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Ein Fremder erscheint in Alat. Sein Auftrag: Zwei Magier finden und töten. Eine Mission, die Kerra egal sein könnte, wäre es nicht sie gewesen, die die beiden Magier in die Stadt geschmuggelt hat. Als der Mann zu einer Gefahr für die Operationen des Mondschiebers zu werden droht, macht dieser die Suche des Fremden zu Kerras Auftrag. Doch der Verbrecherkönig Ravid hat Interesse daran, dass die beiden Gesuchten Alat lebend verlassen und erinnert Kerra an die unbeglichene Schuld ihrer Freundin Sidra. Um Sidra zu retten, bleibt Kerra nur eine Wahl: Den Forderungen des Verbrechers nachzugeben und die beiden Magier sicher aus der Stadt zu bringen – hinter dem Rücken des Mondschiebers und an dem gefährlichen Fremden vorbei.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Titelseite
Widmung
Glossar
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Stadtkarte Alat
Nachwort
Danksagung
Biographie
Impressum
Flammendunkel
Zweites Buch der Unstern-Reihe
Für Andrea und Konstanze, die mich während der Arbeit an Flammendunkel mit schräger Post zum Lachen gebracht haben <3
Glossar
Begriffe
Fadash – die magische Stadt unter Alat, in der die wilde Magie versiegelt wurde
Alat – Fürstenstadt im Königreich Lazeda und Kerras neue Heimat
Bahnu – ein Volk mächtiger Magier, die ursprünglich aus dem Westen Lazedas stammen. Ihr Gebot, Wissen zu vermehren und zu verbreiten, hat sie im ganzen Königreich verteilt.
Var – ein veralteter Titel für Gottgeweihte. Nachdem die Verbrecherbande den Titel „Priester“ für sich vereinnahmt hatte, wurde dieser Titel in Alat wieder aufgenommen, um Missverständnisse zu vermeiden. In der königlichen Hauptstadt Kyrst wird über diese Zustände nur der Kopf geschüttelt.
Tavesh – Ehrentitel der obersten Var
Neshem – Name der Widerstandskämpfer, die sich gegen die strengen Magiegesetze des Königs auflehnen.
Alsesh – einer, der die Aufträge der Neshem übernimmt, vor denen alle anderen zurückschrecken.
Halbblut – ein Mensch, in dessen Ahnenreihe sich ein magisches Wesen findet (Meermensch, Phönix, Gestaltenwandler …)
Khamek – die Schattenwelt, in der die Dämonen sich aufhalten, sofern sie nicht von einem größenwahnsinnigen Magier gerufen werden. Oder Hunger haben. Mhmmm, frische Seelen …
Aus der Götterwelt von Lazeda
Laral – Totengott. Sein Symbol ist der Mond.
Caia – Göttin der Diebe und Wegelagerer, Schalk und Chaos. Als einzige Gottheit kann sie zwischen den Sternen und der Khamek wandeln. Ihr Symbol und heiliges Tier ist der Isch, ein Aasvogel.
Chaela – Göttin der Gerechtigkeit und Strafe, ihr Symbol ist ein Auge.
Hanarh – Göttin des Handwerks und Schutzgöttin der gelernten Magier
Rabet – die Monstermutter, die alle magischen Wesen in die Welt gebracht hat. Ihr Symbol ist die Blume Lesha, die „kleine Kralle“. Von dieser Pflanze sollte man sich fernhalten …
Rado – Gott der Magie. Sein Symbol ist das Feuer.
Sternengötter – die vier großen Götter der Bahnu
Die Herrscherin der Flüsternden Sterne * Der Hüter des Ewigen Mondes * Der Bruder der Tanzenden Lichter * Die Seherin der Leuchtenden Wasser *
Nachtgroßen – die alten Götter, die von den Sternengöttern besiegt wurden.
Cial – die Priester der Bahnu
Cialla – die Sternenschrift, die heilige magische Schrift der Bahnu.
Symbole
Unstern
Mondschieber
Priester der Caia
1
Kerra rannte durch die nächtlichen Gassen. Die wilde Hetzjagd schien ihr Flügel zu verleihen, als sie über das löchrige Pflaster stürmte. Evy lief neben ihr, ihr Gefährte war ihnen vorausgeeilt.
Ein Pfeil flog knapp über ihnen durch die Luft und schlug in eine Hausmauer. Reflexartig zogen die beiden Frauen die Köpfe ein.
»Wir sollten stehenbleiben und kämpfen«, keuchte Evy wütend, deren rechter Arm nutzlos herunterhing.
Kerra hatte keinen Atemzug zu verschwenden und schüttelte nur energisch den Kopf. Die Pfeile waren mit den dazugehörigen Schützen wie aus dem Nichts aufgetaucht, als sie die Kasht verlassen hatten. Sie wussten nicht, wie viele es waren und sie hatten keine Zeit, es herauszufinden.
Besh wartete an der nächsten Ecke auf sie. Seine Augen schimmerten silbern in der Dunkelheit und verrieten sein magisches Blut. »Wohin?«
Kerra deutete geradeaus, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Ein weiterer Pfeil ließ sie alle geduckt weiterlaufen. Wieder verfehlte sie das Geschoss um eine Armeslänge.
»Das wird lächerlich«, schäumte Evy, als sie die nächste Gasse hinunterhetzten, als ob die schlechte Trefferquote sie persönlich beleidigte.
»Ihr wolltet unbedingt in die Stadt hinein«, gab Kerra atemlos zurück, obwohl sie der Kämpferin insgeheim recht gab. »Willkommen in Alat!«
Wer immer am anderen Ende des Bogens war, sah in der Dunkelheit entweder genauso wenig wie sie oder aber spielte mit ihnen. Kerra bezweifelte Ersteres, doch die Stadtwache von Alat war nicht gerade für ihren Spieltrieb bekannt. Die Soldaten hätten uns schon längst eine neue Körperöffnung verpasst. Was die Frage aufwarf, wer genau hinter ihnen her war. Eine Frage, um die sie sich kümmern würde, wenn sie die Nacht überlebten. Kerras Finger fanden das Glasfläschchen in ihrer Tasche. »Lauft weiter«, keuchte sie. »Ich lenke sie ab.«
»Dein Tod hilft uns nicht weiter«, fauchte Evy.
»Dein Vertrauen in mich –«
Der nächste Pfeil zischte durch die Luft und schlug mit einem dumpfen Geräusch in Beshs Schulter. Der Mann schrie auf, Evy fluchte. Kerra verlor keine Zeit. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte ihren Verfolgern mit großen Schritten entgegen. Ein Bogen ächzte in der Dunkelheit, Kerra meinte, die Sehne summen zu hören, den kalten Blick des Schützen auf sich zu spüren. Sie zog das Fläschchen aus ihrer Tasche und schleuderte es ihren Verfolgern entgegen.
Ein heller Blitz erleuchtete die Nacht, als Kerra sich mit zusammengepressten Augen zu Boden warf. Irgendwo klapperte ein Pfeil harmlos auf den Boden. Flüche drangen zu ihnen, als Kerra wieder zurück zu den beiden Kämpfern hetzte, die sie sicher in die Stadt hineinschmuggeln sollte. Klappt ja wunderbar bis jetzt. Sie schlug einen Haken, nur falls ihre Verfolger beschließen sollten, geblendet in die Finsternis zu schießen.
Zu ihrer Überraschung stand Besh noch aufrecht. Seine silbernen Augen waren schmerzgetrübt und erinnerten sie erneut daran, dass Besh kein Mensch war. Der Pfeil hatte seine Schulter glatt durchschlagen, und sein Gesicht war verzerrt, doch der Mann hielt mit ihnen Schritt, als Kerra die beiden Widerstandskämpfer in das Gewirr aus Lagerhäusern führte, die im nördlichen Teil des Viertels Soverat lagen.
Der hartgetretene Erdboden unter ihren Füßen schluckte ihre Schritte, doch das Gleiche galt auch für ihre Verfolger, und Kerra wusste, dass der Nachtblitz sie nicht lange aufhalten würde. Vielleicht haben sie unsere Spur verloren. Sie riskierte einen Blick zurück. Besh taumelte neben Evy die Straße entlang, die Kriegerin hatte die Zähne zusammengepresst, als sie ihren Mann stützte. Das Hyänenlachen ihrer Verfolger schnitt durch die Nacht. Panik mischte sich in Kerras Herzschlag, als sie Evy und Besh wortlos zur Eile drängte.
Die schmalen Lagerhauswege schienen sich endlos hinzustrecken, als sie sich zwischen Lagerräumen hindurchzwängten, Haken schlugen, die ihnen das Leben retten oder wertvolle Zeit kosten konnten. Endlich tauchten die richtigen Lagerräume vor ihnen auf. Die Tür schimmerte in der Finsternis, die schützende Magie ein zartes Grün. Wurde auch verdammt noch einmal Zeit! Kerra meinte, ein Lachen in der Ferne zu hören.
»Schnell!« Kerra riss die Tür auf.
»Was –«
»Jetzt!«
»Dreimal verfluchte –!« Evy schulterte Besh hinein.
Kerra schlüpfte hinterher und zog die Tür so leise wie möglich hinter ihnen zu. Mit feuchten Händen zog sie das Amulett unter ihrer Tunika hervor und presste es auf das Zeichen im Türstock. Die Magie summte gehorsam auf, als Leratos Zauber zu wirken begann. Kerra holte Feuerhölzchen aus ihrer Tasche und zündete die Laterne an, die beim Türstock hing.
»Bist du wahnsinnig?«, zischte es wütend hinter ihr.
Kerra verdrehte die Augen. »Entweder der Zauber wirkt, dann werden sie uns weder hören noch sehen. Oder er wirkt nicht«, sagte sie, als sie sich zu den beiden Widerstandskämpfern drehte. Evy schien hauptsächlich wütend, die hellen Augen blitzten aufgebracht in ihrem schmalen Gesicht.
»Oder er wirkt nicht?«, erkundigte sich Evy spitz. »Ist das das Höchstmaß an Schutz, den man vom Mondschieber erwarten kann?«
Sie war einen guten Kopf größer als Kerra, fast so groß wie Besh, dessen Gesicht vor Schweiß glänzte. Nicht gut. Kerra ließ einen prüfenden Blick durch den Lagerraum schweifen. Er war nicht sehr groß, Kisten und Tongefäße stapelten sich übereinander, und es roch nach Holzwolle und altem Wachs. Nichts, was ihnen weiterhalf. Evy spießte sie mit ihrem Blick förmlich auf.
»Als ich den Zauber aktiviert habe, wurde ein Signal an ihn gesendet. Er wird uns holen«, sagte Kerra wahrheitsgemäß. Was sie für sich behielt, war, dass auch ein mächtiger Magier wie Lerato Zeit brauchte, um vom vereinbarten Treffpunkt hierherzukommen. Vielleicht mehr Zeit, als wir haben. Sie fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Irgendeine Ahnung, wer da hinter uns her ist?«, fragte sie dann.
»Woher?«, fuhr Evy sie an.
»Ihr kämpft hier gegen den König«, sagte Kerra. »Nicht ich.«
Die Neshem zog eine Augenbraue hoch. »Ach nein?«
Besh ließ sich schwer auf eine der Kisten nieder und brachte das Gespräch effektiv zum Verstummen. Er war ein großer Mann, mit einem harten, wettergegerbten Gesicht, doch er schien vor ihren Augen in sich zusammenzufallen.
Kerra bewegte sich unruhig. Ihre Heilkenntnisse waren lückenhaft. Sie hatte sich und andere Jägerinnen in Raya immer mal wieder zusammenflicken müssen, doch Besh war ein Gestaltenwandler, der erste, den sie getroffen hatte, und sie wusste nicht einmal, wo sie anfangen sollte. Er mochte menschlich aussehen, doch sein Körper gehorchte anderen Gesetzen, und das bedeutete nicht unbedingt, dass ein Pfeil in der Schulter für ihn leichter wegzustecken war als für einen Menschen. Lerato bringt mich um, wenn den beiden etwas passiert. Der Frieden zwischen dem Mondschieber und der örtlichen Fraktion der Neshem, dem magischen Widerstand, war ein wackeliger, nachdem Lerato nach wie vor Geld dafür forderte, Widerstandskämpfer aus Alat hinauszuschmuggeln. Und offensichtlich auch hinein. Kerra bedachte Evy mit einem Seitenblick. Welcher Dämon mochte die beiden geritten haben, sich in die Stadt hineinbringen zulassen?
Ein Lachen wie ein heiseres Bellen ließ sie alle auffahren.
Evy stellte sich beschützend vor die Kiste, auf der Besh saß. Mit angehaltenem Atem lauschten sie in die Nacht hinaus. Wieder das Lachen. Der überall gegenwärtige Flusssand knirschte unter den Schritten ihrer Verfolger.
»Bist du sicher?«, fragte eine Frauenstimme.
»Sie werden sich nicht in Luft aufgelöst haben.« Eine zweite Frau. »Außerdem habe ich dem Zwischending meinen Pfeil hineingejagt.«
»War ein guter Schuss«, kam es anerkennend, »Augen wie eine verdammte Katze.«
Heiseres Gelächter. Kerra fixierte Evy mit einem finsteren Blick. Zwischending war eine wenig schmeichelhafte Bezeichnung für jemanden wie Besh. Evy hatte den Nerv, auf ihre unausgesprochene Frage mit den Schultern zu zucken. Keine Ahnung, woher die von uns wissen, schien ihr Blick zu sagen, während Kerras klarmachte, dass sie der Kämpferin kein Wort glaubte.
Die beiden Frauen schienen es mit ihrer Verfolgung nicht sehr eilig zu haben, ihrer gemütlichen Plauderei nach zu schließen.
Wenn sie wirklich nur zu zweit sind, sind sie uns unterlegen. –Zahlenmäßig, ja. Scheint sie aber nicht zu beunruhigen, oder?, wisperte es in ihr. Die Schlüsse, die das zuließ, gefielen ihr nicht, und wenn sie Evys Gesichtsausdruck richtig deutete, war die Kämpferin zu dem gleichen unerfreulichen Ergebnis gekommen.
»Siehst du Blut?« Die beiden Frauen waren in Hörweite zum Stehen gekommen.
»Hier drüben«, kam es nach einer kurzen Pause.
Kerras Herz schlug schneller. Hinter ihr surrte Metall, als Evy ihren Dolch zog. Besh knurrte, und der Laut ließ einen primitiven Teil in Kerra erstarren. Langsam drehte sie sich zu dem Gestaltenwandler um. Hatten seine Augen vorher nur silbern geschimmert, so leuchteten sie jetzt in einem unheiligen Licht. Sein Atem ging rasselnd und viel zu schnell, und etwas in seiner Haltung erinnerte Kerra an ein verwundetes Raubtier: Tödlich für jeden, der sich unbedacht näherte.
»Evy?« Kerras Stimme war kaum mehr als ein Wispern.
»Beweg dich nicht«, atmete Evy.
Kerra schluckte trocken. »Keine Sorge.«
»Es ist der verdammte Pfeil. Er ist –«
Besh knurrte erneut, der Laut hatte alles Menschliche verloren. Seine Gesichtszüge veränderten sich. Knochen knirschten, als sein Gesicht fremde Züge annahm, die Antlitze anderer formte, einige deutlich weniger menschlich als andere. Seine Arme knackten, nahmen unterschiedliche Längen an, als seine Finger zu Klumpen verschmolzen.
»Evy?«, fragte Kerra erneut, doch die Frau ignorierte sie. Sie sprach auf Besh ein, doch das Halbblut schien sie nicht zu hören. Sein Blick wanderte durch den kleinen Lagerraum, bis er an Kerra hängenblieb. Besh bleckte Zähne, die einem Raubtier gleich über seine Lippen wuchsen. Die Magie des Halbbluts knisterte in der Luft, als Kerra so langsam wie möglich nach ihrem Dolch tastete.
»Besh«, zischte Evy. Der Krieger ignorierte sie. Seine Züge flossen noch immer von einem Gesicht in andere, doch seine Arme hatten aufgehört sich zu verwandeln: Wo seine Finger gewesen waren, wuchsen nun gewaltige Klauen aus den Stümpfen. Panik ließ Kerras Magen zu einem harten Klumpen werden, als sein Blick sich in ihren brannte. Er erhob sich langsam, schob Evy mit einer nachlässig-behutsamen Bewegung zur Seite. Ebenso langsam wich Kerra zurück, wissend, dass ihre Chancen in dem kleinen Raum denkbar schlecht standen. Sie schielte zu dem Türgriff, als kalte Furcht durch ihr Blut schoss. Von draußen drangen die unbekümmerten Stimmen ihrer Verfolgerinnen zu ihnen.
»Sobald es wirkt, sollten wir mehr als genug Blut haben, um ihnen zu folgen.«
»Wann denkst du –?«
Die Stimmen wurden zu weißem Rauschen, als Besh einen weiteren bedächtigen Schritt auf Kerra zu machte. Sie nahm die Hände vor den Körper, ihr Dolch schimmerte im Laternenlicht. Besh knurrte. Ihre Optionen liefen vor ihrem inneren Auge ab. Laufen – tot, kämpfen – ziemlich sicher tot, Ablenk–
Besh sprang. Kerra bereitete sich auf den Zusammenstoß vor, sein Kampfschrei gellte in ihren Ohren, als alles um sie langsamer zu werden schien. Sie sah alles mit unendlicher Klarheit, Beshs wilden Blick, die verdammten Krallen an seinen Händen …
Er erreichte Kerra nicht. Evy war zwischen ihnen, die Hand gespreizt, den Zauber auf den Lippen. Ihre Magie packte den Mann und schleuderte ihn in die Kisten hinter ihm.
Draußen redeten die Jägerinnen unbekümmert weiter.
»… vor dem Fluss in die Enge treiben und …«
»Jetzt?«, zischte Kerra. Ihr Herz flatterte in ihrer Brust wie ein gefangener Vogel. »Tausend Gelegenheiten, Magie einzusetzen, und du tust es jetzt?«
»Bei der wilden Magie in eurer dreimal verfluchten Stadt?«, fauchte Evy und beugte sich über Besh. »Sei froh, dass ich es überhaupt riskiert habe. Besh!«
Sie klopfte ihrem Mann sacht auf die Wange, als Kerra ihr Messer wieder verstaute. Das Zittern ihrer Hände ignorierte sie.
»Besh, ich schwöre dir – Hilf mir!« Der letzte Teil galt Kerra. Gemeinsam rollten sie den bewusstlosen Gestaltenwandler auf die Seite. Der Aufprall hatte den Pfeil abgebrochen. Schwarzes, zähes Blut lief aus seiner Wunde, und der Geruch ließ Kerra ein Würgen unterdrücken.
»Gift«, sagte sie.
»Ach, wirklich?«, knurrte Evy, doch sie war blass, als sie Streifen aus einem der Säcke schnitt, um den Pfeil zu fixieren und die Blutung zu stoppen. Kerra richtete ihre Gedanken auf das Problem vor ihrer Tür, als ein markerschütternder Schrei durch die Luft hallte. Evy riss den Kopf hoch. Kerra atmete auf. Wurde auch Zeit.
Evys Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Der Mondschieber?«, fragte sie knapp.
Kerra nickte. Vor der Tür machten sich die beiden Frauen aufgeregt in die Richtung auf, aus der der Schrei gekommen war.
»Endlich«, knurrte Evy und zog den Verband ruckartig fest. Beshs Augen flogen auf, ein unmenschlicher Laut drang aus seiner Kehle. »Besh«, sagte Evy bestimmt, »wir müssen weiter. Kannst du gehen?«
Der Mann nickte, als er sich verwirrt umsah. Kerra bezweifelte, dass er ein Wort von dem gehört hatte, was die Kämpferin gesagt hatte.
Der Schutzzauber, vorher ein stetiges Leuchten, flammte summend auf und erlosch. Die Tür sprang auf. Automatisch griff Kerra zu ihrer Waffe, bis die den Mann erkannte, der im Türrahmen stand. Endlich. Erleichtert ließ sie den Dolchknauf los. Der Mondschieber warf ihr einen Beutel zu.
»Schnell jetzt!«
Der fürstliche Heiler war Lerato nicht mehr anzusehen. Die blaue Robe mit dem goldgestickten Wappen Alats hatte der dunklen Kleidung eines einfachen Handwerkers Platz gemacht. Der Schleierzauber an seiner Hand ließ sein kantiges Gesicht schmal erscheinen, ein kümmerlicher Bart sprießte aus dem schwachen Kinn hervor.
Kerra tauchte ihre Fingerspitzen in den Beutel. Schweiß mischte sich mit dem Pulver, das kalt prickelte, als sie es auf dem Türrahmen auftrug. Sie meinte ein Knistern zu hören, als die Magie Halt fand und den Schutzzauber auflöste. Sie würden das Lager nicht so schnell wiederverwenden. Neben ihr half Lerato Evy dabei, Besh ins Freie zu bringen. Der Gestaltenwandler stützte sich schwer auf seine Helfer.
»Pass auf, dass er keine Blutspur hinterlässt«, befahl Lerato, »Oder wir sind tot.« Er reichte Evy eine Ampulle. »Gib ihm das. So schaffen wir es nicht weit.«
Die Kämpferin hielt das Fläschchen misstrauisch ins Mondlicht, bevor sie gehorchte.
»Kerra«, Lerato ging bereits los, »wie viele?«
»Zwei, soweit wir wissen.« Scham brannte in ihr. Sie hatte sich von zwei Schützen durch die Stadt treiben lassen wie hirnloses Vieh. Sie riskierte einen Blick zu Lerato, doch das Gesicht des Mondschiebers verriet nichts.
Besh blinzelte in die Nacht, sein Gesicht hatte einen abwesenden Ausdruck angenommen. Evy presste den Verband fester gegen die Schulter des Mannes, doch nicht einmal der Schmerz riss Besh aus seinem tranceartigen Zustand. Zu Kerras Erleichterung glich er wieder einem Menschen, die albtraumhaften Klauen waren zusammen mit dem Raubtiergebiss verschwunden. Wenigstens etwas.
»Zurück ins Kasht?«, fragte Kerra leise. Der Magier schüttelte nur den Kopf. Die Kasht waren Überreste des Kampfes, den sich die Ordensmagier mit der wilden Magie geliefert hatten: Ganze Straßen, an denen der Griff der dunklen Energie spürbar war und die nun, aufgegeben und verfallen, wie Narben um das Tempelviertel prangten. Dass sich kaum Alater dort hineinwagten, machte sie zu guten Orten, um vor Verfolgung Schutz zu suchen.
Magie summte in der Luft, als der Mondschieber versuchte, sie vor den Blicken Neugieriger zu schützen und gleichzeitig Besh zu stützen, der sich immer stärker gegen Evy lehnte.
»Nicht mehr weit«, antwortete Lerato auf Evys unausgesprochene Frage.
Der Mond schimmerte silbern durch die Ascheschicht, die Alat auch nachts einhüllte wie eine Decke. Kerras Finger lagen abwartend auf dem Dolchknauf. Ihr Instinkt schabte unruhig in ihrem Inneren. Sie waren zu langsam und die beiden Schützinnen nicht ihr einziges Problem. Alat schwirrte in diesen Tagen nur so vor Soldaten, Ravids öffentliche Auslieferung des Zirkels hatte den Groll der Stadtwache erregt. In ihrem Zustand würden sie die Wachen töten müssen, falls sie das Pech hatten, auf sie zu treffen. Falls die Wachen nicht schneller sind. Oder mehr. Beunruhigt kaute sie auf ihrer Unterlippe.
»Kerra.« Leratos halblauter Befehl versetzte sie in Kampfbereitschaft. »Zum Tempel.«
Kerra konnte die Anspannung in seiner Stimme hören. Das Kasht mit all seinen imaginären und wirklichen Monstern war zu nahe, um die Leute zu Nachtspaziergängen zu verlocken, und bis jetzt war auch die Stadtwache nach Dämmerungseinbruch ferngeblieben. Doch die relative Sicherheit verblasste mit jedem Herzschlag, als Besh langsamer und langsamer wurde. Blut mischte sich in den Geruch der Stadt, das Aroma der Glasfeuer und die schwere Süße der Mondreben, die an den Mauern ihre Blüten dem Mond entgegenstreckten. Als die erleuchteten Plätze des Tempelviertels vor ihnen auftauchten, atmete Kerra erleichtert aus. Sie war damit alleine.
»Seid ihr wahnsinnig?«, entfuhr es Evy. »Ich dachte, das war ein Deckname!«
»Falsch gedacht«, hörte Kerra den Mondschieber antworten.
»Respektieren die Soldaten in Alat denn den Schutz der Tempel?« Das Misstrauen war Evy deutlich anzuhören.
Nicht wenn sie wissen, dass sich zwei Neshem und der Mondschieber darin verbirgt. Kerra verkniff sich den Kommentar, trotzdem meinte sie Leratos strafenden Blick auf sich zu spüren.
»Also?«, wollte die Kämpferin wissen.
»Schhh!«, fuhr Lerato sie an.
Pure Mordlust leuchtete in den Augen der Kriegerin, doch statt einer Erwiderung fasste sie Besh fester, der von den beiden mittlerweile mehr getragen als gestützt wurde.
Opferlichter brannten vor großen und kleinen Schreinen, in den kunstvollen Glaslaternen leuchtete magisches Feuer. Kerra konnte Evys Finger zucken sehen und wusste, dass sie zum Dolch gefahren wären, hätte die Frau Besh nicht dafür fallen lassen müssen. Es gab keinen Schatten, in dem sie sich hätten halten können.
Schutzzauber schimmerten golden in der Luft, das kühle Prickeln der Magie lief Kerras Arme entlang. Das Tempelviertel diente als Hauptsiegel, um die wilde Magie in der Erde verschlossen zu halten.
Zu ihrem Glück lag der Tempel Rabets am Rand des Tempelviertels. Die Monstermutter erfreute sich in Alat noch weniger Beliebtheit als im Rest des Königreichs, doch niemand wagte, ihr die Ehre eines eigenen Tempels zu verweigern. Opferlichter brannten auf den Stufen, Glaslaternen hingen neben der Tür, und Kerra wünschte wirklich, dass der Tempel der ›Dunklen Mutter‹ ihrem Namen gerecht wurde und auf die Festbeleuchtung verzichtete. Das Klirren von Waffen wehte durch die Nachtluft zu ihnen. Soldaten, die ihren Rundgang durch das Tempelviertel machten.
Sie huschte die Stiegen zum Eingang hinauf. Rabets Siegel starrte ihr von der schweren Holztür entgegen. Unter ihrem Druck schwang die Tür lautlos nach innen auf. Zum Glück. Ihre Fähigkeit, Schlösser zu öffnen, hatte sich in den letzten Wochen zwar verbessert, aber sie konnte darauf verzichten, ihre neuen Talente auf einem hell erleuchteten Tempeleingang zu erproben.
Hinter ihr stolperten Evy und Besh die Stufen hoch, gefolgt von Lerato, der ihnen den Rücken deckte. Als die Tempeltür hinter ihnen sacht wieder ins Schloss glitt, atmeten alle erleichtert auf. Alle bis auf Besh, der wortlos zu Boden glitt. Lerato fing ihn im letzten Moment auf.
»Kerra«, presste er hervor.
Doch Kerra lief bereits zum Hauptaltar. Im Vergleich mit den hell erleuchteten Straßen und Plätzen war es im Inneren dunkel. Vereinzelt brannten Kerzen und warfen Schatten auf die reich verzierten Wände, auf denen die magischen Wesen ihrer Mutter huldigten. Opferschalen in der Blütenform der Lesha, der kleinen Kralle, warteten auf die Morgengaben. Komm schon! Ihre Finger rutschten an den glatten Fliesen des Altars ab, bevor sie die Vertiefungen fand und die lose Kachel gehorsam in ihre Hand glitt. Erleichtert sah sie, dass der Var des Tempels nach ihrem letzten Besuch wieder aufgestockt hatte, und holte das Verbandszeug heraus.
Lerato hatte Beshs Kleidung aufgeschnitten und zwang eine farblose Flüssigkeit in den Mund des halb bewusstlosen Mannes. »Halte ihn in der Position«, sagte er zu Kerra und zog ein feines Messer hervor. »Aus dem Weg«, fuhr er die Kriegerin an, deren Arm nutzlos an ihr hinunterhing. »Wenn du dich nützlich machen willst, zünde ein paar Kerzen an!«
Evys Augen schossen Blitze, doch sie folgte der Aufforderung. Was auch immer Lerato Besh gegeben hatte, der Gestaltenwandler rührte sich nicht, auch nicht, als der Heiler begann, ihm den Pfeil aus dem Rücken zu schneiden. Als Kerras Hilfe überflüssig war, schickte Lerato sie mit einem Wink zu Evy, die die Prozedur mit misstrauischem Blick verfolgte.
»Dein Arm.« Kerra hob das Verbandszeug und deutete auf die Verletzung der Kämpferin.
Neben ihnen schlug der Rest des Pfeils mit einem metallischen Klirren auf die Steinfliesen des Tempels. Die Frau schüttelte nur den Kopf, den Blick unverwandt auf Besh gerichtet.
»Du kannst ihm nicht helfen«, sagte Kerra. »Erst recht nicht, wenn dich das Blutfieber packt.«
»Evy, du stures Maultier.« Besh hatte die Augen aufgeschlagen, das unmenschliche Starren hatte einem fiebrigen Blick Platz gemacht. »Lass dich anschauen. Ich trag dich nicht, du bist mir viel zu schwer.«
»Du bist so ein –« Evy brach ab. Kerra konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören.
Besh lachte und spuckte Blut. Lerato fluchte und presste etwas in Beshs Wunde, das den Kämpfer aufschreien ließ. Evy machte einen Schritt auf ihren Gefährten zu, als sie mit ihrem Arm gegen Kerra stieß und ihren eigenen Schrei zurückbeißen musste.
Kerra wedelte mit dem Fläschchen Schmerztropfen. »Also? Ich muss dich auch nicht verarzten. Wenn du lieber in irgendeinem Versteck herumfiebern willst …«
»Hältst du dich für witzig?«
»Hältst du dich für klug?«
Sie starrten sich an, bis Evy sich schließlich auf den Boden setzte. »Dann bitte. Tu dir keinen Zwang an.«
»Zu gnädig.«
Evy lachte. Ein überraschter Laut, der zu einem gequälten Stöhnen wurde, als Kerra sich an ihrem Hemd zu schaffen machte.
»Verdammt, schneid es einfach auf«, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
Kerras Hand befreite ihren Dolch aus der Rückenscheide. Die Klinge schnitt durch den Stoff und gab den Blick auf einen dick geschwollenen Ellbogen frei. Zu zweit betrachteten sie die violetten Flecken, die im Kerzenlicht fast schwarz schienen. Ich hoffe, die Neshem haben einen brauchbaren Heiler.
»Sieht nicht gut aus«, sagte sie laut.
»Wahrscheinlich gebrochen«, antwortete Evy knapp.
Kerra schnitt die Reste des Hemdes fort. Alte und neue Narben zogen sich über Arme und Brustkorb der Kämpferin. Unter ihrem Schlüsselbein hatte sie sich ein Schutzzeichen in die Haut geschnitten, magische Tätowierungen wanden sich um ihren Brustkorb. Blutergüsse und blaue Flecken verrieten, dass die Reise nach Alat nicht so ereignislos gewesen war, wie die beiden Widerstandskämpfer behauptet hatten. Nun, wenn man sich gegen den König selbst auflehnt … Leratos Auftauchen ließ Kerras Gedanken wieder in das Hier und Jetzt zurückkehren.
»Lasst mich sehen.« Lerato betastete stirnrunzelnd den Arm der Frau.
Kerra überließ ihm Evy und sah zu dem Gestaltenwandler. Besh saß immer noch an die Wand gelehnt, doch seine Augen waren wachsam, als er den Heiler bei der Arbeit beobachtete. Kerra versuchte, nicht zu starren, während sie in den Spendenkisten nach sauberer Kleidung kramte, ein Großteil davon vom Mondschieber selbst gestiftet. Natürlich hatte sie gewusst, dass die mit magischem Blut schneller heilten als normale Menschen, aber es war eine Sache, es zu wissen, und eine andere, es zu sehen.
Als sie erneut aufsah, stand Besh auf einmal neben ihr. Kerra zuckte zurück. Sie hatte nicht gehört, dass der Mann sich bewegt hatte. Besh nahm ihr die saubere Tunika aus der Hand und ging zu Evy, der Lerato gerade notdürftig den Arm verband.
»Sagt euren Heilern, sie sollen sich darum kümmern.« Leratos Stimme klang streng. »Wenn nicht, kann es sein, dass dein Arm unbrauchbar wird.«
»Ich bin keine Idiotin.« Evy stieß ihr zerschnittenes Hemd mit dem Fuß zur Seite und griff nach der Tunika, die Besh ihr entgegenhielt.
»Langsam«, mahnte Lerato. Die Kämpferin schnaubte.
»Er sagte langsam, Evy«, kam es tadelnd von Besh.
»Ihr solltet hierbleiben«, sagte Lerato, als Evy sich widerwillig von Besh in die Tunika helfen ließ. »Zumindest, bis wir sicher wissen, dass eure Verfolger eure Spur verloren haben.«
»Hier?« Besh lachte bitter. »Respektieren die Wachen in Alat denn den Schutz der Tempel?«
»Meistens«, sagte Lerato. »Aber ich meinte nicht hier im Tempel. Es gibt einen Abstieg in die Fadash, nicht weit von hier.«
Unbehagen machte sich in Kerra breit. Die wilde Magie der Fadash, der Stadt unter Alat, war unberechenbar. Es grenzte an ein Wunder, dass sie Evy und Besh – eine Magierin und ein Wesen der Magie – unbeschadet durch die unterirdischen Gänge hatte lotsen können. Es noch einmal zu riskieren … Man muss es ja nicht darauf anlegen. Sie räusperte sich, versuchte das enge Gefühl in ihrer Kehle loszuwerden.
»In die Fadash?« Evy lachte rau. »Nicht einmal ein Pack Falbbiester könnte mich noch einmal dort hinunter scheuchen.«
Lerato machte eine ungeduldige Handbewegung. »Es ist völlig sicher. Keine Wache traut sich dort hinunter.«
»Die Wachen sind das Letzte, was uns Sorge bereitet«, brummte Besh. Was auch immer der Pfeil mit ihm gemacht hatte, der Mann hatte sich vollständig davon erholt. An seiner Stelle war es nun Evy, deren Gesicht von ungesundem Schweiß glänzte.
Lerato zog eine fragende Augenbraue hoch. »Sondern?«
»Vielleicht die beiden Pfeildamen?«, fragte Kerra spitz.
»Guter Punkt.« Lerato verschränkte abwartend die Arme. Doch Besh und Evy blieben ihm die Antwort schuldig.
»Die Fadash ist zu riskant«, sagte Besh stattdessen. »Schutzzauber hin oder her, ihr Ruf ist stark, und ich weiß nicht, wie lange ich ihm widerstehen kann. Ich habe keine Lust, es herauszufinden.«
»In Ordnung.« Kälte hatte sich in Leratos Stimme geschlichen. »Dann trennen sich unsere Wege. Wir können niemanden in der Stadt selbst verstecken, das Risiko ist zu groß.«
»Machen Sie sich um uns mal keine Sorgen. Wir –«
Jemand machte sich an der Tür zu schaffen. Beshs Augen flammten drohend auf, als Lerato warnend die Hand hob.
»Kerra.«
»Sie?«, fauchte Evy. »Was soll sie schon helfen?«
»Und wieder rührt mich dein Vertrauen zu Tränen«, sagte Kerra, bereits auf dem Weg zur Tür. Das Läuferzeichen war etwas verschmiert, doch es prangte immer noch lesbar auf ihrer Wange. Die perfekte Ausrede für alles. Eine Botschaft für den Var Rabet, übte sie, als sie die Tür aufstieß. Vertraulich, leider. Statt der Tempelwache stand sie einem alten Mann gegenüber. Seine Robe war verknittert, das Symbol des Magiergottes Rado glitzerte im Laternenlicht. Großartig. Hoffentlich taucht sein Helfer nicht auf.
»Tavesh Var Rado«, sagte sie laut und neigte respektvoll den Kopf. Der alte Mann vor der Tempeltürwar der Tavesh, das Oberhaupt des Rado-Tempels, doch sein Alter und ein Sturz über die Tempelstiegen hatten ihn mit einem schiefen Gesicht und verwirrten Geist zurückgelassen. Der Var hob automatisch die Hand zum Segensgruß, eine Geste, die nicht zu seinem finsteren Gesichtsausdruck passte.
»Wir müssen die Tempelräume für Vertash schmücken«, sagte er ungehalten. Das Fest war in der Sturmzeit, die noch fast ein halbes Jahr von ihnen entfernt war. Als Nächstes stand die Nacht des Totenmondes an, und Kerra würde diese Nacht der verlorenen Seelen kaum als Fest bezeichnen.
»Zu Diensten«, antwortete Kerra, während ihr Blick nervös über den Tempelhof glitt. Weiter hinten klirrte Metall. Sie trat aus dem Tempel und schloss die Tür hinter sich. Die Wachen konnten jeden Moment hier auftauchen, und wenn nicht sie, dann der Helfer des Var, der vermutlich schon auf der Suche nach ihm war.
»Nicht die alten Banner«, sagte der alte Mann streng, und plötzliches Mitleid zog Kerras Herz zusammen.
»Natürlich nicht.«
Aber Mitleid oder nicht, sie musste den Var Rado loswerden, bevor er die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich zog. Ihr Blut pumpte voll nervöser Energie durch ihren Körper. Der Blick des alten Mannes wanderte an ihr vorbei und über den Tempelplatz. Er schien vergessen zu haben, wo er war. Seine Stirn legte sich in Falten. Kerra sah die Uniformen am anderen Ende des Platzes blitzen.
»Dort hinten sind neue Banner«, sagte sie sanft. Sie deutete in die Richtung, in der sie den Tempel Rados wusste. Der Var sah sie verwirrt an. Dann klärte sich sein Blick, und er nickte.
»Gut«, sagte er. Und dann, zu Kerras unendlicher Erleichterung, begann er mit entschlossenen Trippelschritten in die Richtung seines Tempels zu gehen. Keinen Augenblick zu früh.
Die Wachen tauchten wieder auf, und Kerra presste sich eilig in die kaum vorhandenen Schatten der Mauer. Doch sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Die Aufmerksamkeit der Soldaten galt dem alten Var und nach einem kurzen Gespräch sah sie die drei zusammen zwischen den Tempeln verschwinden.
Kerra erlaubte sich einen erleichterten Seufzer, bevor sie wieder in das Innere des Tempels schlüpfte. Dort waren alle zum Aufbruch bereit. Besh und Evy hatten genug von den ›zweifelhaften Methoden – zuerst ein Lagerraum, jetzt der Tempel. Da sitzt man wie ein Tier in der Falle!‹, und der Mondschieber schien mehr als genug von den Widerstandskämpfern zu haben, die sie unter Todesgefahr in die Stadt geschmuggelt hatten, nur damit diese einen Weg einschlugen, der sie ›direkt in die Kerker Alats!‹ führen würde.
Sie trennten sich schweigend vor dem Tempel. Besh und Evy bewegten sich langsam – viel zu langsam – durch die beleuchteten Gassen und Kerra meinte, Leratos schlechte Laune mit den Händen greifen zu können.
Erst als sie das Stadtviertel Dierat betreten hatten und die Tür seines Heilerladens hinter ihnen zugefallen war, hellte sich seine Stimmung ein wenig auf. Doch das lag einzig an dem Tee, den Kerra aufsetzte. Sie riskierte einen Seitenblick auf den Magier. Sie hatte gehofft, dass sich bei dieser Mission die Gelegenheit bot, dem Mann zumindest eines seiner wohlbehüteten Geheimnisse zu entlocken. Dass sie vorhatte, das Wissen in einem Tauschhandel einzusetzen … Nicht heute. Doch ihr schlechtes Gewissen zeigte sich ob der Aufschiebung unbeeindruckt und lag kalt und schwer in ihrem Magen.
Endlich war der Tee fertig gezogen, und der Mondschieber brach das Schweigen.
»Was ist passiert?«
Kerra fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Locken. Zumindest versuchte sie es, ihre Finger blieben in den verknoteten Strähnen hängen, und besiegt zog sie die Hand wieder zurück.
»Ich habe die beiden am vereinbarten Einstieg abgeholt, es gab keine Probleme.« Kerra versuchte sich keine Bitterkeit anmerken zu lassen. Die Zustiege, die außerhalb der Stadtmauern lagen und damit Menschen unbemerkt aus und nach Alat brachten, waren Leratos bestgehütetes Geheimnis. Kerra, obwohl sie jeden verfluchten Tag ihren Hals riskierte, erfuhr nichts, nicht einmal, wie genau der Mondschieber mit den Leuten Kontakt aufnahm.
Sie vermutete, dass sich sein Netz weit über Alat hinaus erstreckte, aber wie er mit seinen anderen Helfern kommunizierte – nichts als wilde Theorien. Sie war nicht wichtig genug, immer noch nicht.
Nein, ich bin ja nur diejenige, die in einem Labyrinth wilder Magie steht und darauf hofft, dass die Leute auftauchen, bevor die Fadash beschließt, mich zu ihrem Abendessen zu machen. Sie zwang sich dazu, durchzuatmen, bevor sie fortfuhr.
»Alles war ruhig, die Fadash war kaum an Besh interessiert.«
»Wenigstens irgendwas hat funktioniert«, brummte Lerato und meinte damit den Dämpfungszauber, mit dem er die letzten Monate experimentiert hatte, um Magier und Halbwesen vor der wilden Magie in der Fadash zu schützen. »Weiter.«
»Gibt nicht viel zu erzählen. Wir waren kaum aus dem Kasht, als wir auf einmal unter Beschuss waren. Wir wussten nicht, wie viele es sind, dann hat es Besh erwischt, und uns blieb nur das Lager in Soverat.«
Lerato runzelte missbilligend die Stirn. Denn Evy hatte nicht Unrecht gehabt: Wenn der Zauber nicht funktioniert hätte oder eine ihrer Verfolgerinnen magisch begabt gewesen wäre, wäre es ein Leichtes gewesen, sie aufzuspüren. Der Zauber an der Tür wäre für einen Magier ein Leuchtsignal gewesen, und ohne ihn hätte es wohl nicht lange gedauert, bis ihre Verfolger sie gefunden hätten. Und mit dem verletzten Besh wären sie in der Tat in der Falle gesessen.
»Das hätte auch anders ausgehen können.«
Ist es aber nicht. Kerra nippte an ihrem Tee. Die Aufregung der letzten Stunden hatte sie erschöpft, aber ruhig zurückgelassen, und sie genoss die Momente, in denen die innere Unruhe nicht an ihr zerrte wie ein Hund an der Kette.
»Es kann immer anders ausgehen«, sagte sie, als Leratos Augenbrauen sich grimmig zusammenzogen. »Was hätte ich sonst tun sollen? Besh war verletzt, wir hätten den Vorsprung nie halten können.«
Der Heiler sah sie mit einem undeutbaren Blick an. Endlich nickte er langsam, und damit schien das Thema für ihn vorerst beendet. Kerra atmete insgeheim auf. Nach außen spielte Lerato den gütig-strengen Heiler des Fürsten, doch als Mondschieber waren die Regeln einfach: Wer ein Risiko für die Operationen des Mondschiebers war, war es nicht lange. Es stand zu viel auf dem Spiel.
Sie nahm einen weiteren Schluck, genoss die Wärme des Tees. Alat lag still auf der anderen Seite des Fensters. Das Licht der Öllampe brach sich in den kunstvollen Bildern des Glases und ließ vielfarbige Schatten über den Tisch zwischen ihnen huschen.
Etwas Schwarzes fiel schwer zwischen die Teegläser. Angewidert sah Kerra auf die Widerhaken der Pfeilspitze, die Lerato aus Besh geschnitten hatte. Lerato hielt den Pfeilschaft ins Licht.
Kerra runzelte die Stirn. »Gold?«
»Fast.« Mit einer Messerspitze kratzte der Heiler das vermeintliche Gold unter dem getrockneten Blut hervor. »Phönixblut«, sagte Lerato, als er die Substanz zwischen den Fingern zerrieb. »Oder genauer, das Blut eines Phönixwesens. Echtes Phönixblut hätte Besh getötet. Und es ist kaum zu bezahlen«, fügte er hinzu.
Mit angewiderter Faszination begutachtete Kerra das Geschoß. Dass das Blut von magischen Wesen oder Halbwesen dazu verwendet wurde, anderen ihrer Art Schaden zuzufügen, war nichts Neues, doch es verlieh dem Pfeil einen weiteren Anstrich von Hässlichkeit.
»Seit wann haben unsere Wachen solche Pfeile?«
»Haben sie nicht.« Lerato schenkte Tee nach. »Gratulation, du hast deine ersten Kopfgeldjägerinnen getroffen.«
»Danke«, sagte Kerra trocken. »Und was machen die Jägerinnen in Alat?« Außer zu versuchen, Leute umzubringen.
»Das«, sagte Lerato mit einem nachdenklichen Blick auf die Pfeilspitze, »gilt es herauszufinden.«
2
Alat war noch nachtstill, als Kerra Lerato verließ. Die Laternen in Lasat erhellten das Pflaster, bis Kerra mit dem wohlhabenden Viertel auch die hell erleuchteten Straßen hinter sich ließ. In anderen Teilen Alats tobte das Nachtleben, doch die Wohngegenden waren still. Über dem Aschenhimmel, der die Stadt einer Wolke gleich einhüllte, schimmerten verschwommen die Sterne.
Kerra blieb stehen, um die kleine Laterne anzuzünden, die sie von Lerato mitgenommen hatte. Auch wenn sie nach der Begegnung mit den Jägerinnen keine Lust hatte, auf sich aufmerksam zu machen: Ohne Licht würde sie unnötig verdächtig wirken, falls sie Wachen in die Arme laufen sollte. Zwar schien Maran ihre persönliche Hetzjagd auf sie beendet zu haben, doch Kerra traute ihr nicht weiter, als sie spucken konnte. Was laut Dolan nicht sehr weit war. Und mit Marans Kontakten zum Königshaus ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder in der Gunst des Fürsten steht.
Leben begann sich hinter den Fenstern zu regen, als sie sich auf den Weg nach Hause machte. Türen öffneten sich in die Dunkelheit, und Kerra erwiderte das gutgelaunte Nicken eines Bäckers, dessen Lehrmädchen ihm schlaftrunken mit dem Feuerholz hinterhertappte. Eine Gasse weiter kramte ein missmutiger Händler nach den Papieren, die ihm erlaubten, Alat zu verlassen. Die Wache trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen den Schwertgriff, und sie war froh, als sie an den beiden vorbei war.
Im Stiegenhaus fauchte die Katze sie an, die sich vor Kurzem im Haus eingenistet hatte. Obwohl die meisten Bewohner sie fütterten – allen voran Dolan und Sidra –, hieb das Tier aggressiv nach jedem, der zu schnell das Haus betrat.
»Dein Tag war sicher besser als meiner«, gab Kerra zurück und kletterte die Stiegen hinauf. Sie öffnete leise die Tür, als die wütenden Stimmen aus der Küche verrieten, dass ihre beiden Freunde keineswegs schliefen.
»– und, verflucht noch einmal, du kannst –«
Nicht schon wieder. Kerra stöhnte. Seit Dolan sich offiziell einem Magierzirkel angeschlossen hatte, herrschte zwischen ihm und Sidra Krieg. Wenn sie sich nicht in der Küche anschrien – oder im Sterntaucher, am Marktplatz, quasi überall, wo sie länger als eine halbe Stunde zusammen waren – herrschte zwischen den beiden eisiges Schweigen.
»– dir nicht so einfach machen. Die Götter –«
»Einfach? Willst du mich verarschen?«
»Ich sage nur, dass –«
»Nein, ich sage –«
Man sollte meinen, dass ihnen das langsam langweilig wird. Kerra streifte sich die Schuhe ab. Die letzten Stunden holten sie mit plötzlicher Heftigkeit ein. Mit einem Mal war sie so müde, dass sie sich kaum noch bewegen konnte. Kopfschmerzen begannen, hinter ihren Schläfen zu pochen, als sie ins Schlafzimmer ging, oder besser, den Raum, den sie unter anderem auch zum Schlafen nutzten.
»Kerra?«
Sie schälte sich aus den verschwitzen Beinkleidern, als Sidra und Dolan aus der Küche kamen.
»Kerra, bist du in Ordnung? Dolan, hol die Lampe!« In ihrer Sorge hatte Sidra offensichtlich vergessen, dass sie sich mitten in einem Streit mit Dolan befand.
»Lass nur, es geht mir gut. Nichts passiert.«
Skeptisches Schweigen füllte den Raum, und dann flackerte der Docht auf. Kerra seufzte und drehte sich um die eigene Achse. »Seht ihr? Noch alles dran.«
»Den Göttern sei Dank«, murmelte Sidra. Dolan schnaubte, und die beiden erinnerten sich, wo sie stehen geblieben waren.
»Dank eher mir. Sobald ich genug Geld verdiene, kann Kerra mit den Nachtläufen aufhören«, sagte Dolan, der immer noch nicht wusste, dass Kerra für den Mondschieber lief.
Sidra warf entnervt die Hände in die Höhe. Ihr Gesicht schien noch schmäler geworden zu sein, ihre kurzen dunklen Haare hatten ihren Glanz verloren. Besorgt stellte Kerra fest, dass neue Verbrennungen ihren Unterarm zierten.
Dolan verschränkte seine Arme. Auch ihn hatte sein Kerkerabenteuer dünner zurückgelassen, sein Blick nahm manchmal einen gehetzten Ausdruck an, obwohl keinerlei Gefahr drohte. Doch jetzt waren seine gelben Augen fast schwarz vor Zorn.
»Du bist ein Unstern«, sagte Sidra hart, »Verflucht wie wir alle. Du hast in diesem Zirkel nichts verloren. Kerras Nachtläufe bringen uns nicht alle in Todesgefahr!«
Kerra ließ ihren Blick zu Boden fallen. Schuld ließ ihre Kehle eng werden. Sidra wusste, dass sich Lerato hinter dem Mondschieber verbarg. Mit Sicherheit hatte sich ihre Freundin längst zusammengereimt, wohin sie verschwand, wenn Kerra sich zu nachtschlafender Stunde aus der Wohnung schlich.
»Todesgefahr?« Dolan lachte verächtlich. »Glaubst du, die Götter werden uns alle mit Blitzen niederstrecken, nur weil ich Opferkerzen verkaufe?«
»Du hast in einem magischen Zirkel nichts verloren«, wiederholte Sidra laut.
»Das sieht der Zirkel anders! Nur, weil wir ohne Magie geboren sind, heißt es nicht, dass wir sie nicht erlernen können!«
Doch, das heißt es. Kerra drehte den beiden den Rücken zu und griff nach ihren Nachtkleidern.
»Kerra sieht Magie, ich spüre sie«, fuhr Dolan unbarmherzig fort. »Bei Nicht-Bahnu ist das ein Zeichen von magischem Talent! Nur, weil du Magie nicht wahrnimmst –«
»Das hat damit nichts zu tun!« Auf Sidras Wangen brannten hektische Flecken. »Verstehst du wirklich nicht oder hörst du mir einfach nicht zu? Es gibt einen Grund, warum uns die Götter nicht mit Magie bedacht haben!«
»Ach ja, und welchen? Was genau können Ungeborene ihnen denn getan haben?«
»Denk an Sarass«, sagte Sidra in einem flehenden Ton, der nicht zu ihr passte und Kerras Herz schmerzhaft zusammenpresste.
»Er hatte keine Magie, und als er sie sich gegen den Willen der Götter angeeignet hat, da –«
Dolans Blick ließ Sidra verstummen.
»Zu solchen Sachen hältst du mich fähig?« Seine Stimme hatte einen gefährlichen Klang angenommen. Kerra erkannte sie kaum wieder. Für einen Augenblick sah Sidra beschämt aus.
»Dolan, bitte«, versuchte sie dann. »Ich meine nur, die Götter, sie –«
»Deine Götter können mich kreuzweise.«
»Es sind auch deine Götter«, fuhr Sidra ihn an.
»Nein«, sagte Dolan hart, »das sind sie wirklich nicht. Sarass ist mehr mein Gott, als die anderen es je waren.«
Sidras Züge verhärteten sich. Kerras Magen krampfte sich zusammen. Sie ließ ihr Hemd sinken und starrte Dolan an. Ohne ein Wort verließ Sidra den Raum. Einen Moment später schlug die Küchentür mit einem Knall zu.
»Sarass?«, fragte Kerra, als die Tür hinter Sidra ins Schloss gefallen war. »Wirklich?«
»Es ist die Wahrheit«, sagte Dolan stur.
»Was? Dass du einen massenmordenden Seelenmagier, der vor ewigen Zeiten in irgendeinem Loch verscharrt wurde, eher anbetest als sie?« Kerra nickte zu den Götterzeichen, die Sidra an die Wand gemalt hatte.
Dolan zuckte mit den Schultern, doch Kerra sah die Scham in seinen Augen. Sarass war kein Name, der leichtfertig genannt wurde, auch nicht von Unsternen. Vor allem nicht von Unsternen, denen man unterstellte, sich die Rückkehr des toten Verrückten herbeizusehnen. Mehr als Sehnen kann man ohne Magie ja auch nicht machen. Kerra schüttelte innerlich den Kopf. Sarass’ Legionen. Was für ein Witz. Nur hielt der Rest ihres Volkes die Anhänger Sarass’ leider nicht dafür, sondern für eine Gefahr, die im Keim erstickt gehörte. Sie konnten sich glücklich schätzen, dass sie als Unsterne nur noch als solche gekennzeichnet wurden und nicht mehr getötet.
»Ich war heute bei Lerato«, sagte Dolan und riss Kerra aus ihren Gedanken.
»Ja?« Lerato hatte den Besuch mit keinem Wort erwähnt.
»Er sagt, dass ich mich damit anfreunden muss, dass mein Arm nie wieder ganz heilen wird.«
Die Entzündung der Kettenwunden hatte breite Narben auf Dolans Hand- und Fußgelenken hinterlassen, und trotz der Bemühungen des Heilers begann sein linker Arm immer noch, unkontrolliert zu zittern. Kerras Blick fiel auf Chaelas Auge, das Brandmal, das Dolan genauso wie sie am Handgelenk trug und sie als Verurteilte kennzeichnete. Der junge Mann legte die Hand über das Mal, um es vor Kerras Blick zu verbergen. Kerra fragte sich, ob ihm die Geste bewusst war.
»Ein Handwerk kann ich vergessen«, fuhr Dolan fort, »Die Sandgrube nimmt mich nicht zurück. Und die anderen – sobald sie das Auge sehen, ist es vorbei. Aber Schutzzeichen auftragen, Salze gegen Schattengänger mischen – die Leute zahlen gut dafür.«
Kerra rieb sich mit der Hand über das Gesicht, während sie überlegte, was sie dazu sagen sollte. Dolan kam ihr zuvor.
»Verdammt, Kerra, was soll ich denn sonst machen? Zu Hause bleiben und die Echsen hüten?«
»Die können gut alleine auf sich aufpassen.«
»Kerra …«
»Ich weiß, ich weiß. Gib Sidra einfach Zeit.«
»Zeit? Das tue ich seit fast vier Wochen. Ich habe die Schnauze voll. Ich bin bei einem Zirkel, und sie wird sich verdammt noch einmal damit abfinden müssen!«
»Sie macht sich nur Sorgen.«
»Sie hat kein Recht –«
»Verdammt, Dolan, bist du so blöd oder tust du nur so?« Kerra war mit ihrer Geduld am Ende. Sorge und Wut vermischten sich brennend, ließen sie die Worte heftiger hervorstoßen als gewollt. »Glaubst du ernsthaft, Sidra oder ich wollen dich nicht in dem Zirkel haben, weil wir denken, du fängst auf einmal an, Seelen zu opfern?«
»Ich –«
»Dein letztes Zirkelabenteuer hat dich fast den Kopf gekostet! Und uns auch«, schob sie hinterher, obwohl sich ihr schlechtes Gewissen regte. Ravid, ihre Arbeit mit dem Mondschieber… Sie war nun wirklich niemand, der wegen gefährlicher Unternehmungen mit dem Finger auf andere zeigen sollte. Sie verbot sich, dem Gedankengang weiter zu folgen, und ließ sich auf ihre Matratze sinken. Jede Faser ihres Körpers schmerzte und alles, was sie wollte, waren ein paar Stunden Schlaf, bevor sie sich mit der Tatsache herumschlagen musste, dass sich schießwütige Kopfgeldjäger in ihrer Stadt herumtrieben.
»Kerra …«
Sie schoss einen entnervten Blick in Dolans Richtung. »Ihr seid beide alt genug. Redet miteinander. Und ich meine Reden, nicht schreien.«
»Aber Sidra hat –«
Kerra zog sich die Decke über den Kopf. »Vertragt euch!«, knurrte sie, Dolans Antwort ignorierend. Oder ich erschlage euch noch beide.
Doch sie schlief erst ruhig, als sie die Tür knarren hörte und wusste, dass Sidra wieder bei ihnen war.
***
Sidras Schrei riss Kerra aus dem Schlaf. Dolan war bereits an Sidras Seite. Er kniete über ihr, versuchte sie auf die Matratze zurückzuzwingen. Sidras Körper bäumte sich in die Höhe, ihre Schreie wurden gellender, sie wand sich wild in seinem Griff.
Angst griff kalt nach Kerras Herz, als sie die Decke von sich warf und zu ihren Freunden eilte. Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht!
»Kerra«, keuchte Dolan atemlos von der Anstrengung, Sidra zu halten.
Kerra packte den kleinen Beutel neben Sidras Bett. Das rote Pulver rieselte auf ihre bebenden Finger. Sidra schrie erneut, ein langanhaltender Laut, der ihr durch Mark und Bein drang. Sie presste das Pulver gegen Sidras Stirn.
Die Schreie verstummten abrupt. Mit weit aufgerissenen Augen erstarrte Sidra mitten in der Bewegung, den Körper unnatürlich nach oben gewölbt. Dolan hielt sie weiterhin fest, sein Atem ging schnell, während Sidras zu langsam und flach war. Kerra ließ ihre Hand, wo sie war, die Stirn ihrer Freundin klamm unter ihren Fingern. Langsam drehte Sidra den Kopf zur Seite. Ihre Augen waren so weit zurückgerollt, dass Kerra nur das Weiße sah und doch schien Sidra sie zu mustern. Grauen mischte sich in die Sorge um ihre Freundin, ein primitiver Teil ihrer Seele wimmerte auf, drängte sie zur Flucht. Sie beachtete ihn nicht, zwang ihre Lippen in ein Lächeln.
»Ich bin’s«, wisperte Kerra. »Es ist alles in Ordnung.«
Einen Herzschlag lang starrte Sidra sie an. Dann schlossen sich ihre Augen, und sie fiel kraftlos auf ihr Bett zurück.
Dolan zählte leise bis fünf, bevor er seinen Griff löste. Seine Stimme zitterte, als er sagte: »Du musst mit Lerato reden.«
»Ich weiß.« Kerra tastete nach Sidras Puls, atmete auf, als er regelmäßig und kräftig unter ihren Fingerspitzen schlug.