Schattenkünder - Dritter Band der Unstern-Reihe - Katrin Ils - E-Book

Schattenkünder - Dritter Band der Unstern-Reihe E-Book

Katrin Ils

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Beschreibung

In Alat brodelt es. Ravids Leute werden ermordet, die Straßen Alats drohen sich einmal mehr in ein Schlachtfeld zu verwandeln, und Kerras Freunde bleiben spurlos verschwunden. Alles, was Kerra will, ist Sidra und Dolan zu finden. Doch als Gehilfin des Mondschiebers findet sie sich inmitten eines Mordkomplottes des Alater Rates wieder, und mit Plänen konfrontiert, die den brüchigen Frieden der Stadt endgültig zerstören würden. Die Suche nach einem Ausweg offenbart nur eine furchtbare Wahrheit: Ravid ist nicht das einzige Ziel. Jemand macht Jagd auf die Verbrecher Alats – und auf Kerra.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Contents

Titelseite

Widmung

Glossar

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Stadtkarte Alat

Nachwort

Biographie

Impressum

Schattenkünder

Drittes Buch der Unstern-Reihe

Für meine patreons

Ihr seid die Besten!

<3

Glossar

Begriffe

Fadash – die magische Stadt unter Alat, in der die wilde Magie versiegelt wurde

Alat – Fürstenstadt im Königreich Lazeda und Kerras neue Heimat

Bahnu – ein Volk mächtiger Magier, die ursprünglich aus dem Westen Lazedas stammen. Ihr Gebot, Wissen zu vermehren und zu verbreiten, hat sie im ganzen Königreich verteilt.

Var – ein veralteter Titel für Gottgeweihte. Nachdem die Verbrecherbande den Titel „Priester“ für sich vereinnahmt hatte, wurde dieser Titel in Alat wieder aufgenommen, um Missverständnisse zu vermeiden. In der königlichen Hauptstadt Kyrst wird über diese Zustände nur der Kopf geschüttelt.

Tavesh – Ehrentitel der obersten Var

Neshem – Name der Widerstandskämpfer, die sich gegen die strengen Magiegesetze des Königs auflehnen.

Alsesh – einer, der die Aufträge der Neshem übernimmt, vor denen alle anderen zurückschrecken.

Halbblut – ein Mensch, in dessen Ahnenreihe sich ein magisches Wesen findet (Meermensch, Phönix, Gestaltenwandler …)

Khamek – die Schattenwelt, in der die Dämonen sich aufhalten, sofern sie nicht von einem größenwahnsinnigen Magier gerufen werden. Oder Hunger haben. Mhmmm, frische Seelen …

Aus der Götterwelt von Lazeda

Laral – Totengott. Sein Symbol ist der Mond.

Caia – Göttin der Diebe und Wegelagerer, Schalk und Chaos. Als einzige Gottheit kann sie zwischen den Sternen und der Khamek wandeln. Ihr Symbol und heiliges Tier ist der Isch, ein Aasvogel.

Chaela – Göttin der Gerechtigkeit und Strafe, ihr Symbol ist ein Auge.

Hanarh – Göttin des Handwerks und Schutzgöttin der gelernten Magier

Rabet – die Monstermutter, die alle magischen Wesen in die Welt gebracht hat. Ihr Symbol ist die Blume Lesha, die „kleine Kralle“. Von dieser Pflanze sollte man sich fernhalten …

Rado – Gott der Magie. Sein Symbol ist das Feuer.

Sternengötter – die vier großen Götter der Bahnu

Die Herrscherin der Flüsternden Sterne * Der Hüter des Ewigen Mondes * Der Bruder der Tanzenden Lichter * Die Seherin der Leuchtenden Wasser *

Nachtgroßen – die alten Götter, die von den Sternengöttern besiegt wurden.

Cial – die Priester der Bahnu

Cialla – die Sternenschrift, die heilige magische Schrift der Bahnu.

Symbole

Unstern

Mondschieber

Priester der Caia

1

Die Henkersgasse war verdächtig still. Mondlicht fiel trüb durch die zerbrochenen Fenster des verlassenen Hauses und verlieh den Schatten eine bedrohliche Lebendigkeit. Ein Isch hob den Kopf aus seinem rostroten Gefieder. Die kleinen Augen funkelten bösartig im Schein von Kerras Laterne.

Kerra warf dem Vogel einen misstrauischen Blick zu, bevor sie vor der Leiche in die Hocke ging. Die Zauberfläschchen in ihrer Tasche klirrten beruhigend.

Der Körper lag zusammengekrümmt auf dem schuttübersäten Boden des ehemaligen Stoffgeschäftes. Im fahlen Laternenlicht war das Blut fast schwarz. Es hatte die abgetragene Kleidung des Opfers dunkel gefärbt, sein süßlich-metallischer Geruch klebte an Kerras Gaumen. Eine Lache davon hatte sich um die Leiche gesammelt wie ein morbider Schatten. Das Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Es war ein Brei aus zersplitterten Knochen und verfaulendem Muskelfleisch. Was die Sache nicht einfacher machte. Noch keinen Tag tot. Doch die Statur erschien ihr vertraut. Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht. Mit trockenem Mund schob Kerra das Hemd des Toten nach oben.

Ein Stich in den Rücken hatte den Mann getötet. Doch bis auf die Wunde und die Totenflecken war seine Haut ungezeichnet. Kein Sternenmal. Kein Unstern. Nicht Dolan. Kerra schloss die Augen. Die Erschöpfung drohte, sie einen Augenblick lang zu überwältigen. Dann krächzte der Isch warnend und sie riss die Augen auf.

Steine klapperten hinter ihr. Kerra fuhr herum, den Dolch bereits halb aus der Halterung gezogen, bevor sie den Mann im Hauseingang erkannte. Der Vogel krächzte noch einmal, spöttisch, wie ihr schien.

»Hast du noch nicht genug von denen?«, fragte Ravid und tippte sich mit dem Finger neben das linke Auge, wo bei Kerra die Ischkrallen ihre Spuren in ihrer hellbraunen Haut hinterlassen hatten. Sie verzichtete auf eine Antwort. Aus dem Augenwinkel sah sie zwei weitere Männer ins Innere des Hauses treten. Ravids Leute. Kerra beachtete die beiden nicht weiter. Ravid brauchte keine Verstärkung, um mit ihr fertigzuwerden.

Er trat neben sie, gemeinsam sahen sie auf den Toten hinunter. Der Herzstich musste ihn sofort getötet haben. Ihm das Gesicht zu zerschlagen war — Er soll nicht erkannt werden.

»Einer von deinen?«, fragte Kerra. Es war eine berechtigte Frage, die Ravid gekonnt ignorierte. Vor einigen Monden wäre es noch undenkbar gewesen, in Seitengassen und Marktplätzen über die Leichen von Ravids Leuten zu stolpern, doch die bisherigen Gesetze der Unterwelt Alats waren ins Wanken geraten. Irgendjemand machte Jagd auf die Priester der Caia und wer immer es war, war gut. Gut genug, um Ravid nervös zu machen. Und den Rest des Armenviertels. Erinnerungen an vergangene Bandenkämpfe schwappten wieder hoch, an die Gewalt, die das Viertel in ein Schlachtfeld verwandelt hatte.

Ravid hatte die Laterne auf den Boden gestellt und begutachtete die Hände des Toten. Keine Schwielen, aber schmutzige Fingernägel, bemerkte Kerra, kaum ein Priester. Und das zerstörte Gesicht passt auch nicht zu den vorherigen Morden. Dann ließ sie den Gedanken fallen. Was kümmerte sie die Leiche, wenn es sich dabei nicht um Dolan oder Sidra handelte? Ravid schob die Ärmel des Toten hoch. Wilde Messerschnitte hatten unkenntlich gemacht, was auch immer dort in die Haut gezeichnet gewesen war.

Kerra bückte sich nach ihrer eigenen Laterne. Sie hatte genug Zeit hier verschwendet. Hinter ihr erteilte Ravid seinen Leuten den Befehl, die Leiche zu Airi zu bringen. Sie duckte sich unter dem verfallenen Türrahmen hindurch und stand wieder in der Henkersgasse.

Die Ketten der Toten klirrten leise, Isch krächzten in Bauch- und Brusthöhlen und Steine klapperten über den Schutt, als Ratten sich ihren Weg durch die aufgegebenen Häuser suchten. Zumindest hoffte Kerra, dass es nur Ratten waren. Bitte keine Schattengänger. Die Dämonen waren das Letzte, was sie in dieser Nacht noch gebrauchen konnte, Leratos Schutzamulett und der Zauber in ihrer Tasche zum Trotz. Über ihr waren die Sterne verschwommene Lichtpunkte, die Asche der Glasfeuer hatte sich wie eine Decke zwischen die Stadt und die Götter gelegt. Der Verwesungsgeruch übertünchte alles, und Kerra hielt sich ihr Tuch vor Mund und Nase, obwohl sie wusste, dass es kaum half.

Sie ging die Henkersgasse hinunter, fort vom Nest. Die Körper der Hingerichteten säumten den Weg, doch sie sah sie kaum noch. Zu oft war sie in den letzten Tagen hier gewesen, hatte verlassene Häuser und Schutt nach toten Körpern durchsucht. Nach Sidra und Dolan.

Sie hörte Ravids Schritte hinter sich. Kerras Finger schlossen sich um den Griff ihrer Waffe, die Bewegung mittlerweile so natürlich wie Atmen. Ihre andere Hand tastete nach den Zaubern, die sie bei sich trug.

»Du hast Blut unter den Fingernägeln«, bemerkte der Priester, als er neben ihr war.

Kerra zuckte mit den Schultern. »Ist nicht meines.«

»Ich weiß.«

»Bist du deswegen hier?« fragte sie. Der Mann, mit dem sie an diesem Abend eine kleine Meinungsverschiedenheit gehabt hatte, war ihr nicht wie ein Priester vorgekommen. Er hatte keine Tätowierungen. Und ich bin noch in einem Stück. Ihr Unterarm pochte, wo sie den Schlag des Mannes abgefangen hatte.

Ravid schüttelte den Kopf. Ein Nachtfalter flatterte gegen ihre Laterne, die kleinen Flügel schlugen enttäuscht gegen das bunte Glas.

»Suchst du immer noch nach ihnen?« Ravid musste keine Namen nennen.

»Was interessiert dich das?« Kerra kannte sowohl die Frage als auch den Ton zu Genüge von Lerato. ›Du solltest dich mit dem Gedanken anfreunden, dass sie tot sind.‹ Ihre Wut flackerte wieder auf, seit dem Verschwinden ihrer Freunde eine stetige Flamme. Es war das Einzige, was die schwarze Panik im Zaum zu halten vermochte. Wo waren die beiden nur?

»Du schleichst jeden Abend verdächtig nahe am Nest herum und fragst Leute aus, die davon nicht sonderlich begeistert sind.«

»Deine Leute.«

»Nein.«

»Dann noch einmal: Was interessiert dich das? Wenn du noch immer glaubst, dass du von mir den Weg durch die Fadash erfährst, vergiss es.«

»War der Handel damals nicht deine Idee?«, fragte Ravid trocken.

Kerra presste die Lippen aufeinander und sagte nichts. Ravid hatte Sidra mit der Henkersschlinge gezeichnet und Kerra hatte nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um ihre Freundin davon zu befreien. Doch dann war Sidra mit Dolan spurlos verschwunden und die Magie der Henkersschlinge, mit der man ihre Freundin mit einem einfachen Ortungszauber hätte finden können, war kurz davor gelöst worden. Kerra sei Dank. Bittere Ironie, wie sie den Sternengöttern nicht besser gefallen könnte.

»Oder sag bloß, du hältst dich plötzlich an die Befehle deines Meisters?«, fuhr Ravid spöttisch fort. »Was sagt der eigentlich zu deinen nächtlichen Ausflügen?«

Täuschte sie sich, oder hatte Ravids Ton etwas Lauerndes angenommen? »Er weiß Bescheid«, sagte Kerra nur. Wusste Bescheid und quittierte ihre Augenringe mit missbilligendem Schweigen.

Manchmal beschlich sie das Gefühl, dass sie kurz davor war, den Bogen endgültig zu überspannen und zu »verschwinden«, wie so viele vor ihr. Sie konnte die gleichgültigen Erklärungen bereits hören. ›Ach, Meister Leratos Helferin? Die Bahnu mit den Ischnarben und den gelben Augen? Ist zurück nach Raya gegangen, was ich so gehört habe …‹, während ihr Körper in einem der verlassenen Häuser vermoderte. Immerhin hast du das Gleiche mit Jorah gemacht. Kerra schüttelte die Erinnerung an den Läufer ab.

Sie hatten das Ende der Henkersgasse erreicht. Ravid blieb stehen und Kerra begriff, dass er sie nicht begleitet, sondern sie hinausgeworfen hatte. Was bildet sich der Bastard eigentlich ein? Wenn er glaubt, ich höre auf, hier nach Sidra und Dolan zu suchen, nur weil er sich für den Fürsten persönlich hält …

»Die Henkersgasse gehört nicht zum Nest«, sagte sie scharf.

»Das Nest?« Ravid lachte auf. »Ganz Isharat gehört mir. Auch wenn Alat das vergessen zu haben scheint.«

»Große Worte für jemanden, dessen Leute vor der eigenen Haustür abgestochen werden.«

Ravid sah sie an. Ein Versprechen von Gewalt lag in seinem Blick, und einen Herzschlag lang war sie sich sicher, dass der Priester die Waffe ziehen würde. Dann verschwand der grausame Schatten aus seinem Gesicht.

»Du bist die, die nach den Leichen ihrer Freunde sucht«, sagte er. »Sag mir: Ist es, weil du nicht daran glaubst, dass sie noch leben, oder weil du sie lieber tot weißt als ohne dich?«

Kerras Hand schloss sich um den Dolchgriff, doch sie bezwang sich. Gegen Ravid hatte sie keine Chance. Oder vielleicht doch?, wisperte es in ihr.

Ravid zeigte sich von ihrer Geste nicht übermäßig beeindruckt. »Ist dir nicht der Gedanke gekommen, dass deine Freunde einfach gegangen sind? Dass sie einfach die Gunst der Stunde genutzt haben, wie andere auch?«

Die Gunst der Stunde: das Chaos, das der Rufer in Alat ausgelöst hatte, nachdem Kerra ihn freigesetzt hatte. Die Wachen an den Toren waren als Verstärkung in die Stadt gerufen worden, um die wildgewordenen Zauber zu bändigen, die die Viertel verwüsteten.

Gunst der Stunde. Kerra hatte den Ausdruck zu oft gehört. Zuerst von denen, die erleichtert in den Teehäusern und Marktplätzen erzählt hatten, wie Angehörige und Freunde durch die wächterlosen Tore entkommen waren. Und dann von den Soldaten, die durch die tobende Magie Dutzende illegale Zauberweber ausfindig hatten machen können.

»Und vorher haben sie die Wohnung verwüstet?« Kerra tat Ravids Antwort mit einem verächtlichen Schnauben ab, doch seine Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Denn in den Wochen nach Dolans und Sidras Verschwinden hatten sich ähnliche Gedanken in ihr geregt. Vielleicht konnten sie dir deine Lügen nicht vergeben? Vielleicht hatten sie auch einfach genug von dir?

Ravid seufzte. »Leute verschwinden in Alat. Meistens unter eigenartigen Umständen. Manchmal tauchen sie wieder auf, hin und wieder sogar lebend.«

»Danke für deine weisen Worte«, biss sie hervor. Ihre Finger liebkosten das kalte Glas des Zaubers in ihrer Tasche. »Ich werde trotzdem weitersuchen.«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Tu das. Aber nicht hier.«

»Du hast mir nichts zu sagen.«

Und Ravid war vor ihr, so schnell, dass sie die Bewegung nicht einmal gesehen hatte. Er hatte seine Waffe nicht gezogen, aber es war auch nicht nötig. Die Botschaft war klar genug.

»Du warst mir nützlich«, sagte er knapp. »Und noch gehe ich davon aus, dass du es wieder sein wirst. Halt dich an mein Wort, wenn ich meine Meinung nicht ändern soll.«

»Ich glaube, Lerato hätte ein Problem damit, wenn ich anfange, dich Meister zu nennen.« Kerras Herz raste immer noch vor Schreck. Sie hielt die Hand so fest um den Zauber geschlossen, dass das Glasfläschchen knirschte.

Der Verbrecher lächelte, als er von ihr zurücktrat. Es war kein nettes Lächeln. »Tu dir selber einen Gefallen und geh nach Hause«, sagte er langsam, als würde er mit einem störrischen Kind reden. »Und lass dir von deinem Meister noch einmal erklären, was er mit denen macht, die seine Reviergrenzen überschreiten. Und wir mit denen, die unsere missachten.«

»Glaub mir, um mir Vorträge zu halten, braucht er keine Einladung.« Kerra trat auf den kleinen Platz vor der Henkersgasse, den Mann immer noch neben sich. »Willst du mich nach Hause begleiten, oder was wird das?«

Der Priester sah sie nur kalt an. »Letzte Warnung, Kerra. Und dank Airi, sie ist die, die dafür ist, dich am Leben zu lassen.«

»Und wie soll ich ihr danken, wenn ich mich vom Nest fernhalten soll?«, fragte Kerra spitz.

Ravid kam nicht dazu zu antworten. Die Nacht explodierte um sie herum.

2

Grelle Punkte tanzten vor Kerras Augen. Nachtblitz. Das Wissen um den angewendeten Zauber half ihr nichts. Sie zog das Fläschchen mit Caias Lachen aus ihrer Tasche, doch sie war immer noch blind von der entladenen Magie. Ihre Augen tränten. Sie hörte Schritte rechts von sich und wich hastig zur Seite. Strauchelte und wäre um ein Haar gestürzt. Wieder Schritte, die Distanz zu knapp, um Caias Lachen einzusetzen. Der Zauber würde nicht nur ihre Angreifer verwirren, sondern auch sie. Verdammt, verdammt, verdammt.

Mit wild klopfendem Herzen riss sie ihren Dolch aus der Scheide, als sich ein Arm um ihre Brust schlang. Sie schlug ihren Kopf nach hinten und verfehlte den Angreifer. Dann lag sie am Boden, das Gesicht in den Staub gepresst, das schwere Gewicht eines Fremden auf ihr.

Blind bäumte sie sich unter dem Angreifer auf. Vergeblich versuchte sie, ihn abzuwerfen oder ihre Arme freizubekommen. Der Griff des Mannes war zu fest. Ein Schlag gegen ihre Finger ließ sie aufschreien, dann klapperte ihr Dolch über das Pflaster davon.

Die Kälte eines beginnenden Zaubers mischte sich in den sauren Atem neben ihrem Gesicht. Pure Panik schoss durch sie. Sie riss den Kopf zur Seite, spürte Bartstoppeln und klamme Haut und biss zu. Sie wurde mit einem Schrei belohnt und einem Schlag bestraft, doch das Gewicht verschwand von ihr, lange genug, dass sie sich auf die Seite rollen konnte, ihre Hand an den Dolch an ihrem Rücken bekam.

Ihre Augen verweigerten ihr nach wie vor den Dienst; keiner der Zauber, die sie bei sich trug, war für einen Nahkampf gedacht.

Siebenmal verfluchte Bastarde! Ein Luftzug vor ihr, das Scharren von Stiefeln auf Leder – Kerra sprang geduckt nach vorne. Sie kollidierte mit einem Körper und stach zu.

Blut lief warm über ihre Hand, atemlos drehte sie die Klinge und riss sie heraus. Ich hoffe, es war nicht Ravid. Wo steckte der verdammte Bastard überhaupt?

Sie drehte sich langsam um ihre eigene Achse, Arm und Dolch schützend vor sich, als sie angestrengt in die Nacht lauschte. Das Atmen anderer glitt mit gewisperten Worten durch die Nacht, doch es schien ständig die Richtung zu wechseln.

Verfluchte, verdammte …! Langsam erholten sich ihre Augen. Die schemenhaften Umrisse dreier Gestalten wuchsen aus der Nacht.

Ein Fläschchen flog von hinten an ihr vorbei und zerbarst vor den Füßen der Angreifer, die erschrocken zurücksprangen. Ein Rücken presste sich gegen ihren. Ravid.

»Wie viel siehst du?«, fragte er knapp.

»Drei. Glaube ich.« Sie blinzelte in die Welt, die immer noch aus grellen Punkten und Umrissen bestand. Der Nachtblitz hatte ganze Arbeit geleistet. »Du?«

»Auch.«

»Deine Leute?«

»Zu weit weg.«

»Verdammt.«

Welchen Zauber auch immer Ravid ihren Angreifern entgegengeworfen hatte, die drei schienen sich bereits davon erholt zu haben, denn in die schattenhaften Körper kam Bewegung.

»Sie umzingeln uns«, sagte Kerra leise. Sie spürte Ravid nicken. Die Unbekannten, die in den letzten Wochen Ravids Leuten aufgelauert hatten, schienen nun bereit, sich den Kopf des Anführers selbst zu holen. Und das müssen sie natürlich ausgerechnet diese Nacht machen.

Ravid schnaubte etwas wie ein Lachen. »Kommt es dir ungelegen?«, fragte er, und Kerra begriff, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte.

»Ach, sei still«, knurrte sie, als sich etwas wie Scham in ihr regte. Hastig rief sie sich ihre Umgebung ins Gedächtnis. Die Henkersgasse mündete in eine Gabelung und ihre Angreifer hatten ihnen effektiv alle Fluchtwege abgeschnitten. Wenn sie versuchten, an der Gestalt vorbeizukommen, die vor der Henkersgasse stand, hatten sie die zwei anderen im Rücken. Doch halb blind, wie sie waren, war Flucht kaum eine Option. Ein Kampf auch nicht. Kerra verzog das Gesicht. Um den würde sie nicht herumkommen.

»Wir wollen keinen Ärger mit dir.« Einer der Angreifer hatte die Hände gehoben, beinahe beschwichtigend. »Aber wenn du nicht gehst, lässt du uns keine Wahl.«

Kerra lachte atemlos. Hielten sie sie wirklich für so naiv? So, wie sie standen, hatten Ravid und sie zumindest den Hauch einer Chance – die sich in Luft auflösen würde, sobald sie sich trennten. »Die Schattengänger sollen euch holen.«

Sie blieb bei Ravid, Rücken an Rücken, spürte die Atemzüge des Priesters, als er sich wie sie auf den Kampf vorbereitete. Sie blinzelte hektisch in die Dunkelheit, als ob sie die Wirkung des Nachtblitzes so schneller aufheben könnte. Ravid presste seine Schulter an ihre rechte. Ein stummes Zeichen.

Kerra drehte den Kopf um eine Winzigkeit. Die Figur, die rechts von ihr stand, war schmal, kaum größer als sie. Etwas in der Körperhaltung verriet ihr, dass sie es nicht mit einem geübten Kämpfer zu tun hatte. Ihr Blick klärte sich weiter, genug, um die Gestalt als Mann zu erkennen. Energie umknisterte ihn, und Kerra wusste, dass der Zauberweber sich auf seine Magie verließ. Das war entweder ein gutes Zeichen für sie, oder es würde sie den Hals kosten. Finden wir es heraus. Sie erwiderte den Druck.

Einen Atemzug später stürzte Ravid los und sie mit ihm. Der Magier erwartete sie bereits, die Hand lose geschlossen, und Kerra erkannte die Bewegung, presste ihren Ellbogen vor Mund und Nase und hielt die Luft an, als das Pulver ihr entgegenflog und sich auf ihre Haut legte. Nahe genug. Sie trat zu, traf ihn in den Magen. Der Mann krümmte sich ihrem Knie entgegen, das mit einem knirschenden Knall sein Gesicht traf. Sie setzte nach, bevor er sich erholt hatte, packte den Stoff seines Hemdes, schlug ihm das Knie mit voller Wucht in den Unterleib und riss ihn zu Boden. Sein Kopf schlug auf dem Pflaster auf und der Mann blieb liegen.

»Kerra!«

Jemand war hinter ihr.

Sie wirbelte herum – und sprang im letzten Moment zur Seite. Der Zauber schlug in den Boden ein und riss den Untergrund auf, wo Kerra noch vor einem Wimpernschlag gestanden hatte.

Atemlos drehte sie sich um.

Sie erhaschte einen Blick auf Ravid. Der Verbrecher war in einen verbissenen Zweikampf mit dem Mann verstrickt, der ihnen den Weg ins Nest abschnitt. Der Zauber, der sie fast getroffen hätte, war von der dritten Gestalt gekommen: eine Frau mit geschorenem Kopf und Feuer auf den Fingerspitzen.

Die Hand der Fremden fuhr zum Beutel an ihrem Gürtel, und Kerra rannte los.

Sie warf sich der Magierin entgegen, hörte ihr überraschtes Keuchen, und dann gingen sie beide zu Boden.

Die Nacht drehte sich um sie herum. Die Luft war erfüllt von aufgewirbeltem Staub und ihrem harschen Atem, als sie nacheinander schlugen.

Fingernägel rissen Kerras Wange auf, als sie nach der Magierin trat. Die Frau versuchte, sich ihrem Griff zu entziehen, aufzustehen, und Kerra zerrte sie zurück auf den Boden. Solange sie einander so nahe waren, konnte die Frau keinen Zauber einsetzen, ohne sich selbst zu treffen. Zumindest hoffte Kerra das, als sie schützend die Arme um ihren Kopf riss.

Wütende Schläge trafen ihren Oberkörper, als sie vergeblich versuchte, den Attacken auszuweichen, eine Lücke in den blitzschnellen Angriffen zu finden.

Die Frau war stärker als sie. Viel stärker. Angestrengt suchte Kerra nach einem Weg durch die Deckung der Frau. Dann fand sie sich auf dem Rücken wieder. Die Frau kniete triumphierend über ihr und Kerra sah ihre Chance. Sie bäumte sich auf, wehrte den ersten Schlag ab und ließ den zweiten treffen. Ihre Hand schloss sich um den Beutel. Kerra riss daran. Die Schnüre lösten sich.

Überraschung brachte die Zauberweberin lange genug aus dem Gleichgewicht, dass Kerra sich mit einer brutalen Drehung befreien konnte. Sie sprang auf, den Beutel in der Hand, und brachte so schnell wie möglich Abstand zwischen sich und die Fremde.

Hinter ihr konnte sie die Kampfgeräusche Ravids und seines Gegners hören, doch ihr Blick wich nicht von der Frau, die sich langsam erhob.

»Du machst es wirklich nur unnötig anstrengend.« Die Magierin war außer Atem, doch ihr ungeduldiger Ton erweckte den Eindruck, als würde sie mit einer ungezogenen Katze sprechen statt mit einem Menschen.

»Ich habe nicht darum gebeten, angegriffen zu werden«, gab Kerra zurück, während sie einen Blick zu Ravid riskierte. Ihr wurde kalt. Der Dämon von Alat verlor. Noch kämpfte er hartnäckig, doch nichts täuschte darüber hinweg, dass es nur noch Gegenwehr war. Langsam, aber sicher gewann der Angreifer die Oberhand.

»Du kannst auch einfach mitkommen«, sagte die Magierin und ihre Stimme war viel zu nahe. Hastig wich Kerra zurück, konzentrierte sich wieder ganz auf die Frau.

»Vielleicht hätten wir dir das gleich anbieten sollen statt Ravid, dass er gehen kann«, fügte die Magierin nachdenklich hinzu, »aber du hast nicht gerade den Ruf, dich für das Wohl anderer zu opfern.«

Die Bedeutung ihrer Worte kam bei Kerra an. »Ihr wollt mich?« Ungläubig starrte sie die Zauberweberin an. »Warum?«

Die Fremde lächelte gefährlich. »Komm mit, und du wirst es sehen.«

Als wäre Kerra wirklich so dumm. Oder so verzweifelt.

»Habt ihr sie?« Ihre Kehle war ausgetrocknet, die Stimme heiser. »Habt ihr Dolan und Sidra?«

Wieder war die Frau näher, nahe genug, dass Kerra das überraschte Flackern in den kalten Augen sehen konnte. Ihr Herz sank. Die Fremde vor ihr wusste nichts.

»Wir haben sie«, sagte die Magierin jetzt, doch Kerra konnte die Lüge hören, sie in dem emotionslosen Blick lesen, mit dem die Frau sie begutachtete wie ein Stück Ware auf dem Markt.

Wie Bathar.

Die Zauberweberin hatte den gleichen Blick wie der Magier, der Kerra als Unstern seiner Sammlung hatte hinzufügen wollen — bis sie ihm in der Fadash die Kehle durchgeschnitten hatte, umgeben von den sterblichen Überresten seiner unzähligen Opfer. Sie meinte, wieder die Wärme des Blutes auf ihrer Haut zu spüren. Mit einem entschlossenen Schritt wich sie ein weiteres Mal zurück.

Die Magierin seufzte. »Du kannst laufen«, sagte sie, »aber es wird dir nichts –«

Kerra griff in den Beutel und begann, wahllos Zauber auf die Frau zu schleudern. Die Fläschchen explodierten in der Luft, bevor sie die Zauberin erreichten. Glassplitter regneten glitzernd aufs Pflaster herab, als die Frau die herausströmende Magie mit ungeduldigen Handbewegungen unschädlich machte. Dreck.

Kerras Finger schlossen sich um den letzten Zauber. Ihr Mund war mit einem Mal staubtrocken. Vor ihr ballte die Magierin die Faust und erstickte den Funkenregen, der aus der letzten Flasche gebrochen war.

Kerra fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, wischte Blut fort und spürte die Narben, die die Isch dort hinterlassen hatten. Es war nur noch ein Zauber übrig. Sie spürte die Einkerbungen im Glas unter ihrer Fingerkuppe, die Kennern den Inhalt der Flasche verrieten. Kerra sagte das Muster nichts.

Die Zauberweberin breitete abwartend die Hände aus. »Nun?«, fragte sie spöttisch. Um ihre Finger sammelte sich Energie, offenbar hatte sie genug von den Spielchen. Eine Sache, die die Fremde mit Kerra gemeinsam hatte.

Kerra schenkte der Frau ein kaltes Lächeln. Dann wirbelte sie herum und warf den Zauber mit aller Kraft nach Ravids Angreifer.

Die Flasche zersprang mit einem hellen Knall auf dem Rücken des Mannes. Kerra sah gelben Rauch aufsteigen, hörte einen kurzen Schrei, dann packte die Magie der Frau sie und warf sie durch die Luft.

Sie schlug hart am Boden auf. Sie konnte nicht atmen, konnte sich nicht bewegen, und die Magierin war über ihr, ein dunkles Versprechen in ihrem Gesicht, als sie die Hände nach Kerra ausstreckte.

Dann war Ravid hinter der Fremden und schnitt ihr die Kehle durch. Blut regnete warm auf Kerra herab. Die Magierin sank mit einem Gurgeln zusammen, Überraschung in ihren Augen, bevor das Licht in ihnen erlosch.

Ravid fing die Frau auf, bevor ihre Leiche auf Kerra fiel. »Bist du in Ordnung?«

Sie rollte sich vom Boden hoch und nickte. »Du?«

Ebenfalls ein knappes Nicken, als er die tote Magierin achtlos fallen ließ. Kerra lauschte in die Nacht hinein.

Ein Isch krächzte in der Henkersgasse, doch ansonsten blieb die Stadt um sie herum still. Sie hob ihren Dolch vom Straßenpflaster auf. Mit dem vertrauten Gewicht an ihrer Seite begannen sich ihre Schultern, ein Stück weit zu entspannen, als ihr das graue Pulver auffiel. Stirnrunzelnd rieb sie mit dem Daumen über die staubähnliche Substanz, die sie bedeckte, bevor ihr der erste Angriff des schmächtigen Magiers einfiel, der sie in eine Wolke magischen Pulvers gehüllt hatte.

»Caias Kuss«, sagte Ravid. Kerra blickte hoch. Er hockte bei der Leiche der Magierin und schnitt ihr Hemd auf. »Das graue Zeug auf dir. Du musst nahe genug an jemanden herankommen, aber wenn dein Gegner das Zeug einatmet, dann ›Gute Nacht‹ — im wahrsten Sinn des Wortes. Man schläft einfach ein.«

Kerra notierte sich die Information gedanklich und gab den Versuch auf, das Pulver von sich hinunterzubekommen. Auf der Haut mochte es harmlos sein, aber es war hartnäckig.

»Offensichtlich waren sie interessiert daran, dich am Leben zu lassen«, bemerkte Ravid, und die Erinnerung daran, dass die Fremden hinter ihr her gewesen waren und nicht dem Verbrecherkönig von Alat, ließ die vorsichtige Entspannung wieder aus ihrem Körper weichen.

»Ich Glückliche.«

Etwas wie ein Grinsen glitt über Ravids Gesicht, bevor er wieder zu der Leiche sah. Kerra trat neben ihn.

Die Haut der Frau war unbeschrieben. Keine magischen Tätowierungen, keine Zirkelmale, kein Brandzeichen. Nichts, was ihre Zugehörigkeit verriet oder Aufschluss über den Grad ihrer Macht gab.

Sie tauschte einen verblüfften Blick mit dem Priester. Eine Magierin ohne Tätowierungen, ohne Verbindungen zu Göttern und Kraftquellen? Kerra kauerte sich zu der Toten und besah die Amulette, die sie um den Hals trug. Ravid sah sie fragend an. Sie schüttelte nur den Kopf. Schutzamulette gegen Schattengänger und andere Dämonen der Fadash, wie man sie in Alat an jeder Straßenecke kaufen konnte. Nichts, das ihnen etwas über die Frau und ihren Grund für den Angriff verriet. Ravid drehte die Leiche um.

Kerra stutzte. »Was ist das?«

Ein münzgroßes Mal prangte im Nacken der Frau: vier Halbmonde, die Dunkelheit umschlossen.

»Schattenkünder«, murmelte Ravid.

Kerra konnte nicht sagen, ob er mit ihr sprach oder laut dachte. Schattenkünder waren böse Omen oder dunkle Seher, von den Göttern damit gestraft, nichts als Unheil zu sehen, ohne es aufhalten zu können. Sie sah auf die tote Frau hinunter. Eine Seherin?

Sie gingen zu den anderen beiden Magiern. Beide trugen das gleiche Mal, doch auf ihren Körpern fanden sie Reste von Tätowierungen. Sie waren zu verblichen und unvollständig, als dass sie in der Dunkelheit viel erkennen konnten, doch …

»Es wirkt fast so, als ob sie ihre Verknüpfung zu ihren Machtquellen absichtlich gelöst haben.«

Ravid antwortete nicht, doch Kerra wusste selbst nicht, was sie von ihrem Verdacht halten sollte. Gabenträger kamen mit unterschiedlichen Mengen angeborener Magie zur Welt. Um mehr Macht zu haben und vor allem nicht zu riskieren, ihr eigenes Leben mit ihrer Magie zu verausgaben, verbanden sich Zauberweber mit anderen magischen Quellen. Manche mit den Göttern, andere mit den Elementen, mit Dämonen und Wesenheiten oder allem zusammen. Warum sollte irgendein Magier seine Allianzen freiwillig lösen?

Kerras Blick kehrte zurück zu den Monden der Finsternis, die einzig unberührten Symbole auf der Haut der Toten. Schattenkünder. Die dunklen Seher.

»Ich bezweifle, dass alle drei die Sehergabe haben«, sagte sie, mehr zu sich als zu dem Priester, der gedankenverloren bei den Leichen hockte.

Ravid stand auf, ließ seine Schultern knacken. Sie konnte ihre eigenen Gedanken in seinem Gesicht lesen. Sie hatten Glück gehabt. Hätten die drei Zugang zu Kraftquellen gehabt, wäre der Kampf anders ausgegangen. Doch was er sagte, war: »Ich wette, Schattenkünder ist nichts als der Name, den sie sich selbst gegeben haben.« Er schnaubte. »Was Dramatischeres ist ihnen wohl nicht eingefallen.«

Etwa etwas wie ›Priester der Caia‹? Doch dieses Mal schluckte Kerra den Kommentar hinunter und gab nur einen Laut von sich, den der Verbrecherkönig als Zustimmung auffassen konnte, wenn er es wollte.

Ravid fasste den Mann, den er erdolcht hatte, unter den Achseln. Kerra seufzte innerlich und packte die Beine. Zusammen trugen sie die Toten in die Henkersgasse und ließen die Körper in einem der verlassenen Häuser fallen. Isch flatterten heran und setzten sich erwartungsvoll in die leeren Fensterrahmen. Kerra wusste, dass Ravids Leute die Werkstatt nicht unbeobachtet lassen würden. Die Götter mochten denen gnädig sein, die nach den Leichen der drei suchten.

»Hat der Angriff etwas mit dem Toten in der Henkersgasse zu tun?«, fragte Kerra, als sie wieder unter freiem Himmel standen. Das zerschnittene Symbol auf dem Arm fiel ihr ein. War er auch ein Schattenkünder gewesen?

»Das hat dich nicht zu kümmern.« Ravid war wieder der Alte.

Kerra verdrehte die Augen und wandte sich zum zweiten Mal in dieser Nacht zum Gehen. »Dann viel Glück noch. Nicht, dass du das gegen diese Helden brauchst.«

Der Angriff war stümperhaft gewesen, hatte zu einem unnötigen Kampf geführt. Hätten diese Schattenkünder Ravid und sie tot gewollt, wären sie nicht mehr am Leben. Der Nachtblitz und zwei gezielte Dolchstöße, während sie geblendet waren, hätten es getan.

Aber sie wollten nicht Ravid, sie wollten dich. Und sie wollten dich lebend.

Kerras Füße fanden den vertrauten Weg durch die Stadt wie von selbst. Die Energie, die der kurze Kampf freigesetzt hatte, prickelte unter ihrer Haut, ließ sie beschwingt und gleichzeitig zittrig die Straße hinuntergehen.

Alat war noch nachtstill. Sie hörte das Knarren der Holzleiter, auf der eine Laternenwärterin ein ausgegangenes Feuer neu entfachte. Der allgegenwärtige Sand knirschte unter ihren Stiefeln, als sie auf den Mondplatz trat.

Selbst hier, wo normalerweise das Nachtleben tobte, war es seit der Verhaftungswelle ruhiger geworden. Und seit Leichen der Priester in der Stadt auftauchten. Die Bewohner Alats schienen sich auf einen Sturm vorzubereiten, als ob das Chaos, das der Rufer mit der willkürlichen Aktivierung der Zauber ausgelöst hatte, nur der Anfang gewesen wäre. Kerra kannte das Innenleben der Weinhäuser mittlerweile so gut wie die Steppen Rajas, doch sie wusste, dass sie nach dem überraschenden Angriff dieser Schattenkünder keine Ruhe im Inneren der Schenken finden würde. Zu viele Menschen, zu viele Möglichkeiten für einen weiteren Hinterhalt. Und mit etwas Pech würde sie den Mann treffen, den sie vor der Henkersgasse ergebnislos nach Dolans und Sidras Verbleib befragt hatte.

Sie steuerte den Hinterhof des Grauen Bettlers an und klopfte einen raschen Takt gegen die Tür, die zur Küche führte. Die Tür öffnete sich einen Spalt und schloss sich wieder, bevor die Köchin mit einer Flasche des Üblichen zurückkam und Kerra ihren neuen Besitz gegen ein paar Kupfer überließ.

Die Hand fest um den Flaschenhals geschlossen, trat Kerra den Heimweg an. Ratten verschwanden in der Nacht, der Alkohol rann bitter und tröstend die Kehle hinunter, während ihre Finger nachlässig über die raue Wand der Gasse strichen. Sprüche und Zeichnungen von Banden und den Neshem, die hier fast alle fünf Armlängen ›Ya ka sara — Wir sind das Feuer‹ verkündeten, waren in den groben Verputz geritzt worden. Dazwischen immer wieder hastige Kreidezeichnungen eines Mondes, der sich ins Nichts neigte. Das Symbol des Mondschiebers.

Kerras Finger verharrten einen Herzschlag lang auf den Kreidelinien. Seit sie den Rufer losgelassen hatte, häuften sich die Hilferufe. Doch der Rufer hatte auch in die Zauber eingegriffen, die Lerato um die wilde Magie gesponnen hatte, und der Mondschieber hatte die Fadash als zu unsicher erklärt, um sie mit anderen zu betreten. Die Hilferufe verhallten unbeantwortet. Der Kreidemond löste sich unter dem Schweiß und Schmutz ihres Daumens auf. Sie konnten niemandem mehr helfen.

Kerra setzte die Flasche erneut an. Dann ging sie die Gasse bedächtig zu Ende, ihre Hand strich über die Wand und hinterließ Schmutzspuren und verwischte Kreide.

Schließlich wurde das Pflaster breiter, die Glaslaternen mehr, bis die Nacht fast zu hell war.

Einen Moment gab Kerra sich dem Gedanken hin, eine andere Gasse hinunterzugehen und die Stufen zu ihrer alten Wohnung hinaufzusteigen. Wieder das gewohnte Chaos zu betreten, blaue Rußschlieren von Sidras Tagen in der Glasschmiede an den Wänden, unter ihren bloßen Füßen die Sandkörner, die Dolan nie ganz aus der Wohnung bekam. Die Wohnung, über der nun eine unheimliche Ruhe lag und in der die Küche noch immer einem Schlachtfeld glich. Nur das Blut war fortgewischt worden, verbrannt in Ortungszaubern, die alle im Nichts verlaufen waren. Genauso wie Kerras Nachforschungen.

Das Haus Leratos tauchte aus der Nacht auf. Die prächtigen Glasfenster schillerten willkommen heißend. Mit brennenden Augen legte Kerra ihre Hand auf die Türklinke und trat leise in ihr neues Heim.

3

Der vertraute Geruch von Kräutern und Holz umfing sie tröstlich. Kerra streifte ihre Stiefel ab, bevor sie so lautlos wie möglich über den Holzboden zu Leratos Arbeitszimmer ging. Das Haus um sie herum war still. Entweder schlief der Mondschieber oder war bei einer der Ratssitzungen, die in den letzten Tagen oft bis zum Morgengrauen angedauert hatten.

Sie stellte die Laterne neben die Matratze, die ihr zurzeit als Bett diente, und ließ sich gegen die Kissen sinken. Sie trank, spürte der brennenden Wärme nach, die sich in ihrem Körper ausbreitete und die nagende Unruhe betäubte. Kerra rieb sich mit der Hand über die Augen und atmete tief durch, bevor sie nach einem der Bücher griff, die sie fein säuberlich neben ihrem Lager aufgestapelt hatte.

Magische Zeichen starrten ihr entgegen. Sie betrachtete die Symbole ihres Volkes ohne Regung. Sie war nicht überrascht gewesen, dass Lerato eine Kopie der Sternenschrift besaß, nur unendlich dankbar, dass er sie ihr geborgt hatte – wenn auch nach einigem Zögern.

»Was denkst du, was du darin finden wirst?«, hatte er sie gefragt.

»Ich weiß es nicht«, war ihre ehrliche Antwort gewesen.

Und sie wusste es noch immer nicht. Es war ein Strohhalm, an den sie sich klammerte, als sie Zeile für Zeile studierte in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, das ihr bei ihrer Suche nach Sidra und Dolan helfen würde.

›Die Sternengötter sind allezeit zu loben und zu ehren, denn sie haben uns aus den Fängen der Nachtgroßen befreit und unserem Volk die Macht der Himmelsgestirne eröffnet. Weh dem Magier, der sich von ihrem Pfad abwendet! Weh den Unsternen, die nach etwas greifen, was nicht ihres sein soll! Ihre Seelen werden unter Dämonen wandeln und von solchen verschlungen werden.‹

»Ihr mich auch«, murmelte Kerra und griff erneut nach der Flasche. Der brennende Alkohol drängte die Schläfrigkeit zurück. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Text.

Wie die meisten Schriften, die sie studiert hatte, kam auch diese nicht ohne moralisierende Lobgesänge auf die Sternengötter und ebenso strafende Abhandlungen über Unsterne aus. Auch diese Schreibende hatte deutliche Worte gefunden: ›Das Blut der Verfluchten ist so unrein wie ihre Seele. Noch im Mutterleib haben sich die Götter mit Ekel von ihnen abgewandt. Unsterne mögen die Gnade der Herrin der Leuchtenden Sterne finden, wenn sie sich ihrem Willen fügen, doch selbst der gütige Bruder des Ewigen Mondes wird sie mit Abscheu von seiner Schwelle stoßen, wenn sie die heiligen Schriften mit ihren Blicken entweihen.‹

So viel also dazu. Kerra prostete sich selbst im Halbdunkel des Raumes zu und entweihte die nächste Seite des Buches.

Belehrungen, Symbole, die sie schon kannte und die ihr nicht halfen, eine Auflistung von Zutaten zu komplexen Zaubern … Die Schrift verschwamm vor ihren Augen, als ihr ein Wort entgegensprang: Blutzauber.

Kerra setzte sich auf. Wo andere Magier Bedenken beim Einsatz dieser Magie hatten, sahen Bahnu kein Problem darin. Magie diente den Göttern. Dass sie ihren Zweck erfüllen konnte, war alles, was von Bedeutung war. Zittrig schlug sie die Seiten um, bis sie fand, was sie gesucht hatte: Das Blut der Verfluchten.

Um Unsternblut rankten sich die verschiedensten Vermutungen und Aberglauben, und zumindest die Magier in Kerras Heimatdorf hatten diese immer mit einer abfälligen Geste beiseitegewischt. Auch Lerato hatte nur den Kopf geschüttelt, als Kerra ihn angefleht hatte, herauszufinden, ob irgendwo Magie mit Unsternblut durchgeführt worden war. »Euer Blut ist so mächtig wie Brunnenwasser«, hatte er gesagt. »Und Blutmagie in ganz Alat aufspüren? Wie stellst du dir das vor? Allein der Schutz, den die Zauberweber aufbauen würden, um zu verhindern, dass die Fadash ihre Rituale beeinflusst, würde jedes Signal schlucken, dem ich nachgehen könnte.«

Doch Bathar hatte die Geschichten geglaubt. Bathar — und vielleicht auch diese Schattenkünder? War das der Grund, warum sie sie lebend hatten haben wollen? Nervös nahm Kerra einen weiteren Schluck und begann zu lesen.

›Um das Blut von Unsternen ranken sich viele Vermutungen, doch wo das Göttliche abwesend ist, kann nur Dämonisches entstehen. Manche vermuten in dem unreinen Blut eine Verbindung zu der Schattenwelt, und so sind der Verfasserin dieser Zeilen auch nur Fälle bekannt, in denen die Zauberwebenden es für die dunkelsten aller magischen Zwecke verwendet haben. Ohne Erfolg, wie hier angemerkt werden muss, oder mit nicht mehr Erfolg, als mit dem Blut von gewöhnlichem Schlachtvieh auch erreicht worden wäre.‹

Das war alles. Danach führte die Autorin den Einsatz von Blutopfern – aus reinen Adern! — als Segensbringer und Schadensabwender aus und beendete das Kapitel mit mehr unheilschwangeren Worten an jene, die den ›edlen Saft der Sternengötter‹ für Zwecke einsetzen wollten, ›die Missfallen vor den allsehenden Augen der Seherin der Leuchtenden Wasser‹ erregen würden.

Kerra blätterte vergebens in dem Buch, doch was sich hinter ›dem dunkelsten aller Zwecke‹ verbarg, führte die Schreiberin nicht weiter aus. Es folgten Kapitel über die Nachtgroßen, die von den Sternengöttern besiegten Unheilbringer, und Sarass, dem alle Unsterne zu Gehorsam verpflichtet waren.

Sie schnaubte und legte das Buch auf den Stapel über Heilkräuter und Gifte, den Lerato ihr gegeben hatte. Angeblich, damit sie sich tiefer in das Gebiet einarbeitete, in dem er sie offiziell ausbildete, doch sie hatte eher den Verdacht, dass er sie damit ablenken wollte. Wenn das der Fall war, ging sein Plan nicht auf, denn auch wenn sie seine spontanen Wissensprüfungen bis jetzt bestanden hatte – den Großteil der Zeit studierte sie die Bücher, die der Heiler nur widerwillig in ihre Hände gegeben hatte.

Sie trommelte nachdenklich mit den Fingern auf den Buchdeckel. Wenn diese Schattenkünder die Macht im Nest an sich reißen wollten, hätten sie Ravid getötet. Wer auch immer die letzten Wochen seine Leute an öffentlichen Plätzen aufgeknüpft hatte, es schien nichts mit den Magiern zu tun zu haben. Blieb die Frage, warum sie sie wirklich wollten. Hatten sie herausgefunden, dass Kerra für den Mondschieber lief, und wollten dem mächtigsten Zauberweber in Alat eine Botschaft senden? Oder wollten sie sie, weil sie ein Unstern war? Und wenn Letzteres der Fall war — wie viele in Alat glaubten die Märchen über Unsternblut? Und wer von ihnen hat Sidra und Dolan?

Das Glas der Flasche war angenehm kühl, und sie schlang ihre verschwitzten Hände fester darum. Sie brauchte mehr Informationen. Den mutmachenden Geschmack des billigen Brandes auf den Lippen verließ sie das Zimmer.

An der Treppe zu Leratos Gemächern blieb Kerra stehen und lauschte. Sie hatte den oberen Stock nur ein einziges Mal betreten, als Lerato in seinem Ritualraum vergeblich Zauber um Zauber gewoben hatte, um Sidra und Dolan zu finden. Kerra stieg die Treppe hinauf. Ihr Herz schlug schneller, obwohl Lerato ihr nie verboten hatte, seine Räumlichkeiten ohne ihn zu betreten. Es war nicht nötig gewesen.

Die Tür zu Leratos Labor schwang lautlos auf. Kerra konnte an einer Hand abzählen, wie oft sie den Raum betreten hatte. Hier bereitete der Mondschieber die Zauber zu, die er für seine Mission brauchte, hier lagerten die Ingredienzien, die ein fürstlicher Heiler nicht besitzen sollte. Aber hier entstand auch das Nerali, das Wunderpulver, das aller Wunderkraft zum Trotz an der Krankheit des Fürstensohnes scheiterte.

Sie ignorierte die Fläschchen und Gerätschaften auf dem langen Holztisch. Ihr Blick galt der hinteren Wand und den Regalen, in denen Lerato die Schriften aufbewahrte, die er in niemands anderen Händen wissen wollte. Auch nicht in Kerras.

Die Buchrücken starrten ihr ausdruckslos entgegen, kein Wort, kein Zeichen verriet etwas über ihren Inhalt. Wahllos zog Kerra das erste heraus. Das Licht der Laternen, das durch das Fenster fiel, reichte aus. Sie erkannte das Symbol als das Siegel des Ordens der Ewigen Quelle, Leratos Orden. Doch in dem fleckigen Lederumschlag verbargen sich keine Geheimnisse, sondern nur Listen über Listen: die gewissenshaften Einträge des Schatzmeisters, Anwesenheitslisten bei Ritualen und Sitzungen … und eine Mitgliederliste.

Kerra sah auf die schwarzen Striche, mit denen jeder einzelne Name von der Seite getilgt worden war. Alle bis auf einen. Leratos. Sie erkannte seine Handschrift am Ende der Seite, auch wenn die Striche wütender wirkten, verzweifelt. Ivesh nar item. Wissen kniet vor niemandem. Der Leitsatz des Ordens, von dem nur Lerato überlebt hatte.

Behutsam schob sie den Band zurück. Die nächsten konnte sie nicht lesen. Einige Worte kamen ihr bekannt vor, doch die Sätze ergaben keinen Sinn. Was hingegen Sinn ergab, war, dass der Orden seine Schriften verschlüsselt hatte. Als sie den nächsten Ledereinband herauszog, stockte ihr der Atem. Bathars Notizen.

Sie wusste, dass der Fürst sämtliche Aufzeichnungen des hingerichteten Zirkels hatte beschlagnahmen lassen, und es war kaum überraschend, dass Lerato sie an sich genommen hatte. Doch sie jetzt in den Händen zu halten, ihren eigenen Namen zu lesen zwischen fremden Symbolen …

Mit klopfendem Herzen wandte sie die Seiten um. Ihre Nervosität schlug rasch in Frustration um. Bathar faselte wirr von der Macht der Fadash, dass er sich die Kraft der wilden Magie mit Unsternblut aneignen wollte. Die Seiten waren bedeckt mit den immer gleichen magischen Symbolen, als er versucht hatte, die richtige Reihenfolge der Siegel herauszufinden, und dazwischen ihr Name im Symbol Sarass` und immer wieder ein einziges Wort: Tarash. Das Bahnu-Wort für Unstern, das ihrem Volk gerne als Beleidigung an den Kopf geworfen wurde, ohne dass die Verächter die wahre Bedeutung des Wortes kannten. Tarash. Seelenesser. Das Verbrechen, das Sarass begangen hatte, die Tat, für die ihn die Sternengötter selbst verstoßen hatten.

Mit trockenem Mund griff sie nach dem nächsten Buch. Endlich. Die Aufregung wischte die Erinnerung an Bathar fort. Die Magie der Verstoßenen — Macht und Mythen. Das Unsternsymbol verriet auf der ersten Seite, von welchen Verstoßenen die Rede war, und Kerra klemmte sich das Buch unter den Arm. Ihr Blick streifte noch ein letztes Mal über das Regal, doch dann schüttelte sie den Kopf und trat zurück. Es war falsch genug, dass sie ohne Leratos Wissen hier war und sich an seinen Schriften bediente. Es ist ja nur eines, und ich borge es mir aus und stehle es nicht.

Trotzdem kam sie sich wie eine Diebin vor, als sie den Raum mit dem Buch verließ. Ich trage es nur einen Stock hinunter, und er bekommt es morgen zurück. Außerdem —

Ein Schatten stand an der Treppe. Kerra zuckte zusammen. Vor Schreck ließ sie beinah die Schrift fallen. Dann erkannte sie Lerato. Er sagte nichts, doch die Atmosphäre hatte sich verändert. Die friedliche Stille war etwas Bedrohlichem gewichen. Zögerlich ging sie auf ihn zu.

»Ich wollte dich nicht wecken.« Sie wollte mehr sagen, ihm von dem Angriff der Schattenkünder erzählen, von der seltsamen Leiche in der Henkersgasse, doch sie brachte kein weiteres Wort über die Lippen.

Er sah sie nur an. Sein ausdrucksloser Blick jagte ihr mehr Angst ein, als jeder Wutausbruch es vermocht hätte. Sie umklammerte das Buch, als ob die Schrift sie vor dem kalten Zorn des Magiers beschützen könnte. Sein Blick lag auf der Schrift in ihren Händen, die sie ihm entgegenhielt wie ein Opfer.

»Es tut mir leid.«

Statt einer Antwort trat Lerato beiseite. Unsicher versuchte sie, in seinem Gesicht zu lesen, doch es blieb maskenhaft, auch, als sie langsam an ihm vorbei und die Stufen hinunterging. Am unteren Ende der Treppe holte seine Stimme sie ein.

»Kerra.«

Mit donnerndem Herz drehte sie sich um.

»Mach das nie wieder.«

Kerra schluckte. »Versprochen«, wisperte sie. Doch der Mondschieber hatte sich bereits zum Gehen gewandt.

***

Mit weichen Knien ließ Kerra sich wieder auf die Matratze sinken. Endlich beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie stellte die Flasche beiseite und widmete sich ihrer Beute.

Das Papier war dick und vergilbt, doch die Schrift stach schwarz aus den Seiten hervor, und sie versank in der Lektüre. Es schien ganz bestimmte Zauber zu geben, in denen Unsternblut eingesetzt wurde. Offenbar ohne den gewünschten Erfolg, aber das war nicht wichtig. Alles, was Kerra brauchte, war das Wissen, was diese verfluchten Rituale bezwecken wollten. Wenn ich erst weiß, was mit unserem Blut erreicht werden soll, finde ich auch den, der es erreichen will.

Doch auch dieses Buch verschwendete den Großteil des Papiers darauf, Unsterne und den wahnsinnigen Seelenmörder Sarass in einen Topf zu werfen, und Kerra verschluckte sich, als der Schreiber magielose Bahnu in einem Atemzug mit Dämonen nannte. Offenbar war der Schreiber noch nie einer der Kreaturen begegnet. Allein bei der Erinnerung an den Schattengänger wurde ihr kalt.

Als der Schreiber beim Vigur angelangt war und ein weiteres Mal eindrucksvoll bewies, dass er seine Schreibstube noch nie verlassen hatte, schloss sie die Buchdeckel mit einem Knall. Dem Autor nach lauerte der Vigur an Wasserlöchern der Steppe und trank die Magie derer, die ihm in die Arme liefen, und Kerra hörte sich selbst spöttisch auflachen. Idiot.

Der Vigur war ein Steppendämon, ja, doch er holte seine Opfer in ihren Träumen. Auch wenn Kerras Jagdtrupp nie das Pech gehabt hatte, so einem in die Arme zu laufen, so waren von anderen Gruppen nicht alle zurückgekehrt, allen Schutzamuletten und Zauberformeln zum Trotz.

Sie schob den Gedanken beiseite und leerte die Flasche. Bathar hatte sie gewollt und die Macht der Fadash. Diese Schattenkünder — hatten sie einen Weg in die Unterstadt gefunden, trotz Leratos Vorsichtsmaßnahmen? Oder wollten sie Kerra gar nicht wegen ihres Bluts, sondern wegen ihres Wissens um die Zustiege ins Reich der wilden Magie? Was wussten diese neunmal verfluchten Magier, und was bei Sarass wollten sie?

Ihr Mund war taub, und ihr Körper wurde schwerer und schwerer, als die Wirkung des Alkohols durch sie floss. Vielleicht ist es nicht wichtig. Vielleicht haben wir sie heute Abend alle getötet. Ihre Gedanken wurden träge, als die Müdigkeit sie einholte. Sie glitten fort von ihren Angreifern und hin zu dem Einzigen, was zählte: zu Dolan und Sidra und die beiden zu finden. Dass Sidra und Dolan wegen ihres Bluts entführt worden waren, war das Einzige, was für sie Sinn ergab. Selbst Lerato hatte zugegeben, dass es eine Möglichkeit war, auch wenn er nicht sehr überzeugt geklungen hatte.

Ich muss ihn morgen nach den anderen Schriften fragen. Kerras Augenlider flatterten zu. Irgendwo muss es ja stehen. Und dann kann ich sie finden. Schlaf umfing sie, die Umrisse der Fadash-Gänge erhoben sich aus ihrem Geist und mit ihnen die Erinnerungen.

Die Träume begannen.

4

Kerra schreckte aus dem Schlaf hoch.

Dämmerungslicht fiel durch das kleine Fenster in Leratos Arbeitszimmer, als Sidras und Dolans Schreie in ihrem Geist verhallten. Sie wischte sich die verschwitzten Locken aus dem Gesicht und warf das Bettzeug von sich.

Reste des Traumes hafteten an ihr wie Spinnweben, während sie sich wusch und Teewasser aufsetzte, begleiteten jeden ihrer Handgriffe wie böse Geister. Doch sie hatte länger geschlafen als in vielen Nächten zuvor, und dafür nahm Kerra die pelzige Zunge und den schweren Kopf, die der billige Branntwein hinterließ, gerne in Kauf.

Sidras Glasperlenband glitzerte fröhlich um ihr Handgelenk, als sie in die Morgensonne trat, um der Bäckergehilfin das Frühstück abzunehmen. Die bunten Lichtreflexe der Glasperlen stachen in ihr Herz wie kleine Messer. Ihre zugeschnürte Kehle ignorierend, goss Kerra Tee auf und deckte den Tisch. Über ihr hörte sie die Dielen knarren, als Lerato sich für den Tag fertig machte.

Sie wohnte seit dem Tag, an dem Dolan und Sidra verschwunden waren, bei Lerato. Eine Sicherheitsmaßnahme des Heilers. Kerra hatte sich mittlerweile damit abgefunden. Was sollte sie in der alten Wohnung? Jeder Fußbreit erinnerte sie an die beiden und nichts dort gab Antwort auf ihre Fragen. Doch ihr Lohn floss nach wie vor in die Miete der Räume, die sie nicht aufgeben konnte. Nicht, solange noch der Hauch einer Hoffnung bestand, mit Sidra und Dolan dorthin zurückkehren zu können.

Irgendjemand in Alat hatte die Informationen, die sie wollte, und sie würde diese Leute finden und dazu bringen, ihr zu sagen, was passiert war. Welche Mittel sie dafür auch immer anwenden musste.

Sie linste zur Tür, auf den noch leeren Gang. Lerato verschwand noch immer oft in der Fadash, um die letzten Reste von Valins Zaubern aufzutrennen und den Schaden zu reparieren, den der Rufer angerichtet hatte. Der Zauber musste ganze Arbeit geleistet haben, denn der Heiler kehrte meistens in einer grimmig enttäuschten Stimmung zurück, die sich wie Glassand im ganzen Haus verteilte und ihren Schuldgefühlen neue Nahrung gab.

»Guten Morgen.«

Lerato stand im Raum. Die blaue Heilerrobe glänzte makellos, doch die tiefen Augenringe bewiesen, dass er nicht viel mehr Schlaf als sie bekommen hatte. Seine Miene war wie immer am Morgen, nichts verriet die Geschehnisse der vergangenen Nacht.

»Der Tee ist gleich fertig«, sagte Kerra. Wenn Lerato ihr gestriges Eindringen in sein Labor nicht zur Sprache brachte, würde sie nicht damit anfangen. Der Mondschieber musterte sie und zog aus den violetten Schatten unter ihren Augen und den glanzlosen Locken seine eigenen Schlüsse.

»Du warst heute Nacht wieder unterwegs«, sagte er nun auch. Es sollte beiläufig klingen, doch die unterliegende Schärfe ließ ihren Nacken warnend prickeln.

»Ja«, sagte sie. Sie stellte die Glaskanne auf den Tisch zwischen ihnen. Lerato schenkte sich Tee ein und sah sie abwartend an. »Ich war in der Henkersgasse.«

»Und warum warst du dort?«, fragte der Mondschieber. Sie konnte seinen Blick nicht deuten.

»In der Henkersgasse tauchen immer wieder Leichen auf. Ich wollte nur schauen, ob … ob sie dabei sind«, sagte sie. Als ob der Heiler nicht wüsste, womit sie jeden Augenblick ihrer Tage verbrachte, die sie nicht für ihn arbeitete. »Ravid war auch dort. Aber ich habe ihn nicht um Hilfe gebeten«, fügte Kerra rasch hinzu.

»Das habe ich nicht gesagt.« Er rührte scheinbar unbewegt in seiner Tasse, doch sein Ton war kalt.

Aber gedacht. »Ich habe dir geschworen, dass ich mich von ihm fernhalten werde.« Kerra sah den Mondschieber offen an. »Und ich halte mein Wort. Ich weiß —« Sie brach ab. Es war nicht nötig, den Satz zu vollenden. Lerato hatte sie am Leben gelassen, wenn er allen Grund gehabt hätte, ihren Verrat mit dem Tod zu bestrafen. An Leratos Stelle hätte ich mich vermutlich nicht einfach gehen lassen.

Kerra hatte ihn damals gefragt, warum er sie verschonte. Antwort hatte sie keine bekommen. Der Mondschieber hatte sie nicht nur nicht getötet, er hatte sie als Gehilfin zurückgenommen, sie bei sich wohnen lassen, alles in seiner Macht getan, um ihr bei der Suche nach ihren Freunden zu helfen. Mit Magie und ohne hatte er mit ihr Alat und die Fadash durchkämmt, die Torwachen befragt — doch die beiden blieben wie vom Erdboden verschluckt. Was in Alat durchaus eine Möglichkeit war, aber keine, über die sie lange nachdenken wollte. Kerra wusste nicht, wie sie diese Schuld je begleichen sollte. Aber einen Bogen um Ravid zu machen, ist zumindest ein Anfang.

»Ich habe ihn in der Henkersgasse getroffen. Zufällig, ich schwöre es. Er war über das Treffen nicht viel begeisterter als ich.«

»Kerra.« Lerato stellte seine Teetasse mit einem sanften Klacken ab. Sie meinte, ihre eigene Erschöpfung aus seiner Stimme herauszuhören. »Wir haben alles versucht, um Sidra und Dolan zu finden. Du musst dich an den Gedanken gewöhnen —«

»Ich weiß«, fiel Kerra ihm ins Wort. »Ich weiß, dass ich glauben soll, dass sie tot sind, dass Valin zurückgekommen ist, dass Sidra …« Sie presste die Handballen gegen die Augen. »Dass die Fadash Sidra gerufen hat und sie Dolan verschleppt hat, dass sie ohne mich gegangen sind — aber das kann ich nicht. Ich kann nicht aufhören zu suchen, solange ich nicht weiß, was passiert ist!« Die letzten Worte hatte sie geschrien. Sie zwang sich durchzuatmen, verschlang ihre zitternden Hände ineinander. »Ich kann einfach nicht«, wiederholte sie leiser. Ihre Stimme bebte, sie rieb sich mit der Hand über das Gesicht und schob es auf den Schlafmangel.

Das Bild ihrer Wohnung erschien vor ihrem inneren Auge. Das zerbrochene Geschirr, die verstreuten Glasperlen und Blut. Nicht viel, aber gerade so viel, dass sie wusste, dass ihre Freunde die Wohnung nicht freiwillig verlassen hatten.

»Ich weiß, dass es schwer ist.« Leratos Worte drangen in ihre Gedanken und zerschlugen das Bild. »Aber so geht es nicht weiter. Du schläfst nicht, suchst Streit — so hilfst du niemandem. Schlaf. Verbringe zumindest einen Abend nicht mit deinen fruchtlosen Versuchen, Informationen aus Leuten herauszuprügeln, die dir nicht helfen, aber den Kiefer brechen können. Wenn Sidra und Dolan tatsächlich gegangen sind: Glaubst du wirklich, sie halten es lange ohne dich aus? Früher oder später wirst du eine Nachricht von ihnen bekommen. Und wenn sie in Alat sind, werden sie wieder auftauchen. So oder so. Verstanden?«

Kerra nickte gehorsam und verbarg ihr Gesicht hinter dem Teeglas. ›So oder so.‹ Sie spürte den Blick des Mondschiebers auf sich und wechselte eilig das Thema.

»Wegen Ravid«, begann sie, und bevor der Heiler die Worte aussprechen konnte, die sie aus seiner Miene las, erzählte sie hastig von dem Angriff.

»Und ihr habt keine Ahnung, wer diese Magier waren?«, fragte Lerato, als sie geendet hatte.

»Nein.«

»Hm.«

Damit war das Thema für ihn vorerst erledigt. Erleichtert, dass ihr der Heiler das Zusammentreffen mit dem Verbrecherkönig nicht nachzusehen schien, trank Kerra von ihrem Tee. »Die Nachrichten an den Wänden an dich werden immer mehr«, sagte sie dann.

Der Mondschieber nickte nur. »Hast du sie fortgewischt?« Eine rhetorische Frage. Er versenkte Honig in seinem Tee, mit den Gedanken sichtlich woanders.

»Ja«, antwortete Kerra trotzdem. Vor wenigen Tagen noch hatte sie Lerato geradezu angefleht, ihr einen Auftrag zu geben, irgendeinen, hatte ihm vorgeworfen, die Hilfesuchenden im Stich zu lassen.

---ENDE DER LESEPROBE---