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Unstern - Erster Band der Unstern-Reihe E-Book

Katrin Ils

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Beschreibung

Kerra steckt in Schwierigkeiten. Ihr bester Freund sitzt im Kerker, die Stadtwache will sie neben ihm am Galgen sehen und der Verbrecherkönig Ravid fordert bei Kerra ihre Schulden ein. Doch in einer Stadt wie Alat, wo Kriminelle hilfsbereiter sind als die Wache, bleibt Kerra keine Wahl: Um ihren Freund zu befreien, muss sie sich mit den Verbrechern Alats verbünden. Ravid aber verfolgt seine eigenen Ziele und nur zu schnell findet Kerra sich inmitten eines drohenden Bandenkrieges wieder. Verfolgt von der Stadtwache, verstrickt sie sich immer tiefer in die Geheimnisse Alats. Und der Tag der Hinrichtung rückt unaufhaltsam näher.

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Veröffentlichungsjahr: 2017

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Contents

Titelseite

Widmung

Glossar

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Stadtkarte Alat

Leseprobe Flammendunkel

Nachwort

Danksagung

Biographie

Impressum

Unstern

Für meine Familie

Glossar

Begriffe

Fadash – die magische Stadt unter Alat, in der die wilde Magie versiegelt wurde.

Alat – Fürstenstadt im Königreich Lazeda und Kerras neue Heimat.

Bahnu – ein Volk mächtiger Magier, die ursprünglich aus dem Westen Lazedas stammen. Ihr Gebot, Wissen zu vermehren und zu verbreiten, hat sie im ganzen Königreich verteilt.

Var – ein veralteter Titel für Gottgeweihte. Nachdem die Verbrecherbande den Titel „Priester“ für sich vereinnahmt hatte, wurde dieser Titel in Alat wieder aufgenommen, um Missverständnisse zu vermeiden. In der königlichen Hauptstadt Kyrst wird über diese Zustände nur der Kopf geschüttelt.

Neshem – Name der Widerstandskämpfer, die sich gegen die strengen Magiegesetze des Königs auflehnen.

Halbblut – ein Mensch, in dessen Ahnenreihe sich ein magisches Wesen findet (Meermensch, Phönix, Gestaltenwandler …)

Khamek – die Schattenwelt, in der die Dämonen sich aufhalten, sofern sie nicht von einem größenwahnsinnigen Magier gerufen werden. Oder Hunger haben. Mhmmm, frische Seelen …

Aus der Götterwelt von Lazeda

Laral – Totengott. Sein Symbol ist der Mond.

Caia – Göttin der Diebe und Wegelagerer, Schalk und Chaos. Als einzige Gottheit kann sie zwischen den Sternen und der Khamek wandeln. Ihr Symbol und heiliges Tier ist der Isch, ein Aasvogel.

Chaela – Göttin der Gerechtigkeit und Strafe, ihr Symbol ist ein Auge.

Hanarh – Göttin des Handwerks und Schutzgöttin der gelernten Magier.

Rabet – die Monstermutter, die alle magischen Wesen in die Welt gebracht hat. Ihr Symbol ist die Blume Lesha, die ›kleine Kralle‹. Von dieser Pflanze sollte man sich fernhalten …

Rado – Gott der Magie. Sein Symbol ist das Feuer.

Sternengötter – die vier großen Götter der Bahnu.

Die Herrscherin der Flüsternden Sterne * Der Hüter des Ewigen Mondes * Der Bruder der Tanzenden Lichter * Die Seherin der Leuchtenden Wasser *

Nachtgroßen – die alten Götter, die von den Sternengöttern besiegt wurden.

Cial – die Priester der Bahnu

Cialla – die Sternenschrift, die heilige magische Schrift der Bahnu.

1

Kerra zwängte sich an dem Händler vorbei. Die Ware in seiner Rückentrage schwankte bedrohlich und die Flüche des Mannes folgten ihr, als sie quer über den Marktplatz rannte. Sie drängte sich rücksichtslos durch die Menge, sprang im letzten Moment über einen Fischkorb, bevor sie sich zwischen den Ständen in die kleine Seitengasse presste. Hühner stoben gackernd vor ihr davon, ihre Füße trommelten einen gehetzten Takt auf den festgebrannten Boden. Kerras Lunge brannte, doch sie zwang sich dazu, schneller zu laufen. Die Leute wichen ihr aus, als sie unter den Sonnensegeln durch die engen Gassen von Alat stürmte. Ihre Locken hingen ihr wirr ins Gesicht, Schweiß rann über ihren Rücken, als sie die gepflasterte Straße hinaufjagte.

Keuchend kam sie vor dem Haus zum Stehen. Die Tür wurde aufgerissen, noch ehe sie die Hand zum Klopfen gehoben hatte.

»Meister Lerato«, schrie der Hausdiener. »Meister Lerato, die Medizin!«

Kerra fummelte nach der kleinen Flasche in ihrer Tasche, als der fürstliche Heiler in der Tür auftauchte. Sie sah in ein gutmütiges Gesicht mit sauber gestutztem Bart und ernsten Augen, bevor ihr der Mann die Flasche abnahm. Mit schnellen Schritten verschwand der Heiler wieder im Hausinneren. Eine Münze flog in ihre Richtung. Kerra fing sie aus der Luft, als der Diener die Tür mit einem Knall hinter sich zuzog.

Die Mittagssonne brach sich in den bunten Glasfenstern der Geschäfte rundum, und Kerra blinzelte sich den Schweiß aus den Augen. Die Münze in der Hand, stützte sie sich auf ihren Knien ab, während sie wieder zu Atem kam.

Über ihr wurde ein Fenster aufgestoßen, Stimmen wurden laut, und der Geruch von Fischsuppe drang zu Kerra hinunter. Eine Frau kam mit einem weinenden Kind die Gasse hinunter, als die Glocken der Tempel Hanarhs einsetzten und das Ende der Mittagsruhe verkündeten. Der Blick der Alaterin glitt über Kerra und blieb an den gelben Vogelschwingen auf ihrer Wange hängen, die sie als Läuferin kennzeichneten.

»Bist du frei?«

Das Kind wollte sich nicht beruhigen, die Frau wippte es auf ihrer Hüfte auf und ab. Die Schutzamulette, mit denen das Kind behangen war, klimperten im Takt. Die letzten Glockenschläge verhallten. Kerra richtete sich wieder auf und wischte sich das verschwitze Haar aus dem Gesicht.

»Klar. Wohin?«

»Das Glasgeschäft in der Himmelsgasse.« Die Frau kramte in ihrer Tasche.

»Drei Kupfer.«

»Zwei.«

»Meinetwegen.«

»Und sag ihm, er kann mich nicht länger auf die Sachen warten lassen. Meine Kunden werden ungeduldig!«

Die Frau zog einen kleinen Zettel hervor. Das Kind hatte aufgehört zu weinen und spielte mit den bunten Glasperlen, die die Frau um den Hals trug. Die Alaterin hielt Kerra die Nachricht mit dem verlangten Preis entgegen, als ihr Blick auf das Sternenmal fiel, das aus dem Ausschnitt von Kerras Tunika lugte. Die Frau erstarrte, die Hand mit dem Zettel zog sich zurück. Der Blick der Frau wanderte zu Kerras Gesicht, den blassgelben Bahnu-Augen und zurück zu der Tätowierung über ihrem Schlüsselbein. Kerra wartete.

Die Farbe der Vogelschwingen auf ihrer Wange fühlte sich bröckelig an. Kerra tupfte mit einem Finger vorsichtig über das Läufersymbol, während die Frau vor ihr überlegte, ob sie einer Bahnu über den Weg traute oder nicht. Endlich riss die Frau den Blick vom Sternenmal los und reichte ihr die Nachricht mit spitzen Fingern. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging.

»Auch dir einen schönen Tag«, murmelte Kerra hinter ihr her, als sie die Münzen zusammen mit der Botschaft in ihrer Gürteltasche verstaute. Sie nahm sich die Zeit, ihre schwarzen Locken so gut wie möglich zu entwirren und wieder zurückzubinden.

Die Sonne kämpfte sich durch die Asche in der Luft und Kerra nahm den letzten Schluck aus ihrem Wasserbeutel, als sie Richtung Marktplatz schlenderte. Die erbarmungslose Mittagshitze hatte endlich nachgelassen. Die Bewohner von Alat verließen ihre Häuser und Teestuben und gingen ihrem Tagesgeschäft nach.

Ein Wagen, beladen mit Wachskerzen und Spitzenschirmen, polterte an ihr vorbei, wohl auf dem Weg nach Menkarat, dem Adelsviertel im Norden der Stadt. Unter ihren Füßen knirschte der allgegenwärtige graue Flusssand, dessen kostbare Körner den Glasschmieden trotz aller Vorsicht entkamen und sich in der Stadt verteilten. An einer Straßenecke machte sich ein Junge mit einem Eimer Wasser daran, die dunkelblauen Schlieren von den bunten Glasfenstern des Stoffgeschäftes zu entfernen. In Alat ein vergebliches Unterfangen.

Selbst hier in Dierat, einem besseren Viertel der Fürstenstadt, klebte der feine Ruß der Glasfeuer an den Hauswänden und in der Luft und überzog Fenster und Lungen gleichermaßen mit seinen Schlieren. Die Gegend veränderte sich langsam, als Kerra sich dem Armenviertel näherte. Die teuren Schmuckstücke und exotischen Köstlichkeiten verschwanden aus den Schaufenstern, die kleiner und schmutziger wurden.

Die großen Steinplatten unter ihren Füßen machten ausgebrochenem Kopfsteinpflaster Platz, bevor die Gassen endgültig in das Armenviertel, Isharat, krochen, das fest in der Hand der dortigen Bande war. Die sogenannten ›Priester der Caia‹ hatten sich mit der Stadtwache von Alat Straßenschlachten geliefert, bis der Fürst den Blutzoll als zu hoch befand. Hin und wieder wurden Stimmen laut, die die Priester aus ihrem Viertel ausgeräuchert sehen wollten, »in dem der Dämon nun nistet wie die Isch in Leichen«. Die Stimmen wurden meist rasch zum Verstummten gebracht. Die Wachen betraten das Nest nicht ,und der Anführer der Priester, Ravid, herrschte mit seinen Leuten uneingeschränkt über den inneren Teil des Armenviertels. Selbst untertags vermieden es die Alater, Isharat zu betreten, oder blieben in den Straßen an der Grenze zu Dierat, durch die Kerra sich nun bewegte.

Sie nahm einen weiteren Schluck Wasser, während sie sich in Gedanken den besten Weg in das Handwerksviertel zurechtlegte. Die Schmuckstraße lag an der Stadtmauer unterhalb der Glasschmiede. Wenn sie sich rechts hielt, würde der Weg sie in einem umständlichen Bogen über Dierat zu dem Geschäft bringen, wo sie den Brief abliefern sollte. Oder aber, sie nahm den Weg durch Isharat – und geradewegs durchs Nest. Der Weg würde Kerra eine gute Stunde Fußmarsch ersparen. Wenn ihr nicht jemand die Kehle durchschnitt. Rechts oder geradeaus? Kerra grinste. Ein entgegenkommender Handwerker warf ihr einen eigenartigen Blick zu. Geradeaus.

In den Wohngegenden war es ruhiger, denn die meisten Alater gingen zu dieser Tageszeit ihrer Arbeit nach. In den engen Gassen spannten sich Wäscheleinen über Kerras Kopf, an den Wänden standen Schmähbotschaften, die sich gegen die Stadtwachen und den Fürsten richteten. Kerra erkannte das Symbol des Mondschiebers, unter dem eine unglaubliche Summe vermerkt worden war. Entweder wollte irgendein Unglücklicher mit dem Menschenschmuggler Kontakt aufnehmen, oder aber die Stadtwache versuchte wieder einmal, den Mondschieber in eine Falle zu locken.

Der letzte Läufer, der dabei erwischt worden war, ein kleines Mädchen zu dem Menschenhändler zu bringen, verfaulte noch in der Henkersgasse. Im Schatten der Ziegelbauten war es beinahe kühl, und Kerra trat unwillig auf den sonnenbeschienenen Platz hinaus, auf dem ein einsamer Ziehbrunnen stand.

Der in die Brunneneinfassung gebrannte Vogelschädel war die einzige Warnung, dass sie das Nest betreten hatte. Als Symbol der Göttin Caia, Schutzgöttin der Diebe und Wegelagerer, war es zum Symbol von Ravid und seinen Leuten geworden, die sich ironisch die »Priester der Caia« nannten. Was dazu geführt hatte, dass die meisten Leute in Alat wieder das alte Wort Var für die echten Priester verwendeten, damit es nicht zu Missverständnissen kam. Unwillkürlich spannte sich ihr Körper, bereit zur Flucht oder zum Kampf. Erregung ließ ihr Blut tanzen, als sie sich vergewisserte, dass ihre Messer fest in den Lederscheiden steckten.

Die Straßen im Nest sahen nicht anders aus als in den anderen armen Gegenden in Alat, doch selbst am helllichten Tag klebte das Versprechen von Gewalt in der Luft wie die Asche der Glasfeuer. Im Nest endeten alle, die sonst in Alat keinen Platz fanden, die untertauchen mussten oder für die ein Leben nach Ravids Regeln besser war als gar kein Leben.

Denn obwohl die Tore von Alat nicht strenger bewacht wurden als die anderer Städte, machten die Siegelzauber, die die wilde Magie unter Alat gefangen hielten, es denen, die keine Passierscheine erhielten, unmöglich, sich mit gekauften Schleierzaubern oder ähnlichen Finten aus der Stadt zu schummeln. Nur wenige riskierten den Weg über die Mauern, noch weniger wagten ihr Glück über den reißenden Fluss. So blieb den Gesuchten, Entflohenen und Verurteilen nur der Weg ins Nest, wo sie sich unter den Priestern ein neues Leben aufbauten.

Kerra schlüpfte durch das enge Gassengewirr. Die Mauern waren mit Symbolen übersät, Nachrichten und Warnungen in der Zeichensprache des Nests: Die Nachtwachen hatten ihre Runde auf die Speiergasse ausgeweitet, der Bäcker am Mondbrunnen ließ wieder anschreiben, am Osttor standen nur noch drei Wachen, der Wein im Wilden Farn war gepanscht. Neben dem eingeritzten Vogelschädel der Priester und der Klauensonne des magischen Zirkels Bathars sah Kerra die Blume der Göttin Rabet. Unter dem Zeichen der Monstermutter tauschten ihre Halbblutkinder Informationen aus. Wir sind das Feuer, hatten die Neshem, der magische Widerstand, der hoffte, den König selbst zu stürzen, trotzig in die Mauer geritzt. Irgendein Witzbold hatte eine winzige Kerze darunter gemalt.

Kerra schnaubte amüsiert. Ihr Blick glitt nachlässig über die Botschaften, als ihr der Atem stockte. Ihre Finger bebten, als sie über dem Zeichen verharrten. Der Unstern, den sie auf der Haut trug, das Zeichen des Bahnumagiers Sarass, starrte ihr von der Wand entgegen. Kerra schluckte. Es war keine Botschaft dabei, kein Hinweis, nur der Unstern, der sie hämisch anzugrinsen schien. Ärgerlich ballte Kerra ihre zitternden Finger zu Fäusten. Die Schattengänger sollten den Zeichner holen! Entschlossen schüttelte sie den Schreck ab, der sich beim Anblick des Unsterns kalt in ihren Nacken gesetzt hatte. Sie lief weiter. Das war wahrscheinlich der gleiche Idiot, der sich mit den Neshem angelegt hat. Ich hoffe, sie finden ihn.

In der Ferne konnte sie den Lärm der Teehäuser und Märkte hören, doch Kerra hielt sich in den ruhigen Gassen der Wohngegend, wo die Asche an der aufgespannten Wäsche gewitterblaue Spuren hinterließ. Ihr Herz klopfte immer noch zu rasch, und alte Gewohnheit ließ sie nach ihrem Jagdspeer greifen. Ihre Hand fasste ins Leere und erinnerte sie daran, dass sie ihn in der ersten Woche in Alat verkauft hatte. Was sollte sie auch in einer Stadt damit anfangen? Die Raubtiere hier waren anderer Natur.

Wilde Sehnsucht nach Raya, nach den Steppen und dem scharfen Geruch der Falbbiester durchfuhr sie. Nichts kam an das Gefühl heran, mit dem ihr Blut sang, wenn sie sich den schnappenden Kiefern der Bestien entgegenwarf. Oder fast nichts. Die Erinnerung an den Lauf an diesem Abend stahl sich in ihre Gedanken zurück, bevor Kerra sie resolut zur Seite schob. Entschlossenen Schrittes ließ sie den Unstern und die Sehnsucht hinter sich. Ein paar Gassen weiter schlüpfte sie unbehelligt aus dem Nest, Erleichterung und Enttäuschung eine bittere Mischung auf ihrer Zunge.

Sie war noch nicht weit gekommen, als ein scharfes »Halt!« sie stehenbleiben ließ. Kerra warf einen Blick zurück und unterdrückte ein Stöhnen, als sie Maran und Kiros erkannte. Sie verschränkte die Arme und warf den näherkommenden Soldaten einen finsteren Blick zu.

Maran, die mit sicheren Schritten auf sie zusteuerte, war nicht viel größer als Kerra, aber muskulöser. Ihr schwarzes Haar war zu einem festen Zopf gebunden, und ihre dunklen Augen stachen aus einem Gesicht hervor, das man hübsch hätte nennen können, wäre da nicht die Verbissenheit gewesen, die sich in ihre Gesichtszüge gegraben hatte. Unter dem Wappen der Alater Wache wies ein Rangabzeichen sie als Leutnant der königlichen Armee von Kyrst aus. Eine Position, die sie den elterlichen Kontakten zum Fürstenhaus verdankte, wie böse Zungen Kerra zugetragen hatten.

Maran schien die Bemühungen ihrer Eltern nicht zu schätzen, denn anstatt im kühlen Inneren des Hauptquartiers der Wache zu blieben, schleifte sie ihren Partner auf Patrouille durch das staubige Alat. Hauptsächlich, um Kerra das Leben schwer zu machen.

Ihr Partner folgte Maran in gemütlicherem Tempo. Er überragte die junge Frau um zwei Köpfe und war doppelt so breit, eine solide Wand aus Muskeln. Doch Kerra wusste, wie schnell Kiros sich bewegen konnte. Kiros war es gewesen, der Maran bei ihrer ersten Begegnung mit Kerra von ihr heruntergezogen hatte. Maran war gerade dabei gewesen, Kerras Gesicht mit den Scherben des Weinbechers zu verschönern. Es war derselbe Becher, den Kerra ihr zuvor an den Kopf geworfen hatte, aber auch in ihrem betrunkenen Zustand hatte Kerra die Reaktion der Soldatin damals übertrieben gefunden.

Maran baute sich mit unbewegtem Gesicht vor ihr auf.

»Papiere«, forderte sie.

»Hast du Gedächtnisprobleme?«, fragte Kerra trocken. »Oder haben dir die drei Mal gestern nicht gereicht?«

Seit ihrem ersten, unglückseligen Aufeinandertreffen in dem Weinhaus – Dolan und Sidra hatten es eine hirnverbrannte Schlägerei genannt – suchte die Soldatin nach etwas, das sie Kerra anhängen konnte. Vor einiger Zeit hatte sich Maran nun in den Kopf gesetzt, dass Kerra mit dem Mondschieber in Alat unter einer Decke steckte. Vermutlich, weil für die Soldatin die mächtige Magie einer Bahnu die einzig vernünftige Erklärung war, wie jemand Waren und Menschen aus einer so stark gesicherten Stadt wie Alat bringen konnte. Pech, dass Kerra als Unstern in etwa so viel Magie wie ein Glühwürmchen besaß. Etwas, worüber sie die Soldatin mit Freude im Dunklen ließ. Ein hässliches Grinsen stahl sich auf das Gesicht der Soldatin.

»Beleidigung einer Wache. Ich denke –«

»Maran«, unterbrach Kiros mit einem leisen Seufzen. Kerra schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, und die Miene des Mannes verdüsterte sich.

»Papiere«, sagte er und streckte die Hand aus. Kerra präsentierte ihre Läuferberechtigung mit einer kleinen Verbeugung, bevor sie das schweißdurchnässte Papier in Marans Hand drückte. Die Soldatin verzog keine Miene.

»Den Brief.«

Kerra fing Kiros’ warnenden Blick auf und leistete dem Befehl ausnahmsweise wortlos Folge. Sie hatte bis jetzt noch nicht herausgefunden, warum der Soldat sich bei ihren Zusammentreffen auf Kerras Seite stellte, doch sie spürte, dass seine Geduld enden wollend war. Maran warf einen Blick auf das Siegel auf dem Briefumschlag.

»Da bist du aber im falschen Teil der Stadt.«

»Ich war auf dem Weg dorthin«, sagte Kerra. »Du hast mich aufgehalten. Warum genau noch einmal?«

»Durch das Nest?«, fragte Kiros.

»Das Nest?« Kerra sah sich ausgiebig um.

»Du hast ihn schon verstanden«, knurrte Maran. Kerra ignorierte sie.

»Eine Läuferin, die sich verläuft?« Kiros zog eine Augenbraue hoch. Kerra zuckte mit den Schultern.

»Ich bin noch nicht so lange in Alat.«

Der Soldat lachte leise. »Länger als wir.«

»Du glaubst, du bist so schlau, nicht?« Maran baute sich vor Kerra auf. »Aber ich habe Neuigkeiten für dich. Jetzt, wo wir den Mörder endlich haben, ist deine Schmugglerbande wieder ganz oben auf meiner Liste.«

»Großartig«, sagte Kerra. »Du machst die Stadt zu einem besseren Ort.«

Marans Augen sprühten vor Hass. »Du denkst wohl, Sklaverei ist ein Witz?«

»Glaubst du wirklich, ich verbringe meine Freizeit damit, kleine Kinder nach Techem zu verschachern?« Der Zorn ließ Kerras Stimme zittern.

Maran lachte.

»Ah, die Maske der gerechten Wut. Lass es, du verschwendest deine Schauspielkunst. Ich weiß, was du bist, und ich werde dich kriegen.«

»Dann ist es wohl besser, ich gestehe gleich«, Kerra streckte ihr dramatisch die Hände entgegen, »Ich bin der Mondschieber.«

Kiros’ Blick mahnte sie zur Vorsicht, aber es war zu spät.

»Ein Geständnis«, sagte Maran. »Wunderbar.«

Sie zog die Handeisen hervor. Kerras Körper spannte sich, bereit zum Kampf. Marans Hand glitt zu ihrer Waffe, als Kerras Finger sich um den Griff ihres Messers schlangen.

»Nur zu«, sagte die Soldatin. »Versuch es.«

Die Klinge sang, als die Lederscheide sie freigab.

Dafür verhaften sie dich.

Kerra fasste das Messer fester, ihr ganzer Körper bebte, bereit, doch – Was ist mit Sidra und Dolan? Wenn sie erst einmal einen Grund gefunden hat, dich einzusperren, wird sie für die beiden auch einen finden.

»Was ist? Den Mut verloren?«, fragte Maran. Das Kurzschwert der Soldatin beschrieb einen fast gelangweilten Bogen, doch die Augen der Frau waren wachsam. Kerra erinnerte sich daran, dass die Frau nicht wusste, dass sie keinerlei Magie besaß. Sie grinste wild.

»Du solltest aufpassen, ein Fingerschnipsen von mir und du fristest dein Dasein als Eidechse.«

»Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du keine Finger mehr zum Schnipsen haben, Tarash.«

Kerra lachte. Der Dolch fühlte sich gut unter ihren Fingern an.

»Tarash? Wirklich? Da hat mich meine Mutter Schlimmeres genannt.«

»Du glaubst auch, dass du –«

Kiros’ Stimme schnitt scharf durch die Luft.

»Genug!« Er stand vor Kerra. »Oder willst du in der Henkersgasse enden?«

Es war, als hätte jemand einen Eimer kaltes Wasser über sie geschüttet. Kerra besann sich, zwang sich dazu, ihre Muskeln zu entspannen und das Messer zurückzuschieben. Marans Hand schloss sich fester um die Eisen.

»Maran«, Kiros legte ihr den Arm auf die Schulter, »lass sie. Wir können nicht jeden verhaften, der dumme Witze macht.«

»Dumme Witze? Sie hat ihre Waffe gezogen«, fauchte Maran.

»Lass es gut sein.«

»Ich schwöre dir, sie hat mit dem Mondschieber zu tun. Auf jeden Fall mit den Priestern.«

Eine kleine Gruppe Schaulustiger hatte sich in sicherem Abstand versammelt.

»Vermutungen sind kein Grund für eine Verhaftung«, sagte Kiros. Maran sah ihren Partner an, eine eigenartige Mischung aus Frustration und – Mitleid. Interessant.

»Was schlägst du dann vor?«, fragte Maran. Ihr Ton verriet nichts, doch etwas in der Art, wie sie ihn ansah, weckte in Kerra das Gefühl, dass es längst nicht mehr um sie ging.

Kiros wich Marans Blick aus. Er sah zu Kerra. Sein Blick huschte flüchtig über das Sternenmal. Kerra versuchte, ihr Gesicht so ausdruckslos wie möglich zu halten, während sie sich daran erinnerte, dass weder er noch Maran den Schuldzauber auf ihr sehen konnte, ja ihn nicht einmal hätte sehen können, wenn sie Magier gewesen wären. Ansonsten hätte Maran Kerras Kopf schon vor Wochen in eine Schlinge gesteckt. Doch der Beweis ihrer Schulden verbarg sich vor allen außer vor der, die ihn auf Kerras Haut gesprochen hatte.

»Heb dein Hemd«, sagte Kiros ruhig. Kerra atmete innerlich auf, als sie gehorchte. Auf ihrem Bauch waren die Krallennarben zu sehen, wo das Falbbiest sie um ein Haar ausgeweidet hatte, und sonst nichts. Keine Spur von der Henkersschlinge, mit der Ravid die Leute zeichnete, kein tätowierter Vogelschädel oder sonst etwas, das sie mit der Unterwelt Alats in Verbindung gebracht hätte.

»Zufrieden?«

Kerra ignorierte das wilde Schlagen ihres Herzens, als sie sich betont langsam um die eigene Achse drehte.

»Das sagt gar nichts«, sagte Maran heftig, doch die Soldatin klang – erleichtert. Kerra stutzte. Eigenartig.

»Vielleicht«, unterbrach Kiros ihren Gedankengang. »Aber für heute sagt es genug.«

Der Soldat deutete Kerra zu gehen, und sie leistete nur zu gerne Folge. Die Gruppe der Schaulustigen zerstreute sich enttäuscht. Sie konnte die Blicke der beiden Soldaten in ihrem Nacken spüren, als sie die Straße hinuntertrabte.

2

In der Schmuckstraße herrschte reger Betrieb. Lehrlinge liefen zwischen den Lagerräumen und den Geschäften hin und her, Kunden hielten Ware ins Sonnenlicht, um kritisch Qualität und Farbe zu beäugen. Ein Händler aus Siwar versuchte, Fassungen in Tropfenform zu verkaufen.

»Der letzte Schrei in Kyrst«, versicherte er einer Käuferin, die die Hände in die Hüfte stemmte.

»Netter Versuch«, sagte sie, »Meine Cousine arbeitet in der Königsstadt. Du glaubst wohl, nur weil wir hier nicht rauskommen, kannst du mir alles erzählen?«

Kerra ging an den beiden vorbei, den Blick auf die Holzschilder über den Geschäften geheftet, die in geschmiedeten Mündern und Klauen allerlei Tiere hingen. Kerra verglich die Schilder mit dem Namenssymbol des Mannes auf der Nachricht und fand es schließlich zwischen den eisernen Krallen eines Feuervogels. Sie schob sich durch die wartende Menge, hauptsächlich Lehrlinge, die von ihren Meistern geschickt worden waren. Ihr Grummeln ignorierte sie.

Im Geschäft war die Hitze schlimmer als in den Straßen. Glasverzierungen und Metallplättchen glitzerten in Kästen und wartete darauf, an Kleidung und Tüchern angebracht zu werden.

Kerra tupfte sich mit dem Ärmel über das feuchte Gesicht, darauf bedacht, die Farbe auf ihrer Wange nicht zu verwischen, als sie dem Verkäufer mit dem Zettel winkte. Der Mann riss ihr die Nachricht aus der Hand, als ob sie eine persönliche Beleidigung wäre.

»Alle erinnern sie mich daran, dass sie ihre Sachen bis morgen früh brauchen«, schimpfte er los, als Kerra sich durch die Wartenden wieder Richtung Ausgang kämpfte.

»Ihm wird der Kopf abgeschlagen, es wird ihm ziemlich egal sein, ob an der Kleidung des Publikums was glitzert.«

»Also wirklich!«, kam es scharf von seiner Frau, »Wie kannst du so etwas sagen!«

Kerra atmete auf, als sie aus dem stickigen Geschäft trat, obwohl die Luft so nahe an den Glasschmieden nach dem bitteren Rauch der Feuer schmeckte. Sie mischte sich wieder in das Gewühl des Viertels. Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, sah sie sich verstohlen um, doch von den Soldaten war nichts zu sehen. Offensichtlich hatte Maran darauf verzichtet, ihr weiter zu folgen.

Im Gegensatz zu all den anderen Städten, durch die Kerra mit ihren Freunden gekommen war, lag der größte Marktplatz von Alat nicht im Stadtzentrum, sondern westlich davon, inmitten der Handwerksviertel. Geschäfte von Schneidern, Schuhmachern, Kerzenziehern und Webern umgaben den Platz wie ein Wall, wo sich die Alater trafen um einzukaufen, die neuesten Gerüchte zu verbreiten und Hinrichtungen beizuwohnen. Da der Vollstrecker des Fürsten einen Hang zum Dramatischen hatte, war gute Unterhaltung garantiert, der Geruch von altem Blut eine dauerhafte Note unter dem der Gewürze und heißem Stein.

In den kleinen Garküchen rund um das Zentrum des Sonnenplatzes brutzelten Fleischspieße und Fisch, als Kerra sich zu den anderen Läufern stellte. Einige nickten ihr zu, die meisten ignorierten sie. Nur Jorah gesellte sich zu ihr. Kerra wechselte einen freundlichen Handschlag mit dem Halbblut.

Er war jünger als Kerra, mit schwarzen Haaren und braunen Augen, die grün aufblitzten, wenn er sich ärgerte oder freute. Das Wechseln der Augenfarbe war das einzige Zeichen, dass sich magisches Blut in Jorahs Familie eingeschlichen hatte. Und es lag so lange zurück, dass sich selbst seine Großeltern nicht sicher waren, wem sie die Magie in ihrer Familie zu verdanken hatten. Wobei »verdanken« seit den Magiergefechten eindeutig das falsche Wort war.

»Wenn sie euch schon ächten«, hatte Kerra zu ihm gesagt, als der Sonnenplatz vor Hitze zu kochen schien und die Leute um sie und Jorah weite Bogen schlugen, »dann solltest du wenigstens was davon haben. Du weißt schon, echte magische Kräfte! Zumindest ein paar Krallen!«

Doch Jorah war da anderer Ansicht. »Ich mag meinen Kopf, wo er ist.« Was, zugegeben, ein gutes Argument war. Jorahs Bruder hatte mehr von dem magischen Talent abbekommen und war in eine der königlichen Schulen in Elwan gebracht worden. Kerra konnte es Jorah nicht übelnehmen, froh zu sein, dass ihm das Schicksal seines Bruders erspart geblieben war.

»Alles klar?«, fragte Jorah.

»Ich denke schon.«

Sie sahen beide zu der Hinrichtungsplattform, an der die Handwerker seit dem frühen Nachmittag hämmerten. Obwohl die Menschen in Alat die Stunden nach der Mittagshitze gerne für ihre Einkäufe nutzten, hatten einige Händler ihre Stände verlassen, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu bekommen.

»Höchste Zeit, dass dieses Monster bezahlt«, sagte der Fischhändler grimmig.

»So viele Menschen. Und dann noch das eigene Kind!« Die Obstfrau schüttelte den Kopf. »Wer ist zu so etwas fähig?«

»Wahrscheinlich ein Bahnu«, sagte eine Läuferin gehässig, laut genug, dass Kerra es hören konnte.

»Wenn es ein Bahnu wäre, hätten sie ihn nie lebend bekommen«, sagte Kerra.

»Er hätte verdient, im Straßenstaub zu sterben. Ihr Bahnu seid alle –«

»Ich meine«, unterbrach Kerra sie, »dass die Soldaten das nicht überlebt hätten.«

»Sie hat recht«, sagte Jorah. »Eine Geste und sie wären zu Asche zerfallen.«

Die anderen Läufer warfen Kerra nervöse Blicke zu. Jorah zwinkerte ihr zu, Kerra verbarg ihr Grinsen hinter ihrem Wasserbeutel. Mit Befriedigung sah sie zu, wie die Läuferin vergeblich nach einer Erwiderung suchte, bevor sie sich abrupt umdrehte und ging.

»Sie lernt es nie«, sagte Jorah mit einem leichten Kopfschütteln. Kerra zuckte mit den Schultern.

»Soll sie doch sagen, was sie will.«

Jorah setzte zu einer Erwiderung an, als der Fischhändler ihm zuvorkam.

»Für die Wirtin im Grauen Bettler. Ich hab ihren Fisch.«

Der Fischhändler wedelte ungeduldig mit einem kleinen Beutel vor Jorahs Nase. Jorah nahm die Nachricht und verdrehte die Augen in Kerras Richtung, bevor er über den Platz trabte. Zu Jorahs Glück war die Aufmerksamkeit des Händlers von den Aufbauarbeiten der Plattform gefesselt.

»Wenn er seinen Sohn unbedingt loswerden wollte, hätte er in der Nacht einfach das Fenster offen lassen können«, sagte er. Die Umstehenden machten das Zeichen gegen das Böse.

»Du glaubst doch nicht wirklich noch immer, dass die Schattengänger die Kinder geholt haben«, schnaubte ein Mann neben ihm verächtlich. »Es war dieses Magiermonster, dieser Padek. Schattengänger, pah, ich bitte dich!«

»Man sollte meinen, dass zumindest Meister Lerato die Schattengänger in den Griff bekommt«, mischte sich die Bürgersfrau ein, die nur den letzten Teil der Unterhaltung mitbekommen hatte. Sie blieb stehen und verfolgte mit den anderen den Aufbau. Ihre Tochter zerrte ungeduldig an der Hand der Mutter. Die Kleine war mit Schutzsymbolen behangen. Kerra spürte die Magie der Amulette, die das Kind kalt umwehte.

»Meister Lerato kann die Bannsiegel noch fünf Mal weihen, bringt alles nichts, wenn der Dämon menschlich ist«, sagte die Obstfrau bestimmt. Kerra hörte nicht mehr zu. Soweit sie gehört hatte, verschwanden Menschen in Alat seit Jahrzehnten. Vielleicht steckten wirklich Schattengänger dahinter, niedere Dämonen, die Kinder aus ihren Betten stahlen und in ihr Schattenreich entführten. Der verhaftete Magier mochte Menschen geopfert haben, doch Kerra bezweifelte, dass er für alle Verschwundenen der letzten Jahrzehnte verantwortlich war.

Aber der Fürst hatte der Stadt endlich einen Schuldigen präsentiert und mit ihm die Erklärung, wie ein Einziger so viele auf dem Gewissen haben konnte. Magier lebten länger, wahrscheinlich hatte er sich mit der Energie seiner Opfer jung gehalten – Aberglaube, den das Volk dankbar schluckte. Vor ihr scherzten die Handwerker, die Plattform wuchs stetig in die Höhe. Am Abend würde die Var Laral, die Priesterin des Totengottes Laral, sie weihen.

Kerra streckte sich und hörte ihre Schulter knacksen. Um sie herum wurde verhandelt und geplaudert, Läufer mit Botschaften und Bestellungen in die umliegenden Viertel geschickt. Ein Mann schritt auf sie zu, sah ihre Bahnu-Tätowierung und drückte seine Nachricht der Läuferin neben ihr in die Hand. Kerra rieb sich unbewusst über den Unstern, der schwarz aus den hellen Linien des Sternenmals herausstach. Die Ergreifung des Magiers Padek hatte dem Misstrauen gegenüber den Bahnu neuen Aufwind verliehen. Die Tatsache, dass Alat über einer Quelle magischer Energie saß wie über einem Pulverfass, half ihrem Verhältnis zu Magie nicht unbedingt.

Kerra zeichnete mit der Zehe Kringel in den Dreck. Irgendwo unter dem festgetretenen Schmutz verbarg sich angeblich das prachtvolle Mosaik, das dem Sonnenplatz seinen Namen gegeben hatte. Und darunter lag die Fadash, die Unterstadt, das alte Alat, das die wilde Magie in den Abgrund gezogen hatte, bevor der Orden der Ewigen Quelle sie unter der Stadt versiegelt hatte. Manchmal bildete sie sich ein zu spüren, wie die Kälte der Magie heraufdrang, doch angesichts der Hitze war das wohl mehr Wunschdenken. Kerra überlegte, wo sie am nächsten Morgen auf Aufträge warten sollte. Zum Sonnenplatz würden sie nicht einmal ein Pack Falbbiester scheuchen können. Sie konnte sich wirklich besseres vorstellen, als unter der glühenden Sonne neben einer frischen Leiche auf Aufträge zu warten.

Die Nachmittagssonne warf lange Schatten in die Gassen, Kutschen rollten durch die breiten Straßen und die Tempelglocken läuteten die letzten Stunden des Arbeitstages ein. Die Dolchscheide rieb über ihre verschwitzte Haut, als Kerra sich auf den Weg machte, Sidra abzuholen.

***

Im Viertel der Glasschmiede überdeckte der bittere Geruch der Feuer alles. Die Hauswände hatten die dunkelblaue Farbe der wertvollen Steinbrocken angenommen, mit denen die Öfen beheizt wurden und die irgendwelche armen Seelen aus der Feuerküste geschlagen hatten.

Die Hitze der Glasfeuer ließ die Luft in der Gasse flirren, aus den Fenstern drang das Zischen der Flammen, über denen die Handwerker die Klumpen weichen Glases in die gewünschten Formen brachten. Schmuckstücke in allen Farben wurden aus Glasfäden gezogen, Geschirr sorgfältig in Kisten gepackt.

Sidra räumte gemeinsam mit den anderen Lehrlingen die Schmiede auf, als Kerra den Vorhof betrat. Sidra lächelte Kerra entgegen und deutete ihr zu warten. Das Tuch, das sie während ihrer Arbeit in der Schmiede um Mund und Nase gebunden ließ, hing locker um ihren Hals. Ihre Haare, die Sidra in Raya hüftlang getragen hatte, hatte sie kurz geschnitten. Die Stirn der jungen Frau war dunkelblau vom Rauch der Glasfeuer.

Leta, Sidras Meisterin, lehnte an der Wand ihrer Schmiede und sog an ihrer Pfeife, als ob sie den Rauch der Schmiede bereits vermissen würde. Leta hatte eine schroffe Art und schien generell eine Abneigung gegen Menschen zu hegen, doch Kerra würde ihr ewig dankbar sein, dass sie Sidra als Lehrling angenommen hatte, als alle anderen ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen hatten. Ein Glutfresser kletterte neben der Frau die Wand empor, die das giftige Reptil keines Blickes würdigte. Die Echsen schliefen gerne in der Glut der Feuer und galten als Glücksbringer. Sidra winkte ihrer Meisterin zum Abschied, die als Antwort einen Rauchring in den Abendhimmel blies.

»Du bist voller Ruß.«

Sidra ignorierte ihre Worte und drückte Kerra an sich. Der bittere Geruch des Feuers hing in Sidras Kleidung und Haaren, und Kerra rieb sich über die Wange, wo Sidra einen Rußabdruck hinterlassen hatte. Sidra lachte.

»Entschuldigung.«

Sie hakte sich bei Kerra ein. Das Abendlicht fing sich in den Glasperlen, die Sidra an einer Schnur um ihr Handgelenk trug, jede Perle selbst gefertigt und ein Symbol der Fertigkeiten, die sie sich bereits angeeignet hatte. Kerra biss sich auf die Lippe, als sie die neuen Brandlöcher in Sidras Kleidung entdeckte. Doch falls Sidra sich wieder verbrannt hatte, ließ sie sich nichts anmerken.

»Sie hat mir gezeigt, wie sie das silberne Glas macht«, erzählte Sidra, als sie die Straße hinuntergingen. Kerra, Sidra und Dolan wohnten nun schon zwei Jahre in der Stadt, wo Glasperlen in allen Farben der Götter von Hälsen und Ohren blitzten und Glasfenster auch die düstersten Kaschemmen schmückten, doch die Faszination hatte für keinen von ihnen nachgelassen. Die unerwartete Schönheit der Stadt, die sich sonst nur mit dem zweifelhaften Ruf schmückte, ein Ort wilder Magie zu sein, war mit einer der Gründe, warum sie geblieben waren.

In Raya war Sidra Weberin gewesen, mit unendlicher Geduld waren unter ihren Händen die verschlungensten Muster entstanden. In Alat hatte sie beschlossen, einen neuen Weg einzuschlagen. Ein Weg, die Sternengötter zu ehren, hatte Sidra erklärt, die ihnen geboten, nach Wissen zu streben. Kerra vermutete eher, dass Sidra zu viele schmerzhafte Erinnerungen mit dem Webstuhl verband. Die Arbeit mit dem Feuer hatte sich als die richtige Entscheidung für Sidra herausgestellt. Die Schmiedemeisterin war vom ersten Tag an voll des Lobes gewesen.

Kerra sah auf die bunten Perlen um Sidras Handgelenk, zu denen sich sicher bald eine silberne gesellen würde.

»Und wie macht man silbernes Glas?«, wollte Kerra wissen. Sidra sah sie verschmitzt an.

»Verrate ich nicht.«

»Gildengeheimnis, was?«, zog Kerra sie auf.

»Sowieso.«

***

Der Sterntaucher lag am Ende ihrer Gasse. Der Mann des Wirts war ein fabelhafter Koch, und sein Ruf sorgte dafür, dass das Teehaus jeden Abend gut gefüllt war. Die meisten Bewohner ihrer Straße hatten sich bereits um die niederen Tische vor dem Sterntaucher versammelt und tranken Tee oder Wein, während sie auf das Essen warteten, das der Mann des Wirts auf dem Grill zubereitete. Der Geruch drang aus dem offenen Küchenfenster und schwebte verheißungsvoll über den Wartenden.

Der Wirt selbst lief schwitzend mit den Getränken von Tisch zu Tisch. Unter dem Schild des Teehauses, auf dem mit viel Fantasie noch die Zeichnung eines Sterntauchers zu erkennen war, stand eine Gruppe Zirkelmagier lachend und rauchend beisammen. Wo die Läufer sich Vogelschwingen auf die Wangen malten, prangte auf ihren Gesichtern das Zeichen ihrer Zirkel. Als der Wirt auf die Magier aufmerksam wurde, verlagerte er das Gewicht des Tabletts, um drohend einen Zeigefinger zu heben.

»Keine Geschäfte in meinem Lokal!«

»Würden wir uns nie trauen«, kam es von den Zirkelmagiern zurück.

Kerra konnte geradezu spüren, wie Sidra zu einer bissigen Bemerkung ansetzte, als sie Dolan bei den Magiern stehen sah.

»Los, suchen wir uns einen Platz«, sagte Kerra im vergeblichen Versuch, ihre Freundin abzulenken. Dolan schien Sidras finstere Blicke zu spüren, denn er drehte sich zu ihnen um. Kerra winkte dem Freund zu und deutete ihm, sein Gespräch mit dem Zirkel zu beenden.

»Was denkt er, was er da tut?« Sidras Augen funkelten zornig, doch ihre Stirn hatte sich in die Sorgenfalten gelegt, die Kerra so hasste.

»Diese Zirkel sind harmlos«, sagte Kerra bestimmt, »nichts als Kräuter und Hausweihen.«

Sie kämpften sich durch die volle Stube in den Innenhof.

»Harmlos. Ha!«, machte Sidra, ließ sich von Kerra aber zu einem der letzten freien Plätze schieben. »Die Nachtgroßen sollen diese Zirkel holen!«

Kerra zog eine Augenbraue hoch. Die Nachtgroßen, die dunklen Götter, waren von den Sternengöttern besiegt worden, doch die meisten Bahnu nahmen das Wort ungern in den Mund. Auch wenn die Nachtgroßen nach ihrer Niederlage in den Schatten der Sterne verschwunden waren, fürchteten manche, ihr Name würde sie herbeirufen. Abergläubischer Unsinn, wenn es nach Kerra ging. Die Götter hören nicht einmal zu, wenn sie sollen. Der Wirt rauschte an ihnen vorbei. Sein Zeigefinger stach warnend in Kerras Richtung.

»Keine Schlägerei!«

»Das ist schon ewig her«, rief Kerra ihm nach, doch der Mann hörte ihr nicht mehr zu, als er bei den anderen Gästen nach dem Rechten sah.

»Ich weiß, ich weiß.« Dolan hatte sie mittlerweile gefunden. Sidra holte Luft, doch Dolan warf nur seinen Beutel ab und verschwand in Richtung Theke, bevor sie loslegen konnte. Ihre gelben Augen verengten sich, und Kerra wusste, dass Dolan dem Donnerwetter nicht entkommen würde. Sidra blieb zurück, um ihnen die Plätze freizuhalten, als Kerra Dolan folgte.

Um sie herum versuchten Handwerker und Bewohner der umliegenden Häuser einen der letzten Tische im Innenhof des Teehauses zu ergattern. Die Arbeiter der Sandgrube klopften sich den grauen Sand aus ihrer Kleidung, während sich Näher und Wäscherinnen bereits einen Platz erkämpft hatten. Zwei Färber riefen nach Wein, ihre Hände so dauerhaft bunt wie der Stoff, der in ihren Pötten landete.

Der herbe Geruch der Glasfeuer, der an der Kleidung der dazukommenden Schmiede haftete, verband sich mit dem von Kräutern und Öl, mit dem Geruch von frischem Leder und altem Wachs, als die nächsten Gäste sich unter die Leute mischten. Kerra folgte Dolan ins Innere, während Sidra ihnen die Plätze besetzte.

Sie fand Dolan in dem Gedränge um die Theke wieder, an der alle gleichzeitig zu bestellen versuchten. Für die meisten Leute um sie herum gab es nur ein Thema: Die bevorstehende Hinrichtung von Padek, der die letzten Monate in Alat Kinder entführt und, wie es nun zu furchtbarer Gewissheit geworden war, getötet hatte. Darunter seinen eigenen Sohn. Gedanken wurden laut, wie viele der Verschwundenen tatsächlich Opfer der Schattengänger geworden waren und wie viele von dem Magier geopfert worden waren.

»Magier oder nicht, dieser Padek kann kaum die letzten Jahrzehnte Kinder zu sich gerufen haben, wenn er selbst keine Vierzig ist«, erstickte der Arbeiter neben ihnen den vorsichtigen Optimismus, dass man zukünftig die Fensterbalken in der Nacht offen lassen konnte.

»Zu sich rufen«, schnaubte ein Mann in sein Glas. »So kann man das auch sagen.«

»Aber er ist ein Magier!« So schnell wollte sich die Weberin nicht geschlagen geben. Ein Soldat schob sich an die Theke, und Kerra griff nach ihrem Messer, bevor sie Teck erkannte. Der Soldat war Stammgast im Sterntaucher, und im Gegensatz zu Maran hatte er kein Problem mit Kerra.

»Meister Lerato hat gesagt, dass sehr wohl Schattengänger in Alat sind«, kam es von einem der Glasschmiede. Wenn Meister Lerato, fürstlicher Heiler und oberster Magier des Ordens der Ewigen Quelle, den Leuten riet, die Balken weiter verschlossen zu halten, dann würden die Alater es tun.

»Und er wird es wohl wissen, immerhin hat er den Magier überführt!«, meldete sich Teck zu Wort, während er den Kragen seiner staubigen Uniform lockerte.

»Ich kann es jedenfalls kaum erwarten, diesen Padek tot zu sehen«, erklärte einer der Färber grimmig und erntete zustimmendes Gemurmel.

Dolan und Kerra wechselten einen Blick. Keiner von ihnen wollte die Hinrichtung sehen, doch sie würden wohl nicht darum herumkommen, sich zumindest kurz auf dem Sonnenplatz blicken zu lassen. Es hatte lange genug gedauert, bis ihr Viertel ihre Anwesenheit akzeptiert hatte. Sich als Bahnu gegen den Tod eines Magiers auszusprechen, wäre… nun, Dolan hatte es als unklug umschrieben.

Ihr Volk verwendete Sternenmagie, was sie für alle anderen im besten Fall zu zwielichtigen Gestalten machte und im schlechtesten zu Gotteslästerern. Doch Sternenmagie war so mächtig, dass die meisten es sich mehrmals überlegten, Bahnumagier ob ihrer ungöttlichen Magie zu konfrontieren. Die Angst hatte die Macht der Bahnu in den Köpfen der Leute ins Unermessliche überhöht.

»Der Tod ist noch zu gut für ihn«, erklärte eine der Händlerinnen hitzig, um dann auszuführen, welches Strafmaß ihr angemessen erschiene. Dolans Gesicht nahm bei ihren Schilderungen eine leicht grünliche Färbung an.

»Wird Laral ihn aufnehmen?«, unterbrach eine andere Frau die farbenfrohen Beschreibungen. Ihre Frage war an den Magier gerichtet, der neben dem Soldaten Platz genommen hatte. Der Mann zuckte mit den Schultern, ganz darauf konzentriert, die Aufmerksamkeit des Wirtes zu erhaschen und sichtlich uninteressiert, ob der Totengott sich mit Padeks Seele befassen würde. Die Arme des Magiers waren vollständig mit Tätowierungen bedeckt. Für Kerra schimmerten sie und wenn sie sich konzentrierte, konnte sie die Magie des Mannes sehen, die ihn als grüne Aura umgab.

»Ich bin kein Priester«, sagte der Magier und winkte erneut. Der Wirt des Sterntauchers deutete ihm, sich zu gedulden.

»Gut für dich«, sagte Teck neben ihm, den Mann absichtlich missverstehend. »Ich würde dich ungern verhaften.«

Der Soldat grinste in seinen Krug, begeistert über seinen eigenen Witz. Der Magier verdrehte die Augen und griff nach dem ersehnten Wein, den der Wirt ihm brachte.

»Als ob du je einen der Priester zu fassen bekämst«, sagte er missgelaunt. Die Frau hatte sich unzufrieden von dem Magier abgewandt und diskutierte angeregt mit den Färbern weiter. Teck zuckte mit den Schultern.

»Laut unserem über alles geliebten Fürsten ist Ravid ein Dämon, oder nicht? Und Dämonen sind Aufgabe der Magier, nicht armer Soldaten wie mir. Also«, Teck sah den Magier lauernd an, »wann marschierst du mit den anderen Feuerspuckern endlich ins Nest und machst ihm den Garaus?«

Der Magier erhob sich mit seinem Krug und boxte sich wortlos durch die Menge. Teck schüttelte den Kopf.

»Magier. Eine Haut wie ein Seidenfalter und eine Laune wie ein Falbbiest«, murmelte er, als sein Blick auf Kerra fiel. Zu spät versuchte sie, hinter Dolan in Deckung zu gehen.

Trink deinen Wein und lass mich in Ruhe.

Der Mann winkte ihr und kam zu ihnen.

Natürlich. Was könnte den Tag auch besser abrunden?

»Kerra«, grinste Teck sie an. »Ich hab gehört, du machst unserem Zugang aus Kyrst wieder Probleme?«

»Eher sie mir«, gab Kerra zurück. Neben ihr horchte Dolan auf.

»Was war?«, fragte Dolan scharf. Verdammt.

»Maran wollte mich wieder einmal verhaften. Sie bildet sich ein, dass ich mit dem Mondschieber arbeite.«

»Das ist neu«, sagte der Soldat amüsiert. »Mein letzter Stand ist, dass du mit dem Dämon Ravid persönlich unter einer Decke steckst.«

Kerra spürte, wie sich Dolan neben ihr spannte.

»Gib ihr noch eine Woche, dann arbeite ich höchstwahrscheinlich für einen echten Dämon.«

Der Soldat verzog das Gesicht.

»Ich hoffe nicht, dass sie sich von der abergläubischen Panik hier anstecken lässt.«

Teck fingerte an dem Schutzamulett um seinen Hals. Es war das einzige, das er trug, was für Alat ungewöhnlich war, wo die Menschen sich nach dem Prinzip mehr ist mehr behängten.

»Es ist ein Problem«, brachte Kerra das Gespräch wieder auf den Punkt. »Wie soll ich meine Arbeit machen, wenn sie mir alle fünf Schritte auflauert und mich beschuldigt, für die Priester zu arbeiten? Oder für diesen Menschenhändler?«

»Ach was«, machte der Soldat. »Mach dir keine Sorgen, Maran wird sich schon beruhigen. Kyrst ist ein hartes Pflaster, und nach dem, was die Hyänen mit Kiros angestellt haben … kein Wunder, dass sie überall Verbrecher sieht und –« Er hielt kurz inne. »Nun, in Kyrst sind auch überall Verbrecher. Aber das wird schon werden. Solange du ihr nicht wieder einen Weinbecher an den Kopf schmeißt.«

»Ich wusste nicht, wer sie ist«, sagte Kerra zum gefühlt hundertsten Mal. Der Soldat lachte wieder und klopfte ihr auf die Schulter.

»Halt einfach die Füße still.«

»Das wird schwierig werden«, antwortete Kerra trocken.

Teck verdrehte die Augen. »Du weißt, was ich meine.« Damit drehte er sich wieder zur Theke und orderte mehr Wein.

»Es war wirklich nicht meine Schuld«, sagte Kerra leise zu Dolan. Statt einer Antwort drückte Dolan ihre Hand.

»Nach heute Abend ist es vorbei?« Seine Stimme war so leise, dass Kerra die Worte mehr erriet als hörte. Sie nickte. Der Wirt tauchte mit den ersten Speisen auf und nahm endlich ihre Bestellung entgegen.

Mit vollen Schüsseln erkämpften Dolan und Kerra sich ihren Weg zurück zu Sidra. Die Tische füllten sich mit Tellern mit Fleisch und Gemüse, Teigfladen wurden durchgereicht, ein Vater rettete seinen Wein vor dem neugierigen Griff seines Kindes, das er auf dem Schoß hatte.

Gelächter und der Rauch von Herdfeuern füllten die laue Abendluft im Hof. Die ersten Sterne schimmerten durch den Dunst. Sterntaucher, die Namensgeber des Teehauses, machten sich auf die Jagd nach Insekten, ihre kleinen goldenen Körper glänzten in der Dämmerung. Kerras Blick folgte den Vögeln bei ihren waghalsigen Sturzflügen, als sie Jorah entdeckte. Dolan winkte ihm, und der Läufer schob sich durch die Menge, um sich zu ihnen zu setzen. Das Läuferzeichen in dem Gesicht des Halbbluts war nur noch ein verwischter Fleck. Als Dolan ihm Wein einschenkte, blitzten seine braunen Augen erfreut grün auf. Kerra stieß mit ihrem Teebecher an und ignorierte Jorahs fragenden Blick. Für heute Abend wollte sie einen klaren Kopf behalten.

Sie rückten zusammen, als sich eine der Näherinnen auf den Platz neben Sidra zwängte. Sie wischte sich eine dunkle Haarsträhne aus dem hübschen Gesicht, als sie sich über Sidras Armband beugte und die Perlen bewunderte. Mit der Dunkelheit kam auch die Kühle des Abends und Dolan löste das Tuch, das er um die Schulter geworfen hatte, und breitete es sorgsam über Sidras Rücken.

Grauer Sand rieselte auf den Boden, als Sidra das Tuch mit einem gequälten Lächeln um sich zog. Die Näherin zupfte es ihr zurecht. Kerra hörte nicht, was Sidra der jungen Frau zuwisperte, doch selbst im schwachen Licht der Öllampen konnte sie die Näherin erröten sehen. Sidra zwinkerte der Frau zu und klemmte ihr die widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr. Sie hatte sich von dem Lungenfieber wieder vollständig erholt, nichts verriet, wie nah sie dem Tod gewesen war, wie blass und schwach sie auf ihrem Lager gelegen hatte, unfähig, sich ohne Hilfe aufzurichten – Kerra nahm einen tiefen Schluck.

Sidra war gesund, und Kerra dankte Ravids Heilern innerlich jeden Tag dafür. Sie hatten ein Wunder bewirkt. Der Gedanke holte sie ins Hier und Jetzt zurück und die vertraute Mischung aus Aufregung und Furcht ließ ihren Magen hüpfen.

Kerra leerte den Rest ihres Tees in einem Zug und stand auf. Dolan blickte von seiner Schüssel hoch.

»Noch ein Lauf?«, fragte Jorah, während Dolan versuchte, unbesorgt auszusehen.

»Nachtläufe zahlen besser.« Sie warf sich ihr Tuch um und tastete unwillkürlich nach dem Messer unter ihrer Tunika. Jorah grinste.

»Du kannst bald im Tempel anfangen, mit der Menge an Liebesbriefen, die du überbringst.«

»Ich bezweifle, dass mir Savahrs Roben stehen«, sagte Kerra trocken, die grellen Farben der Var Savahr vor dem inneren Auge.

Dolan zwang sich ein Lachen ab. Sidra hatte die Lippen zusammengepresst. Ihre wachen Augen sahen zwischen ihr und Dolan hin und her, und nicht zum ersten Mal fragte Kerra sich, wie viel ihre Freundin wirklich wusste. Die halbseidene Geschichte, die sie und Dolan ihr erzählt hatten, wonach ihnen einer der Tempel gegen ein Opfer Heiler geschickt hatte, hatte Sidra ihnen nie ganz abgenommen. Doch nach den unzähligen Nächten, die sie an Sidras Bett gewacht hatten, war weder ihr noch Dolan etwas Besseres eingefallen.

»Pass auf dich auf, ja?«, sagte Sidra.

Kerra lächelte ihr aufmunternd zu. Heute Nacht würden die Straßen von Alat voller Wachen sein. Hinrichtungen machten den Fürsten nervös.

»Immer.«

3

In den Straßen scharten sich die Leute um die kleinen Garküchen.

---ENDE DER LESEPROBE---