Der Tod kam im Häs - Karlheinz Moll - E-Book

Der Tod kam im Häs E-Book

Karlheinz Moll

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Beschreibung

Mitten in der Schwäbisch-Alemannischen Fasnet werden Kommissar Heinrich "Henry" Ammann und sein Team in die Altstadt von Ravensburg gerufen. Ein Mann wurde in der Nacht nach einem Umzug in seinem Kostüm, dem "Häs", an einem alten Fachwerkhaus aufgehängt. In der Nachbarschaft hatte niemand etwas von dessen gewaltsamer Tötung mitbekommen und es gibt zunächst keinerlei Hinweise, warum er sterben musste. Bevor die Ermittlungen richtig beginnen können, wird bereits kurz darauf ein zweiter Mann am anderen Ende der Altstadt ermordet aufgefunden. Als Tatwerkzeug diente ein Utensil aus der Fasnet. Wie schon beim ersten Mord gibt es keinerlei Zeugen und keine verwertbaren Spuren. Beide Opfer waren Mitglied einer Ravensburger Fasnetszunft und kannten sich gut, wodurch sich die Polizeiarbeit des Kommissars und seiner Mitarbeiter zunehmend auf die Zunft und deren Umfeld konzentriert. Weitere Menschen aus dem Umfeld der Zunft geraten in den Fokus der Ermittler und fördern langsam mögliche Hintergründe für die Taten hervor. Die zwei Ermordeten Hästräger werden nicht die letzten Opfer gewesen sein.

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Seitenzahl: 321

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Karlheinz Moll

Der Tod kam im Häs

Ein Ravensburg Krimi

© 2023 Karlheinz Moll

Lektorat von: Dr. M. Karafiat / I. + M. Landinger / S. Peuker

Coverdesign von: P. Stendl, Intergrafos

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Anmerkungen

Zum Autor

Bibliographie

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Der Tod kam im Häs

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Urheberrechte

Kapitel 1

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Der Tod kam im Häs

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Kapitel 1

In der vergangenen Nacht hatte es das erste Mal in diesem Winter geschneit. Im Wetterbericht wurde eine schneereiche Nacht mit mehreren Zentimetern Neuschnee angekündigt und ausnahmsweise hatten die Wetterpropheten auch noch recht. Schon um fünf Uhr war er aus dem Bett gekrochen, hatte sich warme Klamotten übergeworfen und sich in die Garage aufgemacht. Neben seinen zwei Trekking-Fahrrädern standen in einer Ecke auch ein Besen und eine Schneeschaufel.

Nur noch wenige Flocken kamen vom Himmel und, sollte die Wettervorhersage auch tagsüber zutreffen, würde es ein kalter, aber sonniger Tag werden. Auf dem Platz vor dem Carport, unter dem noch immer kein Auto stand, hatte sich ein weißer Teppich über den Boden gelegt.

Henry Ammann zog strukturiert seine Bahnen über die verschneite Einfahrt. Am Ende jeder Bahn kippte er den aufgenommenen Schnee mit der Schippe auf die Wiese seines Grundstücks. Anschließend ging er weiter auf die Straße und schaufelte auch hier eine breite Schneise entlang seines Gartenzauns. Den Schnee von dort warf er über seinen Zaun und unter seine angrenzende Hecke. Ein paar Häuser weiter sah er einen Nachbarn, der wie er zu bereits früher Stunde auf den Beinen war und seinerseits vor seinem Grundstück räumte, eine Gewohnheit, die sich zumindest bei manchen über die Jahre nicht geändert zu haben schien, auch wenn es, verglichen zu seinen Kindes- und Jugendzeiten, nicht mehr eine Selbstverständlichkeit war, egal, ob es um privaten Räumdienst oder städtischen ging. Henry winkte seinem Nachbarn kurz zurück und schippte dann fleißig weiter. Zumindest hier in Berg war diesbezüglich die Welt aber noch mit früheren Zeiten vergleichbar. Er konnte ihn zwar nicht sehen, aber ein paar Straßen weiter musste unüberhörbar auch schon ein Räumfahrzeug der Gemeinde unterwegs sein.

Nach einer halben Stunde war der Bürgersteig trotz mehrerer Zentimeter hohe Schneeschicht für die Fußgänger frei begehbar und auch auf den Wegen seines Grundstücks war geräumt. Zurück im Haus war es inzwischen gemütlich warm geworden. Nachts hatte Henry seine Heizung immer aus. Durch die gute Dämmung sank die Temperatur im Haus auch an kälteren Tagen selten unter 18 Grad, somit für ihn die ideale nächtliche Schlafzimmertemperatur. Jetzt zum Frühstück und zum anschließenden Sport zog er es dann aber doch etwas wärmer vor.

Nach dem Tod seines Vaters hatte er in seinem elterlichen Haus eine Fußbodenheizung eingebaut und die in die Jahre gekommene Ölheizung durch eine moderne Gasheizung ersetzt. Einen Schritt, den er angesichts der aktuellen politischen Diskussion rund ums Heizen gut gewählt hatte. Zusätzlich hatte er damals die Südwestseite seines Daches mit einer Fotovoltaikanlage ausgebaut, um damit die gestiegenen Heizkosten durch niedrigere Stromkosten auszugleichen. Zwar waren die letzten Winter alle eher warm und die neue Heizung dadurch kaum gebraucht worden, doch war er froh, dass es jetzt wohlig warm im Haus war.

In der Küche schaltete er seine Kaffeemaschine an, um noch eine Tasse Filterkaffee zu trinken, bevor er mit der Morgengymnastik beginnen wollte und seine Hyongs, die traditionellen Taekwondo-Formen, im Wohnzimmer durchlaufen. Aber daraus sollte nichts werden. Henry stand noch am Herd und schaute dem Kaffee zu, wie er durch den Filter in die Kanne rann, als sein Klapphandy auf dem Küchentisch vibrierte.

„Guten Morgen Jana, wenn du mich zu so einer frühen Zeit anrufst, dann verheißt das nichts Gutes, oder?“, fragte er die Polizeihauptmeisterin.

„Erraten. Dein Typ wird wieder einmal verlangt.“

„Was ist passiert?“

„Ein Toter, direkt an der südlichen Stadtmauer“, erklärte seine Kollegin und nannte ihm die genaue Adresse.

„Ein Fall für die Mordkommission?“

„Würde ich sonst anrufen?“

„Wohl kaum. Bin unterwegs. Kann aber ein bisschen länger dauern als sonst.“

„Du willst tatsächlich bei dem Schnee mit dem Rad fahren? Warum frag ich erst; natürlich machst du das. Eilt ohnehin nicht, das Opfer hängt hier nur so rum.“

„Hängt rum?“

„Ja, ein erhängter Mann. Übrigens, muss ich Sandra noch informieren?“, fragte Jana keck.

„Ja, heute musst du sie kontaktieren“, entgegnete Henry süffisant, mit der der Betonung auf „heute“.

Inzwischen hatte es sich im Kommissariat, vermutlich in der ganzen Ravensburger Polizei herumgesprochen, dass er und seine Kollegin, Kommissarin Sandra Flucht seit dem Rutenfest im vorletzten Jahr ein Paar waren. Die teilweise unüberhörbaren Tuscheleien über den Altersunterschied hatten aber inzwischen nachgelassen. Henry hatte Verständnis dafür; er hatte ja selbst lange Bedenken gehabt deswegen, die hatte ihm Sandra aber zwischenzeitlich gründlich genommen. Dennoch waren beide noch nicht so weit, auch zusammenzuziehen. Sie wohnte daher noch immer in ihrer Altbauwohnung in der Oberen Marktstraße. Für den Moment war das für beide auch gut, so wie es war, nicht zuletzt, weil Sandra mitten in einer Weiterbildung steckte, viel Zeit fürs Lernen brauchte und sich auch auf ein Seminar in Österreich vorbereitete.

Henry packte sich warm ein, über einen leichten Rollkragenpullover zog er noch einen dunkelblauen Hoodie mit der Aufschrift „Missoula Police“, ein Andenken seiner Kollegen aus Montana. Diesen hatte er damals zum Abschied seiner Dienstzeit in Missoula bekommen. Darüber kam noch eine schwarze Fleecejacke. Handschuhe waren ebenso selbstverständlich wie ein Stirnband. Bevor er losfuhr, warf er noch einen Blick auf sein Thermometer an der Hauswand neben dem Garagentor. Es zeigte minus 6 Grad Celsius. Bei dem Anblick zog er den Reißverschluss der Fleecejacke noch etwas weiter, bis zum Anschlag, nach oben.

Die Fahrt auf dem Fahrradweg nach Ravensburg verlief besser, als er erwartet hatte. Es war noch nicht hell und es ließ sich recht gut durch den noch frischen Schnee fahren. Der Fahrradweg und der parallel daneben verlaufende Fußweg waren noch nicht geräumt, was Henry sogar entgegenkam. Es war ihm lieber durch ein paar Zentimeter hohen Schnee zu fahren, als über einen frisch geräumten Weg, der dann womöglich glatt war, so wie vor einer Woche. Da kam es über Nacht zu Blitzeis und die Fahrt ins Büro wurde an manchen Stellen zu einer Rutschpartie. An dem Tag fuhr Henry noch um einiges vorsichtiger als heute und versuchte so wenig wie möglich bremsen zu müssen, um nicht abzudriften, was bergab um einiges schwerer war als geradeaus.

Am heutigen frühen Morgen durch den Schnee zu fahren war dagegen fast schon ein Vergnügen. Er war wohl auch der erste Radfahrer auf dem Weg nach Ravensburg heute, und würde vielleicht auch der einzige bleiben, da außer den Spuren, die er im Schnee hinterließ, keine weiteren zu sehen waren, weder von einem Radfahrer noch von einem Fußgänger.

Über die bereits gut geräumte Deisenfangstraße radelte er Richtung Bahnhof, dann über die Kapuzinerstraße bis zur Altstadtgrenze, von wo er zuerst die Mauerstraße entlangfuhr, dann über eine Abbiegung weiter auf der Untere Breite Straße. An manchen Stellen hatte die Kälte den nur dürftig geräumten Straßenbelag schon gefroren und Henry fuhr noch etwas vorsichtiger als ohnehin schon. Nach einem kurzen Schwenker durch die noch leere Fußgängerzone waren es nur noch einige Meter, bis er die Bachstraße erreichte.

Bevor er links in die Bachstraße einbog, blickte er kurz nach rechts auf das angestrahlte Untertor. Auch nach so vielen Jahrzehnten faszinierten ihn die mittelalterlichen Türme jedes Mal aufs Neue, vor allem, wenn er, wie heute, schon länger nicht mehr an einem bestimmten Turm vorbeigekommen war. Er musste gar nicht erst auf die am Untertor angebrachte Tafel schauen, um sich des geschichtlichen Hintergrunds zu erinnern. Das 36 Meter hohe Untertor wurde 1363 erbaut und bildete einen Teil der südlichen Stadtgrenze. Zusammen mit dem Stadtgraben, einer Brücke, einem Vortor und einer Pechnase diente das Untertor bis zum Ende der jüngeren Neuzeit im 19. Jahrhundert als Befestigungsanlage. Erhalten blieb auch ein kleines Tor im Turm, über den man zur damaligen Zeit auf den an der Stadtmauer entlangführenden Wehrgang gelangen konnte.

In Gedanken an die Ravensburger Geschichte bog Henry links auf die Bachstraße, dann rechts in die Weinbergstraße und anschließend wieder links zur angegebenen Adresse am Hirschgraben, dem früheren Verteidigungsgraben, in dem er als kleiner Bub noch das bis 1971 dort gehaltene Rotwild mit Kastanien füttern durfte. Auf der rechten Seite fand sich entlang der ganzen Kohlstraße ein sehr gut erhaltener Teil der historischen Stadtmauer in Verlängerung eines in Ziegelbauweise gehaltenen Halbrundturms, der ab dem 14. Jahrhundert zur Verteidigung des Stadtgrabens gedient hatte. Sein Ziel war ein direkt an die Stadtmauer gebautes Fachwerkhaus, das, abgesehen von einem Holzschuppen, gleich neben einem Wehrturm erbaut worden war, in dem noch bis 1964 das alte Ravensburger Schaltwerk des Stromnetzes der Stadt untergebracht war.

Das zumindest von außen sehr gut erhaltenem Fachwerkhaus verfügte über drei Stockwerke. Die Stadtmauer reichte dabei bis über das erste Stockwerk hinaus. Das Haus gehörte zu den wenigen noch bewohnbaren Gebäuden auf der Stadtmauerseite. Ansonsten waren nur Holzverschläge und kleine Gartenanlagen zu sehen.

In der engen Kohlstraße, die normalerweise nur für Anrainer befahrbar war, staute sich bereits eine kleinere Karawane aus Einsatzwagen, Krankenwagen und einigen zivilen Polizeifahrzeugen, darunter unverkennbar der dienstliche BMW des Pathologen, der einen längeren Anfahrtsweg hatte. Die meisten Beamten waren vermutlich die kurze Strecke vom Polizeipräsidium zu Fuß gegangen. Er vermutete, auch Sandra hätte den Weg von ihrer Wohnung zu Fuß zurückgelegt, zumindest konnte er ihren Wagen nicht ausmachen. Einige der Anwohner von der gegenüberliegenden Straßenseite schauten hinter ihren Vorhängen auf die Vorgänge vor ihrem Haus.

Als Henry vom Fahrrad stieg, wurde er von Jana begrüßt, die ihn zur Stirnseite des Fachwerkhauses führte und nach oben zeigte.

Oberhalb des einzigen Fensters im dritten Stock ragte eine dickere Eisenstange heraus, die aussah wie eine Fahnenstange, an der ein altertümlicher Flaschenzug angebracht war. Durch den Holzring des Flaschenzuges führte ein dickes Seil und statt einer Fahne hing dort ein Mann.

„Der Hästräger hatte sich das „Abhängen“ zur Fasnet vermutlich auch anders vorgestellt“, mutmaßte Henry sarkastisch beim Anblick des in ein Kostüm, dem „Häs“ der Schwäbisch-Alemannischen Fasnet, gekleideten Opfers.

„Ist auch etwas früh für einen Hästräger in der Stadt. Der große Narrensprung ist noch ein paar Wochen entfernt.“

„Vielleicht wollte er sehen, ob das Häs noch passt, oder er war auf einem Umzug in der Nähe.“

„Gut möglich. Ich sehe schon, wieder einmal viele Fragen. Jetzt aber los. Sandra ist oben mit Dr. Köller. Sie warten sicher schon auf dich, zumindest haben sie sich nicht getraut, die Leiche herunterzuholen, bevor du sie gesehen hast.“

„Was für ein Service. Dann will ich mir die Bescherung mal aus der Nähe ansehen.“

Das Treppenhaus des Fachwerkhauses war sehr eng und sehr schlecht ausgeleuchtet. Nur eine alte Lampe am Ende jeden Stockwerkes spendete etwas Licht. Die Treppe knarzte bei jedem Schritt. Beim Hochgehen konnte Henry sehen, dass das Haus mit alten Möbeln, Gartengeräten und allerlei Tand vollgestellt war. Es sah nicht so aus, als würde noch jemand in dem Haus wohnen, sondern es wurde wohl eher als dreistöckige Abstellkammer verwendet. Im Haus war es nicht viel wärmer als im Freien. Die alte Stadtmauer bildete in Teilen auch die Rückwand des Hauses. Ab dem zweiten Stockwerk dienten dann Bretter als Wand. Dämmung schien es keine zu geben, was die kalten Temperaturen erklärte.

Im dritten Stock warteten Sandra Flucht und Günther Köller auf ihn.

„Schön, dass du es auch noch geschafft hast. Wir befürchteten schon, hier oben elend erfrieren zu müssen“, begrüßte Sandra ihn, wobei sich ihre Hände kurz berührten und sie sich tief in die Augen blickten.

„Bei mir im hohen Norden musste ich mir erst einmal den Weg freischippen. Ihr Stadtmenschen habt es da einfacher.“

„Da sieht man mal, was ein paar Höhenmeter ausmachen können“, kommentierte Günther Köller trocken. „Dann lasst uns mal zur Sache kommen, bevor wir den Leichnam abseilen können.“

„Was denn, immer noch nicht in Pension, Günther?“

„Der Fachkräftemangel macht auch vor Pathologen nicht Halt. Wer will heute schon noch Körper sezieren, wenn man stattdessen als Influencer die Welt aus den Angeln heben kann?“, entgegnete er mit einem Grinsen.

„Das hat in deinem Fall auch seine Vorteile für uns“, sagte Henry anerkennend. „Was kannst du uns aus der Distanz und in der Dunkelheit schon sagen?“, fragte er mit Blick auf den an dem Flaschenzug hängenden Mann.

„Außer dass es ein Mann ist, der ein Kostüm der Narrenzunft Türmle anhat und hier vermutlich schon eine Weile hängt, noch nicht sehr viel“, begann Köller und verwies auf den Schnee auf der Kleidung und dem Kopf des Opfers.

„Wenn er aus Baienfurt wäre, würde das deren Narrenspruch „Henkerhaus, lass d‘Narren raus“ eine ganz andere Bedeutung geben“, kommentierte Henry trocken.

Köller ließ die Bemerkung unkommentiert stehen und schaute sich den Toten noch etwas näher an. Der Mediziner schätzte den Toten auf Mitte bis Ende Fünfzig, etwa ein Meter siebzig groß und sehr schlank. Das Gewicht taxierte er um die 75 Kilogramm, was aber mit dem Kostüm, das er trug, schwer zu sagen war. Der Mann hatte dichtes, graues Haar und einen ebenso grauen, buschigen Schnurrbart.

Henry signalisierte an die unten wartende Jana und einige Kollegen, den verknoteten Strick aus der Halterung zu lösen und den leblosen Körper des Mannes langsam nach unten gleiten zu lassen. Derweil blickte Henry zu Sandra.

„Wissen wir schon was zu diesem Haus hier?“

„Kollege Köller und ich waren nur ein paar Minuten vor dir da. Hat auch bei mir etwas gedauert, bis ich aus dem Bett kam. Sieht aber nicht so aus, als würde hier jemand wohnen.“

Henry nickte. Es würde ihnen nichts anderes übrigbleiben, als die Anwohner auf der gegenüberliegenden Seite der Kohlstraße zu befragen, was sie im Rahmen der Zeugenbefragung ohnehin tun mussten.

„Ist Werner auch schon da?“, wunderte sich Henry in Bezug auf den Polizeimeister Werner Sauter.

„Er ist unten und ist vermutlich schon dabei, die an ihren Fenstern klebenden Nachbarn zu befragen.“

„Sehr gut. Vielleicht hat ja jemand was gesehen.“

Die drei gingen vorsichtig und mit gebührendem Abstand zueinander die steile Treppe wieder hinunter. Unten angekommen, lag der Leichnam schon auf einer Bahre und Köller kniete sich zu ihm hinunter. Zuerst untersuchte er grob den Hals und schaute sich dann den Kopf sowie den Körper des Opfers mit seinem geschulten Auge an.

„Auf die Schnelle sehe ich die Würgemale des Strickes, an dem er aufgehängt wurde, was wenig verwunderlich ist. Dann ist da noch eine dicke Platzwunde am Hinterkopf“, sagte er und zeigte auf die Stelle, an der sich unübersehbar geronnenes Blut befand.

„Kannst du schon sagen, ob er durch Erhängen gestorben ist, oder womöglich bereits durch einen Schlag auf den Kopf?“, fragte Henry neugierig. „Fällt mit der Platzwunde Suizid aus und wir reden von Mord?“, fügte er hinzu.

„Kann ich so auf die Schnelle nicht mit Sicherheit sagen. Die Verfärbung am Hals sieht nach ersticken aus, zumindest das Genick scheint nicht gebrochen. Der Mann könnte durchaus an dem Strick hochgezogen worden zu sein, ob noch lebend oder post mortem muss ich auch prüfen. Es spricht viel für Fremdverschulden, wenn du mich fragst. Vielleicht war er es aber auch selbst, auch wenn das eher unwahrscheinlich ist, in Anbetracht der Platzwunde am Kopf. Wie heißt es an so einer Stelle immer in den Krimis? Mehr dazu kann ich dir erst nach der Autopsie sagen.“

„Ist schon klar. Hilft aber schon ein bisschen. Wir sehen uns später bei dir in der Pathologie.“

„Oder ihr ladet mich zum Mittagessen ein“, meinte Köller mit Blick auf die Uhr. „Bis dahin sollte ich schon was haben.“

„Den Wink mit dem Zaunpfahl haben wir verstanden. Ich schlage vor, wir treffen uns zuerst bei dir in der Pathologie und gehen dann zu unserem Italiener, wo unser gewohnter Tisch sicher für uns freigehalten wird“, bestätigte Henry.

Polizeimeister Werner Sauter, der wie alle Kollegen Latexhandschuhe übergezogen hatte, untersuchte sorgfältig die Taschen des Opfers, bevor es abtransportiert wurde. In den Hosentaschen befand sich ein Schlüsselbund, ein Autoschlüssel und eine Geldbörse, die er an Sandra weiterreichte.

Der Geldbeutel enthielt neben einer kleineren Menge Bargeld eine Bankkarte einer lokalen Bank, eine goldene Kreditkarte und einen Personalausweis. Demnach handelte es sich bei dem Opfer um den 55-jährigen Michael Schwarzenbach, wohnhaft hier in der Kohlstraße. Die im Ausweis genannte Hausnummer lag genau gegenüber dem Fachwerkhaus, wobei noch unklar war, ob ihm auch dieses Haus gehörte. Zumindest war geklärt, dass der Mann praktisch vor seiner Haustür umgekommen war.

Sandra Flucht ging über die enge Gasse auf die andere Seite und schaute sich die Klingelschilder des Hauses gegenüber an. Demnach gab es einen M. Schwarzenbach in dem Haus. Sie klingelte, aber ohne eine Reaktion.

„Der Schwarzenbach ist nicht zu Hause“, hörte sie eine Stimme vom ersten Stock heruntersagen, die offensichtlich noch nicht mitbekommen hatte, dass wohl selbiger Schwarzenbach auf der anderen Straßenseite tot auf einer Bahre lag.

„Und wer sind Sie?“, fragte Sandra zurück.

„Erika Ode. Michael Schwarzenbach wohnt unter mir und ich hätte ihn gehört, wenn er heimgekommen wäre. Hier in dem alten Haus hört man jeden Schritt“, entgegnete die ältere Frau, gekleidet in einen flanellenen Bademantel.

„Dürfen wir zu Ihnen hinaufkommen? Wir hätten ein paar Fragen.“

„Ich komme zu Ihnen runter. Ziehe mir nur etwas an, bei der Kälte.“

Während in dem Haus das Licht im Treppenhaus anging, wurde das Opfer auf der Trage liegend in einen Rettungswagen verladen. Sandra war noch dabei, den Inhalt des Geldbeutels noch weiter unter die Lupe zu nehmen. Außer dem Geld fand sie noch einen länger laufenden Lottoschein, ein paar Visitenkarten sowie einen Zettel mit Telefonnummern, die sich die Kollegen noch näher ansehen mussten.

Auf dem kleinen Grünstreifen unterhalb des Flaschenzuges fand sich auch die Fasnets-Maske des Opfers. Die Spurensicherung packte sie sorgsam in einen Plastikbeutel und verstaute sie zusammen mit dem Geldbeutel in einem der vor dem Haus parkenden Polizeifahrzeuge, um die persönlichen Sachen des Toten im Nachgang nach verwertbaren Spuren zu untersuchen.

Die Tür des Hauses, in dem Schwarzenbach gewohnt hatte, ging auf und die ältere Frau trat heraus. Sie war recht klein und ging etwas gebückt. Sandra schaute zu ihr hinüber und schätzte sie auf 80 Jahre oder älter. Sie hatte sich in eine Daunenjacke gehüllt, die ihr fast bis an die Knie reichte. Auf dem Kopf trug sie eine Wollmütze und sie hatte sich Handschuhe angezogen. Dagegen hatte sie keine Strümpfe über die Füße gezogen, sondern stand barfuß in den Filzschuhen.

„Ist der Mann tot?“, wunderte sie sich mit Blick auf den abfahrenden Wagen.

„Was haben Sie denn gesehen?“

„Eigentlich gar nichts. Von meinem Fenster sehe ich die Stirnseite des Hauses drüben nicht. Hab bei dem vielen Lärm auf der Straße nur aus dem Fenster geblickt und gesehen, dass sie einen Mann weggetragen haben.“

„Wem gehört das Haus gegenüber?“

„Dem Schwarzenbach. Er hat früher sogar drin gewohnt. Nach dem Tod seiner Frau wurde es ihm aber zu groß, vermutlich auch zu kalt, und er ist in die kleine Wohnung unter der meinen gezogen. Er wollte das alte Fachwerkhaus aber wohl nicht verkaufen.“

„Hatte er sonstige Familie?“

„Wer? Schwarzenbach? Nein, der war schon lange alleine, hatte auch keine Verwandten, die zu Besuch kamen, falls Sie das interessiert. Was meinen Sie mit „hatte“? Wollen Sie sagen, der Tote ist Schwarzenbach?“

„Wollen wir uns darauf einigen, dass ich Ihnen die Fragen stelle und ich mich grundsätzlich für alles interessiere, was mit Herrn Schwarzenbach zu tun hat?“

„Fragen Sie“, entgegnete sie mürrisch.

Sandra befragte Erika Ode weiter zu Michael Schwarzenbach. Demnach wurde er auf Grund einer Erkrankung vorzeitig pensioniert. Er war früher Lehrer an der Grundschule Neuwiesen, unweit von hier. Angeblich litt er an einer psychischen Erkrankung, meinte Ode. Er hätte ihr immer gesagt, er wäre ausgebrannt. Vermutlich hat ihm der Tod seiner Frau zugesetzt, dazu der Ärger in der Schule mit den Blagen heutzutage, führte sie weiter aus.

Seine Leidenschaft wäre die Mitgliedschaft und die Arbeit in der Ravensburger Narrenzunft gewesen.

„War er bei der Türmle?“, fragte Henry aus dem Hintergrund.

„Ja, er war einer der … wie heißen die noch?“

„Hansel?“, half Henry.

„Ja genau die. Die mit den blau-weißen Flicken, den lachenden Masken und die immer mit diesen Stricken schnalzen.“

Henry kannte die „Hansel“ Figur der erst seit einigen Jahren bestehenden Ravensburger Narrenzunft „Türmle“ nur flüchtig. Als Ravensburger schaute er sich gerne den Narrensprung am Rosenmontag an oder wenn es in der Region ein Narrentreffen gab. Selbst in eine Zunft einzutreten, kam ihm aber nicht in den Sinn, dafür war er zu sehr Einzelgänger.

Der Türmle Hansel war zwar eine Eigenkreation der Zunft, hatte aber Merkmale, die Henry von anderen Figuren her kannte. Die in Ravensburger Farben blau-weiß gehaltenen Filzfleckchen des Häs ähnelten stark dem der Plätzlern aus Weingarten, deren Narrenzunft bis auf das Jahr 1348 zurückging. Dafür waren die Stickereien der Türmle Hansel einzigartig. An mehreren Stellen des Häs waren statt der Filzfleckchen die Türme der Stadt Ravensburg aufgestickt, am populärsten dabei der Blaserturm, der Grüne Turm und der Mehlsack.

Die Maske, in Ravensburg im Gegensatz zu vielen anderen Städten nicht Larve genannt, hatte unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem Ravensburger Krattler. Dafür rühmte sich die Zunft auf ihrer Webseite, die Häs alle selbst zu nähen und auch einen Masken-Schnitzer unter ihren Mitgliedern zu haben.

Wie bei so manchen Zünften, nicht zuletzt bei den Weingärtlern, gehörte bei einigen Türmle Hansel, die statt der blau-weißen Flicken, rot-weiße trugen, eine Karbatsche zur Ausstattung. Ob sie auch Saublasen hatten, konnte er aus dem Stegreif nicht sagen. Er musste aber auch zugeben, sich bislang kaum damit beschäftigt zu haben.

Ein Toter im Häs könnte das nun ändern, dachte er sich, während Sandra noch ein paar weitere Fragen stellte und die Antworten notierte. Henry wandte sich noch einmal zum Tatort um und begutachtete den Flaschenzug. Er versuchte sich vorzustellen, wie sich der Tathergang abgespielt haben könnte, unterstellte dabei, dass der Mann womöglich schon tot oder zumindest bewusstlos war, bevor er nach oben gezogen worden war. Seine wichtigsten Fragen notierte er sich in sein kleines Notizbuch.

Die erste Frage für ihn war, ob es sich um einen oder mehrere Täter handelte? In der forensischen Pathologie wollte er Günther Köller dann noch fragen, ob es physisch überhaupt möglich war, dass eine einzelne Person das Opfer nach oben ziehen konnte. Er selbst konnte sich das vorstellen, vorausgesetzt, der Täter war entsprechend stark. Aber er wollte nicht ausschließen, es mit mehreren Tätern zu tun zu haben. Die nächste Frage war, ob sich Täter und Opfer kannten? Wurde dem Opfer hier vor seiner Haustür aufgelauert oder kamen Täter und Opfer zusammen hier an? Er grübelte noch vor sich hin, als Sandra ihre Befragung gegenüber beendet hatte.

Als der Tote bereits abtransportiert war und die Kollegen der Spurensicherung noch das Fachwerkhaus und die Straße nach verwertbaren Spuren absuchten, versammelte Henry seine kleine Mannschaft, um die nächsten Schritte zu besprechen.

Er bat Werner Sauter mit ein paar seiner uniformierten Kollegen die Nachbarschaft zu befragen. Es wurde zwar zögerlich hell, es war aber immer noch sehr früh am Morgen. Da in den meisten der alten Häuser aber bereits Licht zu brennen schien, schätzte er es als vertretbare Störung der nächtlichen Ruhe ein. Außerdem würden sich in ein paar Stunden schon erfahrungsgemäß die ersten Erinnerungslücken einstellen, wenn es um genaue Beschreibungen von dem ging, was einzelne sahen oder hörten. Vielleicht hatten sie ja Glück und jemand war just zu dem Zeitpunkt des Mordes auf der Toilette und hatte etwas mitbekommen, dachte er sich.

Jana Lübke sollte die erweiterte Spurensicherung übernehmen. Dazu gehörte, die Nebenstraßen, die Parkanlage des Hirschgartens auf der Rückseite des Fachwerkhauses und den hinteren Marienplatz abzusuchen. Sie sollte auch herausfinden, ob Schwarzenbach ein Auto hatte oder wie er sich sonst fortbewegte.

Sandra Flucht würde sich später am Vormittag etwas genauer in Schwarzenbachs Wohnung umsehen. Es wurde ihm offensichtlich kein Geld gestohlen und weder die Kleidung des Opfers noch dessen Wohnung sahen nach überwältigendem Wohlstand aus, obwohl das mittelalterliche Haus an der Stadtmauer sicher auch seinen Wert hatte. Vielleicht gab es in seiner Wohnung Hinweise auf Motiv und Täter.

Er selbst würde sich um die Narrenzunft kümmern. Da der Tote im Kostüm war, lag die Vermutung nahe, dass Schwarzenbach von einer Fasnets-Veranstaltung gekommen war, sei es ein Umzug irgendwo in der Region oder ein Faschingsball. Letzteres war eher unwahrscheinlich, da es in den Zünften weitgehend untersagt war, im Häs privat auf Bälle zu gehen. Die Zunft konnte dazu sicher Auskünfte geben. Deren „Hauptquartier“ befand sich auf halbem Weg zur Weststadt, wovon er in der Lokalzeitung des Öfteren lesen konnte, wenn über die Zunft berichtet wurde.

„Womit haben wir es hier eigentlich zu tun?“, fragte Sandra, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. „Raubmord können wir wohl ausschließen.“

„Vielleicht macht jemand Jagd auf Hästräger. Wäre mal was Neues“, entgegnete Henry.

Kapitel 2

Auf direktem Fußweg hätte Henry Ammann das Hauptquartier der Türmle Zunft in knapp einer Viertelstunde erreichen können. Henry zog es aber vor, mit Sandra einen kleinen Abstecher in das schräg gegenüber vom Rathaus neu eröffnete Café zu machen, nicht zuletzt, weil es noch immer sehr früh am Morgen war und er vorher noch feststellen musste, ob dort überhaupt jemand erreichbar war. Kommissarin Sandra Flucht begleitete ihn gern, nicht zuletzt, um ein paar Minuten Zeit mit ihm alleine verbringen zu können. Schon an der Eingangstür des Cafés kam ihnen ein intensiver Kaffeeduft entgegen.

Das Café, im Stile eines österreichischen Kaffeehauses eingerichtet, rühmte sich, erlesene Kaffeesorten aus ausschließlich kontrolliertem Anbau und fairem Handel im Angebot zu haben. Der Filterkaffee lief auch nicht nur simpel durch eine Maschine, sondern das heiße Wasser wurde von Hand fast schon kunstvoll und behutsam in den Filter geträufelt, damit die frischgemahlenen Bohnen ihr volles Aroma entfalten konnten. Dazu gab es Back- und Konditorwaren nach österreichischen Rezepten, aber hergestellt von einer kleinen Backmanufaktur in Meckenbeuren.

Henry und Sandra bestellten beide eine Tasse einer kenianischen, fruchtigen Kaffeemischung und je ein Nußbeugerl, eine österreichische Spezialität, mit Hefeteig gebacken und gefüllt mit einer Creme aus gerösteten Haselnüssen und Marzipan. Sie suchten sich ein ruhiges Plätzchen in einer Ecke, in der sie weitgehend ungestört sprechen konnten.

Henry telefonierte kurz mit einer Kollegin auf der Polizeistation, zum einen, um die Telefonnummer der Türmle Zunft herauszubekommen und zum anderen dort anzurufen und seinen Besuch anzukündigen. Dann legte er sein Klapphandy zur Seite und nippte an dem noch sehr heißen Kaffee.

„Wie war deine Nacht?“, fragte Sandra, während sie seine Hand in ihre nahm.

„Nicht halb so prickelnd, als wenn du dabei gewesen wärst“, antwortete er schmunzelnd.

„Du musst dich noch knapp drei Monate gedulden“, sagte sie lächelnd in einem tröstenden Ton.

„Ich weiß, die Paukerei muss sein, wer Oberkommissarin werden will“, sagte er einmütig. In den letzten Wochen hatte sie nur selten Zeit bei ihm in Berg verbracht. „Dann lass uns mal unseren neuen Fall betrachten.“

Ohne genauere Erkenntnisse der forensischen Pathologie und Spurensicherung gab es vorerst noch keine kriminaltechnischen Erkenntnisse, auf die sie sich stützen konnten, und ob es in der Wohnung später noch brauchbare Informationen geben würde, war ebenso unklar.

Ihnen blieb vorerst somit nur die Spekulation. Was ihnen zu denken gab, war die Art und Weise, wie Michael Schwarzenbach zu Tode kam. Sollte es sich bestätigen, dass sich der oder die Mörder die Mühe gemacht haben, ihr Opfer post mortem aufzuhängen, wollte jemand vielleicht ein Zeichen setzen?

„Es könnte ein Ritualmord sein. Aber was für ein Ritual wäre es?“, wunderte sich Sandra.

„Ehrlich gesagt; keine Ahnung. Mal sehen, was unsere Forensiker feststellen. Bin auch gespannt, was sie in der Zunft zum Tod von Schwarzenbach sagen. Vielleicht können die sich irgendeinen Reim darauf machen.“

Sandra interessierte sich nicht besonders für die Fasnetszeit. Als sie noch am Bodensee gelebt hatte, war ihr geschiedener Mann in der Seegockel Zunft aktiv, deren Geschichte sich bis ins Jahr 1633 zurückverfolgen ließ. Ihr damaliger Gatte war dabei ein Seewaldkobold. Sie konnte dem Treiben während der fünften Jahreszeit schon damals nichts abgewinnen, woran sich auch nichts änderte, als sie nach der Scheidung ihren Dienst in Ravensburg aufnahm.

„Ob es was mit der Zunft zu tun hatte?“ spekulierte Sandra weiter.

„Das wird einer meiner ersten Fragen an die Zunft sein. Es hängt auch davon ab, welche Rolle Schwarzenbach in der Zunft hatte“, meinte Henry nicht minder spekulativ. „Vielleicht findest du auch etwas in seiner Wohnung, was uns weiterhilft.“

Henry bekam eine SMS aus seinem Büro. Der Zunftmeister der Narrenzunft Türmle war offensichtlich bereits vor Ort und erwartete ihn dort.

Als sie ihren Kaffee getrunken und das Frühstücksgebäck verspeist hatten, machten sie sich auf den Weg. Im kleinen Eingangsbereich des Cafés hatte sich schon eine kleinere Schlange gebildet. Für einige Einheimische hatte sich das Café seit seiner Öffnung im letzten Spätsommer zu einem Geheimtipp entwickelt. Die gute Qualität von Kaffee und Backwaren schienen gute Gründe für die zunehmende Popularität zu sein, trotz der doch sehr gehobenen Preise, dachte sich Henry beim Verlassen.

Henry und Sandra trennten sich vor dem Café. Sandra ging den Weg zurück zur Kohlstraße, während Henry sein Fahrrad bis zum Hirschgraben schob, um sich dann in den Sattel zu schwingen und Richtung Südstadt weiter zu fahren. Sie verabredeten sich für den Nachmittag im Polizeirevier.

Wie die meisten Straßen in der Ravensburger Altstadt, waren auch die Gassen, die er in die Südstadt hinab entlang fuhr, mit Narrenwäsche überspannt. An einer langen Leine hingen meist am obersten Fenster aus alter Kleidung ausgeschnittene, dreieckige Fetzen oder aus gebrauchten, längst aus der Mode gekommenen Krawatten wurde eine Wäschekette gebildet.

Es war inzwischen hell und die langsam hinter dem Mehlsack hervorblinzelnde Sonne machte nach der bitteren Kälte einer, zwar immer noch kalten, aber angenehmeren Witterung Platz. Auf den Straßen rund um die Stadt herrschte bereits reger, morgendlicher Berufsverkehr. Henry musste immer schmunzeln, wenn er all die Menschen in ihren Autos sah, oft mehr stehend als fahrend, während er an ihnen ohne große Anstrengung vorbeiradelte.

Er hatte aber auch Verständnis für Menschen, die aus dem ganzen Kreis Ravensburg oder dem Bodenseekreis zur Arbeit in die Stadt der Türme kamen. In den letzten Jahren machte es die Stadt den Autofahrern immer schwerer, ihre Fahrzeuge in der Stadt parken zu können. Während die Altstadt schon seit Jahrzehnten nicht nur für den Durchgangsverkehr gesperrt ist, sondern auch das Parken für Anwohner und Lieferanten streng begrenzt und reglementiert wurde, konnte man fast dabei zusehen, wie die Stadtverwaltung auch immer weitere Parkbereiche der Stadt außerhalb der Altstadt nur noch mit Parkausweisen oder zeitlich begrenztem Parken ermöglichte.

Henry näherte sich dem kleinen Außenhaus des zum Wernerhof gehörenden Grundstücks. Das inzwischen als Zunfthaus Wernerhof bekannte Gut gehörte der traditionsreichen Schwarze Veri Zunft. Das früher als Unterkunft für Hilfskräfte und Arbeiter auf dem Wernerhof dienende Außenhaus wurde der Narrenzunft Türmle durch die Schwarze Veri Zunft zur Verfügung gestellt. Gerüchten zufolge musste der Zunftrat der Türmle bei den Zunftmeistern der Schwarze Veri als Bittsteller antreten. In Ravensburg hatten sie nach längerer Suche keine andere Bleibe gefunden, zumindest keine, die für deren knappen Kassen bekannte Türmle Zunft auch bezahlbar gewesen wäre.

Das Außenhaus hatte etwa ein Drittel der Größe des Wernerhofes. Beide Gebäude hatten bedingt durch mehrere Brände über die Jahrhunderte hinweg nur noch wenig gemein mit dem ursprünglichen, weit in der Geschichte zurückreichenden Guts. Henry hatte sich nach seiner Rückkehr aus den USA und seinem Dienstantritt in Ravensburg wieder intensiv mit der Geschichte seiner Heimatstadt beschäftigt.

Er war dabei selbst erstaunt, wie viel er aus seiner Schulzeit vergessen hatte und, zu seinem eigenen Erstaunen, wie viel er selbst damals nicht wusste. Er hatte sich in seiner Freizeit stundenlang im Stadtarchiv in die öffentlich zugänglichen Dokumente eingelesen. Darunter fand sich auch eine Broschüre der Schwarze Veri Zunft, die über die illustre Geschichte des Hofs informierte.

Demnach geht die Geschichte des an der Schussen-Niederung liegenden Hofs urkundlich bis auf das Jahr 1152 zurück. Bischoff Gibizo, Neffe und Ministeriale von Welf IV vermachte seinen Landbesitz, zu dem auch der Grund des späteren Hofs gehörte, einem Abt des Klosters Rot an der Rot und ließ sich die Schenkung durch Heinrich den Löwen, dem nachgesagt wird, in Ravensburg geboren zu sein, später dann Herzog von Bayern und Sachsen, in einer Urkunde bestätigen.

Wann der Wernerhof, in früheren Zeiten auch Hunoldtsberg oder Mühlbruck genannt, tatsächlich erstmals bewirtschaftet wurde, ließ sich nicht mehr ermitteln. Er könnte aber aus der fränkischen Besiedlungszeit stammen, somit aus dem 8. oder 9. Jahrhundert, hatte Henry in der Broschüre gelesen.

Von mittelalterlichem Glanz, falls es diesen jemals gegeben hatte, war heute nicht mehr viel zu sehen, zumindest was das Außengebäude anging. Vom Fahrradweg führte nur ein schmaler Feldweg auf das Grundstück. Henry zog es vor, sein Fahrrad zur schieben, um sich bei dem unebenen Gelände nicht einen Achter einzufangen. Er fragte sich, wie wohl die Autos mit der Anfahrt zurechtkommen würden.

Etwas abseits von dem kleinen Haus konnte er so etwas wie einen Parkplatz ausmachen, auf dem aber kaum mehr als ein paar Autos Platz finden würden. Jetzt stand nur ein einziges Fahrzeug auf dem Parkplatz. Es war ein uralter, orangefarbener Ford Granada mit schwarzem Dach, der aus den 1980ern stammen musste. Zumindest fuhr auch sein Vater einmal so ein Auto, soweit er sich erinnern konnte.

Vor dem Haus standen einige verrostete Metalltonnen, die vermutlich dazu dienten, Müll zu entsorgen oder, nach dem Geruch zu urteilen, auch zu verbrennen. An der Außenwand stapelten sich Holzscheite bis zum Giebel. Aus dem Kamin qualmte Rauch empor. Eine Klingel gab es nicht und er musste auch nicht klopfen, da jemand die Tür öffnete.

„Sind Sie der Polizist, den man mir angekündigt hat?“, fragte ein Mann mit ruppiger Stimme.

„Kann man so sagen. Es ist allerdings kein Höflichkeitsbesuch“, erwiderte Henry und zeigte dem Mann seinen Dienstausweis.

„Lassen Sie mich raten: Einer unserer Mitglieder hat mal wieder falsch geparkt oder die Innenstadt mit der B30 verwechselt?“, versuchte der Mann zu witzeln.

„Mein Besuch ist leider weder eine Bagatelle und auch überhaupt nicht witzig. Es geht um einen Todesfall.“

Der Mann änderte seine Gesichtsfarbe von wohligem Rot zu fahlem Weiß. Für einen Moment stand er nur regungslos da, bekleidet mit einer dunklen Jeans und oben herum ein dunkelgrünes Sweatshirt, unter dem ein weißes T-Shirt hervorblitzte. Der Mann ließ Henry eintreten.

„Hier ist es nicht sonderlich aufgeräumt“, murmelte der Mann in seinen ergrauten Drei-Tage-Bart.