Sternenwerk - Katrin Ils - E-Book

Sternenwerk E-Book

Katrin Ils

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Beschreibung

Das Finale der Unstern-Serie Alat steht vor dem Bürgerkrieg. Die Kyrstner Magier haben die Stadt erreicht, alte Feinde zeigen ihr hässliches Gesicht und der unsichere Frieden zerbricht, als der Rat Ravid und seinen Verbrechern den Kampf erklärt. Für Kerra steht nun alles auf dem Spiel. Sie muss einen Weg finden, ihren Meister und ihre Freunde zu retten, bevor ganz Alat zum Schlachtfeld wird. Doch während alle sich für den drohenden Ausbruch der Kämpfe wappnen, offenbart sich eine neue Gefahr: Etwas ist aus der Unterstadt entkommen. Etwas, das nicht nur Kerras Ende bedeuten kann, sondern das von ganz Alat.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

EPILOG

Nachwort

Stadtkarte

Katrin Ils

Impressum

KAPITEL 1

Die Wohnungstür fiel hinter Kerra zu und sie ließ sich dagegen sinken. Ihr ganzer Körper schmerzte und ihre Augen brannten vor Erschöpfung. Straßenstaub und Blut klebten an ihrem Gaumen, in ihr herrschte ein Chaos aus Wut und Selbsthass.

Mühsam presste sie Luft in ihre Lunge, ihr Puls hämmerte zu laut in ihren Ohren. Das raue Holz an ihrem Rücken schien das einzig Echte in der Welt zu sein, die drohte, sich in Schatten und Schemen aufzulösen. Sie konzentrierte sich darauf, bis der Sturm in ihr auf ein erträgliches Maß gesunken war.

Ich muss etwas übersehen haben. Sie konnte nicht sagen, ob die Eingebung aus ihrer Unruhe geboren war oder auf etwas beruhte, das sie vergessen hatte. Nur, dass das Drängen der klarste aller Gedankenfetzen in dem brausenden Strudel war. Mühsam stieß sie sich von der Tür ab. Ihre Muskeln protestierten, doch wann taten sie das nicht? Mit langsamen Schritten bewegte sie sich durch die Wohnung, auf der Suche nach … irgendetwas. Einem Hinweis, einem Zeichen, etwas, das ihr entgangen war.

Nichts hatte sich verändert, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Der Gang, ihre Zimmer, die Kampfspuren in der Küche – alles war so, wie Kerra es in Erinnerung hatte. Nichts verriet, dass Maran hier gewesen war. Trotzdem schienen Reste ihrer Aura in den Räumen zu schweben. Kerra hätte am liebsten alle Fenster aufgerissen, als könnte die Aschenluft Alats die letzte Spur der Frau aus der Wohnung vertreiben wie ein Räucherwerk der Var. Stattdessen hinkte sie weiter, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Details der Wohnung gerichtet. Langsam, aber bestimmt durchsuchte sie jedes Zimmer erneut. Sie hob Gegenstände hoch, die sie schon tausendmal in die Hand genommen hatte, linste in Bodenritzen, die sie schon vor Wochen mit der Klinge ihres Dolches abgefahren war. Bitte lass mich irgendetwas übersehen haben. Etwas, das sie zu Sidra bringen würde.

Kerra versuchte sich daran zu erinnern, wie die Räume ausgesehen hatten, als sie noch zusammen hier gewohnt hatten. Bevor irgendwer hier eingedrungen war und Sidra und Dolan mitgenommen hatte.

Dolan.

Dolan lag noch immer im Schmutz des Kasht. Idealistischer, sturer, rebellischer Dolan, für den Sidra und sie ihre Familien hinter sich gelassen hatten. Wie Dolan und sie es für Sidra getan hätten. Oder Sidra und Dolan für mich. Ihre Brust schnürte sich zusammen. Ich muss mich um sein Totenfeuer kümmern. Hatten die Isch seine Seele schon gestohlen? Oder hielten sich auch die Tiere der Caia von den Kasht fern?

Kerra presste die Fingerspitzen auf die Narben, die die Leichenvögel in ihrem Gesicht hinterlassen hatten. Ein stechender Schmerz fuhr durch die zersplitterten Nägel und unterbrach den Gedankengang gnädigerweise. Sie fand ihren Weg zurück in die Küche und stellte den Raum ein weiteres Mal auf den Kopf, so vergebens wie zuvor auch.

Schließlich ließ Kerra sich auf den Boden sinken. Die Kühle des Bodens war eine Wohltat, auch wenn der Schmutz der vernachlässigten Wohnung sich gegen ihre verschwitzten Handflächen drückte. Sie streckte sich aus und starrte gedankenversunken zur Decke. Es kam ihr wie hundert Jahre vor, dass sie mit Sidra und Dolan hier gesessen hatte.

Dolan. Sie konnte nicht weinen. Ihre Gefühle waren da, aber nicht greifbar, als würde ein Teil ihres Selbst davor zurückscheuen. Als würde sein Tod erst in dem Moment real werden, in dem sie die Trauer zuließ. Als hätte sie noch eine Chance, ihn anders wiederzusehen als in ihren Albträumen, solange sie nur nicht um ihn weinte.

Ein inneres Drängen nach Taten wirbelte erneut durch sie und fegte alles andere beiseite, doch Kerra stoppte sich selbst, bevor sie ganz aufgestanden war. Der Tatendrang hatte kein Ziel, er war nichts, was sie weiterbringen würde. Sie legte sich zurück in den Schmutz und Staub der zerstörten Küche und durchsiebte ihre Erinnerungen nach Hinweisen auf das, was ihr entgangen war. Das, was Dolan das Leben gekostet hatte.

Es hatte mit Padek begonnen und dem Zeichen von Sarass in seinem Kerker, das zu Dolans Verhaftung geführt hatte. Die Schweigeritzung auf Padek hatte ihn daran gehindert, viel zu verraten. Und dann war er ermordet worden. Von Bathar. Oder doch nicht? Kerra kaute auf ihrer vernarbten Unterlippe. Für einen Augenblick meinte sie, Bathars Blut wieder zu schmecken, und sie schauderte. Doch es war nur Ekel. Sie bereute nicht, den Magier getötet zu haben. Damit hatte sich auch die Schattengängerplage der Stadt erledigt und … Sie stolperte über den Gedanken und hielt inne. Der Kampf in der Unterstadt zwischen Lerato und Bathar war tatsächlich das letzte Mal gewesen, dass sie einen Schattengänger gesehen hatte. Wenn jemand im Teehaus von Menschen erzählte, die von den Dämonen geholt worden waren, so waren es keine neuen Geschichten, keine neuen Opfer. Sie rieb sich über die Stirn. Es würde sie nicht überraschen, wenn der Terror der Dämonen auf Bathar zurückzuführen war.

Aber so oder so, seine Macht über Alat war zu einem jähen Ende gekommen und …

Macht.

Das Wort blitzte wie Glas in dem Gedankenwirbel auf und Kerra hielt es fest. Noch setzte sich kein Muster zusammen, aber ging es nicht immer um Dominanz in dieser Stadt? Das war es, wonach ganz Alat zu gieren schien. Ravid und seine Priester ebenso wie die höheren Stände der Stadt. Die Kämpfe im Rat, die sie ignoriert hatte, Arkers Machenschaften, Leratos kaltes Pläneschmieden: Die Beweggründe mochten unterschiedlich sein, doch das Ziel war immer, Einfluss zu bekommen oder zu halten. Auch die Schattenkünder hatten nichts anderes gewollt, als an mehr magische Macht zu kommen.

Wenn sich jemand in dieser Stadt scheinbar in Luft auflöste – und nicht, weil Lerato und sie diejenigen aus Alat geschmuggelt hatten –, dann weil sein Verschwinden den Machtbereich anderer erweiterte oder seine Existenz ihn gefährdete.

Kerra war sich sicher, dass Sidra und Dolan verschwunden waren, weil sie Unsterne waren. Es war das Einzige, was Sinn ergab. Das Einzige, was sie von den anderen Bewohnern Alats unterschied. Das Einzige, was auch Sidra zum Opfer gemacht hatte.

Du glaubst doch nicht, dass du Sidra noch lebend findest? Vermutlich verwest ihr Körper schon irgendwo, alleine, wie Dolans.

Die Stimme war hämisch und sie klang wie der Vigur, der Steppendämon, der seine Opfer im Schlaf heimsuchte und dessen Beute sie fast geworden wäre. Der Name der Kreatur war ein zweites glänzendes Stückchen in den Erinnerungen, die sie durchsiebte. Jemand hatte den Vigur auf sie angesetzt und dieses Mal schob Kerra das Wofür? auf die Seite. Viel interessanter war die Antwort auf das Warum?. Warum ausgerechnet ein Vigur? Der dämonische Steppenalbtraum war nicht gerade eine offensichtliche Wahl, vor allem nicht in Alat, wo Schattengänger die Schrecken der Nächte waren. Und obwohl der Vigur in den Dörfern um die Steppe allen ein bekanntes Monster war, erzielte der Name nur ein paar Städte weiter allenfalls ein Schulterzucken oder verwirrte Blicke.

Doch ausgerechnet er war in Alat beschworen worden. Es muss jemand gewesen sein, der entweder die Steppen kennt oder wusste, woher wir sind, und nachgeforscht hat. Oder jemand, der selbst aus Raya war.

›Deine Freunde haben mich zu dir geschickt‹, kehrten die Worte des Steppendämons in ihr Ohr zurück. ›Sie vermissen dich.‹ Lüge oder Wahrheit oder … Sidra.

Sidra, die immer mehr unter dem Einfluss der wilden Magie gelitten hatte, Leratos Tees und Mitteln zum Trotz. Kerra starrte auf die Risse in der Decke. Sie hatte den Gedanken, dass ihre Freundin hinter ihrem eigenen und Dolans Verschwinden steckte, nie akzeptiert. Doch die Schattenkünder, die noch vor wenigen Stunden wie die Antwort auf alles ausgesehen hatten, waren tot und keine Spur von ihren Freunden war bei ihnen zu finden gewesen. Ich drehe mich wieder im Kreis. Weil sie nicht glauben wollte, dass wirklich Sidra dahintersteckte?

Dolans Verletzungen blitzten durch ihre Erinnerung und Übelkeit kroch ihre Kehle hinauf. Dazu ist sie nicht fähig. Nie. Doch es war keine unerschütterliche Gewissheit mehr. Wenn die Fadash sie wirklich zu sich gerufen hat – wer weiß, wozu sie mittlerweile geworden ist.

Mit einem Mal hielt Kerra es keinen Augenblick länger in der Wohnung aus. Sie kämpfte sich in die Höhe und suchte auf zittrigen Beinen ihren Weg zur Tür.

KAPITEL 2

Der Sonnenaufgang war lange vorbei. Die Dämmerungsschatten hatten sich zusammen mit dem Morgendunst aufgelöst. Vor ihr breitete sich der Alltag aus, doch das beklemmende Gefühl blieb und begleitete sie die Gasse hinunter, die im friedlichen Morgenlicht vor ihr lag.

Sterntaucher ließen sich flatternd vor dem Teehaus nieder, das ihren Namen trug. Die goldenen Vögel pickten die Krumen aus dem Staub, die ihnen der Koch hinstreute.

Bekannte Gesichter stießen Fensterbalken auf und der Geruch von Tee und frischem Brot vermischte sich mit dem von Holzfeuern und dem ewigen Geruch von Glasasche, der alles in Alat durchdrang. Ziegen trampelten das Pflaster hinunter, die beiden jungen Hirtinnen folgten in einigem Abstand. Kerra wich den Tieren aus, die gleichgültig an ihr vorbeigingen, Ohren und Aufmerksamkeit dem Stadttor zugewandt.

Auf der anderen Straßenseite war der Wirt des Sterntauchers ins Freie getreten. Der Koch klopfte sich die letzten Krümel von den Händen und gab seinem Mann einen Kuss, bevor er im Teehaus verschwand. Der Wirt krempelte sich die Ärmel auf, bereit für den morgendlichen Ansturm. Einen Moment lang streiften sich ihre Blicke. Weder der Wirt noch sie grüßten. Kerra beschleunigte ihre Schritte und richtete ihre Augen auf das Straßenpflaster. Erst als der morgendliche Wirbel des nächsten Straßenmarktes sie verschluckte, ließ die Beklemmung ein wenig nach. Die Auseinandersetzung mit den Schattenkündern hatte zu weit von dem Viertel stattgefunden, als dass die Kämpfe der vergangenen Nacht die Stimmung in den Straßen hier trübten.

Ihre schmutzige Kleidung und blutige Lippe fingen ihr den Seitenblick eines Soldaten ein, doch ansonsten ließ die patrouillierende Straßenwache sie in Ruhe. Einander ignorierend trennten sich ihre Wege auf dem nächsten kleinen Platz. Die Männer verschwanden in einem Teehaus, und Kerra ging zurück zu Dolan. Sie konnte ihn nicht länger allein lassen. Ich muss mich um das Totenfeuer kümmern. Der Erinnerung daran versetzte ihr erneut einen Stich. Hastig lenkte sie sich mit den Gedanken zur Organisation von den hochkochenden Gefühlen ab. Sie musste die Verbrennung ihres Freundes organisieren. Direkt über Larals Tempel würde es zu teuer werden, doch jede Stadt hatte kleine Mondquartiere, die Hinterbliebenen im Namen des Totengottes beistanden und die Ausrichtung der Leichenzeremonie übernahmen. Vielleicht weiß Lerato jemanden.

Alltagslärm füllte die Luft, als das Glockenläuten einer Stadtschreierin das Treiben auf der Straße kurz unterbrach, bevor die Menschen wieder ihrem Leben nachgingen. Die Frau ließ sich davon nicht beirren, gewohnt, dass die Alater nur mit einem halben Ohr zuhörten. Es waren seltene Tage, an denen sich die Stadtbewohner um die Stadtschreier scharten, begierig, ja keine Meldung zu verpassen.

Auch Kerra war mehr darauf konzentriert, sich zwischen den Alatern durchzuschieben, als ein Name sie aufhorchen ließ.

»… und die ehrwürdige Rätin Laina seit der vergangenen Nacht nun die Aufgabe übernommen hat, mit der Stadtwache die Sicherheit unserer Straßen zu verbessern.«

Laina war also in den Rat aufgenommen worden, ganz ohne Seelentest. Kerra nahm die Neuigkeit emotionslos zur Kenntnis. Lerato würde Gift und Galle spucken und das zurecht. Sie ließ den Lärm des Lebens hinter sich zurück und betrat den verfluchten Boden des Kasht, in der Dolan auf sie wartete.

Das Kasht lag so verlassen und still wie immer vor ihr. Die Häuserfronten glänzten einladend in der Sonne, fast so, als wollten sie die Alater zurücklocken, die sie aus Angst vor der wilden Magie der Fadash aufgegeben hatten. Schutt knirschte unter ihren Stiefeln. Der Himmel über ihr war so blau, wie er unter der Dunstglocke der Glasfeuer wurde. Isch kreisten lautlos über ihr, bevor sie mit raschen Flügelschlägen Richtung Soverat verschwanden. Noch vor ein paar Tagen hätte die geisterhafte Einsamkeit des Kasht Kerras Nackenhaare gesträubt. Nun entspannten sich ihre Schultern eine Winzigkeit. Das Schlimmste, was ihr hier passieren konnte, war, auf die Mörder Dolans zu treffen. Und dann hätte ich wenigstens Gewissheit. Doch sie wusste auch, dass Ravid ihr hier schon längst zuvorgekommen war. Immerhin waren es seine Leute gewesen, die Dolan gefunden hatten. Hatte Ravid ihren Freund fortbringen lassen? Kerra beschleunigte ihre Schritte.

Zwischen den aufgegebenen Gebäuden blitzten Scherben zerbrochenen Geschirrs und Glas unter Schmutz und Gestrüpp hervor. Die Mondreben, die auf den Trümmerbrocken wucherten, hatten ihre blauen Blüten geschlossen. Trotzdem waberte ihr Duft durch die Luft und zupfte an den Erinnerungen, die Kerra mit dem Gestank verband. Sie begann zu laufen.

Endlich hatte sie die Straße erreicht, in der sich zerfallende Stoffgeschäfte an verlassene Schneidereien reihten. Sie stieg über ein zerbrochenes Schild, das Fächer und Haarschmuck anpries. Die Umgebung sah anders aus, im Tageslicht, doch Kerra hätte das verlassene Geschäft, in dem sie ihren Freund zurückgelassen hatte, zu jeder Tageszeit wiedergefunden.

Sie duckte sich durch die Türöffnung.

Dolan lag noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Doch dieses Mal war er nicht allein. Neni lehnte an der Wand neben ihm. Unerwartete Dankbarkeit ließ Kerras Kehle eng werden. Auch wenn die Priesterin keine Totenwache hielt, sondern einem Befehl Ravids folgte: Dass ihr Freund nicht allein im Schmutz gelegen hatte, bedeutete ihr mehr, als sie sagen konnte. Doch mehr als ein Nicken in die Richtung Nenis schaffte sie nicht. Die Priesterin erwiderte ihren stummen Gruß und steckte die Hände in die Hosentaschen.

Kerra kniete sich zu Dolans erstarrtem Körper. Ihr Blick suchte das Sternenmal. Es war immer noch da. Der letzte Rest verzweifelte Hoffnung zerstob, und Kerra unterdrückte das Verlangen, das Mal Sarass’ wieder mit den Fetzen von Dolans Hemd zu bedecken. Doch sie zwang sich dazu, die Verletzungen zu studieren, die ein grausames Bild von seinen letzten Wochen zeichneten.

Neni hockte sich neben sie. Sie drückte ihren Daumen gegen die dunkelvioletten Flecken auf Dolans Haut. Als sie losließ, starrte Kerra ein heller Abdruck inmitten der Totenfarbe entgegen.

»Er ist höchstens eineinhalb Tage tot«, sagte die Priesterin. Sie ließ den Satz fragend ausklingen, als ob Kerra der Zeitraum etwas verraten würde, was die anderen noch nicht wussten. Doch das Einzige, was er Kerra wissen ließ, war, dass sie ihn im Stich gelassen hatte. Sie kämpfte gegen das Bedürfnis an zu schreien. Ich hätte ihn retten können. Wilder Schmerz wühlte in ihr, doch sie unterdrückte ihn zusammen mit den Tränen, die nun kamen. Wenn sie sich jetzt ihren Gefühlen hingab, würde sie niemandem mehr helfen können. Und Sidra war noch irgendwo in der Stadt und brauchte sie.

Sie beugte sich tiefer über ihren Freund, versuchte ihn zu sehen wie einen Fremden, ein toter Körper und nicht mehr. Etwas, das ich übersehen habe … Trug seine Leiche einen Hinweis, der sie zu Sidra führen konnte?

Die Wunde an seinem Halsstumpf war die frischeste von denen, die eindeutig von Menschenhand zugefügt worden waren. Doch es war nicht die letzte. Da waren die Krallenspuren von Sandfressern und Abdrücke, als wäre er gefesselt gewesen. Sie tastete über die Wölbungen. Warum einen Toten binden? Die Bande waren teilweise so eng gewesen, dass sie sich in seine Haut gegraben und klaffende Schnitte zurückgelassen hatten. Etwas Grünes in den Fesselspuren erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein Stück Stoff? Behutsam zog sie daran. Mit einem schmatzenden Geräusch gab der Fremdkörper nach und glitt aus der Wunde. Nachdenklich sah sie auf das kleine Stück Blatt auf ihrer Fingerspitze. Als sie es in das schwache Licht hielt, das durch die Ritzen fiel, rollte es sich in sich zusammen, als wollte es sich von der Helligkeit abwenden. Neni echote ihren nachdenklichen Laut, als sie dabei zusahen, wie das Blattstück grau wurde und zu Boden fiel.

Die Ranken in der Fadash. Hatten sie Dolan an den Ort gebracht, an dem die Sandfresser ihn gefunden hatten? Oder hatten sie den hungrigen Wesen ihre Beute streitig gemacht?

»Er war in der Fadash«, sagte Kerra, mehr zu sich selbst als zu Neni, die den Gedanken mit einem Nicken bestätigte.

»Die Sandfresser haben ihn hierhergebracht, ihre Spuren sind die letzten hier.«

Wieder wartete die Priesterin, als ob Kerra ihnen nun mehr sagen könnte. Doch statt Antworten hatten sie nur mehr Fragen.

»Sandfresser gehen von der Grube nicht tief in die Fadash. Außer, jemand zwingt sie.« Airi hatte die Wesen magisch unter Kontrolle gehabt. Und vor ihr: Valin. Sie sah auf die Überreste des Blattes. »Irgendwann war Dolan dort unten. Und irgendwann haben ihn die Sandfresser hierhergeschleppt. Was kein natürliches Verhalten ist, zumindest soweit ich weiß.« Es war leichter, über das Verhalten der Kreaturen zu reden, wenn sie nicht direkt auf die Wunden sah, die sie auf Dolan hinterlassen hatten.

»Ist es nicht«, bestätigte Neni. »Und es ist vor allem nicht üblich, dass sie ihre Beute nicht fressen. Alles, was fehlt, ist sein Kopf, und das war kein Sandfresser.«

»Nein.« Die Hilflosigkeit schmeckte wie Galle. »Das war es nicht.« Irgendwer hatte Dolan gefoltert und getötet. Irgendwann war er in der Unterstadt gewesen, vielleicht schon tot, vielleicht lebendig. Und irgendwann hatten die Sandfresser ihn in den Kasht gebracht und dort zurückgelassen. Als wären sie einem Befehl gefolgt. Dem Befehl von Dolans Mördern? Wollten sie, dass er gefunden wurde? Oder gab es noch Mitspielende, an die Kerra noch nicht einmal gedacht hatte? Nichts ergab Sinn.

»Ich muss ein Feuer für ihn organisieren«, sagte sie halblaut in den Raum hinein.

Neni gab ein zustimmendes Geräusch von sich und stand auf. Mit einem Mal lag eine neue Spannung in der Luft. Die Priesterin öffnete den Mund und Kerra wusste, dass die Zeit, die sie ihr mit ihrem Freund geschenkt hatte, vorbei war.

»Ravid will dich sehen.«

Übelkeit kroch ihre Kehle hinauf, als der Satz Erinnerungen aufriss wie alte Wunden.

»Neni …«

Schritte wurden vor dem Geschäft laut und dann knirschte der Schutt unter den Füßen der Näherkommenden. Einen Herzschlag später war Kerra auf den Beinen. Nicht, dass sie tatsächlich dachte, dass es Dolans Mörder waren, die zurückkamen, doch wenn es so war, wollte Kerra ihnen als Erste entgegentreten!

Zwei Männer betraten den Raum. Federtätowierungen der Priester lugten aus ihren Hemden hervor. Sie begrüßten Neni mit einem Nicken. Einer von ihnen hatte eine Rolle Stoff über die Schulter geworfen. Ein Leichentuch.

»Lass uns deinen Freund zu einem Mondquartier bringen«, sagte Neni. »Airi wird dort einen kurzen Blick auf ihn werfen, während du mit Ravid redest.«

Kerra erstickte ihren Einwand und rang sich ein Nicken ab. Die beiden Priester schlugen Dolans Körper bereits in ein Leichentuch. Alleine konnte sie ihren Freund nicht tragen, und der Gedanke, ihn erneut zurückzulassen und Lerato zu Hilfe zu holen, der selbst verletzt war … Die Männer hoben Dolans Leiche auf die mitgebrachte Trage. Ravid wusste, dass sie kaum eine andere Möglichkeit hatte, als sein Angebot anzunehmen. Wieder einmal. Und ein Blick in die ausdruckslosen Augen Nenis ließ sie wissen, dass sie ohnehin nie eine Wahl gehabt hatte.

KAPITEL 3

Alat nahm ihre Rückkehr aus der Fadash mit dem Toten gleichmütig zur Kenntnis. Zu viele hatten in der letzten Nacht ihr Leben verloren und so hatten die wenigen Menschen auf der Straße nur müde Blicke und gemurmelte Beileidbekundungen übrig, die sich unter den Geräuschen der Schritte verloren.

Während Kerra in ihrem alten Viertel keine Spuren der Kämpfe mit den Schattenkündern gesehen hatte, war das Viertel um das Nest herum nicht unberührt geblieben. Der silberne Mond des Totengottes Laral war auf den Türen derjenigen zu sehen, die einen Verlust betrauerten. Ein Var Laral stand wartend an einer Hinterhoftür und erwiderte Nenis Gruß mit einem finsteren Blick, bevor er Dolans Körper mit einer Segensgeste bedachte. Die Priesterin schien die Feindseligkeit des Gottgeweihten nicht persönlich zu nehmen, die beiden Männer, die Dolan trugen, senkten respektvoll die Köpfe.

Der Rauch von Totenfeuern hing bedrückend in vereinzelten Gassen, während die Isch an den Dachvorsprüngen kauerten. Die Krallennarben auf Kerras Haut sangen eine Begrüßung, als sie unter den gehässigen Krächzern der Vögel durch die Gassen ging. Ihr Knöchel meldete sich in unregelmäßigen Abständen, und sie biss die Zähne zusammen. Neni schritt leichtfüßig neben ihr her. Wüsste Kerra es nicht besser, sie hätte gedacht, die Priesterin hätte die letzten Tage nichts gemacht, außer in der Kleinen Karaffe herumzuhängen und Tee zu trinken. Doch wenn sie genauer hinsah, sah sie das leichte Zittern von Nenis verletztem Arm und die Anspannung in dem narbenlosen Teil ihres Gesichts.

Sie ließen die offizielle Viertelgrenze von Isharat hinter sich. Doch den Gassen im östlichen Teil von Dierat sah man nicht an, dass sie zum gleichen Stadtviertel gehörten, in dem Lerato sein Geschäft hatte. Die Stadtmauer kauerte über ihnen wie ein schlecht gelauntes Tier und tauchte alles in ihren Schatten. Waschwasser tropfte von der frischen Wäsche auf sie herab und füllte die Straße mit dem Duft von Seife. Kerras Blick blieb auf den Priestern vor ihr, die Dolan in ihrer Mitte trugen. Ein Stadtschreier hatte sich beim Brunnen aufgebaut und verkündigte die Neuigkeiten, die für Kerra keine mehr waren: dass Laina Rätin von Alat geworden war. Auch Neni schien nicht überrascht, die Priester hatten es vermutlich lange vor dem Rest der Stadt erfahren.

Die Gasse wurde schmaler und Kerra sah nur noch den Rücken des Priesters, der den Blick auf Dolans Körper versperrte. Vereinzelte Geschäfte tauchten zwischen den Häusern auf, die Leichentücher und Kräutermischungen für die letzten Feuer anboten, und verrieten ihr, dass es nicht mehr weit war. Wenn jemand in Alat starb, war es nicht nötig, den Tempel des Totengottes selbst aufzusuchen. Stattdessen übernahmen die Behüter der Toten in den sogenannten Mondquartieren alle Angelegenheiten, die das Sterben mit sich brachte. In den schlichten Steinhäusern wurden die Totenzeremonien besprochen, Angehörige getröstet und die Leichen vor den seelenfressenden Isch beschützt, bis sie dem Feuer übergeben wurden.

Das Totenquartier, zu dem Neni sie brachte, war schon weithin an dem großen silbernen Halbmond zu erkennen, der an seiner hölzernen Befestigung über der Gasse schwebte. Isch saßen auf dem Dach des Mondquartiers und starrten auf sie herunter. Ihr rostrotes Gefieder schimmerte wie frisches Blut, wo die Sonnenstrahlen sie trafen. Die beiden Männer gingen mit Dolans Trage an dem Eingang vorbei, und reflexartig wollte Kerra ihnen folgen, obwohl sie wusste, dass der Eingang zu den Leichenräumen auf der anderen Seite des Hauses sein würde. Nenis Hand auf ihrer Schulter stoppte sie. Die Ziegelwand war mit Mondblüten bedeckt, passend zur Gottheit, doch Kerras Atem wurde schneller und flacher, als eine der Ranken ihr Gesicht streifte, während sie hinter Neni durch die Eingangstür trat.

Sie fand sich in einem einfach gehaltenen Empfangsraum wieder. Drei niedrige Tische mit dazu passenden Hockern warteten auf Kundschaft. Ein dunkelblauer Teppich lag über dem Holzboden. Ein niedriger Schrank, der die rechte Seite des Zimmers einnahm, war das auffälligste Einrichtungsstück. Die Wand war von Symbolen des Totengottes bedeckt. Der selbsternannte König von Caias Priestern stand beim Fenster und studierte mit genervter Miene einen winzigen Papierstreifen. Ravid nahm ihre Ankunft nicht weiter zur Kenntnis, seine ganze Aufmerksamkeit gehörte der Nachricht in seinen Händen. Nur die halbwegs sauberen Verbände, die um Brust und Oberarm des Verbrecherkönigs gewickelt waren, verrieten, dass er zwischen seinem Auftauchen bei dem Haus der Schattenkünder und nun eine Atempause gehabt hatte. Der Geruch von Schweiß und altem Blut durchwaberte das Zimmer wie eine Wolke. Kerra wusste, dass sie nicht besser roch. Auch sie hatte keine Zeit mit einer Wäsche verschwendet, bevor sie in der vergangenen Nacht erneut auf die Suche nach Dolan und Sidra gegangen war. Ist es wirklich erst so kurz her?

Auch Neni grüßte Ravid nicht, als sie zu dem Schrein ging, der in der linken Ecke des Raumes zu Larals Ehren errichtet worden war. Die Priesterin nahm etwas von dem Harz, das in einer großen Schale bereitstand, und warf es auf die glühenden Kohlen der Opferschale, bevor sie sich an einen der Tische setzte. Nach kurzem Zögern setzte sich Kerra zu ihr. Der durchgesessene Sitzpolster sank unter ihr ein. Ein Tablett in Form eines Halbmondes nahm einen Großteil des Tisches in Beschlag. Ein Teller mit kleinen Totenkuchen stand neben dem Tablett, auf dem Gläser mit bereits eingeschenktem Tee bereitstanden. In mehr als einem trieb eine tote Fliege. Ihre lebenden Artgenossen hatten sich an den Rändern niedergelassen.

Ein hagerer Mann mittleren Alters mit buschigem Bart, der sein Gesicht fast völlig bedeckte, trat ihnen entgegen. Kerra war froh, dass er sich nicht lange mit Beileidsbekundungen aufhielt, sondern rasch zum geschäftlichen Teil überging. Mit monotoner Stimme, die wohl salbungsvoll sein sollte, listete er die Optionen auf: Sie konnte das Feuerholz noch weihen lassen, welche und wie viele Opfergaben sollten es sein, wollte sie das Leichentuch gegen ein besticktes austauschen lassen, die Länge der Zeremonie, und wollte sie …?

»Keine Zeremonie«, unterbrach ihn Kerra nur. Die Mundwinkel des Mannes zogen sich weiter nach unten, als er einen raschen Blick zu Ravid warf. Der selbsternannte Verbrecherkönig stand noch immer am Fenster in seine Nachricht vertieft.

»Eine Zeremonie wäre, gerade in diesen Zeiten …«, sagte der Mann nun, doch Kerra deutete zu ihren gelben Augen, als ob es etwas wäre, was man so leicht übersah. Dann fiel ihr ein, dass Dolans Kopf verschwunden war und der Mann seine Augen gar nicht hatte sehen können.

»Bahnu«, sagte sie, bevor sie in das hysterische Lachen ausbrechen konnte, das in ihr hochkochte. »Wir brauchen keinen Var.« Die Totenfeuer von Unsternen glichen mehr Bannritualen als einer Ehrung der Verstorbenen, und es war nichts, was Dolan gewollt hätte. Aber eine Zeremonie Larals fühlte sich ebenso falsch an, gleich wie ähnlich er und der Bruder des ewigen Mondes sich sein mochten.

Die Miene des Gottgeweihten wurde säuerlicher. Vermutlich hatte er sich mehr erwartet, nachdem er gesehen hatte, dass Ravids rechte Hand gekommen war. Der Verbrecherkönig ließ sich bei den Zeremoniefeuern seiner Leute nicht lumpen. Und es waren in der letzten Zeit viele gewesen.

»Wäre nicht zumindest«, begann er, als eine Stimme ihn unterbrach. Ravid stand neben ihm.

»Der Var Rabet wird alles Notwendige übernehmen«, sagte er in einem Ton, der dem Mann klarmachte, dass das Thema beendet und seine Anwesenheit nicht länger erwünscht war. Der Behüter murmelte etwas, was vermutlich eine Entschuldigung sein sollte, doch Ravid schien ihn nicht zu hören. Sein Blick lag längst auf Kerra. Stur hielt sie ihm stand.

»Du siehst aus, als hättest du einen Kampf verloren. Schon wieder«, sagte Ravid, als der Mann hinter einer Tür verschwunden war. »Zu welchem Glücklichen gehören die Fäuste?«

»Maran.«

»Wem auch sonst.« Ravids Ton verriet nichts.

»Bisher gab es immer mehrere Kandidaten.«

»Stimmt.«

Kerra war nicht in der Stimmung für Geplänkel. »Was willst du, Ravid?«

»Ich will wissen, was du vorhast.« Ich auch.

»Wieso?«

»Wir müssen uns von den Verlusten, die uns die Schattenkünder beigebracht haben, erst erholen«, war die unverblümte Antwort. »Du bist zu den besten Zeiten unberechenbar. Jetzt ist dein Freund tot. Ich kann mir nicht leisten, dass uns einer deiner idiotischen Pläne zusätzlich Schwierigkeiten macht. Also –«

»Hast du Dolan umgebracht?«, unterbrach sie ihn. »Oder einer deiner Leute?«

Ravid starrte sie an. »Nein«, sagte er dann.

»Weißt du, wer es war?«

»Nein.«

»Dann werde ich dir kaum in die Quere kommen.«

Ravid schnaubte ein Lachen. Es klang nicht sonderlich humorvoll. »Das fällt mir schwer zu glauben.«

»Das ist nicht mein Problem.« Kerra stützte die Ellbogen auf ihre Beine und lehnte sich nach vorne. »Du kannst hier gerne König spielen, so viel du willst. Alles, was ich will, ist, Sidra finden und sie aus dieser siebenmal verfluchten Stadt bringen.«

Der Verbrecherkönig lächelte dunkel. »Und du hast vor, das alleine zu schaffen?«

»Bietest du mir denn Hilfe an?«

»Nein.«

»Dann musst du dir um meine Pläne noch weniger Gedanken machen.«

»Ich wünschte, es wäre so«, knurrte Ravid. »Aber ich habe das Gefühl, dein kleiner Rachefeldzug wird uns allen noch mehr als genug Probleme bereiten.«

Rache.

Das Wort lag wie Glasasche in ihrem Mund. Der Gedanke an Vergeltung war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen. Auch jetzt spürte sie keinen Wunsch danach.

»Ich will nur Sidra«, sagte sie leise. »Ich brauche keine Rache.«

»Ich glaube dir nicht«, sagte Ravid gelassen.

»Du hast den Mörder deiner Liebhaber auch zu Tode gefoltert«, sagte Kerra. »Scheint, als ob wir manche Dinge einfach anders sehen würden.«

»Oder auch nicht.« Seine Augen waren dunkel wie die eines Falbbiests kurz vor dem Angriff. Und das Bewusstsein, dass es in seinem Ermessen lag, ob sie den Raum lebend verließ oder nicht, regte sich in ihr. Es sollte mich mehr beunruhigen. Doch Furcht wollte ebenso wenig aufkommen wie ein Verlangen nach Vergeltung.

Sie waren beide wie verwundete Tiere. Die Priester der Caia hatten viele der ihren durch die Schattenkünder verloren, aber mehr noch – sie waren durch die Attacken zu der Realität erwacht, dass sie nicht so unantastbar waren, wie Ravid es immer hatte scheinen lassen. Und sie selbst … Alles, was Kerra noch zusammenhielt, war der Gedanke an Sidra, die ihre Hilfe brauchte. Wo auch immer sie war, zu welchem Monster die Fadash ihren Geist auch verdreht hatte – Sidra brauchte ihre Hilfe.

Sie hatte sich schon halb erhoben, als Ravid sich gegen den Tisch lehnte. »Du weißt über Laina Bescheid«, sagte er.

»Dass sie die neue Rätin ist? Ja.« Offenbar war das Gespräch doch noch nicht beendet. Sie ließ sich im Stuhl zurücksinken und konnte das leise Zischen nicht unterdrücken, als ihre zersplitterten Fingernägel gegen die Lehne stießen.

»Hat dein Meister bereits einen Plan?«

Kerra wusste nicht, wieso ausgerechnet diese Frage sie überraschte. »Vermutlich«, antwortete sie. »Er will sie genauso wenig im Rat haben wie du.«

»Er wird gegen Lainas Pläne, das Nest zu stürmen, stimmen«, sagte Ravid und sie konnte nicht sagen, ob es eine Feststellung war oder er versuchte, ihr einen Befehl zu erteilen.

»Vermutlich«, sagte sie wieder. »Ich habe ihn seit letzter Nacht nicht mehr gesehen.«

Ravid musterte sie mit einem eigenartigen Blick. »Halte mich auf dem Laufenden«, sagte er und wieder war sie nicht sicher, ob es ein Auftrag oder etwas wie eine Bitte war.

»Ich werde mein Bestes geben«, sagte sie und stand nun wirklich auf. Tatsächlich würde es eines der einfacheren Dinge sein, Ravid über die Pläne des Mondschiebers zu informieren, soweit diese Laina betrafen. Die Pläne der Frau zu vereiteln war vermutlich die einzige Mission, die die beiden Männer seit der Vernichtung Bathars miteinander verband. »Wenn das alles war …«

»Fast.« Und dann, mit einem Blick, als würde er sich die Haut abziehen, sagte er: »Sag deinem Meister, er hat freies Geleit durchs Nest. Und falls er Lainas Zukunft besprechen möchte, weiß er, wo er mich finden kann.«

»In Ordnung. «

»Du hast mir noch immer nicht gesagt, was du jetzt vorhast«, sagte er wie nebenbei, als sie sich erneut erhob.

»Sidra finden.«

»Ein Plan, mit dem du bis jetzt ja unglaublich erfolgreich warst.«

Sie starrten sich gegenseitig an. Keiner von ihnen senkte den Blick.

»Ich gehe in die Fadash.« In dem Moment, in dem sie den Satz aussprach, wusste Kerra, dass es der einzige Weg war, der ihr noch offenstand. Kein Zauber hatte ihr dabei helfen können, Dolan und Sidra zu finden, jede Spur in Alat selbst war im Sand verlaufen, zum Teil im wahrsten Sinn des Wortes. Sie war Feinden nachgejagt, die nie existiert hatten, und jene, die es auf sie abgesehen gehabt hatten, hatten weder Dolan noch Sidra in ihrer Gewalt gehabt. Aber Sidra, oder was auch immer die wilde Magie aus ihr gemacht hatte, musste in der Unterstadt sein. Und sie würde sie finden.

»Und du hast vor, das zu überleben?«, erkundigte Ravid sich, als sie ihren Entschluss nicht weiter ausführte.

Kerra zuckte nur mit den Schultern. »Wie gesagt, du musst dir um mich keine Sorgen machen.«

Ravid presste den Kiefer zusammen. »Ich frage mich, warum Airi so wild darauf war, dich für uns am Leben zu halten, wenn du es doch dort unten wegwirfst.«

»Siehst du«, sagte sie, »das habe ich mich auch immer gefragt.« Denn sie wussten beide, dass Ravid sie schon längst getötet hätte, wenn die Magierin es ihm nicht untersagt hätte. Auch in der Fadash, als Airi gegen Valin gekämpft hatte und Kerra zurückgekehrt war, um ihr und Neni zu helfen, hatte die Magierin Neni augenblicklich befohlen, Kerra in Sicherheit zu bringen. »Weißt du, warum?«

Ravid lächelte säuerlich. »Airi erklärt sich äußerst selten. Meistens vertraue ich ihr einfach. Bis jetzt hat mir das noch nie geschadet.«

Es war mehr Ehrlichkeit, als sie von dem Verbrecherkönig erwartet hätte. »Vielleicht finde ich es irgendwann heraus«, sagte sie.

»Wenn du so lange am Leben bleibst.«

»Wenn ich so lange am Leben bleibe«, bestätigte Kerra, als Neni sich neben ihr erhob.

Airi hatte den Raum betreten, der Var Rabet folgte ihr. Die Glasmurmelaugen der Magierin schimmerten in einem eigenartigen Licht. Sie ging an ihnen vorbei, das lange Haar ein silberner Schleier auf ihren schmalen Schultern, als sie sich durch ihre eigene Welt bewegte. Ravid sah Neni nur an, doch die Priesterin folgte Airi bereits.

»Habt ihr etwas gefunden?« Ravid hatte sich an den Var Rabet gewandt, der die Frage bereits erwartet zu haben schien.

»Nein.« Seine Augen waren auf Kerra gerichtet. »Aber wir sind uns nun sicher, dass die Sandfresser von jemandem kontrolliert wurden.«

»Und wer, außer Airi, ist dazu in der Lage?«, knurrte Ravid.

»Das«, sagte der Gottgeweihte gedehnt, »würden wir hier alle gerne wissen.«

KAPITEL 4

Der Var drehte sich zu Kerra, nachdem Ravid das Mondquartier missmutig verlassen hatte.

»Das kann heiter werden.« Er seufzte. »Ein besorgter Ravid ist selten guter Laune. Und ein Ravid mit schlechter Laune, nun …« Er beendete den Satz nicht, sondern seufzte nur ein weiteres Mal.

»Im Gegensatz zu ihm wirkst du nicht besorgt«, sagte Kerra. Im Hof wurde das Totenfeuer Dolans hergerichtet, die Geräusche webten sich in die Stille des Raumes.

»Im Gegensatz zu anderen in der Stadt gehört der Umgang mit Chaos und Magie zu meinem Alltag. Was mich dazu bringt, dass du schlafen solltest«, sagte der Mann mit plötzlicher Strenge. »Ein erschöpfter Geist ist ein schwacher. Und Schwäche kann sich niemand von uns erlauben.«

Schlaf. Wann hatte sie das letzte Mal Schlaf bekommen? Ein paar Stunden, bevor sie zu Arker gegangen war und den Seelenseher Kian aus dem Heiligtum geholt hatte. Dann hatten die Schattenkünder sie geholt und ihr Albträume für den Rest ihres Lebens garantiert. Und davor?

»Der Vigur. Du hast damals gesagt, dass ihn jemand für mich gerufen hat.«

Falls der plötzliche Themenwechsel den Mann überrascht hatte, zeigte er es nicht. Stattdessen nickte er beim Namen des Steppendämons langsam. Eine Pfeife fand den Weg in seine Hand. »Kein Name, den ich noch einmal hören wollte«, sagte er, als er begann, sie zu stopfen. »Aber sprich weiter. Was willst du?«

»Kannst du herausfinden, wer ihn geschickt hat?«

»Dazu müsste ich den Bann aufheben, und die Kreatur war das letzte Mal nicht sehr auskunftsfreundlich.« Er holte Feuerhölzchen aus seiner Tasche. »Und sie lügt.«

»Versucht er immer noch, hineinzukommen?«

»Er versucht immer noch, zu dir zu kommen.«

Die Warnung in den Worten war unüberhörbar. Kerra ignorierte sie. Ihr Herz schlug rascher.

»Bedeutet das, wer auch immer ihn hierherbefohlen hat, ist noch da?«

»Vielleicht. Um das herauszufinden, müsste ich, wie gesagt, den Bann aufheben«, sagte der Var. »Was nicht passieren wird.« Er entzündete die Pfeife. Kerra hatte genug Verhandlungen hinter sich, um herauszuhören, dass der Gottgeweihte nicht bereit war, ihr hier auch nur einen Fingerbreit entgegenzukommen.

»Kann ich es?«, fragte sie trotzdem. Wenn er sah, dass sie nicht von ihm erwartete, dass er sich mit der Kreatur herumschlug …

»Was?« Er sog an seiner Pfeife. »Herausfinden, wer ihn geschickt hat, oder meinen Bann lösen?«

»Beides.«

Der Blick des Var bohrte sich in ihren. »Unter gewissen Umständen«, sagte er dann. »Wenn du deine Träume kontrollieren kannst, kannst du deinen Dämon vielleicht hineinrufen.« Es gab Tees, die Schlafenden die Kontrolle über ihre Träume gaben, vielleicht genug Kontrolle, um dem Vigur gegenübertreten zu können. Hatte Lerato nicht sogar welche davon in seinem Lager? Der Tabak knisterte in der Pfeife, als der Var Rabet mit den Fingern dagegenklopfte. »Denkst du, dass du das überlebst?«, fragte er. »Tot nutzt du niemandem etwas, vor allem nicht deiner Freundin, die du retten willst.«

»Ich …«

»Würde es nur um dich gehen, würde ich dir den Gefallen vermutlich sogar tun.« Seine Augen ließen sie nicht los. »Doch dieser Vigur ist gierig und du wirst ihn nicht sättigen. Ich werde meine Gemeinde nicht der Gefahr aussetzen, die von ihm ausgeht, wenn er mit dir fertig ist.«

Kerras Hand ballte sich wie von selbst zur Faust, als sich eine vage Spur, die sie zu Sidra hätte führen können, in Luft auflöste. Die ruhige Gewissheit, mit der der Var Rabet ihren Tod vorhersagte, führte ihr das selbstsüchtige Risiko dieses Planes besser vor Augen als alles andere. Denn der Mann hatte recht. Tot bin ich noch nutzloser als jetzt schon. Und es ging weder um sie noch um die Schützlinge des Var oder Alat. Es ging um Sidra.

»Es ist alles hergerichtet.«

Kerra zuckte zusammen, doch es war nur der Besitzer des Mondquartiers. Das Totenfeuer war bereit. Ihr Herz tat einen schmerzhaften Schlag.

»Ich komme«, sagte sie. Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren.

»Möchtest du, dass ich mitkomme?« Der Var sah sie fragend an.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte mit ihm alleine sein.«

»Dann warte ich hier«, sagte der Mann und Kerra nahm schweigend zur Kenntnis, dass der Gottgeweihte im Gegensatz zu Ravid noch nicht fertig mit ihr war. Später. Den Mann und den Gedanken hinter sich lassend trat sie in den Innenhof.

Isch hatten sich auf den umliegenden Dächern versammelt, die einzigen Gäste neben ihr, die zur Totenzeremonie gekommen waren. Eine Frau in der grauen Kleidung einer Behüterin stand daneben und behielt ein Auge auf den seelenfressenden Leichenvögeln. Das Holz war bereits aufgeschichtet worden. Kerras Herz zog sich zusammen, als sie die sorgsam eingewickelte Figur sah, die darauf gebettet war.

Sie trat zu Dolan. Das Tuch war schlicht und dünn und endete, wo sein Kopf sein sollte. Kerra legte die Hand auf Dolans Herz. Sidras Glasperlen um ihr Handgelenk wirkten bunt und fröhlich auf dem graubraunen Stoff. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich dich nicht retten konnte. Ihre Augen brannten, doch sie konnte immer noch nicht weinen. Ich werde Sidra finden, ich schwöre es dir.

Die Bedienstete des Mondquartiers reichte ihr die Fackel. Ihr Gesicht ließ sie wissen, was sie davon hielt, dass der Geweihte der Monstermutter statt eines Var Laral zum Totenfeuer gekommen war. Kerra ignorierte den Blick. Die Frau zog sich ein Stück zurück. Sie würde beim Feuer bleiben, bis es abgebrannt war, um sicherzugehen, dass es nicht außer Kontrolle geriet und auf das Gebäude übergriff.

Kerra begann den Gang um den Scheiterhaufen. Sie hielt die Flamme jeden zweiten Schritt an das Unterbett aus Buschreisig und trockenen Blättern, das rasch Feuer fing. Ihr Kopf war leer. Es wollten ihr keine Gebete einfallen, nicht einmal die Bannformeln, die Unsternfeuer begleiteten. Dolan hätte sie ohnehin nicht gewollt. Aber er hätte so viel mehr verdient als ein einsames Totenfeuer in einem verlassenen Hinterhof. Hätte sie seinem alten Zirkel Bescheid sagen sollen oder zumindest Meja? Sie wusste nicht, was genau zwischen der Magierin und Dolan gewesen war, doch sie vermutete, dass er sie gerne dabeigehabt hätte. Doch die junge Widerständlerin hatte ihre Gefühle Kerra gegenüber mehr als klargemacht und sie konnte Meja ihren Hass nicht verübeln.

Über ihnen stießen die Isch ihre heiseren Laute aus. Bei einem anderen Leichenfeuer hätten die Trauernden sie mit heiligen Rufen und Steinen verscheucht, doch Kerra ließ sie ihren stillen Gang um die Flammen betrachten. Die Anwesenheit der Isch spendete ihr auf merkwürdige Art und Weise Hoffnung. Sie konnte nicht sagen, ob Dolans Seele noch an seinen Körper gebunden oder längst von Caias Schergen geholt worden war. Doch warum sollten die Seelenräuber an einem Feuer sein, wo es nichts zu holen gab? Dass sie zumindest früh genug gewesen war, um seine Seele zu retten … Sie schluckte schwer. Es war nicht viel, aber es war die einzige Sache, in der sie Dolan nicht im Stich gelassen hatte.

Kerra blieb stehen und beobachtete, wie immer mehr Äste Feuer fingen. Endlich nahmen die Flammen auch Dolan in ihre Arme. Der Rauch kratzte in ihrer Kehle, als sie sich innerlich darauf vorbereitete zu gehen. Sie konnte nicht bleiben, nicht, wenn Sidra noch irgendwo in dieser siebenmal verfluchten Stadt war. Oder unter ihr. Doch der Gedanke, sich umzudrehen und den Platz zu verlassen, fühlte sich an, als würde sie ihren Freund ein weiteres Mal allein lassen, wenn er sie brauchte. Dolan hätte dich vor ein paar Tagen gebraucht. Jetzt ist es zu spät.

Aus den Gassen mischte sich Alltagslärm in das Prasseln des Feuers und das Knacken des Holzes. Kerra starrte in die Flammen. Die Hitze des Feuers schlug ihr ins Gesicht und von oben brannte die Sonne auf sie herab. Der dicke Rauch quoll in den Himmel, vorbei an den Isch und den Dächern. Der Seelenseher hatte die Spur zu Dolan verloren, als dieser sein Leben verloren hatte. Hatte man ihn deswegen ermordet? Um seine Entdeckung durch Kiran zu vereiteln und damit zu verhindern, dass der Seelenseher über Dolan das Versteck des Entführers fand? Oder es ist nichts weiter als ein grausamer Zufall und es ist Sidra, die ihm das alles angetan hat. Funken wirbelten so ungestüm wie ihre Gedanken durch die Luft. Wer in Alat war mächtiger als Lerato? Airi. Und neben den beiden nur die wilde Magie. Die Sidra immer mehr vergiftet hatte, und … Ich brauche Hilfe. Mehr als Lerato ihr geben konnte oder Maran. Der Gestank des Totenfeuers ließ sauren Speichel hinter ihren Zähnen zusammenlaufen. Sie würgte ihn hinunter. Ich brauche Hilfe. Doch wen in dieser siebenmal verfluchten Stadt gab es noch, den sie fragen konnte? Was habe ich denn noch zu bieten?

Eine plötzliche Bewegung am Dach ließ sie aufsehen. Ein Isch stieß durch den Rauch hinab, direkt auf sie zu. Sie zuckte zur Seite, doch der Vogel schlug bereits die Krallen in ihre Schulter. Schmerz loderte auf, doch sie wagte nicht, sich zu bewegen. Zu nahe war der scharfe Schnabel an ihren Augen.

Lasst Dolans Seele in Frieden! Sie wollte es schreien, doch ihre Lippen bewegten sich nicht. Der Vogel legte den Kopf schief und grub seine Klauen tiefer in ihr Fleisch. Der Geruch von Verwesung hing in seinem Gefieder und setzte sich mit jedem Atemzug tiefer in ihrer Lunge fest. Sie wagte es immer noch nicht, sich zu bewegen.

Ein Gefühl von Ausweglosigkeit explodierte in ihrer Brust. Sie schaffte es nicht einmal, sich gegen einen verfluchten Vogel zu wehren, und wollte es mit den Mördern Dolans aufnehmen? Ich bin wirklich nutzlos. Ich brauche Hilfe. Sie sah die Behüterin aus dem Augenwinkel, doch die Frau war so erstarrt und unnütz wie sie. Vom Var Rabet oder dem anderen Mann keine Spur.

»Hilfe.« Sie hatte es schreien wollen, doch es war nur ein Wispern, das sich unter ihrem Atem verlor. Der Isch sah sie unentwegt an und der verzweifelte Schrei hallte in ihr nach und hatte nichts mehr mit dem Tier auf ihrer Schulter zu tun. Dolan war tot und Sidra war verschwunden und sie brauchte Hilfe!

Schimmerte Magie um den Vogel oder täuschte sie das Sonnenlicht? Der Leichenvogel hieb mit dem Schnabel nach ihrem Gesicht. Frischer Schmerz schoss durch sie und sie spürte das Blut aus der Wunde quellen, die Caias Tier in ihre Wange gerissen hatte. Der Gestank von Tod wurde schlimmer, als der Vogel sein Köpfchen gegen ihre Haut presste und ihr Blut trank. Kerra schmeckte Galle. Sie starrte auf die Dächer, wo sich mehr und mehr der Isch versammelt hatten. Ihre kleinen Augen glänzten gierig durch den Rauch hindurch. Noch immer war sie wie erstarrt, die Fackel loderte nutzlos in ihrer Hand und ihr Rauch vermischte sich mit dem von Dolans Totenfeuer.

Die Welt schien zusammenzuschrumpfen, bis es nur noch die Isch gab, Dolans Leiche in den Flammen und sie. Dann stieß sich das Tier von ihrer Schulter ab und mit seinem Verschwinden im rauchdurchzogenen Himmel kehrte auch der Lärm der Stadt zurück und der Druck ihrer Brust ließ nach. Sie konnte sich wieder bewegen. Die Fackel drohte aus ihrem Griff zu rutschen. Im letzten Moment verstärkte Kerra den Halt ihrer bebenden Hand wieder. Zittrig atmete sie ein. Dieses Mal hieß sie das Kratzen des Rauches in ihrer Lunge willkommen und wandte sich zum Gehen.

Sie reichte der Behüterin die Fackel. Die Bedienstete des Mondquartiers nahm sie entgegen. Mit der anderen Hand machte sie das Zeichen gegen das Böse. Mit einem Blick auf die Isch, die weiter auf der Mauer lauerten, tat Kerra es ihr gleich. Dann begriff sie, dass das Bannsymbol ihr gegolten hatte.

KAPITEL 5

Die Schnabelwunde in ihrer Wange blutete immer noch, als sie wieder in das Mondquartier trat. Ihre Knie waren weich, und ihr eigener Schrei nach Hilfe verstummte nur langsam in Kerra. Wäre der Var nicht aufgestanden, sie wäre an ihm vorbeigegangen, ohne ihn wahrzunehmen.

»Caia lässt nicht locker, hm?«, sagte der Gottgeweihte, während er einen Salbentiegel aus der Gürteltasche zog.

»Was?« Warum redete der Mann jetzt von der Schutzgöttin der Verbrecher? Es war nicht einmal die Gottheit, der er geweiht war.Sie nahm das Döschen entgegen, doch hielt es nur in der Hand, während sie versuchte zu verstehen, worauf der Mann hinauswollte. »Ich habe mit Caia nichts zu schaffen.«

Er grinste. »Wenn du ihr das so gesagt hast, wundert mich nicht, dass sie dich so unbedingt will. Sie liebt eine Herausforderung. Nun, bis zu einem gewissen Grad.« Er legte den Kopf schief. »Wie viel bringt es, wenn ich dich davor warne, sie nicht zu lange zu provozieren?«

»Ich provoziere niemandem.« Die frische Krallenwunde an ihrer Schulter meldete sich mit scharfem Schmerz und instinktiv presste Kerra die Hand darauf. Der Varnahm ihr den Tiegel aus der Hand und schraubte ihn auf.

»Das kann dir nicht wirklich neu sein.« Der scharfe Geruch von Wundsalbe stieg Kerra in die Nase. »Dass Caia sich für dich interessiert. Du bist immerhin dreimal gezeichnet.«

Kerra starrte ihn an. Er erwiderte ihren Blick. Seine Miene veränderte sich langsam. »Das erklärt viel«, sagte er. Nur mir nichts. »Sieht so aus, als würde ich dich ein Stück begleiten. Darf ich?« Es war nicht die Frage, ob sie seine Begleitung wünschte. Der Var deutete auf ihre Schulter und sie zog das Hemd weit genug hinunter, dass die Krallenspuren freilagen. Caia interessiert sich für dich. Das kühle Brennen der Salbe in ihrer Wunde war eine willkommene Ablenkung. Sie hörte den Besitzer des Totenhauses mit der Behüterin flüstern. Die tote Fliege schwamm immer noch in dem Becher. Der Var schloss den Tiegel wieder und Kerra zog das Hemd wieder zurück. Die Medizin lag angenehm kalt auf ihrer Haut und betäubte den Schmerz.

»Lass uns gehen.« Auch der Gottgeweihte schien nicht länger als notwendig hier verweilen zu wollen.

Die Sonne stach bereits mit ihrer gewohnten Gnadenlosigkeit auf die Stadt herunter, als sie aus dem Mondquartier kamen. Irgendwo verkündete ein Stadtschreier erneut, dass Laina zur neuen Rätin erklärt worden war, doch dieses Mal verschlang der Wirbel der Straße die Worte. Nicht, dass Kerra das Gesagte interessiert hätte.

»Caia«, sagte sie, sobald sie das Haus im Rücken hatten. »Und was meinst du damit, ich bin gezeichnet?« Sie hörte den leicht panischen Unterton, der sich in ihre Stimme geschlichen hatte, selbst.

»Der Unstern, Chaelas Auge«, er nickte zu der Brandnarbe auf ihrem Unterarm, die sie Maran zu verdanken hatte, »und Caias Krallenspuren. Seit die wilde Magie in der Fadash so unruhig geworden ist, interessieren sich auch die Gottheiten wieder mehr für ihre Besitztümer in der Stadt.«

Besitztümer. »Ich gehöre niemandem. Die Götter sollen bleiben, wo sie sind!« Es brach lauter aus ihr hervor, als sie gewollt hatte. Doch der Var störte sich nicht an ihrem Ausbruch.

»Wir alle gehören ihnen, auf die eine oder andere Art. Und sie sind immer da«, sagte der Gottgeweihte gelassen, »aber sie mischen sich selten ein, wenn sie nicht gerufen werden. Und kaum jemand in Alat ist wahnsinnig genug, eine tatsächliche Machtbeschwörung einer Gottheit zu unternehmen, nicht, wenn schon ein einfacher Schleierzauber mit etwas Pech die Seele kosten kann. Zumindest das kann dir nicht neu sein.«

Sie schüttelte langsam den Kopf. Das war es nicht. Mit Grauen erinnerte sich Kerra an die lauernde Präsenz der Fadash, als sie den Schleierring getragen hatte. Als ob die wilde Magie nur auf den einen schwachen Moment gewartet hätte, den sie brauchte, um sich in das Bewusstsein ihres Opfers zu graben und nie wieder loszulassen.

Der Var klemmte seine Pfeife zwischen die Zähne und zog den Ärmel seines Gewandes weit genug zurück, dass sie die Brandnarbe sehen konnte, die zwischen den magischen Tätowierungen saß.

»Tätowierungen dürfen deswegen nur noch mit königlicher Genehmigung gestochen werden, weil durch das Ritual eine direkte Verbindung zu den Energieströmen hergestellt wird«, sagte er, die Pfeife nun wieder zwischen den Fingern. »Brandmale hingegen ziehen nur die Aufmerksamkeit der Kräfte auf sich, aber es wird kein gegenseitiges Band geschaffen.« Nun grinste er. »Das ist der Grund, warum Brandzeichnungen gerne unterschätzt werden und man wunderbar mit ihnen arbeiten kann. Wie zum Beispiel mit einem Schutzmal der Göttin Rabet.«

»Ich bin keine Magierin.« Im Moment fühlte sie sich kaum noch wie ein Mensch. Schweiß brannte in der Wunde und die Hitze schien ihren Körper an alle Schläge zu erinnern, die sie eingesteckt hatte.

»Nein. Aber der Rufer hat gezeigt, dass du fertige Sprüche durchaus für dich einsetzen kannst, und zwar auch anders, als sie gedacht waren. Das ist mehr als genug Zugang zu Energien für etwas so Einfaches wie einen Feuerspruch.«

Wie immer, wenn die Sprache auf den Rufer kam, wurde ihre Kehle eng. Die Anzahl der Hinrichtungen, die ihr Einsatz des Zaubers im Magierviertel gefordert hatte, würde sie den Rest ihres Lebens verfolgen. Zusammen mit dem Wissen, dass sie das Gleiche wieder tun würde, ohne zu zögern.

»Ich brauche nicht wirklich noch mehr Narben«, sagte sie. Sie versuchte, einen unbeschwerten Ton anzuschlagen, doch sie scheiterte kläglich. Ihre Worte kamen gepresst und nervös heraus. »Auch wenn ich das Angebot zu schätzen weiß.« Sie hoffte inständig, dass es wirklich nur ein Vorschlag des Var war, einer, den sie ablehnen konnte.

Die Pflastersteine wurden breiter und sauberer und die Auslagen der Geschäfte prächtiger. Die drohende Stimmung, die sie aus Isharat noch ein Stück begleitet hatte, war vollständig verschwunden. Doch sie fühlte sich nicht ruhiger. Im Gegenteil. Die Worte des Var, ihre eigenen Gedanken – alles drohte zu laut zu werden, jedes Gespräch auf der Straße, jedes Klappern von Fensterläden und Türen zu viel.

»Denkst du nicht, dass eine Narbe mehr, die dir zumindest helfen kann, es wert wäre?«

»Chaelas Auge hat mich nicht gerade davon abgehalten, das Gesetz zu brechen«, sagte sie mit einer Ruhe, die sie nicht fühlte. »Verzeih also, wenn ich den Göttermalen weniger Bedeutung zuspreche als andere.«

Statt entrüstet zu sein, lachte der Var nur.

»Die Wache würde auch arbeitslos sein, wenn es so einfach funktionieren würde«, sagte er amüsiert. Dann wurde er wieder ernst. »Unterschätze es nicht. Wir stehen auf einem Pulverfass aus Magie und die Götter allein wissen, wie die Kräfte der Fadash auf die Kyrstner Magie reagieren werden, wenn sie hier angekommen sind. Niemand von uns kann sich erlauben, auf Unterstützung zu verzichten. Du brauchst Hilfe. Wir alle brauchen sie.«

Ja, Hilfe. War es nicht gerade das gewesen, worum sie gebeten hatte, bevor der Isch sie attackiert hatte? Ihre Schulter pochte zustimmend. Kerra rieb sich über die Stirn.

»Mit allem Respekt, Var«, sagte sie, »aber wen oder was ich in mein Leben lasse, bestimme immer noch ich.«

»Ich würde behaupten, dass die Gottheiten sich nicht von menschlichen Bestimmungen aufhalten lassen.« Pfeifenrauch stieg wie der des Totenfeuers in die Höhe. »Aber zumindest dieses Mal kannst du dich freiwillig dafür entscheiden. Für sie macht es keinen Unterschied, ob du dich aus freien Stücken zeichnen lässt oder es dir aufgezwungen wird, aber für dich.«

»Ja, damit kann ich mich sicher ganz wunderbar trösten.«

»Wer redet denn von Trost? Ich rede von Handwerk. Von einem einfachen Vorteil, den du dir verschaffen kannst.«

Ihre Haut brannte, wo die Isch ihre Spuren hinterlassen hatten, und der Unstern pochte im Takt mit dem eingebrannten Auge Chaelas. Gezeichnet also. Einen Moment wühlte sich alte Wut durch den Schmerz und die Müdigkeit empor.

»Indem ich mich dem Schutz einer Gottheit unterstelle.« Sie bemühte sich nicht, die Bitterkeit aus ihrer Stimme zu halten.

»Ja.« Der Gottgeweihte zog an seiner Pfeife, seine Miene verriet nichts.

»Ich denke nicht, dass es eine gute Idee ist«, sagte sie.

»Seit wann hält dich das von irgendetwas ab?«

Er entlockte ihr ein freudloses Lachen. Doch sie schüttelte den Kopf. »Glaube mir, je weniger ich davon«, ihre Bewegung schloss Magie, alle Gottheiten im Allgemeinen und Rabet im Besondern ein, »in mein Leben lasse, desto besser ist es.

»Denke darüber nach«, sagte er ernst. »Du magst nicht viel von deinen Göttern halten, doch jeden Schutz auszuschlagen, ist kindisch und dumm.«

Der Mann war stehen geblieben. Sie hatten die Straße erreicht, in der Leratos Geschäft lag.

»Alles kommt mit einem Preis«, sagte sie leise. »Schutz ist keine Ausnahme.«

Der Var Rabet klopfte seine Pfeife an der Hausmauer aus. »Davon hat auch niemand etwas gesagt. Aber wenn du nicht irgendwann zwischen die Fronten geraten möchtest, wäre es nicht schlecht, wenn du dich für eine Seite entscheidest. Welche auch immer.«

KAPITEL 6

Die Glocke an der Tür gab ihr übliches Bimmeln von sich, als Kerra den Laden des fürstlichen Heilers betrat. Sie hörte Lerato im Lager, das gleichmäßige Stampfen verriet ihr, dass er Kräuter mörserte. Laina tauchte auf einmal in Kerras Gedanken auf: Wusste er schon, dass sie die neue Rätin geworden war?

Die Kühle im Inneren des Hauses sank wie eine wohltuende Salbe in ihren zerschundenen Körper, doch ihr Herz tanzte ängstlich, als sie das Lager betrat, um sich ihrem Meister zu stellen.

Die langsame Art, mit der er aufsah, ließ sie wissen, dass sie in Ungnade gefallen war. Wieder einmal. Doch die Erkenntnis versank wie ein kleiner Stein in der Tain, ohne Wellen zu ziehen.

»Du lebst also noch.« Es war eine Feststellung, und der leicht grimmige Ton schaffte, was nicht mehr viel vermochte: Sie entspannte sich. Die vertrauten Gerüche nach Harz, Kräutern und Papier gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit. Mit einem Mal war sie unendlich weit weg von dem Lärm Alats und den Intrigen der Stadt. Und die Fesseln, die sie bisher so eisern um ihre Gefühle gelegt hatte, entglitten ihr.

»Dolan ist tot.«

Es fühlte sich an, als ob ihr jemand die Worte gewaltsam entrissen hätte. Leratos Augen weiteten sich und dann hatte sie sich bereits umgedreht und das Lager mit raschen Schritten verlassen. Sie öffnete die halbhohe Tür, die den Kundenbereich von dem hinteren Teil des Ladens trennte, und trat hindurch. Langsam ging sie in die Küche, griff nach Teegläsern und dem Sieb. Tee. Sie musste sich etwas zu tun geben, irgendetwas, bevor sie auseinanderfiel.

Sie goss Wasser in die schwere Kanne und setzte sie auf den Herd. Der Geruch von Blüten und getrockneten Kräutern füllte die Küche, als sie die Dose öffnete. Hinter sich hörte sie Lerato den Raum betreten.

»Hast du doch noch Kontakt zu Kian?« Eine eigenartige Spannung lag in seiner Stimme. Die Frage war so unerwartet, dass sie Kerra ein Stück von dem gefährlichen Wirbel zurückzog, in dem sie zu versinken drohte. Kian? Was hatte der Seelenseher damit zu tun? Verwirrt drehte sich Kerra zu dem fürstlichen Heiler um. Dann dämmerte es ihr: Da Kian versucht hatte, Dolan und Sidra für sie zu finden, dachte Lerato, der Mann hatte ihr vom Tod ihres Freundes berichtet. Kians schuldbewusstes Gesicht tauchte in ihr auf, sein »Ich habe ihn verloren.« Das Wissen, das der Seelenseher den Kontakt zu Dolan in dem Moment verloren haben musste, in dem er gestorben war …

»Nein.

---ENDE DER LESEPROBE---