Leiche findet die Polizei ein einzelnes, kleines Puzzlestück. Kaum haben Hauptkommissar Heinrich "Henry" Ammann und seine Kollegin, Kommissarin Sandra Flucht, erste Ermittlungen im familiären und beruflichen Umfeld des Opfers aufgenommen, werden sie bereits zu einem zweiten Tatort gerufen, wo ein weiterer Mann auf dieselbe Art und Weise ermordet wurde. Wieder findet sich ein kleines Puzzlestück bei der Leiche. Die Analyse der Puzzlestücke und privaten Verbindungen unter den Opfern führen die Kommissare zu einer Gruppe ehemaliger Schulfreunde und zu deren Vergangenheit als Trommler beim traditionellen Ravensburger Rutenfest. Als ein weiterer Mord geschieht, beginnt für Henry Ammann und Sandra Flucht ein Wettlauf gegen die Zeit. Um das Motiv der Morde aufzudecken und den Täter zu überführen müssen die Kommissare das Puzzle des Todes lösen.

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Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Karlheinz Moll

Das Puzzle des Todes

Ein Ravensburg Krimi

© 2021: Karlheinz Moll

Cover, Illustration: Petru Stendl, Intergrafos

Korrektorat: Dr. Maria Karafiat

Korrkeurlesung: Manfred Landinger

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-347-42364-0

Hardcover

978-3-347-42365-7

e-Book

978-3-347-42366-4

Alle Rechte Vorbehalten. Das Buch, auch Teile daraus, sind rechtlich geschützt und dürfen nicht reproduziert, elektronisch gespeichert geteilt oder in irgendeiner Form auf irgendeine Weise übertragen werden. Eine elektronisches oder ein anderweitiges Aufzeichnen sind ohne schriftliche Genehmigung des Autors nicht gestattet.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Alle Namen, deren Hintergrund und Geschichten sind das Produkt der Vorstellungskraft des Autors oder werden fiktiv Verwendet. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig und unbeabsichtigt.

Kapitel 1

Irgendjemand weckte ihn viel zu früh aus seinem noch tiefen Schlaf. Mit einer Hand tastete er seinen Nachttisch ab, bis er sein dienstliches Smartphone greifen konnte, und nahm den Anruf mit verschlafener Stimme entgegen.

„Guten Morgen Henry, wir haben einen Toten, kannst du gleich kommen?“

„Guten Morgen? Geht‘s noch? Es ist halb drei … nachts!“, antwortete Heinrich „Henry“ Ammann in seiner gewohnt sarkastischen Art mit Blick auf seinen Wecker. „Das Opfer wäre doch in ein bis zwei Stunden nicht weniger tot! Aber da ich jetzt schon wach bin … wo muss ich hin?“

Kommissarin Sandra Flucht gab ihrem Kollegen und Vorgesetzten in kurzen Worten die wenigen Informationen durch, die sie bislang erhalten hatte, sowie die Adresse des Tatorts und sie verabredeten, sich dort so schnell wie möglich zu treffen.

„Wer hat dich eigentlich aus dem Bett geschüttelt?“, wollte Henry wissen.

„Dreimal darfst du raten! Unsere Nachteulen. Ich hätte mich auch gerne noch einmal umgedreht … hilft aber nichts. Also bis gleich“, entgegnete Sandra mit Verweis auf die Kollegen vom KDD, dem Kriminaldauerdienst, und legte auf.

Hauptkommissar Heinrich Ammann, der sich seit seinem langen Auslandsaufenthalt an seinen Spitznamen „Henry“ gewöhnt hatte, schälte sich aus dem Bett und machte sich nach einem kurzen Aufenthalt im Badezimmer in einem schnell zusammengestellten Outfit aus Jeans, Hemd und einem leichten Sakko auf den Weg zum Tatort.

In seiner Garage, in der sich alles Mögliche befand außer einem Auto, wartete schon sein Dienstfahrzeug in Form seines Trekkingrades auf ihn. Da es auch jetzt, Anfang Hochsommer noch recht frisch war, zog er sich für die gut drei Kilometer noch eine Fleecejacke darunter und leichte Fahrradhandschuhe über. Er prüfte kurz, ob noch genügend Luft in den Reifen war, stieg auf sein Rad und radelte dann los Richtung Innenstadt.

Von seinem Haus in der Gemeinde Berg führte seit vielen Jahren ein Fahrradweg nach Ravensburg, der in den 1980ern im Rahmen eines Streckenausbaus der Bundesstraße Richtung Biberach mit angelegt worden war. Ganz anders als zu seiner Schulzeit, als es nur die unsichere Landstraße gab und er meist lieber den Waldweg nahm.

Während der kurzen Fahrt ging er gedanklich die wenigen Informationen durch, die er von seiner Kollegin am Telefon erhalten hatte.

Einem Anwohner, der nachts seinen Rauhaardackel in der Grünanlage zwischen Grüner Turm und Gemalter Turm Gassi führte, war aufgefallen, dass im Haus gegenüber seiner Wohnung in einem Raum noch Licht brannte, was an sich nicht ungewöhnlich wäre, würde es sich nicht um ein kleines Architekturbüro handeln. Der Hundehalter hatte den Architekten schon öfters gesehen, aber er konnte sich nicht erinnern, dort jemals zu nächtlicher Zeit ein Licht gesehen zu haben, zumal der Architekt nach seinen Worten sein Büro meist schon sehr früh am Nachmittag verließ. Als das Licht nach seiner Rückkehr vom kurzen Spaziergang mit dem Dackel immer noch brannte, rief er sicherheitshalber die Polizei an.

Die Kollegen vom KDD beauftragten einen Streifenwagen, in die Grüner-Turm-Straße zu fahren und der Sache nachzugehen, auch wenn sie den Anruf vermutlich für einen der vielen falschen Alarme hielten, die allnächtlich bei ihnen eingingen.

Die Streifenpolizisten konnten zuerst nichts Ungewöhnliches feststellen. Die Tür war fest verschlossen oder zumindest zugezogen, kein Fenster war eingeschlagen und es gab auch sonst keine Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen. Sicherheitshalber schauten sie aber mit suchendem Blick durch die zwei zur Straße hinauszeigenden Fenster. Auch am zweiten Fenster konnten sie zuerst nichts erkennen, sahen dann aber den Schatten an der Wand, der so aussah, wie wenn ein schlafender, ein bewusstloser oder womöglich ein toter Mann mit nach hinten hängendem Kopf und hängenden Armen in einem Bürosessel sitzen würde.

Für die Streifenpolizisten war dies nach kurzer Absprache Anlass genug für „Gefahr im Verzug“ und sie brachen die offensichtlich nur zugezogene Tür auf. In dem Sessel, der den Schatten geworfen hatte, saß ein lebloser Mann und es bedurfte für die Beamten nicht viel, um dessen Tod festzustellen.

Nach knapp zehn Minuten in zügigem Tempo bog Henry an der Stadtmauer vorbei in die Grüner-Turm-Straße ein, wo er aus der Distanz schon die polizeilichen Einsatzfahrzeuge und auch den PS-starken Dienstwagen einer bayerischen Automarke seiner Kollegin Sandra sehen konnte.

Trotz der noch nächtlichen Morgenstunde standen schon einige Passanten aus den umliegenden Wohnungen und offensichtlich auch einige Vertreter der örtlichen Presse vor dem altertümlichen Fachwerkhaus. Neben den Kameras und Mikrofonen waren die Medienvertreter schon alleine an deren Arbeitskleidung zu erkennen, während die Anwohner nahezu ausnahmslos Schlafkleidung unter den wärmenden Jacken trugen.

An der Eingangstür erwartete ihn Sandra bereits. Er stellte sein Fahrrad an einem öffentlichen Fahrradständer auf der anderen Seite der gepflasterten Straße ab und sperrte es ab.

„Du musst geradelt sein wie ein wilder Stier! Ich bin auch grad erst gekommen“, sagte Sandra zur Begrüßung.

„Von Berg hierher geht es auch viel bergab. Und dann war noch Rückenwind“, beschwichtigte er, während beide den Tatort betraten. „Was wissen wir bereits?“, fragte er mit Blick auf den noch immer in dem Stuhl versunkenen männlichen Körper.

„Euch fällt auch keine bessere Frage ein. Wo lernt ihr das, auf der Polizeischule wohl nicht?“, entgegnete Günther Köller, der kurz vor seiner Pensionierung stehende Pathologe.

„Ich habe das aus dem Fernsehen … in den Serien klingt das immer lustig.“

Beide Männer lachten, kannten sie sich doch schon von der Schulzeit, auch wenn Köhler ihm ein paar Jahre voraus war und in der Schule ein paar Klassen über ihm gewesen war.

Günther Köller spulte sein erprobtes Programm herunter, wie immer begrenzt auf die Aspekte, die er auch bereits vor der noch anstehenden Obduktion zweifelsfrei sagen konnte und auch wollte. Nichts ärgerte ihn mehr, als wenn er im Eifer zu vorschnell eine Aussage zur Todesursache oder zum Todeszeitpunkt machte und er diese später wieder revidieren musste.

„Wir hätten heute im Angebot ein männliches Opfer, vermutlich Mitte vierzig, definitiv stranguliert“, begann er zu Henry und Sandra blickend, die beide mit verschränkten Armen seinen Ausführungen folgten. „Bevor ihr mich jetzt fragt, Todesursache könnte Ersticken in Folge der Strangulierung sein. Aber eben nur könnte. Und der Todeszeitpunkt liegt nach der Körpertemperatur etwa drei oder vier Stunden zurück.“

Henry nickte zustimmend. Wenn Köller ihm sagte, der Mann sei vor drei bis vier Stunden an einer Strangulierung gestorben, dann war es vermutlich auch so. Sonst hätte er sich selbst zu dieser vorsichtigen Aussage gar nicht erst hinreißen lassen.

Köller fuhr fort und ging auf die Kampfspuren ein, vielmehr auf deren nicht direkt sichtbares Vorhandensein. An den Händen und im Gesicht konnte er auf den ersten Blick keine Verletzungen erkennen. Lediglich unter den Fingernägeln waren kleine schwarze Partikel zu erkennen, zu denen er aber erst nach der Laboruntersuchung etwas mehr sagen wollte, auch wenn er schon eine Theorie entwickelt hatte. Ähnlich vorsichtig äußerte er sich zur Tatwaffe.

„Es war vermutlich ein sehr dünnes Seil oder ein Kabel, auf keinen Fall ein Draht oder etwas ähnlich Einschneidendes, das geben die Strangulierungsmerkmale nicht her.“

„Na, das ist doch schon etwas. Weißt du vielleicht auch, wie der Tote heißt?“

„Na, auf dem Schild an der Tür stand Rolf Katzer und das wird er vermutlich auch sein.“

„Was macht dich da so sicher?“

„Sein Personalausweis aus der Brieftasche, die er in seiner Hose hatte?“, fragte Köller und zeigte auf den Schreibtisch, auf dem eine Brieftasche lag.

„Ein überzeugendes Indiz, in der Tat“, kommentierte Sandra grinsend, zog sich die Latexeinmalhandschuhe über die Hände und begutachtete vorsichtig die Brieftasche.

Mit geübter Hand zog sie einen Personalausweis und eine Visitenkarte mit heraus.

Das Opfer, voraussichtlich besagter Rolf Katzer, war nach dem Ausweis zu urteilen 45 Jahre alt und wohnte in Torkenweiler, halbwegs zwischen Weissenau und Obereschach. Die Visitenkarte wies ihn als Architekt aus mit der Adresse hier in der Grüner-Turm-Straße.

Henry schaute derweil den Kollegen der Spurensicherung zu und ließ seinen Blick durch die Büroräume schweifen. Er ertappte sich dabei, eine gewisse Vorstellung von einem Architekturbüro zu haben, die sich so gar nicht mit dem deckte, was er hier vorfand. Es gab keine Rollen mit Plänen, keine Regale mit Architekturbüchern, keine Wand mit Zeichnungen und auch keine Modelle von Häusern oder Anlagen, die noch gebaut werden sollten. In solchen Momenten realisierte er immer wieder, wie weit die Digitalisierung fortgeschritten und an ihm vorbeigegangen war.

Das Inventar reduzierte sich auf einen einfachen, wenn auch großen Schreibtisch mit ein paar Stühlen, einem Laptop, einer Couch und einem kleinen Cocktailtisch. Es schien alles aufgeräumt.

Neben dem Schreibtisch stand ein Drucker und ein Mülleimer, in dem sich auch eine unsachgemäß entsorgte leere Druckerpatrone befand, in der noch Reste schwarzer Tonerfarbe erkennbar waren.

Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel mit Unterlagen, die es noch zu sichten galt, und im Papierkorb sah er neben der Druckerpatrone auch einen Pizzakarton. Er bat einen der spurensichernden Kollegen doch die Pizza mit ins Labor zu nehmen. Vielleicht hatte der Mörder sich die Pizza ja mit dem Opfer geteilt, dachte er sich. Der Kollege nickte nur und verdrehte dabei die Augen … Als würde er nicht selbst wissen, was getan werden müsste. Im Gegenzug gab er dem Hauptkommissar einen Umschlag.

„Ein Geschenk für mich?“, fragte er seinen Kollegen im Spaß.

„Eher ein Geschenk des Mörders für Sie und die Kommissarin.“

„Ein Geschenk für uns vom Mörder?“, fragte Sandra nicht minder sarkastisch. „Das wäre doch nicht nötig gewesen.“

„Früher hat ein Mörder alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest ist, aber heutzutage werden wir beschenkt. Verrückte Welt! Spann uns nicht länger auf die Folter, was hat es mit dem Umschlag auf sich?“, fragte Henry in Richtung seines Kollegen.

„Haben wir direkt auf seinem Schoß gefunden. Ich bin zwar kein Kriminaler wie ihr, aber es sieht so aus, als wurde der Umschlag absichtlich dort hingelegt, unversehrt und deutlich sichtbar.“

„Lass mich raten, das Opfer hatte noch Gelegenheit, seinen letzten Willen zu schreiben, eine Täterbeschreibung abzugeben und dies dann noch fein säuberlichschwäbisch in einen Umschlag zu packen?“, fragte Henry

„Weit gefehlt, aber etwas zu raten scheint es schon zu sein“, entgegnete er den beiden, nachdem er den Umschlag sorgsam geöffnet hatte, um keine Spuren zu verwischen.

Sandra nahm den Umschlag in die Hand und holte mit ihren handschuhversehenen Fingerspitzen etwas Kleines heraus.

Es war ein Puzzlestück, das sie in Henrys Richtung hielt.

Es zeigte etwas Bräunliches und etwas Weißes, was wie das Teil eines Kleidungsstücks aussah, wenn auch wohl nicht gerade der letzte modische Schrei. Mehr konnten sie in der Dunkelheit nicht erkennen.

Die Kollegen im Labor würden sicher ihre Freude damit haben, dachte er sich.

„Ein Mörderpuzzle in Ravensburg … wie originell“, kommentierte er lakonisch.

Kapitel 2

Als er den Tatort verließ, war Henry voller Gedanken über das Opfer und die möglichen Umstände des Mordes. Wäre da nicht der Umschlag mit dem Puzzlestück gewesen, hätte er es mit einem klassischen Mord zu tun, bei dem meist nach kurzer Suche der Mörder oder die Mörderin im engeren Umfeld des Opfers zu finden ist, zumindest sagte ihm das die Statistik, die sich allerdings in der Vergangenheit auch immer mal wieder irrte, wie er aus seiner eigenen Erfahrung bestätigen konnte.

Er öffnete das Schloss seines Fahrrades und winkte noch kurz zu seinen Kollegen, die vermutlich noch einige Zeit mit der Sicherung aller Spuren beschäftigt sein würden, und verabredete sich mit Sandra im Büro, um von dort aus noch am Vormittag zu den Angehörigen zu fahren und die routinemäßigen Ermittlungen aufzunehmen.

Auf der Straße hatten sich die neugierigen Passanten und Nachbarn wieder weitestgehend verflüchtigt. Für die meisten war dann doch die eine oder andere Stunde Schlafes wichtiger, als am frühen Morgen vor einem Haus herumzustehen, ohne wirklich etwas zu sehen zu bekommen.

Von der Presse angesprochen, hatte es Sandra Flucht übernommen, einen kleinen Bericht an die wenigen Medienvertreter zu geben. Sie verlor dabei kein Wort über die Todesursache und erst recht nichts von dem bei der Leiche gefundenen Puzzlestück. Sie hoffte, die Journalisten dadurch zumindest für eine Weile auf Distanz halten zu können. Wenn es eines gab, was sie momentan nicht brauchen konnten, war es eine sensationshaschende Berichterstattung, bevor sie die Gelegenheit hatten, ihre Ermittlungen zu starten.

Henrys Trekking-Fahrrad hatte einen hohen Rahmen, damit er mit seiner Größe eine optimale Haltung beim Fahren einnehmen konnte. Seit seiner Rückkehr aus den USA, wo ein Leben in einem großen Staat wie Montana ohne Auto praktisch unvorstellbar war, war er hier auf ein Rad umgestiegen und brachte es auf einige tausend Kilometer, die er im Jahr in und um Ravensburg abstrampelte. Ein ausgeglichener Kreislauf und eine gute Kondition waren dabei ein positiver Nebeneffekt und es war ein Ausgleich zu seinen ansonsten ausgeübten Sportarten, schweres Krafttraining und Kampfsport. Mit seinen nun schon 55 Jahren war er mit seiner körperlichen Verfassung recht zufrieden, die man ihm ohne die früh ergrauten Haare kaum ansehen würde.

„Lieber grau als weg“, war seine übliche Antwort, als seine vormals schwarze Mähne bereits Ende 30 von grauen Strähnen durchzogen wurde.

Statt ohne Umwege gleich über den Marienplatz und die Rosenstraße in Richtung Polizeirevier zu fahren, schob er sein Fahrrad die Grüner-Turm-Straße hinunter bis zum Ende der Straße und der Einbiegung in die Untere Breite Straße.

Als er hinter sich blickte, sah er, wie die ersten Sonnenstrahlen die Dachziegel des Grünen Turms anblinzelten. Wie die meisten Ravensburger war Henry Ammann mit der Geschichte der Stadt gut vertraut und hatte seinen amerikanischen Dienstkollegen gerne von der Stadt der Türme erzählt.

In den USA, wo ein hundert Jahre altes Gebäude schon als historisch wertvoll bezeichnet wurde, gab es großes Interesse an der tausend Jahre alten Geschichte der oberschwäbischen Stadt, an den Welfen und Staufern und Kaiser Barbarossa oder Heinrich dem Löwen.

Selbst sein Nachname war fast schon so alt wie die Stadt, auch wenn der Ammann im Mittelalter zuerst eine Funktion oder ein Amt war. Der Ammann war bis 1348 das Oberhaupt der Stadt Ravensburg, danach saß er dem Gericht vor. Er musste aber gestehen, seinen Stammbaum noch nie verfolgt zu haben, obwohl es vielleicht interessant wäre herauszufinden, ob einer seiner Vorfahren einmal an prominenter Stelle die Geschicke der Stadt mitbestimmt hatte.

Der im frühen 15. Jahrhundert erbaute Grüne Turm, der seinen Namen den grünglasierten Dachziegeln verdankte, gehörte ursprünglich zur bis heute noch in Teilen erhaltenen Stadtmauer und diente in Verbindung mit dem angrenzenden, 1318 erbauten und früher „Niederes Tor“ genannten Frauentor der Verteidigung. Über einen Torbogen gelangte man damals wie heute in die Altstadt.

Er kam selten hier vorbei, was eigentlich schade war. Heute aber war die Gelegenheit zeitlich passend, wenn auch der berufliche Anlass die Freude etwas trübte.

Es war, abseits der Streifenwagen weiter oben, noch sehr ruhig zu dieser frühen Stunde. Am vorletzten Haus neben der Zehntscheuer blieb er stehen und schwelgte in Erinnerungen, die ihn immer überkamen, wenn er hier vorbeikam. Auch wenn heute weder von außen, und vermutlich auch nicht mehr von innen, viel daran erinnerte, war das hunderte Jahre alte, denkmalgeschützte Haus direkt vor der Stadtmauer und einem der noch erhaltenen Wehrtürme einmal ein Wohnhaus und für ihn das Zuhause gewesen.

Henry wuchs in seinen frühen Kindheitstagen bei seinen Großeltern auf, die zumindest bis in die frühen 1970er-Jahre noch in dem Haus wohnten, vor dem er jetzt stand. Die Decken waren sehr niedrig, daran konnte er sich gut erinnern, auch wenn er damals noch zu klein war, um sich den Kopf zu stoßen. Auch die Treppe ins Obergeschoss war sehr eng und das Alter des Gebäudes machte sich bei jedem Tritt knarzend bemerkbar. Die damals schon ziemlich ramponierten, hölzernen Fensterläden waren heute vollständig restauriert und erstrahlten in kräftigen braunen Farben.

Für heutige Verhältnisse unvorstellbar, befand sich die Toilette in einem Holzverschlag hinter dem Gebäude, direkt an der historischen Stadtmauer. Die wenigen Meter vom Haus zum Toilettenhäuschen waren vor allem im Winter ein Erlebnis für sich. Gedanklich sah er sich noch mit den Schneebällen, die er manchmal am frühen Morgen von der Toilette aus gegen die Stadtmauer geworfen hatte.

Bis heute hatte er die knarzenden Dielen in den Ohren, die irgendwie zu nahezu jedem Schritt im Haus dazugehörten, auch wenn es für Besucher so geklungen haben mag, als könne der alte Fachwerkbau jederzeit in sich zusammenbrechen. Ungern zogen seine Großeltern dann in die Burachhöhe, während er ab den späten 1970ern hauptsächlich bei seinen Eltern und seinen Geschwistern in Berg wohnte. Seine Großeltern besuchte er dennoch regelmäßig und lebte auch bei seiner Großmutter, nachdem sein Großvater leider viel zu früh verstarb.

Noch voll in der Vergangenheit schwelgend, riss ihn das Brummen seines privaten Klapphandys aus seinen Kindheitserinnerungen heraus. Es war seine Kollegin Sandra.

„Bist du schon im Kommissariat?“

„So gut wie … gleich da“, flunkerte er.

„Dann hole ich dich gleich vor der Einfahrt ab. Wir haben die Ehefrau telefonisch erreicht und fahren gleich zu ihr.“

„Bis gleich“, antwortete Henry, schwang sich auf sein Rad, trat in die Pedale und hoffte, noch vor seiner Kollegin dort zu sein.

In der Ferne hörte er ein vertrautes Geräusch, das vielen Ravensburgern um diese Zeit im Jahr wie Musik in den Ohren klang. Es war einer der vielen Trommlerkorpss der Ravensburger Schulen, die in Vorbereitung auf das in wenigen Wochen stattfindende Rutenfest schon in den frühen Morgenstunden vor der Schule übten. Der Klang der Trommeln begleitete ihn bis zum Ziel der kurzen Fahrt.

Vor dem Polizeipräsidium erwartete ihn Sandra bereits, lässig an die Autotür gelehnt.

„Na, wo waren wir denn wieder, etwa in der Altstadt verfahren?“

„Gedanklich am Fall gearbeitet und beinahe gelöst“, entgegnete Henry mit einem Grinsen.

„Dann müssen wir ja nur noch den Abschlussbericht verfassen und wir können Feierabend machen.“

„Dafür waren meine Gedanken dann doch noch nicht stichhaltig genug.“

Beide lachten als er zu ihr ins Auto stieg und Sandra in Richtung Seestraße fuhr.

Sandra und Henry waren ein Team, seit er vor einigen Jahren nach einem Schicksalsschlag und etwas unfreiwillig aus den USA zurückgekehrt war und sich nach einem Zwischenstopp in München die Planstelle des Hauptkommissars in Ravensburg angeboten hatte. Trotz etlicher Dienstjahre außerhalb Deutschlands wurde er damals, auch zu seiner eigenen Überraschung, angenommen.

Sandra Flucht stammte ursprünglich aus Friedrichshafen, war aber Ravensburg und der Region Oberschwaben seit Langem treu geblieben. Die Enddreißigerin, die ihre lange braune Haarmähne meist in einem Pferdeschwanz trug, verfolgte zielstrebig ihre Karriere und hoffte, nach Henrys Pensionierung in einigen Jahren seinen Posten übernehmen zu können. Ihr geschiedener Mann, ebenfalls Polizist mit Dienststelle in Friedrichshafen, konnte sich mit dem Ehrgeiz seiner damaligen Frau nie anfreunden und auch sein Kinderwunsch erfüllte sich erst in seiner zweiten Ehe. Insgeheim ging Sandras Interesse an Henry aber über das berufliche hinaus, auch wenn sie das für sich behielt.

Sie fragte Henry nach seiner Einschätzung zu dem Mord an Katzer, jenseits der noch ausstehenden Erkenntnisse der Spurensicherung. Wie sie konnte er sich keinen Reim auf das gefundene Puzzlestück machen.

„Ich hoffe sehr, wir haben es nicht mit einer beginnenden Serie zu tun“, sagte sie.

„Und wenn, dann hoffentlich keine mit zu vielen Teilen“, ergänzte Henry sarkastisch, holte sein Smartphone aus der Innentasche seines Sakkos und schrieb eine Mail.

„Liebesbriefe am frühen Morgen?“, fragte Sandra ihn anblickend.

„Nicht ganz. Ich frische gerade mein Schwyzerdütsch etwas auf. Bevor sich womöglich noch weitere Teile finden, fragen wir lieber gleich jemand, die sich mit Puzzlespielen auskennt“, entgegnete er, während er der Polizeipsychologin Simone Lucièn eine E-Mail schickte und sie um Rückruf bat. Die gebürtige Schweizerin aus dem Wallis war vor einiger Zeit der Liebe wegen nach Ulm gezogen und hatte sich seitdem als Spezialistin für knifflige psychologische Kriminalfragen weit über Baden-Württemberg hinaus einen Namen gemacht.

„Du fährst gleich schweres Geschütz auf, denkst du wirklich, wir haben es mit einem Durchgeknallten … ich meine natürlich mit einer psychisch belasteten Person zu tun?“

„Keine Ahnung, aber vielleicht kann unsere Kollegin mit ihrem unverwechselbar charmanten schweizer Akzent das irgendwie einordnen. Wofür es auch immer gut sein mag.“

Sandra nickte zustimmend, während er die Nachricht abschickte.

Sie waren auf dem Weg zu einem offensichtlich sehr gepflegten Einfamilienhaus in gehobener Bauweise in Torkenweiler. Die Fahrt durch nahezu durchgängig bebautes Gebiet ließ kaum noch erkennen, dass Torkenweiler früher ein eigenständiges Dorf gewesen war. Selbst in seiner Kindheit war die Gegend bis nach Eschach kaum bewohnt und ländlich geprägt.

Durch die vielen neuen Häuser und Wohnungen, die in den letzten Jahrzehnten in diesem Stadtteil errichtet wurden, erinnerte für Neuzugezogene nichts mehr daran, dass die im 12. Jahrhundert als Dorchenwilare erstmals erwähnte Ortschaft einstmals auch ein mittelalterlicher Sitz für Adelsleute sowie in den Diensten der Welfen und Staufer stehende Ritter mit einer eigenen Burg war.

Sandra stellte den Wagen am Straßenrand ab und sie gingen gemeinsam zum Hauseingang. Als sie läuten wollten, fielen ihnen die zwei Klingeln auf, die beide auf den Namen Katzer lauteten. Sie versuchte es mit der obersten Klingel, worauf auch eine Frau an der Tür erschien, die sich als Dagmar Katzer vorstellte, nachdem die beiden Kommissare mit der kurzen Begrüßung ihre Dienstausweise vorgezeigt hatten.

„Dagmar Katzer?“, fragte Sandra sicherheitshalber.

„Ist etwas mit einem der Jungs?“, fragte sie etwas erschrocken mit Verweis auf ihre zwei erwachsenen Söhne.

Die beiden schüttelten fast im Gleichklang den Kopf, während sie von der Frau ins Haus gebeten wurden. Wie schon der Garten mit dem gepflegten Rasen und den angeordneten Blumenbeeten vermuten ließ, wirkte auch das Haus innen stilsicher eingerichtet und kleinsäuberlich aufgeräumt.

Henry übernahm es, Dagmar Katzer über den Tod ihres Mannes zu informieren. Die schlanke Frau mit den langen schwarzen Haaren reagierte schockiert, fing sich aber sehr schnell wieder und hakte nach, woran er gestorben sei. Als sie von seinem gewaltsamen Ableben erfuhr, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Ihre Körpersprache und die Art und Weise, wie Frau Katzer nach Details zum Tathergang fragte, ließ sie für die geschulten Blicke von Sandra und Henry glaubhaft erscheinen, zumindest vorerst.

„Sie haben Ihren Mann gestern Abend nicht vermisst?“, fragte Henry verwundert, auch wenn er schon eine Idee hatte, was sie antworten könnte, als er sich an die zwei Klingelschilder erinnerte.

Frau Katzer führte dann auch aus, mit ihrem nun verstorbenen Mann seit einigen Jahren räumlich getrennt gelebt zu haben. Das Haus verfügte über eine Einliegerwohnung, die früher nacheinander ihren Söhnen als Unterkunft gedient hatte und, nachdem diese ihre Studentenzeit hinter sich gebracht hatten und berufstätig wurden, von ihrem Mann bezogen wurde. Sie hatten sich über die Jahre keine Gedanken mehr über eine Scheidung gemacht und sich mit der Situation arrangiert. Sie hätten sogar oft abends zusammen gegessen, besonders wenn ihre Kinder zu Besuch waren, wenn er nicht anderweitige Pläne für die Abendgestaltung hatte, wie sie sich ausdrückte.

Die beiden verstanden und nickten nur kurz verständnisvoll, um sie in ihrem Redefluss nicht zu unterbrechen.

Gestern hatte er zwar angekündigt, zum Abendessen im Haus zu sein, er war aber nicht erschienen. Da dies aber immer mal wieder vorkam, machte sie sich keine Gedanken, ob etwas passiert sein könnte. Sie hatte sich auch angewöhnt, ihm in solchen Fällen nicht hinterherzutelefonieren, schließlich waren sie getrennte Leute, wenn auch nicht amtlich, betonte sie.

Durch ihre Ausführungen erübrigte sich auch die Frage nach einem Alibi. Sie hatte zwar keinen Nachweis dafür, gestern Abend das Haus nicht verlassen zu haben, die Kommissare sahen aber vorerst auch keine Notwendigkeit gegeben, ein Alibi zu überprüfen.

Es folgten einige Standardfragen zum näheren Umfeld des Opfers und ob sie etwas über Streitigkeiten wusste oder ob ihr andere Unstimmigkeiten aufgefallen waren, was sie alles verneinte. Zu den Söhnen hatte er demnach ein gutes Verhältnis und die beiden waren fast jede Woche zu Gast. Sandra notierte sich deren Kontaktinformationen, überließ es aber Frau Katzer, ihre Kinder selbst über den Tod ihres Vaters zu informieren.

Die Söhne gingen ansonsten nach Aussage ihrer Mutter ihre eigenen Wege. Frau Katzer schien genügend Krimierfahrung aus diversen Serien zu haben und gab ungefragt zu Protokoll, dass ihre Söhne als Täter auf keinen Fall in Frage kämen.

„Daran hatten wir bislang auch gar nicht gedacht“, bestätigte Sandra, was aus ihrer Sicht auch der Wahrheit entsprach.

Als nächstes wollten die beiden die Einliegerwohnung des Opfers in Augenschein nehmen. Frau Katzer holte den Zweitschlüssel für die Wohnung, der an der Garderobe an einer Pinnwand hing und sie führte die Kommissare in die gemütlich eingerichtete Zweizimmerwohnung mit separatem Bad und einer kleinen Kochnische, die kaum benutzt aussah. Rolf Katzer hatte die frühere Wohnung seiner Kinder offensichtlich renoviert und auf seine Bedürfnisse hin eingerichtet, zumindest war dies der Eindruck, den die geschmackvollen Zimmer bei den Kommissaren erweckten. Es sah alles sehr aufgeräumt aus und Sandra vermutete, Frau Katzer hatte wohl trotz der Trennung auch in diesen Räumen an der Einrichtung mitgewirkt und für Sauberkeit gesorgt. Lediglich eine größere Fotokollage mit Aufnahmen vom Rutenfest fiel sprichwörtlich etwas aus Rahmen.

„Ihr Mann?“, fragte Henry und zeigte auf ein Bild mit einem Jungen mit einer Basstrommel.

„Ja, sein ganzer Stolz war es, damals mit dabei gewesen zu sein. Er traf sich über die Jahre immer wieder mit einigen seiner ehemaligen Schulkameraden, die bis heute zu seinen ältesten und besten Freunden zählten.“

„Und das Mädchen neben ihm auf dem kleineren Bild, das sieht Ihnen nicht unähnlich?“

„Sie haben gute Augen … ja, wir hatten uns damals kennengelernt. Wie das halt so war in der Schulzeit. Zusammen waren wir dann aber erst nach dem Abschluss, alles lange her“, antworte sie mit gesenktem Kopf und Tränen in den Augen.

Henry wechselte zur Ablenkung rasch das Thema und wandte sich zusammen mit Sandra den anderen Einrichtungsgegenständen zu.

Auf den ersten Blick konnten sie in den Räumlichkeiten keine sachdienlichen Hinweise finden, baten aber Frau Katzer, die sich wieder etwas gefangen hatte, den Raum verschlossen zu halten, bis die Spurensicherung die Gelegenheit haben würde, sich die Wohnung genauer anzusehen. Sie nickte zustimmend und begleitete die beiden wieder zur Türe hinaus.

Auf der Rückfahrt glichen Sandra und Henry ihre Eindrücke ab und kamen zum selben Schluss, bei der Familie wohl vergeblich nach einem Täter zu suchen. Nichtsdestoweniger mussten sie mit den Söhnen und dem weiteren Umfeld von Rolf Katzer sprechen.

Mit „Henry, ein Anruf wartet auf dich … aus Ulm, eine Frau mit verführerischer Stimme …“, wurde er beim Betreten seines Büros im zweiten Stock des Kommissariats von Kriminalassistentin Beatrice Hehn begrüßt.

„Wie immer witzig. Danke, Beatrice“, sagte er nur und bat Sandra zu ihm in sein Büro.

Er stellte das Telefon auf seinen Stehtisch, den er sich hatte extra beschaffen lassen. Ein höhenverstellbarer Schreibtisch wäre auch möglich gewesen, nur unverhältnismäßig teurer. Seit einem Bandscheibenvorfall vor einigen Jahren machte er es sich zur Gewohnheit, bei jeder passenden Gelegenheit zu stehen.

Sitzen sei das neue Rauchen, hatte ihm sein Therapeut damals gesagt.

„Hoi Simone“, grüßte er die Polizeipsychologin in Schwyzerdütsch. „Wie geht es dir und René?“, fragte er.

„Beide wohlauf, glaube ich.“, gab sie zurück. „René ist gerade wieder auf einem Gestüt bei Biberach und sorgt für Nachwuchs“, erklärte sie zum Verbleib ihres Mannes, einem anerkannten Veterinär.

„Was sagt der Hengst dazu?“, schoss es aus ihm heraus.

Alle mussten herzhaft lachen. Simone und René Lucièn waren wie Henry begeisterte Reiter und ritten in der viel zu seltenen freien Zeit gelegentlich auch gerne gemeinsam aus. Das Ehepaar hatte mehrere eigene Pferde, die alle im Western-Stil ausgebildet wurden und an Turnieren teilnahmen. Henry durfte sich schon öfters eines der Quarter Horses für Ausritte ausleihen.

„Ich habe gehört, dir fehlt zur Lösung eines Mordfalles noch ein Puzzleteil.“

„Fast richtig … wir haben ein Puzzleteil und hoffen, du kannst uns das Gesamtbild zeigen“, entgegnete er, stellte das Telefon auf laut und schaltete die Kamera an, damit sie sich auch gegenseitig sehen konnten.

„Dann lass uns mal puzzeln.“

Kapitel 3

Simone Lucièn ließ sich alle bislang bekannten Details zum Mord an Rolf Katzer in der Grüner-Turm-Straße schildern, mit Hauptaugenmerk auf das aufgefundene Puzzlestück. Es gab allerdings noch keinerlei brauchbare Ergebnisse, deshalb war sie sehr verwundert, derart schnell in einen Fall einbezogen zu werden, wo noch vollkommen unklar war, ob ihre psychologischen Fähigkeiten überhaupt erforderlich waren.

Mit „Ich sehe ein paar Fragezeichen auf deiner Stirn“, holte Henry sie aus ihren Gedanken.

„Du scheinst gar keine Psychologin zu brauchen“, erwiderte sie mit einem Lächeln.

„Ich bin noch in der Ausbildung. Bis ich etwas Sinnvolles aus deiner Wissenschaft von mir geben kann, brauchen wir dich noch.“

Beide lachten.

„Wir wollen das Pferd einmal von hinten aufzäumen“, sagte Henry. „Vielleicht hilft es uns, einen weiteren Mord zu verhindern.“

Selbst für eine erfahrene Psychologin wie Simone war allerdings ein einzelnes Puzzlestück noch viel zu wenig, um daraus ein mögliches Täterprofil zu erstellen. Sie konnte aber die Eile nachvollziehen, bei einer derart ungewöhnlichen „Visitenkarte“ bereits erste Annahmen zu den Beweggründen und Handlungsweisen des Mörders zu treffen. Denn auf das eine Puzzlestück könnte womöglich ein zweites folgen, somit drohten eventuell ein oder gar mehrere, weitere Morde.

Bevor sie erste Einschätzungen abgeben wollte, warnte sie die Kommissare davor, diese als sakrosankt zu verstehen. Ohne Hinweise auf das Alter, Lebensumstände, allgemeine Vorgeschichte und weitere Persönlichkeitsmerkmale des Täters war jegliche Aussage mit Vorsicht zu genießen und ohne jegliche Gewähr.

Sandra und Henry signalisierten durch einvernehmliches Nicken verstanden zu haben.

Simone begann damit, von ähnlichen Fällen aus der ganzen Welt zu berichten, mit denen sie sich während des Studiums und der Ausbildung beschäftigen musste und von denen die Kommissare noch nie etwas gehört hatten.

In einem Fall hinterließ ein Serientäter in den USA in den 1990er-Jahren immer kleine Schnipsel einer Seite Papier beim jeweiligen Opfer. Die Schnipsel zeigten nach etlichen Morden zusammengefügt das Konterfei des Täters, der somit an den Tatorten allmählich auf sich selbst hinweisen wollte. Nach seiner Festnahme konnte durch die anschließende Untersuchung das Mordmotiv ermittelt werden. Der Mörder litt unheilbar an Lungenkrebs und die Ärzte gaben ihm nur noch einige Monate. Als lebenslanger starker Raucher wollte er sich an der Zigarettenindustrie rächen. Es war den ermittelnden Stellen aber nicht gelungen, diesen Zusammenhang festzustellen, bevor der Täter schließlich gefasst werden konnte, da er seine Opfer in der Branche sehr selektiv auswählte.

Ein anderes Beispiel war ein Serienmord in den Niederlanden, wo ein Mann Frauen mittleren Alters tötete. Er hinterließ bei den Opfern ausgeschnittene Teile eines Fotos, das am Ende, als es genügend Stücke davon, und somit tote Frauen, gab, ein Bildnis seiner Mutter zeigte. Seine Mutter hatte ihn zu Lebzeiten stark misshandelt. Als sie nach einer Demenzerkrankung starb, wollte er sich im Nachhinein an Frauen rächen, die seiner Mutter äußerlich ähnelten. Über das fast vollständige Foto konnte die Mutter des Mörders identifiziert und er in der Folge überführt werden.

Sandra und Henry lauschten den Ausführungen von Simone kommentarlos, schauten sich mit flauem Gefühl im Magen immer wieder an. Ihre Gedanken waren dieselben. Es war die Hoffnung, der Mörder mit dem Puzzlestück möge nicht zu den geschilderten Kategorien von Mördern zählen. Es würde eine große Zahl an Morden geben, bis sich irgendwann einmal ein klares Bild ergeben würde, immer vorausgesetzt, es würde überhaupt zu einem oder mehreren weiteren Morden kommen.

„Hab‘ ich euch erschreckt?“, fragte Simone, als sie gedankenverlorenen Blicke sah.

„Wir hoffen, unser Mörder hat nicht den gleichen Studiengang besucht wie du und kennt diese Beispiele nicht“, antwortete Sandra.

„Da reicht auch die eine oder andere Serie aus einem Streaming-Kanal.“

„Wohl wahr“, meinte Henry und fragte zurück, was die Wahl eines Puzzlestücks über den Täter aussagen würde.

„Zu früh für diese Frage. Es könnte sich um einen akkuraten, pedantischen Menschen handeln, aber er könnte genauso gut in der Puzzleabteilung eines Spielwarengeschäfts arbeiten.“

„Oder beides.“

„Auch das.“

Sandra hakte weiter nach und fragte nach möglichen Motiven. Auch hier blieb Simone sehr vage, allein schon, um sie nicht auf eine falsche Fährte zu führen.

„Rache … gegen irgendjemanden, igendwas, direkt oder indirekt … Ein weites Feld. Sucht euch aber bitte noch nichts aus …“

„Du meinst, nach dem nächsten Mord sind wir schlauer?“, unterbrach Henry

„Das auf jeden Fall“, betonte die Psychologin.

„Na, da sind wir doch schon ein Stückchen weiter“, seufzte Sandra. „Wir müssen nur auf die nächste Leiche warten.

„Ein bisschen Arbeit muss ich euch leider schon noch lassen …“

„Wir hoffen mal, es ist mit ein bisschen Arbeit getan, auch wenn ich befürchte, es wird erst einmal schlimmer werden, bevor es sich bessert. Aber Danke für deine Hilfe. Es ist auf jeden Fall ein Start.“

Henry schaltete die Kamera aus und beendete das Gespräch. Ernüchtert darüber, auf der einen Seite von ähnlichen Fällen gehört zu haben, aber andererseits auch wenig Konkretes gelernt zu haben, überlegten sie, wie sie weiter vorgehen wollten. Ohne das Puzzlestück würden sie ausschließlich nach dem Lehrbuch vorgehen und den Mörder im engeren Umfeld vermuten. Vielleicht war es auch so, zumindest so lange kein weiterer Mord geschah mit demselben „Markenzeichen“.

Sie beschlossen, das Puzzleteil für einen Moment zu ignorieren und sich auf die nächsten, klassischen Ermittlungsschritte zu fokussieren. Die Pathologie würde sicher erst am nächsten Tag ihre Ergebnisse präsentieren und die Spurensicherung würde auch noch ihre Zeit benötigen. Sie machten sich daher an die Arbeit, sich das Umfeld des Opfers genauer anzusehen, ob sich daraus vielleicht doch etwas ergeben würde.

Sandra übernahm die Recherche zum privaten Umfeld von Katzer und ließ sich auch breitschlagen, die Kinder des Opfers telefonisch zu befragen, die zuvor sicher schon von der Mutter kontaktiert worden waren.

Henry wollte sich im weiteren beruflichen Umfeld Katzers umsehen, um etwas über seine Arbeitskollegen, Mitbewerber und aktuelle Kunden in Erfahrung zu bringen. Er fragte telefonisch bei der Spurensicherung nach, wie weit sie bei der Prüfung der gesicherten Unterlagen und Gegenstände waren, die sie in dem Architekturbüro sichergestellt hatten. Es war den Kollegen aus der Technik bereits gelungen, die PIN des Smartphones von Rolf Katzer zu knacken und sie waren dabei die Kontakte und Mails dort auszuwerten. Sie würden sich bei ihm melden, sollten sich daraus Informationen ergeben, die vielleicht wichtig sein könnten. Wenig begeistert legte er wieder auf. Er hatte gehofft, vielleicht schon erste brauchbare Details zu bekommen, machte aber niemandem einen Vorwurf, da sie derzeit ohnehin alle im Trüben fischten.

Er machte sich selbst daran, die Webseite von Katzers Firma durchzuklicken. Auf einer der Seiten fand sich eine Kundenliste. Er überlegte kurz, ob es Sinn machen würde, sie alle zu kontaktieren, entschied sich aber dagegen. Zum einen würde es nur unnötig Staub aufwirbeln, solange sie keine handfesten Indizien für einen geschäftlichen Zusammenhang hatten, und zum anderen war auch nicht ersichtlich, ob dies alles aktuelle Kunden waren oder nur Referenzen aus der Vergangenheit.

Auf Katzers Webseite waren auch einige seiner aktuellen Projekte aufgelistet, unter anderem der Neubau eines Mehrfamilienhauses in Schmalegg und einige Objekte in einer Reihenhaussiedlung in Meckenbeuren. Auch hier sah er noch keinen Anlass, dem weiter nachzugehen.

Stattdessen entschloss er sich, noch einmal an den Tatort zu fahren, um dort vielleicht einen Hinweis zu bekommen oder etwas zu entdecken, was zu nachtschlafender Zeit unentdeckt geblieben war. Wenn er ehrlich mit sich war, hatte er noch keinen Anhaltspunkt und hoffte wie so oft auf Genosse Zufall.

Er winkte kurz zu Sandra hinüber, die am Telefon in Gespräche vertieft war. Er signalisierte ihr, sich später telefonisch abzustimmen.

Bevor er sich wieder auf sein Fahrrad schwang, riskierte Henry noch einen Blick gen Himmel. Es waren nur ein paar Schäfchenwolken zu sehen und einer trockenen Fahrt stand somit nichts entgegen. Scheinbar hatten sich die Wetterpropheten wieder einmal geirrt und die für den heutigen Nachmittag vorhergesagten, ergiebigen Regengüsse blieben aus. Auf der anderen Seite war der Nachmittag auch noch nicht vorbei, dachte er sich.

Er radelte dieses Mal über den Marienplatz zur Grüner-Turm-Straße. Er wollte sich das Büro nochmals bei Tageslicht ansehen, zumindest von außen, da er ansonsten das Siegel aufbrechen müsste.

Die Schaufenster der Geschäfte und Lokale, an denen er vorbeifuhr, waren bereits für das bevorstehende Rutenfest geschmückt. Überall sah er die blau-weißen Fahnen in unterschiedlichsten Größen, oftmals mit dem Motiv des seit 1267 belegten Stadtwappens von Ravensburg. Nach den Jahren in den USA hatte er seit seiner Rückkehr wieder wie früher kein Rutenfest mehr versäumt und freute sich schon jetzt auf den Rutenumzug und das nächste Alten-Bogenschießen der ehemaligen Realschüler, das alle fünf Jahre stattfand.

Vor dem Büro des Ermordeten deutete nichts mehr auf die Tat der Nacht hin. Die lokalen Medien hatten im Radio und online bislang noch nichts über den Todesfall berichtet, womit ihre Pressestrategie zumindest für den Moment aufgegangen war, den Mord erst einmal aus den Medien herauszuhalten. Auch bildeten sich keine Menschenansammlungen mehr um das Architekturbüro. Die Menschen gingen die Gasse hinunter wie immer, nur vereinzelt sah er unter den Vorbeigehenden jemand, der einen flüchtigen Blick nach dem versiegelten Büro riskierte.

Er versuchte sich den Ablauf des Mordes vorzustellen und stellte sich dabei einige Fragen.

Kannten sich Täter und Opfer? Fehlende Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen und ebenfalls nicht erkennbare Kampfspuren sprachen dafür. Die Folgefrage war dann, wie gut sie sich kannten? Sie könnten sich erst am Vortag aus beruflichen Gründen getroffen haben oder auch seit der Schulzeit miteinander bekannt sein, was den Kreis der für die Tat in Frage kommenden Personen unübersichtlich und groß werden ließ.

Was war das Motiv für den Mord? Dies war die wichtigste Frage überhaupt. Es wurde scheinbar nichts entwendet. Hoffentlich brachten Sandras Recherchen Antworten auf die Frage, ob es Hinweise auf Motive aus dem privaten Umfeld gab. Er dachte da an die Klassiker wie Versicherungen und Erbschaften, aus denen ein Mörder Nutzen ziehen wollte.

Was sollte das Puzzlestück darstellen? Sollte es der von Simone versuchte Hinweis des Täters auf sich oder das Motiv sein oder war es am Ende nur ein Ablenkungsmanöver, und wenn ja, wovon?

Auf keine der Fragen konnte er eine befriedigende Antwort finden. Bevor er sich auf den Weg nach Hause machen wollte, ging er kurz in die kleine Bäckerei direkt neben dem Architekturbüro. Es schien eine neue Bio-Bäckerei zu sein, zumindest kannte er sie noch nicht. In der Auslage betrachtete er etliche Brote und Backwaren, bevor er eine Auswahl traf. Er entschied sich für einen kleinen Laib Bauernbrot mit kräftiger Kruste, so wie er es mochte. Beiläufig fragte er dann die Verkäuferin, ob sie den Architekten Katzer von nebenan kannte. Die junge Frau agierte sehr zurückhaltend und erst als er ihr seinen Dienstausweis zeigte, fing sie an auf Henrys Fragen einzugehen und zu erzählen.

Die Verkäuferin hatte meistens Spätschicht und war selbst nach Ladenschluss um 20 Uhr noch länger im Geschäft, um die Brösel aus den Regalen zu kehren und, falls doch einmal etwas übriggeblieben war, nicht verkaufte Ware für den nächsten Tag im Hinterzimmer zu lagern, um es am nächsten Tag zum halben Preis verkaufen zu können.

Des Öfteren war im Architekturbüro auch außerhalb der Öffnungszeiten Betrieb, wie sie es nannte und, so gab sie etwas verlegen an, sie hätte insbesondere gesehen, wie Frauen am Nachmittag oder frühen Abend zu ihm ins Büro kamen. Henry notierte sich ihre Angaben, noch unklar, was das bedeuten könnte. Da Katzer von seiner Frau weitgehend getrennt gelebt hatte, musste diese Information nicht wirklich etwas Ungewöhnliches bedeuten, zumal er wohl kaum Frauenbesuch in seine Einliegerwohnung mitnehmen wollte, schon alleine wegen der Nachbarn, dachte er sich.

Insgesamt war die Verkäuferin dann plötzlich doch sehr redselig, was er normalerweise eher von älteren Damen erwartet hätte. Ob es irgendwann etwas wirklich Auffälliges, einen Streit oder etwas Ähnliches gegeben hatte, konnte sie nicht bestätigen. Henry bedankte sich, nahm sein aufgeschnittenes Brot und ging wieder auf die Straße.

„Na bitte, ein bisschen was geht doch immer“, sagte er leise zu sich selbst, auch wenn er noch nicht wusste, wieviel Gewicht er dieser Aussage beimessen wollte.

Auf jeden Fall gab es einen Anhaltspunkt, den es zu verfolgen galt, nicht zuletzt abhängig davon, um welche Art von „Damenbesuchen“ es sich handelte. Es würde schon einen Unterschied machen, wenn Katzer Techtelmechtel mit verheirateten Frauen pflegte, was deren Ehemänner zu möglichen Tätern machen könnte. Ob gehörnte Ehegatten allerdings auf so etwas wie ein Puzzlestück kommen würden, war fraglich, aber nicht ausgeschlossen.