Das Rätsel der doppelten Mama - Nina Nicolai - E-Book

Das Rätsel der doppelten Mama E-Book

Nina Nicolai

0,0

Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Alles war weiß und blendete fürchterlich. Ella Salewski blinzelte in den milchigen Himmel und presste den in mehrere Lagen Zeitungspapier eingewickelten Tulpenstrauß an sich. Dass es in der vergangenen Nacht doch noch einmal geschneit hatte, sogar fast dreißig Zentimeter Neuschnee, wie es in den Morgennachrichten hieß, war sensationell für Ende März. Doch leider betrug die Sicht nur wenige Meter. Und schon wieder fielen dicke Flocken vom Himmel und verwirbelten in der frostigen Luft. Die Neunjährige krauste die Nase und machte schmale Augen, um besser sehen zu können. Vergebens, die Buchstaben auf dem Straßenschild rappten und die Hausnummern waren viel zu weit weg, um sie erkennen zu können. Und was nun? Die Tulpen mussten unbedingt schleunigst abgeliefert werden, das hatte ihr die Mami aufgetragen. »Die Glockengasse ist nur zwei Straßen weiter, Ella. Und das Doktorhaus ist ganz leicht an seinem ungewöhnlich geschweiften Giebel zu erkennen.« Woran erkannte man einen ungewöhnlich geschweiften Giebel? Klar, sie hätte die Mami vorher danach fragen können. Aber, ganz großes Aber: es gehörte eine Menge Mumm dazu, jemandem die Zeit zu klauen. Es war nämlich so, dass Katinka Salewski, ihre fabelhafte, jedoch bedauerlicherweise unablässig in irgendwelche ungeheuer wichtige Aktivitäten verwickelte Mami, niemals auch nur eine freie Minute erübrigen konnte. Total getaktet war ihr Leben. Die Gehwege waren verschneit, der Kanal war zugefroren. Wirkte nicht auch die Zeit eingefroren? Leere und Stille, nur unterbrochen vom Kratzen der Schneeschaufeln und Krähengezeter. Ein älterer Herr hatte vorhin im Blumenladen von einem Wintermärchen gesprochen, während er sich die schönste Hyazinthe unter etwa zwanzig Exemplaren auswählte, um sich dann für ein Töpfchen mit Krokussen zu entscheiden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 122

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mami – 2049 –

Das Rätsel der doppelten Mama

Nina Nicolai

Alles war weiß und blendete fürchterlich.

Ella Salewski blinzelte in den milchigen Himmel und presste den in mehrere Lagen Zeitungspapier eingewickelten Tulpenstrauß an sich. Dass es in der vergangenen Nacht doch noch einmal geschneit hatte, sogar fast dreißig Zentimeter Neuschnee, wie es in den Morgennachrichten hieß, war sensationell für Ende März. Doch leider betrug die Sicht nur wenige Meter. Und schon wieder fielen dicke Flocken vom Himmel und verwirbelten in der frostigen Luft.

Die Neunjährige krauste die Nase und machte schmale Augen, um besser sehen zu können. Vergebens, die Buchstaben auf dem Straßenschild rappten und die Hausnummern waren viel zu weit weg, um sie erkennen zu können. Und was nun?

Die Tulpen mussten unbedingt schleunigst abgeliefert werden, das hatte ihr die Mami aufgetragen. »Die Glockengasse ist nur zwei Straßen weiter, Ella. Und das Doktorhaus ist ganz leicht an seinem ungewöhnlich geschweiften Giebel zu erkennen.«

Woran erkannte man einen ungewöhnlich geschweiften Giebel? Klar, sie hätte die Mami vorher danach fragen können. Aber, ganz großes Aber: es gehörte eine Menge Mumm dazu, jemandem die Zeit zu klauen. Es war nämlich so, dass Katinka Salewski, ihre fabelhafte, jedoch bedauerlicherweise unablässig in irgendwelche ungeheuer wichtige Aktivitäten verwickelte Mami, niemals auch nur eine freie Minute erübrigen konnte. Total getaktet war ihr Leben.

Die Gehwege waren verschneit, der Kanal war zugefroren. Wirkte nicht auch die Zeit eingefroren? Leere und Stille, nur unterbrochen vom Kratzen der Schneeschaufeln und Krähengezeter.

Ein älterer Herr hatte vorhin im Blumenladen von einem Wintermärchen gesprochen, während er sich die schönste Hyazinthe unter etwa zwanzig Exemplaren auswählte, um sich dann für ein Töpfchen mit Krokussen zu entscheiden. Ella und ihre Mutter hatten einen flinken Blick gewechselt, mehr nicht, denn oberstes Gebot war, dass die Kunden zufrieden das Geschäft verließen.

Wintermärchen, ha! Ella wurde das dicke Blumenpaket schwer. Mit der Hand, die in einem knallroten Handschuh steckte, wischte sie die Schicht Schneeflocken herunter. Und wo war nun dieses Doktorhaus mit dem ungewöhnlich geschweiften Giebel? Wildes Herzklopfen, denn vorgestern hatte sie schon mal einen Fehler gemacht, als sie die Blumen an der falschen Adresse ablieferte.

»Ella«, hatte Katinka Salewski mit ernster Miene gesagt, als sie das Telefongespräch mit dem erregten Auftraggeber beendete, »so eine Verwechslung kann mal passieren, okay, aber das sollte sich bitte nicht wiederholen. Schau, ich bin doch erst dabei, mir das Vertrauen der Kundschaft zu erwerben. Verstehst du?«

Natürlich hatte Ella kapiert, worauf ihre Mami hinauswollte. War ja nicht schwer zu begreifen, dass Kunden Zuverlässigkeit mindestens genau so schätzen wie frische Blumen bester Qualität.

Ella schossen Tränen in die Augen, weil es so anstrengend war, sich auf die Hausnummern zu konzentrieren. In der Schule nannten zwei Jungen sie schon Blindschleiche, weil sie immer blinzeln musste, um etwas an der Tafel zu erkennen. Obwohl sie sich aus diesem Grund ganz nach vorn gesetzt hatte. Es war auch schon vorgekommen, megablöd, dass sie manches falsch abschrieb.

Das einzig Gute am Schneetreiben war, dass es einen irgendwie unsichtbar machte. Selbst Jan und Ben würde es schwer fallen, sie zu erkennen. Gut so, dann konnten sie sich auch nicht über sie lustig machen, weil sie Blumen austrug.

War schon vorgekommen. Die Zwillinge waren grässlich, richtige Angeber mit ihren teuren Smartphones. Und wen sie auf dem Kieker hatten, den machten sie gnadenlos fertig. »Das ist immer so, wenn jemand neu in der Klasse ist«, hatte das Mädchen, neben das Ella gesetzt worden war, geflüstert. Die anderen hatten die Köpfe eingezogen oder weggeguckt. Mit Hilfe war somit nicht zu rechnen.

Ella pustete das weiße Wölkchen Atemluft fort. Sollte sie jemanden fragen, wo das Doktorhaus war? Aber in einer Kleinstadt sprach sich alles schnell herum. Und wenn ihre Mami von ihrem Problem erfuhr, hatte sie noch mehr Sorgen als ohnehin schon.

Es war nämlich keine Kleinigkeit, ein Blumengeschäft ganz allein zu managen, wenn man zwar Blumen mochte, jedoch als abgebrochene Studentin wenig von handelsmäßigen Dingen und so wusste.

Endlich erblickte Ella das Doktorhaus mit den gelben Fassaden und dem tatsächlich ungewöhnlich geschweiften Giebel darüber. Vor Erleichterung wurden ihr die Knie weich. Himmlisch der Anblick des Doktorschilds am Zaun, das klipp und klar bewies, dass sie sich in der Adresse nicht irrte. Nun aber rasch hinein!

Die Arzthelferin hinter dem Tresen lächelte ihr freundlich zu und nahm ihr das Tulpenpaket ab. Warm war es in der Anmeldung. Und süß schmeckte der Schokoriegel, den Ella geschenkt bekam.

Der Heimweg war halb so lang, zeitlich allemal, denn die Neunjährige hüpfte nun leichtfüßig zwischen den von Anwohnern kraftvoll zur Seite geschobenen Schneemassen in Richtung Marktplatz.

»Hallo, Ellaspatz!«, rief Katinka Salewski munter, als ihre Tochter die Eingangstür des Blumengeschäfts aufschob. Die junge Frau umwickelte gerade die Stiele eines frisch gebundenen Straußes bunter Frühlingsblumen mit Bast und wischte sich mit dem Unterarm eine blonde Locke aus dem Gesicht. »Hat alles geklappt?«

Hätte ihre Mutter vier oder gar sechs Hände statt der zwei besessen, würden die garantiert auch ständig in action sein.

»Klaro«, verkündete Ella total cool. Kein Wort von irgendwelchen Schwierigkeiten. »Soll ich die Blumen irgendwo hinbringen?«

»Das wäre schön. Es ist diesmal auch nicht so weit. Aber erst nach dem Essen. Ich hab uns die Suppe von gestern warm gemacht. Geh schon mal nach hinten, Kleines, ich werde gleich nachkommen.«

Ella nickte und schob den Vorhang zur Seite, der das Geschäft vom angrenzenden privaten Raum trennte.

Auf dem kleinen Tisch an der Wand stand ein Suppentopf, davor zwei Teller mit Löffeln.

Es roch lecker nach Hühnersuppe mit Reis, genau das richtige Essen, wenn man hungrig war. Und draußen schneite es immer noch.

So gemütlich wie oben in der Wohnung über dem Geschäft war der Raum zwar nicht. Aber Ella sah ein, dass die Zeit für eine längere Mittagspause fehlte. Auch war es wichtig, wie Katinka ihrer Tochter erklärte, dass die Kundschaft jederzeit kommen konnte. Ihr Vorteil gegenüber der starken Konkurrenz, zumal jenen Blumendiscountern, die zu günstigeren Konditionen einkaufen konnten.

Ella zog die Mütze vom Kopf und schlüpfte aus der wattierten Jacke. In der Wärme des Raums begann sie schnell aufzutauen. In der Vorfreude auf die Suppe setzte sie sich auf einen der beiden Klappstühle. Gleich würde ihre Mami kommen. Und dann würden sie es sich gemütlich machen. Die Neunjährige lächelte zufrieden.

Dann klingelte das Telefon auf dem Arbeitstisch ganz rechts.

»Katinkas Blumenladen. Was kann ich für Sie tun?«, meldete sich die junge Frau mit dem ihr eigenen Schwung, obwohl seit Stunden unermüdlich auf den Beinen, schwere Vasen schleppend. »Guten Tag, Frau Niekerken, das ist ja eine Überraschung.«

Anschließend wurde es still. Nur manchmal sagte Katinka: »Ja.« Oder: »Ich verstehe.« Sie schien aufmerksam zuzuhören.

Ella zog die Schultern hoch. Weshalb rief ihre Klassenlehrerin ihre Mami an? Bestimmt nicht, um Blumen zu bestellen, das würde sich nicht so ziehen. Auch klang Mamis Stimme ziemlich bedrückt. Ihr ­Problemvermeidungsprogramm hatte wohl nicht so super funktioniert wie gedacht, spekulierte die Neunjährige aufseufzend.

Endlich war das Telefonat beendet. Die Mami zog sich in den Privatraum zurück und brachte einen Schwall von Blumendüften mit.

»Tut mir leid«, murmelte Ella mit gesenktem Kopf.

Es wurde ungeheuer still. Bis Katinka sich über ihr Kind beugte, um es liebevoll zu umarmen. »Dir muss nichts leid tun. Ich muss mich im Gegenteil bei dir entschuldigen. Weil ich in letzter Zeit nur an den Laden gedacht und dich vernachlässigt habe.«

»Hast du nicht«, brachte Ella tränenerstickt hervor.

»Komm mal her, meine Kleine.« Katinka zog ihre Tochter an sich. »Du bist eine ganz Tolle, weißt du das eigentlich? Mir zuliebe hast du Stress in Kauf genommen und sogar ertragen, dass dich deine Mitschüler hänseln. Wie ich mich schäme!«

»War gar nicht so schlimm.« Ella fragte sich bedrückt, auf welches ihrer zahlreichen Probleme ihre Mami wohl abhob. Hatte Frau Niekerken die mobbenden Zwillinge doch wahrgenommen?

»Jetzt erteilst du mir Rabenmutter auch noch Absolution.«

Ein unbekanntes Wort. »Ist das was Gutes?«

»Ziemlich.« Katinka wischte sich die blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die es mit notorischer Frechheit immer schaffte, sich aus dem Haargummi zu befreien. »Weißt du was, wir machen heute früher Schluss und unternehmen etwas. Nur wir beide.«

»Aber …« Noch wagte Ella nicht, an ihr Glück zu glauben. Ihre Mutter schenkte ihr das Kostbarste der Welt, nämlich Zeit?

»Heute bist du meine Hauptperson.« Katinka nahm auf dem zweiten Klappstuhl Platz und hob den Deckel vom Suppentopf. »Wir gehen konditern, wir beiden Hübschen, und dann rüber zum Optiker.«

Ellas Herz verkrampfte sich. Bitte nicht, flehte sie und stellte sich schlotternd vor, wie Jan und Ben reagieren würden.

»Du bekommst eine Brille! Und nun gib mir mal deinen Teller.«

*

Die Entenfamilie hatte sich unaufhörlich schnatternd in den Schatten der übers Wasser hängenden, maigrünen Büsche zurückgezogen. Helles Sonnenlicht flutete über die glatte Wasseroberfläche, die nur gelegentlich von einem Windstoß gekräuselt wurde.

Eine Gruppe älterer Herrschaften hatte es sich auf den Bänken in der Nähe des Ufers am Stadtkanal gemütlich gemacht. Das mitgebrachte Brot wurde in Stücke gerissen und den Enten zugeworfen.

Ella Salewski stand auf der Brücke mit dem gusseisernen Geländer und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die wie zärtliche Menschenfinger ihre Wangen streichelten. Sie mochte auch das Schnattern der Enten und das Gelächter der Senioren, eine behagliche Stimmung lag über dem Nachmittag. Frühling war viel besser als Winter. Und ihre neue Brille war gar nicht so übel, wie sie befürchtete. Denn endlich konnte sie ihre Umgebung erkennen und lieferte Mamis Blumensträuße immer an der richtigen Adresse ab.

In der Schule allerdings musste sie ziemlich fiese Bemerkungen hinnehmen, ihre neue Brille betreffend. Ben und Jan Schmitz nannten sie Brillenschlange, obwohl Frau Niekerken es ihnen verbot.

Niemand wagte es, die Zwillinge bei der Pausenaufsicht zu melden, wenn sie wie üblich ihre Angeber-Show abzogen.

Vorsorglich steckte Ella daher auf dem Schulhof und dem Heimweg ihre Brille ins Etui, falls sie gerempelt würde.

Die Neunjährige beugte sich weit übers Brückengeländer und betrachtete ihr Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Die vielen Sommersprossen waren natürlich nicht zu sehen, aber der dicke braune Zopf. Und natürlich die Brille! Die Mami war ganz begeistert von der neuen roten Brille und hatte ihr geraten, sie immer aufzusetzen. Auch beim Sport, selbst beim Schwimmen, obwohl hinderlich war, dass die Gläser ständig geputzt werden mussten.

Andererseits gab es mit der Brille so viel mehr zu entdecken. Früher hatte Ella gar nicht gewusst, wie hübsch es am Kanal war mit den gefräßigen Enten und den Blumen am Marktbrunnen.

Ihre Mutter hatte jüngst aus dem Rathaus den Auftrag bekommen, den Brunnen mit den jeweiligen Blumen der Saison zu schmücken. Ella erinnerte sich noch genau, wie stolz Katinka darauf war. Immerhin waren sie noch nicht lange in der Stadt, ihre Mami und sie. Und hier schien es enorm wichtig zu sein, einen alteingesessenen Namen zu tragen oder die richtigen Beziehungen zu haben.

Das Mädchen holte kurz Luft und beschloss weiterzugehen. Es galt, die beiden letzten Blumensträuße auszuliefern, dann hatte sie Zeit für sich. Die Hausaufgaben waren schon erledigt, klar, also konnte sie der Mami helfen, den Laden aufzuräumen.

Mit den beiden Blumensträußen im Arm flitzte Ella weiter und fädelte sich geschickt in die Menge der Leute ein, die sich auf dem Marktplatz aufhielten, dem Zentrum der Kleinstadt. Die bunten Freesien waren für die Frau in der Apotheke bestimmt, die ihr immer Hustenbonbons schenkte, die Rosen sollte sie der alten Frau Berling bringen, im Auftrag ihres Sohnes, der in Australien wohnte und seiner Mutter zum Geburtstag gratulieren wollte.

Plötzlich stutzte Ella und krauste die Nase, wie sie es immer tat, um die gelegentlich rutschende rote Brille zu justieren. Verblüfft fragte sie sich, was ihre Mami um diese Zeit außerhalb des Blumenladens machte. Außerdem gab es einen Herrn an der Seite ihrer Mutter, der sich auffallend um sie bemühte. Immer wieder lächelte er ihr zu, als werbe es um sie. Um ihre Mami?!

Das Paar wirkte vertraut, ja, verliebt wie in den Filmen im Fernsehen, die Katinka am Sonntagabend so gern ansah. Dazu gönnte sie sich sogar ein Glas Wein oder zwei, wenn die Handlung superromantisch war. Und Ella staunte heimlich über ihre Mami, normalerweise total sachlich und auf ihren Job konzentriert. Aber Happy Ends brachten sie zum sehnsüchtigen Seufzen. Und wenn eine Geschichte besonders schön endete, flossen auch Tränen …

Sie musste sich irren! Trotz der Frühlingstemperaturen fröstelte Ellas Herz. Das konnte unmöglich sein. Ihre Mami würde tagsüber niemals ihren Laden verlassen. Außerdem kannte sie niemanden, mit dem sie Hand in Hand über den Marktplatz schlendern würde. Die Neunjährige zog die Brauen zusammen, als sie sich an ihren Papa erinnerte, von dem sie schon lange nichts mehr weder gehört noch gesehen hatte. Früher, da war Ella ganz sicher, waren sie eine Familie gewesen, Mami, Papa und sie.

Irgendwann war Papa dann aus ihrem Leben verschwunden. Einfach so. Ohne Lärm oder gar hässliche Szenen. Alles war weitergegangen wie bisher. Nur eben ohne den Papa. Wesentlich aufregender war die Übernahme des Blumengeschäfts gewesen, da war die Mami, wie Katinka freimütig zugab, kopfüber ins eiskalte Wasser gesprungen.

Ella wunderte sich darüber, dass sie sich nur noch schemenhaft an ihren Vater erinnern konnte. Trotzdem war sie ganz sicher, dass der Mann, der ihre Mami begleitete, nicht ihr Papa war.

Seit wann hatte ihre fabelhafte Mami Geheimnisse vor ihr?

Die Neunjährige fühlte sich irgendwie merkwürdig, sogar leicht schwindlig. War das jener Schock, den Frau Niekerken immer dann zitierte, wenn sie Ben und Jan mit ernster Miene darauf vorbereitete, wie ihre Eltern auf die Zeugnisse reagieren würden?

Die Neunjährige ließ das Paar nicht aus den Augen. Ohne die neue Brille, sagte sich Ella, hätte sie bestimmt nix gesehen. Obwohl ihre Mami ein leuchtendblaues Kleid trug. Und eine enorm komplizierte Frisur, die bestimmt viel Arbeit machte.

Katinka Salewski sparte an ihrer Garderobe und trug im Laden nur Praktisches, also T-Shirts und Jeans, nie teure Kleider. Das blonde Haar fasste sie sportlich am Hinterkopf zusammen, damit es bei der Arbeit nicht störend ins Gesicht fiel.

So schick hatte Ella ihre Mutter noch nie erlebt. Wann zuletzt hatte sie Lippenstift aufgelegt? Woher stammte die Goldkette?

»Hallo, Mami!« Ella hielt es nicht mehr aus und rief ihre Mutter mit lauter Stimme. »Bleib doch mal stehen, Mami. Bitte.«

Die Frau im blauen Kleid drehte sich nicht nach ihr um.

Ellas Kehle schnürte sich zu. »Mami!« Als sie das Paar erreichte, zupfte sie ihre Mutter am weit schwingenden Rock.

Ihre Mutter drehte sich sofort um, wirkte wie ertappt und starrte sie so böse an, dass Ella zu schrumpfen begann.

Der Mann mit den auffallend langen, auffallend gepflegten Haaren begann zu lachen. »Die Kleine will uns Blumen verkaufen. Klasse Trick«, schloss er anerkennend. »Bestimmt erfolgreich.«

Ella litt, denn noch nie hatte sie ihre Mutter derart ungehalten erlebt. »Mami, sag doch was«, bat sie tränenerstickt.

»Eine Frechheit«, rief die junge Frau mit der blonden Hochsteckfrisur. »Mach, dass du fortkommst. Wir kaufen keine Blumen.«