Das Rot der Nacht - Katrin Ils - E-Book
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Das Rot der Nacht E-Book

Katrin Ils

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Beschreibung

In einem finsteren Wald, da steht ein Turm. Wer ihn mit reinem Herzen betritt, dem gewährt die dort gebundene Seele einen Wunsch ... Eine junge Tagelöhnerin mit einem Herzenswunsch Belanca will mehr als das Leben, zu dem ihr Stand sie bestimmt. Der unheilvolle Turm im Wald scheint die Antwort auf ihre Gebete zu sein: Mit der Magie der gefangenen Seele kann auch jemand wie sie ihr Glück machen. Ein altes Monster voller Rachsucht Der Vampir Lycidas ist seit Jahrzehnten in dem Turm eingekerkert. Die naive Tagelöhnerin kommt ihm wie gerufen: Sie ist der Schlüssel, durch den er seine Ketten lösen und Rache an ihrem Dorf nehmen kann. Ein waghalsiges Spiel um das Schicksal eines Dorfes In Wolffstedt greift Misstrauen und Hexenangst um sich wie das Feuer, in dem Belanca sich bereits brennen sieht. Denn von Lycidas gebissen bleibt Belanca nur bis zum Vollmond, um sich und ihr Dorf vom Fluch des Vampirs zu befreien - oder als seine Dienerin den Tod über alle zu bringen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Contents

Titel

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

Karte Wolffstedt

Nachwort

Autorin

Impressum

Das Rot der Nacht

Katrin Ils

Der Wald war unheimlich still. Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, und Belanca schob die Hände tiefer in die Manteltaschen, die Faust fest um den schmalen Streifen Papier geschlossen, den ihr der Pfarrer mitgegeben hatte. Der Segensspruch sollte sie vor dem Bösen beschützen, das vor ihr lag. Ob es auch gegen die Wölfe helfen würde, deren vereiste Spuren immer wieder den schmalen Pfad kreuzten? Sie meinte, etwas Feindseliges im Schweigen der Bäume zu spüren, deren dichtes Geäst das bleiche Tageslicht nur widerwillig passieren ließ.

Die Gerüchte von Hexen, die in den Wäldern ihr Unwesen trieben, waren wieder lauter geworden in diesem langen Winter, und Belanca hoffte inständig, dass es nur Gerede war. Die letzte Teufelsbraut von Wolffstedt war bereits vor Jahren hingerichtet worden, und das Übernatürliche scheute die geweihten Dorfgrenzen seither. Doch außerhalb des heiligen Schutzes verschwanden immer wieder Menschen in den Wäldern, und auch wenn die meisten Opfer wilder Tiere geworden waren – der Teufel lebte und wer töricht genug war, sich in die Tiefen des Forstes vorzuwagen, bezahlte diesen Hochmut allzu oft mit seiner Seele.

Wind kam auf und strich eisig über ihre Wangen. Belanca schauderte. Es klang wie ein Wispern, ein Flüstern von Hexen, die in Tiergestalt mit dem Teufel buhlten, von Flüchen, die die Toten aus ihren Gräbern holten, von Schadenszaubern, von Trugbildern und Irrlichtern, die Unschuldige in den Wald lockten, wo die Wölfe sie zerrissen. Kehre um, schienen die Bäume zu ächzen, kehre um, der Wind zu pfeifen, als er mit kalten Fingern an ihrem Mantel zog. Doch Belanca ging weiter.

Irgendwo in diesem dunklen Wald stand ein Turm, und wenn Vater Wolff die Wahrheit gesprochen hatte, wartete in ihm Belancas Rettung. Oder mein Verderben.

Hin und wieder brachten Krähen die schneebedeckten Zweige ins Schwanken. Ihre weiße Last fiel kalt und nass in Belancas Kragen, und sie ging schneller und versuchte, nicht an die Krähenhexe zu denken, die seit dem letzten Vollmond im Nachbardorf umging. Die heiseren Rufe der schwarzen Vögel folgten ihr spöttisch, und Belanca gab die Wärme der Manteltasche auf, um das Amulett um ihren Hals zu umklammern. Die weißen Wolken ihres Atems blieben in den dürren Zweigen hängen, als ihre kalten Lippen wieder und wieder die Worte der Gebete formten.

Doch so sehr Belanca sich auch bemühte, an die Kraft der heiligen Formeln zu glauben, die Bekenntnisse zu Gott und Maria hallten schal in ihr wider. Sie konnte nicht glauben, so sehr sie sich auch bemühte, und es war ihr dunkles Geheimnis, das sie vor allen in Wolffstedt verbarg. Denn etwas musste falsch sein an ihr, an ihrem Herzen, dass sie es Gott nicht öffnen konnte. Trotzdem betete sie weiter, ließ die Phrasen schwer von ihrer Zunge fallen, als der Schnee um sie herum fiel und die Nässe durch die dünn gewordenen Flicken des Mantels drang.

Ob Vater Wolff wusste, worum sie den Unsterblichen bitten würde, sobald sie ihn befreit hatte? Der Papierstreifen lag rau zwischen ihren kalten Fingern. Zumindest ahnen muss er es. Der Pfarrer hatte den Weg zum Turm zwar als eine Pilgerfahrt beschrieben, als einen Weg, der Belanca dabei helfen sollte, ihre Gedanken vom sündhaften, irdischen Begehren zu lösen und sie Gott zuzuwenden. Doch vielleicht war dies ihre Prüfung! Eine Krähe krächzte missmutig über ihr, Schnee rieselte auf Belanca herab, als der Vogel den Ast wechselte, doch Belanca beachtete es nicht. Meine Prüfung. Eine Möglichkeit, die der Dorfpfarrer ihr zugestand, um zu beweisen, dass sie doch eine würdige Braut für Simon war, dem Standesunterschied zum Trotz! Hoffnung stieg in ihr auf und wärmte sie. Sie hatte gebeichtet, einmal im vergangenen Jahr, dass sie Simon liebte, und Pater Wolff hatte deutliche Worte für ihre Unverfrorenheit gefunden. Doch als sie heute Morgen zu ihm gekommen war, weinend, dass sie Simon immer noch liebte, dass sie seine Verlobung nicht ertrug – da war auf einmal Mitleid in seiner Stimme gewesen. Als er begann, von dem Turm im Wald zu sprechen und von dem unsterblichen Dämon, der ihn behauste, hatte Belanca anfangs gedacht, er würde ihr ein Gleichnis erzählen, auch wenn sie es nicht verstand. Doch es war keine Fabel. Es war das dunkle Geheimnis des Waldes um Wolffstedt.

Ihr Herz tat einen schmerzhaften Sprung, als sie eine dunkle Säule zwischen den Bäumen zu erkennen glaubte, doch es war nur eine dunkle Tanne, die sich über ihre Artgenossen erhoben hatte. In der Ferne ließ ein Wolf sein Klagen vernehmen; der unheilvolle Laut hallte verloren durch das Schneetreiben und fand sein Echo in den Schreien der Krähen. Unruhig warf Belanca einen Blick über ihre Schulter. Sie konnte Schatten zwischen den Bäumen sehen, war sich sicher, dass es Wölfe waren. Doch die Tiere wagten sich nicht weiter vor, obgleich sie leichte Beute war. Sie schluckte. Lag es an der unheimlichen Stimmung in diesem Teil des Waldes? Oder beschützten sie die Gebete des Paters? Irgendwo knackte ein Zweig, und sie zuckte zusammen. Wäre es nur um sie gegangen, Belanca wäre umgekehrt. Du tust es für euch, erinnerte sie sich selbst. Für Simon und dich. Simon. Sie meinte, ihn neben sich gehen zu sehen, seine warmen blauen Augen und das hellbraune Haar, sein verschmitztes Lächeln und seine starken Hände, so rau von der Arbeit wie ihre auch.

Aber an diesem düsteren Tag, an dem die Welt außerhalb der Bäume nicht zu existieren schien und das Krächzen der Krähen wie dunkle Flüche durch die eisige Luft trieb, erschien ihr ihr Vorhaben selbstsüchtig und sündhaft. Nichts konnte die Furcht vertreiben, die wie ein Dorn in ihrem Herzen saß. Simon war nicht für sie bestimmt. Was sie sich auch gegenseitig versprochen hatten: Als Sohn des reichsten Bauern in Wolffstedt stand er so weit über einer Tagelöhnerin wie ihr, dass sie nicht einmal an ihn denken durfte.

Aber ich kann mehr sein als nur das. Die Kälte kroch unter ihren Mantel, und Belanca lenkte ihre Gedanken zu all den Dingen, die das Monster im Turm ihr gewähren konnte. Eine Mitgift, die auch Simons Vater milde stimmen würde, oder vielleicht sogar die Offenbarung, dass sie die verschwundene Tochter eines Grafen war, oder …

»Nur ein reines Herz kann das Mal Satans von dem Scheusal nehmen und es erlösen«, klangen die Worte von Vater Wolff auch jetzt noch in ihr nach. »Im Wald steht ein Turm, den niemand betritt, in ihm haust die unglückliche Seele. Christenmenschen haben sie dort angekettet und sie in Dunkelheit versiegelt, um das Land vor ihr zu schützen. Dort wartet der Unsterbliche immer noch, und wer seine Seele aus den Klauen des Bösen rettet, dem gewährt er einen Wunsch.«

»Jeden Wunsch?«

»Was immer das reine Herz begehrt.«

Aber ist mein Herz rein? Seit sie ihre Liebe zu Simon in der Beichte gestanden hatte, hatte Vater Wolff sie davor gewarnt, dem Hochmut und der Unkeuschheit zu verfallen, die der Teufel in ihrem Herz hatte keimen lassen. Und nun dieser Bericht, über einen von Gott Verdammten, der ihre Zukunft mit Simon in seinen Händen hielt. Keines der üblichen Teufelskinder, keine böse Zauberin oder ein Gestaltwandler, nein, eine andere Kreatur, wie Kain zur Unsterblichkeit verflucht. Sie sah Pater Wolffs hageres Gesicht vor sich, seine ernsten Augen, als er gesagt hatte: »Versprich mir, dass du darüber schweigst, selbst wenn du den Turm nicht betrittst. Es gibt Hoffnung für diesen armen Sünder, doch das einfache Volk würde es nie verstehen und ihn dem Galgen übergeben wie die Hexen und Wandler.«

Belanca hatte es geschworen. Doch ihr Herz klopfte schnell bei dem Gedanken daran, diesem Unsterblichen schon bald gegenüberzustehen. Hexen, Werwölfe – all diesen Kreaturen konnte sie zu entkommen hoffen, hatte es bereits als kleines Kind gelernt wie alle anderen auch. Sie wusste, dass die Wölfe Silber scheuten und die Teufelsbräute kaltes Eisen, dass manche Zeichen das Böse riefen und andere es abwehrten. Deswegen trug auch sie als arme Tagelöhnerin ein einfaches, geweihtes Messingamulett über ihrem Mantel, dessen eingeprägter Drudenfuß sie vor dem Bösen schützen sollte. Im Weiß des Waldes war das rote Metall der einzige Tupfen Farbe, eine tröstliche Erinnerung an das Licht und Leben, die im Dorf auf sie warteten.

Der kalte Wind fuhr durch die Bäume und Belanca meinte zu spüren, wie er direkt in ihr Herz fuhr. Sie kam sich klein und unbedeutend vor, als sie unter den dunklen Tannen weiterging. Altvertrauter Zweifel regte sich wie Gift in ihr. Wie sollte sie ein Schmuckstück und ein Streifen Papier beschützen? Aber ich muss es wagen, ich – Ein Krächzen schreckte sie auf.

Eine Krähe flog an ihr vorbei, so nahe, dass sie den Wind der Schwingen auf ihrer Wange spürte. Nur zwei Schritte entfernt landete sie und musterte Belanca mit kohlschwarzen Augen. Die Intelligenz in ihnen schien Belanca mehr als die eines Tieres zu sein. War die Krähenhexe schon in die Wälder um Wolffstedt vorgedrungen? Sie bekreuzigte sich mit bebenden Fingern.

Zum ersten Mal, seit sie aus dem Dorf aufgebrochen war, wurde ihr wirklich bewusst, was sie tat: Sie war im Wolfwald, über dem die Wintersonne bereits gefährlich tief stand, und jagte einem verzweifelten Traum nach. Nein. Keinem Traum. Der Möglichkeit, die Gott ihr durch Vater Wolff bot. Der Priester wusste besser über die Wälder Bescheid als alle anderen im Dorf. Sein Vater, der alte Albrecht, war einst Hexenjäger gewesen und hatte viel dazu beigetragen, dass Wolffstedt nun das sichere Heim war, als das Belanca es kannte. Wenn jemand einen Weg aus ihrem Unglück wusste, dann der Priester. Und waren die Prüfungen, die Gott seinen Kindern auferlegte, nicht immer erst ein Rätsel für die Geprüften?

Ich sollte beten. Vater Wolff hatte ihr dazu geraten, den ganzen Weg zum Turm im Gebet zu verbringen, um ihren Geist auf die Begegnung vorzubereiten. Doch wie so oft, wenn Belanca betete, hallten die Worte hohl und bedeutungslos in ihr wider. Ein reines Herz … Wie sie hoffte, dass der Priester recht damit behielt. Als sie weiterhastete, klang das Krächzen des Vogels wie höllisches Lachen in ihrem Rücken, und die heiligen Formeln entglitten ihr endgültig.

Statt der Gebete klammerte Belanca sich an den Gedanken an Simon. Sie wusste, dass er Hannah nicht liebte, die Verlobung hatte ihn ebenso überrascht wie sie. Wenn Belanca erst reich war und sein Vater nichts mehr gegen ihre Verbindung haben konnte, würde Simon sie heiraten.

Mit neuem Mut lief sie über den schneebedeckten Waldpfad. Sie würde den Unsterblichen erlösen und Simon heiraten. Sie liebte ihn, und er liebte sie. Sie würde ihm eine gute Frau sein. Wolfsspuren kreuzten den Weg erneut, und sie beschleunigte ihre Schritte. Um diese Jahreszeit wurde es rasch dunkel, und die Wölfe waren hungrig. Hoffentlich würde sie nicht das gleiche Schicksal ereilen wie den jungen Tagelöhner, den die Bestien vor wenigen Tagen erst getötet hatten …

Doch obwohl sie angespannt lauschte, hörte sie nichts. Kein verräterisches Knurren, keine Pfoten im schweren Schnee. Es war still. Unnatürlich still. Kein Rascheln im Unterholz, kein Vogelkrächzen mehr oder das Flattern von Schwingen. Selbst der Schnee, der aus den Bäumen fiel, versank lautlos in der weißen Decke. Die Furcht, die seit ihrem Aufbruch unterschwellig in jeder ihrer Bewegungen mitgeschwungen hatte, brach frei. Es lag etwas Unheiliges in der Luft, etwas Böses, und es verdichtete sich mit jedem Schritt, den sie tat. Belancas Finger um den Papierstreifen schwitzten trotz der Kälte, als sie sich die Formeln zurück ins Gedächtnis rief, die sie vor dem Teufel und all seinen finsteren Gesellen schützen sollten. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …

Der Turm tauchte so plötzlich zwischen den Bäumen auf, dass Belanca erschrocken innehielt. Das vierkantige Gebäude aus grau verwittertem Stein ragte finster in den Himmel. Die Fenster waren zugemauert worden. Das lauernde Schweigen ließ die Luft so schwer werden wie ihre Beine. Als ginge es vom Mauerwerk selbst aus …

Wolfsheulen ließ die Luft erzittern, nahe, unglaublich nahe, und mit einem erschrockenen Keuchen begann sie zu laufen. Schatten glitten zwischen den Bäumen dahin, als Belanca durch den Schnee stolperte, auf den Turm und den Schutz, den er ihr bieten konnte, zu.

Doch als sie ihren Fuß auf die kleine Lichtung setzte, auf der der Turm stand, schoss nackte Angst durch sie, die nichts mit den Tieren zu tun hatte, die ihrer Fährte folgten.

Etwas in ihr erwachte, heftig und unaufhaltsam, heulte in ihr auf wie die Wölfe hinter ihr: eine primitive Angst vor uralten Dingen, vor Monstern und Sachen, deren Namen längst vergessen waren. Grauen erfüllte sie, Grauen vor etwas, das sie nicht benennen konnte. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihr Herz trommelte einen panischen, unregelmäßigen Takt, als alles in ihr danach drängte zu fliehen. Lauf!, schrie es in ihr. Vergiss Simon und lauf! Pater Wolff hatte sich in ihr getäuscht, sie war zu schwach, sie konnte nicht gegenübertreten, was auch immer sie im Inneren der Steinmauern erwartete.

Wolfsgeheul erhob sich erneut, so viel lauter, so viel näher, und als sie zurücksah, konnte sie die gelben Augen hungrig im Zwielicht schimmern sehen. Sie zwang sich einen weiteren Schritt ab, auf den Turm zu.

Nimm die Wölfe!, flehte es in ihr. Die Wölfe, die die Lichtung nicht betraten, auf der sie nun stand, die fürchteten, was sich in dem Turm verbarg. Belanca stemmte sich gegen die Furcht, die sie zurück in den Wald stürzen lassen wollte, in die Fänge des Rudels, das auf sie wartete. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück … Mit langsamen Schritten kämpfte sie sich bis zur schweren Eisentür, kämpfte gegen den Schnee und ihre hölzernen Beine, gegen ihren zitternden Körper und ihren Geist, der in uralter Angst tobte und schrie.

Drudenkreuze und Schriftzeichen waren in die Tür geritzt worden, ihre Anzahl alleine eine letzte Warnung, die zu beachten sie sich nicht leisten konnte.

Belanca legte die bebenden Hände auf den Türknauf. Das Metall war so kalt, dass es auf ihrer Haut brannte. Die wilde Panik in ihr verstummte schlagartig, als ob die Macht des Turmes die warnende Stimme zum Verstummen gebracht hätte. Doch die Wölfe heulten erneut und Belanca wusste, dass sie sich nicht darauf verlassen konnte, dass die Tiere ihr nicht doch nachjagen und sie zerreißen würden.

Eis knackte, als sie ihre ganze Kraft in die Bewegung warf und das Schloss aufzwang. Sie zerrte die Tür auf. Finsternis gähnte ihr entgegen. Ihre Kehle war eng, ihr Herz donnerte gegen ihre Rippen. Der Herr ist mein Hirte …

Als Belanca ihren Fuß über die Schwelle setzte, meinte sie, direkt in den Schlund eines Monsters zu treten.

Im Inneren des Turmes war es kaum wärmer als draußen. Es war dunkel, nur vereinzelt fiel Nachmittagslicht durch Spalten im Stein und Lücken in den versiegelten Fenstern. Mit tauben Fingern zog Belanca den Kerzenstumpf hervor, den Vater Wolff ihr anvertraut hatte. Sie erspürte das eingeprägte Kreuz im geweihten Wachs und schöpfte neue Zuversicht. Der Herrgott würde sie beschützen. Vielleicht hat er es versucht und mir deswegen diese Angst geschickt … Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut. Doch was wusste sie schon von den Wegen des Allmächtigen? Es war alles Teil ihrer Prüfung.

Das Schwefelhölzchen gehorchte ihr beim ersten Mal, und die Kerzenflamme warf ihr flackerndes Licht auf die Wände, die sie umgaben.

Der Raum maß vielleicht zehn Mal zehn Schritt und war leer. Vorsichtig begann Belanca, die Treppe zu erklimmen, die in das nächste Geschoß führte. Staub lag auf den Stufen und dem Fenstersims, und das einzige Geräusch war ihr Atem. Sie spürte nichts Böses mehr, nichts von der nackten Angst, die sie auf der Lichtung ergriffen hatte. Stirnrunzelnd hob sie die Kerze höher. Sollte die Anwesenheit des Unsterblichen nicht bemerkbar sein? Sollte er sich nicht bemerkbar machen?

Ihr Anhänger glimmte rot und tröstlich im Kerzenschein, und sie umklammerte den Segensspruch fester, bevor sie den Fuß auf die nächste Stufe setzte. Vermutlich wollte die Kreatur sie tiefer in ihrem Reich wissen, bevor sie sich bemerkbar machte. Sie meinte, über ihr das Klirren von Ketten zu hören, doch als sie genauer hinhörte, antwortete ihr nur Schweigen. Spielte ihr Geist ihr einen Streich und beschwor herauf, was Vater Wolff erzählt hatte? Ein Unsterblicher in Ketten, bereit, dem, der ihn erlöste, jeden Wunsch zu erfüllen …

Das Kerzenlicht huschte über den unberührten Staub, den ihre Schritte aufwirbelten. Nicht einmal Mäuse hatten ihre Spuren hinterlassen. Doch am meisten beunruhigte Belanca die Abwesenheit von Spinnweben. Sämtliches Getier schien den Turm zu meiden, ein beunruhigendes Echo der dämonischen Ausstrahlung von zuvor.

Die Angst kam zurück, schlimmer als je zuvor, doch Belanca rief sich Simons Lächeln ins Gedächtnis und zog den Papierstreifen hervor wie eine Waffe. Ich bin gewappnet. Ich bin bereit. Sie musste nur ihren Geist gegenüber dem Flehen und den falschen Versprechungen des Unsterblichen verschließen, Vater Wolff hatte sie eindringlich vor seinen schönen Worten gewarnt.

Belanca ließ Stufe für Stufe, Stockwerk für Stockwerk hinter sich. Ihre Schritte wisperten über den Stein, und ihr Herz schlug zu laut. Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue … Wachstropfen fielen auf ihre Haut. Trotz des Schmerzes war sie dankbar für die kurzen Momente von Wärme. Die Kälte schien von den Mauern direkt in ihre Knochen zu sickern. Sie sah nichts außer Staub und kahle Wände. Die Stille im Turm hatte nun die normale Ruhe verlassener Gebäude statt der unheiligen Abwesenheit von Leben wie zuvor.

Schließlich hatte sie das Zimmer unter dem Dach erreicht. Im flackernden Schein der Kerze sah sie einen einzelnen Lehnstuhl. Bis auf das abgewetzte Möbelstück war der Raum so leer wie all die anderen, durch die sie gegangen war.

Enttäuschung und Erleichterung durchfluteten sie gleichermaßen, bis Bitterkeit die Oberhand gewann. Also war die Geschichte über den Unsterblichen nur das: eine Geschichte. Ein Märchen, das den Turm hatte leer stehen lassen und falsche Hoffnung in den hochmütigen Herzen derer gesät hatte, die sich in ihrer Eitelkeit für rein gehalten hatten.

Belanca schluckte schwer. Vater Wolff hatte geschafft, ihr zu beweisen, wie recht er mit seiner Meinung über sie hatte: Sie war nichts weiter als ein törichtes Mädchen, das glaubte, sich gegen die göttliche Ordnung auflehnen zu können. Stolz und Einfältigkeit hatten sie im tiefsten Winter einen eisigen Turm erklimmen lassen, in dem nichts auf sie wartete als Spott und Staub. Und davor die Wölfe.

Wie töricht ich bin. Sie lachte, der Laut so hohl und dunkel, wie sie sich innerlich fühlte. Es würde mir recht geschehen, wenn mich die Wölfe holen oder das Fieber. Sie blinzelte Tränen fort. Es gab keine Unsterblichen, die Wünsche erfüllten, nur Hexen und Wandler, die ihr Leben am Strick aushauchten. Simon würde Hannah heiraten, und sie würde jemand anderen finden oder vielleicht auch nicht. Es war Zeit, ihre kindischen Träume am Fuße dieses Turmes zu begraben und dem echten Leben ins Antlitz zu blicken.

Doch sie blieb, wo sie war, obwohl die eisige Luft ihre Lunge schmerzen ließ. Obgleich sie wusste, dass sie sich auf den Heimweg machen musste, rasch, bevor das letzte Tageslicht verschwand. Doch zurückzukehren bedeutete auch, dem Pfarrer in die Augen zu sehen und die Verachtung in seinem Gesicht zu lesen. Es bedeutete, zurückzukehren in ein Dorf, in dem sie nichts war als die Waise eines Tagelöhners, zu laut für den Platz, den der Herrgott ihr zugewiesen hatte, zu eigensinnig, zu lüstern, zu selbstgefällig.

Sie seufzte, beobachtete, wie die weißen Atemwolken sich in der Finsternis außerhalb der Flamme verloren. Zu viel von allem und doch zu wenig. Zu wenig Bescheidenheit, zu wenig Grazie, zu wenig Demut. Zu viel Selbstmitleid.

Wieder zerplatzte heißes Wachs auf ihrer Haut. Der Kerzenstummel war bald herabgebrannt. Sie musste gehen, bevor es zu dunkel war und sie sich im Wald verlief. Musste zurück in das Dorf, in dem Simon eine andere heiraten würde. Sie würde ihn weiterhin sehen, in der Kirche und bei der Erntearbeit, wenn ihre Wege sich am Markt kreuzten. Der Gedanke, sich irgendwann um Almosen bettelnd vor seiner Tür zu finden, schnürte ihr die Kehle zu. Wie lange er wohl noch an mich denken wird? Er ist zu gut, um sich nicht ganz seiner Frau zu widmen. Würde sie je vor den Altar treten, besitzlos wie sie war? Gab es jemandem, dem sie ihr Leben schenken konnte, wie sie es Simon versprochen hatte? Und wer würde mich überhaupt nehmen? Sie konnte den Mann nicht sehen, der neben ihr stehen sollte. Ihre Zukunft streckte sich so dunkel und kalt vor ihr aus wie der verlassene Raum.

Dann schimpfte Belanca sich ein selbstbezogenes Balg. Kein Wunder, dass Vater Wolff mich mit einem albernen Märchen in die Irre hat laufen lassen! Er hat –

»Welch wunderbare Überraschung.« Die Stimme war dunkel und spöttisch und schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen.

Die Worte schlangen sich um sie wie Fesseln und sie spürte, oh großer Gott, spürte, wie all ihre Kraft aus den Gliedern wich und in der Finsternis versickerte, die sie umgab. Nein! Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, doch kein Laut drang über ihre Lippen. Nein!

»Doch, meine Schöne«, kam es zurück, halb bedauernd, halb gelangweilt. »Doch.«

Er schien sich aus der Dunkelheit selbst zu formen, hochgewachsen und so bleich wie der Tod. Der Unsterbliche! Die Kreatur bewegte sich auf sie zu, und sie konnte nicht fliehen, konnte nicht einmal beten. Konnte nichts tun, als diesem Teufel mit aufgerissenen Augen entgegenzustarren, der die Luft vor Macht brennen ließ. Ein Wimmern drang über ihre Lippen. Belanca hatte sie nie gespürt, die beschützende Kraft der Gebete oder die Schadenszauber der Birnenbäuerin, doch diese Magie presste sich in ihre Haut, schnitt in ihre Knochen, lag um ihre Brust wie Eisenbänder – sie wollte beten, wollte flehen, doch ihre Sprache hatte sie verlassen.

Eine Armlänge von ihr entfernt blieb er stehen, als wollte er unterstreichen, dass er sie nicht einmal berühren musste, um über sie zu triumphieren.

Zähne blitzten in der Dunkelheit, und in jedem Wort schwang ein Zauberbann, der sie lähmte. »Es ist schon sehr lange her, dass mir Gesellschaft zuteilwurde. Und dann auch noch so charmante.« Er hob ihre Hand an seine Lippen, die gleiche Hand, in der sie den geweihten Zettel hielt. Doch der priesterliche Segen versagte. Sein Kuss sank wie Eiswasser durch ihre Haut in ihre Glieder, in ihr Herz, und seine schwarzen Augen schienen bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken.

Etwas in Belanca schrie in uralter Furcht, doch sie konnte seinen Blick nur hilflos erwidern, nur zusehen, wie er eine ihrer blonden Haarsträhnen um seine Finger wickelte. Er war schlank und totenblass, mit arroganten Gesichtszügen, die ihn erhaben wirken ließen, und dunklem Haar, das über seine Schultern fiel. Wie alt er war, ob er zwanzig oder fünfzig oder hunderte von Sommern ins Land hatte ziehen sehen – sie konnte es nicht sagen. Er war kein Mensch, auch wenn er den Körper eines Mannes trug.

»Dein Haar – es hat die Farbe von Knochen.« Seine Finger waren dünn, die langen Nägel elegante Krallen. Sein Blick ließ sie nicht los und seine Augen waren schwarze Löcher, die sie zu verschlingen drohten. Wieder versuchte sie zurückweichen – wieder konnte sie nicht. Im Gegenteil, ihr ganzer Körper wollte sich ihm entgegenstrecken wie eine Blüte der Sonne. Oder eine Motte der Flamme.

Simons Bild stieg in ihr auf, und der Gedanke an ihn presste ihr Herz schmerzhaft zusammen. Sie würde verschwinden, und er würde nie erfahren, was aus ihr geworden war. Würde er denken, dass sie den Wölfen zum Opfer gefallen oder erfroren war? Oder würde er sich mit der Vorstellung beruhigen, dass sie fortgegangen war und in einem anderen Dorf ihr Glück gefunden hatte? Würde er sie vergessen? Würde er um sie trauern? Würde er …?

Einen Wimpernschlag lang fiel die Erstarrung von ihr ab, doch sie kam nicht weiter als einen kleinen Schritt von dem Unsterblichen fort, bevor sich die Finger der Kreatur um ihr zweites Handgelenk schlossen. Als die Kraft dieses Mal aus ihrem Körper wich, schmeckte sie den herben Stich von Endgültigkeit. Belanca dachte verzweifelt an Simon, suchte nach der Kraft, mit der sie sich soeben befreit hatte. Simon! Simon und sein gutmütiges Lachen, seine sanften Hände, sein Trotz und die Art, wie er sie ansah, wie er sie küsste, wie er …

Kalte Finger griffen in ihren Geist, wühlten sich durch Geheimnisse und Begierden, ihre Ängste und Träume, bis sie gefunden hatten, was sie suchten.

»Belanca.«

Aus seinem Mund klang es nicht mehr wie ihr Name, sondern wie ein alter Zauberspruch. Wie ein Fluch. Ihr Kopf war mit einem Mal wie leergefegt. Sie fühlte die Hand des Unsterblichen unter ihrem Kinn, wie er sanft ihren Kopf zur Seite bog. Alle Gefühle verstummten, sie spürte keine Angst mehr, keine Kälte. Die Welt bestand nur aus seinen Augen und aus seinem Mund. Dem Mund, der sich langsam zu einem Lächeln verzog. Ein Lächeln, das eine Reihe raubtierhafter Zähne entblößte.

Wie im Traum spürte Belanca die Kerze ihrem Griff entgleiten. Das geweihte Licht, ihr letzter Schutz, erlosch mit einem verlorenen Knistern.

Die Dunkelheit, die sie umschloss, war absolut. Seine Lippen streiften ihren Hals, als er seinen Griff von ihren Armen löste, und sie sackte kraftlos gegen ihn. Ihr Körper hatte aufgehört, ihr zu gehorchen. Seine Haut war so kalt wie der Stein, der sie umgab, doch sie meinte, in Flammen zu stehen. Höllenfeuer.

»Was mache ich bloß mit dir?« Ein scharfer Nagel glitt über ihren Hals, als sie tiefer in seine Arme sank. »Ich könnte dich aussaugen bis auf den letzten Tropfen und deinen Körper den Wölfen übergeben.« Die Hand glitt ihren Arm entlang, Fingernägel kratzten spielerisch über ihr Handgelenk. Die Belustigung in seiner Stimme verriet ihr, dass er sich längst entschieden hatte. »Ich kann dich zu meiner Dienerin machen, meiner willenlosen Botin.« Sein Arm legte sich um ihre Taille. »Oder ich kann dich aufnehmen, dir meinen Namen geben, dich zum Teil meiner Familie machen«, seine Finger glitten über ihre Brust, »Oder zu meiner Gefährtin.« Seine Hand ruhte auf ihrer Hüfte, die langen Nägel stachen durch ihr Gewand, als markierten sie bereits den Ort, an dem er sie zeichnen wollte und ihre Seele verdammen. »Nun, Belanca?«

»Wo sind deine Ketten?«, brach es aus ihr heraus, ihre Stimme ein hohes, fremdes Wispern. »Christenmenschen haben sie dort angekettet und sie in Dunkelheit versiegelt …«

Warmes Lachen hüllte sie ein. »Ich habe gerade keine zur Hand, aber ich kann mit Sicherheit welche auftreiben, wenn du darauf bestehst.«

»Ich bin hier, um dich zu erlösen.« Sie formte die Worte mit Mühe. Ihre Gedanken wirbelten herum wie Schneeflocken und zerschmolzen in ihren Händen, wann immer sie sie zu fassen bekam. Doch sie musste ihre Gelegenheit nützen, solange sie sprechen konnte.

Lange Nägel, die ihr Kinn in die Höhe zwangen. »Bist du das?«

»Vater Wolff hat mich geschickt. Er will dir helfen. Er –« Die Stimme erstarb in ihrer Brust. Der Verfluchte stand still, nur seine Nägel bohrten sich tiefer in ihr Fleisch, und Belanca wimmerte auf.

»Will er das?«, sagte er dann.

»Ich kann dir helfen«, versuchte sie es weiter, obgleich sie die Angst in ihrer Stimme hören konnte.

»Das tust du schon«, kam es zurück, und der Hunger in seiner Stimme ließ ihr Herz schneller schlagen, bis sie meinte, es würde ihr die Rippen brechen.

Kalte Lippen an ihrer Schläfe. »Du riechst nach Kirche, aber ich vermisse deine panischen Gebete. Alle anderen rufen nach ihrem Gott, wenn sie mich sehen.«

»Pater Wolff hat mich geschickt, um dich zu erlösen!«

»Mich erlösen will er also?« Die Stimme des Unsterblichen hatte einen gehässigen Ton angenommen. »Den Zauber lösen, mit dem er mich in diesen Turm gesperrt hat, soll er!«

Vater Wolff hat …? »Er hat gesagt, ich kann …« Dann kratzten spitze Zähne über ihr Handgelenk und die Stimme versagte ihr. Einen Moment lang schien die Zeit stehen zu bleiben, einen kostbaren Augenblick lang hoffte Belanca, dass der Segensspruch in der Dunkelheit aufglimmen und sie beschützen würde, dass die Gebete Vater Wolffs einen undurchdringbaren Mantel um sie gelegt hatten. Kalte Lippen öffneten sich in der Parodie eines Kusses, dann durchbohrten Zähne ihre Haut.

Rote Funken tanzten vor ihren Augen, als sich ihre Welt in Finsternis und Schmerz auflöste. Ihr Herz hämmerte unrhythmisch in ihrer Brust, trieb ihr Blut immer rascher durch ihre Adern. Sie konnte fühlen, wie die Wärme ihren Körper verließ und sich etwas anderes, Fremdes in ihr ausbreitete. Sie wollte kämpfen, sich wehren, schreien, doch konnte sich nicht bewegen. Sie konnte nur warten. Belanca wusste nicht, ob eine Ewigkeit oder nur ein Wimpernschlag vergangen war, als sich sein grauenhafter Mund endlich von ihrem Handgelenk hob. Seine Zähne waren rot von ihrem Blut. Er ließ sie los, und Belanca stolperte vor ihm zurück, die Hand gegen die Brust gedrückt, bevor sie kraftlos in die Knie sank.

Der Raum drehte sich vor ihren Augen, und sie presste die Lider zu, ihr hämmernder Puls betäubend laut. Etwas sank durch ihre Glieder wie Gift, und sie versuchte erneut, sich dagegen aufzulehnen, sich gegen diese unsichtbare Macht zu verteidigen, die bereits begann, in ihr Wurzeln zu schlagen. Doch die Kälte erstickte den rebellierenden Funken.

Als Belanca die Augen aufschlug, kauerte sie vor dem Unsterblichen auf dem Boden. Warum saß sie noch immer dort? War es ihre Entscheidung gewesen oder … Warum floh sie nicht? Weil Flucht nun zwecklos ist. Er hatte sie gezeichnet.

»Sehr richtig.« Bewegung in der Dunkelheit, und dann flammte die Kerze wieder auf. Der Unsterbliche setzte sie in einen Kerzenhalter und ließ sich auf dem Lehnstuhl nieder. Bebend hob Belanca ihr Handgelenk, drehte es im schwachen Licht der Flamme hin und her. Von dem Biss war nichts zu sehen, keine Wunde, kein Blut. Alles, was davon zeugte, waren vier runde, schwarze Narben, zwei auf jeder Seite.

Langsam ließ sie die Hand auf ihren Schoß gleiten und hob ihr Gesicht zu dem Verdammten. »Warum lebe ich noch?«, fragte sie tonlos und wünschte gleichzeitig, er würde ihr keine Antwort geben. Was immer die Kreatur mit ihr vorhatte, war gewiss schlimmer als der Tod. Die alten Geschichten stiegen wieder in ihr auf, von menschlichen Dienern, die für ihre teuflischen Meister Unschuldige in Fallen lockten, von Unglücklichen, deren Folter dem Zeitvertreib der Satansjünger diente. Sie suchte nach einem Schutzgebet, doch ihr Geist war leer.

»Weil du mir lebend mehr nützt als tot«, sagte der Unsterbliche, bevor er ein »Noch« hinzufügte. Wie gelassen er in seinem Lehnstuhl saß, wie auf einem Thron. Im schwachen Licht hätte man ihn auf den ersten Blick für einen Menschen halten können, einen Schausteller vielleicht, dessen altertümliche Kleidung nicht mehr war als ein Kostüm. Doch es war eine dunkle Aura um ihn, etwas Unnatürliches in seiner Stillheit, seinen Bewegungen. Und spätestens, wenn man seine Augen sah, wusste man, dass man einem Teufel gegenübersaß.

»Wie dramatisch.« Der Teufel hob etwas in die Höhe, und Belanca erkannte den Segensspruch, den Vater Wolff ihr mitgegeben hatte. »Du kannst nicht lesen, oder?« Eine Feststellung, keine Frage, auch wenn er es so klingen ließ und ganz offensichtlich eine Antwort von ihr erwartete. Nun, da konnte er lange warten! Belanca presste die Lippen zusammen. Er seufzte. »Ich kann dich zwingen«, sagte er, und die dunkle Macht in Belanca legte sich fast zärtlich um ihr Herz. »Aber ich würde unsere Beziehung ungern so … unzivilisiert starten.«

Unzivi-? »Du hast mich gebissen!«

»Schön und eine gute Beobachtungsgabe«, kam es amüsiert zurück. »Vater Wolff meint es wirklich gut mit mir. Also?«

Verständnislos sah Belanca ihn an. Was wollte er von ihr?

Er seufzte. »Ich sollte wohl wirklich geduldiger mit dir sein«, sagte er nachdenklich. »Immerhin hast du gerade eine nicht unbeträchtliche Menge Blut verloren.« Er lehnte sich vor und sprach langsam, als würde er zu einem Kind reden: »Du kannst nicht lesen.«

»Ich kann meinen Namen schreiben«, sagte sie, fast trotzig.

»Das ist gut.« Es klang, als meinte er es aufrichtig. »Doch es hilft dir nicht zu entziffern, was hier steht.« Er hob den schmalen Streifen und las vor. »›Sieh sie als ein Zeichen meines guten Willens.‹ Klingt das für dich wie ein Segensspruch?« Dunkle Augen ruhten auf ihr. »Für mich klingt es nach einem Gruß aus der Küche.«

›Sieh sie als ein Zeichen meines guten Willens.‹ War das … Konnte es denn wirklich wahr sein? Eine furchtbare Ahnung begann sich in ihr zu regen. Hatte Vater Wolff ihre Liebe zu Simon nicht immer aufs Schärfste verurteilt? Hatte er sie nicht hochmütig geheißen und liederlich? War sie nicht selbst überrascht gewesen, als er ihr an diesem Morgen mitfühlende Worte statt einer Predigt über ihre unreine Seele geschenkt hatte? Diese Geschichte von dem reinen Herzen … Doch das konnte nicht sein, es durfte einfach nicht sein! Selbst wenn er sie verachten sollte – Pater Wolff war ein Mann Gottes! Sicher würde er keinen Mord begehen! Warum auch? Mein Tod nützt ihm nichts. Belanca fasste sich ins Haar, doch das dumpfe Gefühl, dass der Unsterbliche die Wahrheit sprach, ließ sich nicht vertreiben. Aber warum sollte Vater Wolff sie einer Kreatur wie dieser vorwerfen? Er war ein Priester, kein Hexer, er … Die Worte des Unsterblichen brachten ihren Gedankenstrom zum Erliegen.

»Er hat dich mir zum Fraß vorgeworfen.«

Nein. Nein, es darf nicht sein. »Du lügst!« Sie hörte ihre eigene Verzweiflung.

»Ach ja? Dann sag mir, Belanca, haben seine Gebete dich beschützt? Hat sein Segensspruch«, er schnippte den Zettel verächtlich zu Boden, »mir auch nur ein Haar versengt?«

»Manchmal ist der Teufel stärker«, wisperte sie. Ihr Mund war trocken, und die dunkle Kraft breitete sich weiter in ihrem Körper aus, kroch ihre Knochen entlang wie Gewürm.

»Solch gotteslästerliche Worte aus deinem Mund? Der Wolf scheint mir seine Schafe nicht mehr so unter Kontrolle zu haben wie einst. Sag mir, was hat er dir erzählt?«

Doch Belanca schüttelte nur den Kopf. Auf keinen Fall würde sie dieser Ausgeburt der Hölle noch mehr in die Hände spielen.

»Nein?« Ein kaltes Lachen. »Dann komm. Heb den Zettel auf und komm zum Licht.«

Ihr Körper bewegte sich ohne ihr Zutun. Bevor sie es verhindern konnte, hatte sie den Segensspruch aufgehoben und war vor ihm. Übelkeit brannte in ihrer Kehle, als sie ihn ansah. »Und nun?«, fragte sie. »Oder musst du die Worte nicht einmal mehr aussprechen, damit mein Körper ihnen folgt?«

»Wie dramatisch«, seufzte er. »Nun, Belanca, was hat dein Vater Wolff gesagt, was auf dem Zettel steht?«

Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken zu schweigen oder zu lügen, doch die Vorstellung, von der Teufelskraft zum Sprechen gezwungen zu werden, die sich immer fester um ihren Geist zu stricken schien, war zu furchtbar.

»›Beschütze Gott und seinen Engel Belanca vor den Fängen der Finsternis.‹« Der Streifen in ihrer Hand roch noch immer leicht nach Weihwasser. Er hatte es vor ihren Augen geschrieben, sie über jedes Wort ein Vaterunser beten lassen.

»Du kannst deinen Namen also schreiben. Kannst du ihn lesen auch?«

Zögerlich nickte sie.

»Dann sage mir, siehst du ihn?«

Sie senkte ihren Blick auf die Schrift Vater Wolffs. Das Licht der Flamme flackerte golden über die schwarze Tinte, als sie vergeblich nach den Zeichen suchte, die ihren Namen malten. Schließlich ließ sie die Botschaft sinken. Ihr Herz schlug schwer und ihre Augen brannten. »Das beweist nichts«, sagte sie. Doch ihre Stimme war schwach.

»Natürlich tut es das«, sagte der Unsterbliche. »Glaube ihm weiter, wenn du möchtest, doch du machst dir dein Leben leichter, wenn du der Wahrheit ins Auge siehst.«

»Und dir glaube?«, fragte sie bitter. Ihre Gedanken rasten. Selbst wenn – und alles in ihr scheute davor zurück – selbst wenn Vater Wolff sie mit dem Ziel zum Turm geschickt hatte, dass sie hier ihr Ende fand, warum sollte sie nun blind der Kreatur vertrauen, die sie gebissen hatte. »Vater Wolff ist ein Mann Gottes«, sagte sie, mehr für sich selbst.

Der Dämon vor ihr schnaubte. »Das ist er. Ein Mann des falschen Gottes, wenn man mich fragt, aber ja, mein Herz, dein Priester ist nicht vom Glauben abgefallen oder hat sich den dunklen Künsten verschworen.«

Aber dann … »Warum? Warum wollte er mich töten? Warum so?«

Der Unsterbliche seufzte. »Ich sage es dir ungern, aber hier geht es nicht um dich. Du bist nichts weiter als sein Gruß an mich und warst nur naiv genug, dich mitten im Winter durch den Wald schicken lassen, um mich zu ›erlösen‹. Wie genau?«

»Mit … mit meinem reinen Herzen«, flüsterte sie und kam sich so eingebildet vor wie noch nie.

Der Dämon warf den Kopf in den Nacken und begann, schallend zu lachen. »Ein reines Herz«, keuchte er, »was für ein Unsinn!«

Tränen der Scham brannten in ihren Augen. »Ich weiß, dass ich dumm bin!«, fuhr sie auf. »Kein Grund, mich deswegen auszulachen! Ich habe dafür bezahlt, oder nicht?« Aufgebracht streckte sie ihm ihr Handgelenk entgegen – und erstarrte. Erschrocken sah sie den verstummten Mann vor ihr an. Sie hatte ihn angeschrien. Sie wusste nicht, woher der plötzliche Zorn gekommen war, aber sie zweifelte nicht daran, dass sie dafür büßen würde. Die schwarzen Augen vor ihr blitzten rot auf, doch sie kam nicht dazu, ihn um Vergebung zu bitten.

»Naiv ja, dumm nicht«, sagte der Unsterbliche. »Normalerweise benehme ich mich besser, doch die letzten Jahrzehnte hatte ich nicht unbedingt viele Gelegenheiten, mein Benehmen in Gesellschaft zu erproben. Meine Manieren sind wohl ein wenig eingerostet.«

War das … eine Entschuldigung? Belanca sagte lieber nichts. Auch der Mann – der Dämon? – vor ihr schien mit dem Thema abgeschlossen zu haben.

»Wie auch immer, er hat offenbar einen Weg gefunden, mich über dich wissen zu lassen, dass sein zehnjährlicher Besuch ansteht, bei dem er wieder erfolglos darauf hofft, dass ich ›Vernunft angenommen habe‹. Ich würde ja die Zeitverschwendung beklagen, doch es ist nur seine Zeit, die er verschwendet, solange er mich nicht aus diesem neunmal verfluchten Turm lässt.«

Belanca schöpfte neue Hoffnung. »Dann lass mich dir helfen. Du bist das Böse –«

»Danke.«

»– und deswegen konnte Vater Wolff dich nicht einfach gehen lassen. Aber ich kann mit ihm reden, und sein Glaube kann dich erlösen!«

»Wie der Glaube die Hexen und die Wandler erlöst?«, fragte er trocken.

Belanca senkte den Blick. »Der Tod ist nicht das Ende. Und ist die Erlösung durch das heilige Wort denn nicht gnädiger, als auf Ewigkeit auf Erden zu leiden?«

Als sie es wagte, erneut zu ihm zu sehen, glänzten die Augen des Unsterblichen rot. Dann gab sein Grinsen wieder den Blick auf sein Raubtiergebiss frei. »Für einen Moment dachte ich, du glaubst den Unsinn, den du hier zusammenspinnst.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Oh, er hat versucht, mich zu töten«, fuhr er dann fort. »Es ist ihm nur nicht gelungen. Das hier«, seine Geste umschloss den Turm, »war seine Lösung. Und nun sitze ich hier, bis ich seinen Forderungen nachgebe.«

»Er will nur deine Seele retten«, versuchte Belanca es ein letztes Mal.

Der Unsterbliche starrte sie an. »Auf Kosten deines Lebens?« Sie hörte, dass es nicht das war, was er eigentlich hatte sagen wollen.

»Er verachtet mich.« Das ganze Ausmaß ihres Versagens stieg grausam in ihr Bewusstsein. »Vermutlich zu Recht.«

»Die Schäfchen werden doch nicht klüger«, seufzte der Unsterbliche. »Das Letzte, was dem Wolff am Herzen liegt, ist mein Seelenheil, du einfältiges Kind.«

Die Beleidigung traf sie härter als erwartet. Sie wusste, dass sie die Antwort lieber nicht wissen wollte, noch während sie fragte: »Und was ist es, das er verlangt?«

»Er will, was dir schon zuteilwurde. Meinen Kuss.«

Belancas Wangen brannten. Nicht, dass sie nicht über solche Dinge Bescheid wusste, aber Vater Wolff! »Er hat sich Gott versprochen!«

»Und hat sich von ihm abgewandt wie ein enttäuschter Liebhaber. Nicht, dass ich es ihm verdenken kann.« Die lästerlichen Worte verschlugen Belanca die Sprache. Der Unsterbliche schenkte ihr einen amüsierten Blick und fuhr fort. »Zähme deine sündigen Gedanken, mein Herz, dein Vater Wolff will mich nicht in seinem Bett. Er will das ewige Leben, das mein Kuss ihm schenkt.«

»Aber das ewige Leben kommt von Gott.« Belanca kam sich unbeholfen und dumm vor, als sie versuchte, den Worten des Dämons zu folgen.

Wieder dieser mitleidig-amüsierte Blick. »Er wurde nicht mit Geduld gesegnet, dein Priester. Und mein Vorschlag, ihn persönlich in die Arme seines Gottes zu befördern, fand keinen Zuspruch.«

Ihr Kopf schwirrte. Konnte es denn die Wahrheit sein? War der Priester so tief gefallen, sich mit dämonischer Hilfe die Unsterblichkeit zu erkaufen? Ausgerechnet er, der Gottesmann? Der Sohn des Hexentöters von Wolffstedt?

---ENDE DER LESEPROBE---