Das Savoy - Aufbruch einer Familie & Schicksal einer Familie - Maxim Wahl - E-Book
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Das Savoy - Aufbruch einer Familie & Schicksal einer Familie E-Book

Maxim Wahl

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Beschreibung

Band 1 und 2 der großen Savoy-Saga erstmals in einem E-Book!

Das Savoy - Aufbruch einer Familie.

England, 1932: Violet ist jung, emanzipiert und am Ziel ihrer Träume: Als eine der ersten weiblichen Autorinnen schreibt sie für die BBC. Als jüngster Spross einer Hotel-Dynastie ist Violet im traditionsreichen Savoy aufgewachsen. Umso mehr fasziniert sie die Dynamik, für die das moderne Medium Radio steht. Plötzlich erleidet Violets Großvater, Patriarch der Familie und Symbolfigur des Savoy, einen Schlaganfall. Er betraut ausgerechnet Violet damit, die Leitung des großen Hotels zu übernehmen. Violet gerät in die dramatische Verstrickung von Ereignissen, deren Ausgang sie nicht abzusehen vermag …

Das Savoy - Schicksal einer Familie.

London 1936. Violet tritt das Vermächtnis ihres Großvaters an und leitet das Hotel Savoy. Neben ihren nicht enden wollenden Pflichten belastet sie eine große persönliche Schuld. Violet wirft sich vor, ihren Partner John in den Selbstmord getrieben zu haben. Erst die Begegnung mit dem französischen Adeligen Omar de la Durbollière scheint ihr neues Glück zu bringen. Obwohl sie die politischen Veränderungen in Deutschland mit Abscheu beobachtet, folgt sie seiner Einladung zu den Olympischen Sommerspielen. Doch nicht nur auf der Bühne der Weltpolitik, sondern auch im Savoy überschlagen sich Ereignisse, denen Violet sich nicht entziehen kann ...

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Band 1 und 2 der großen Savoy-Saga erstmals in einem E-Book!

Das Savoy - Aufbruch einer Familie.

England, 1932: Violet ist jung, emanzipiert und am Ziel ihrer Träume: Als eine der ersten weiblichen Autorinnen schreibt sie für die BBC. Als jüngster Spross einer Hotel-Dynastie ist Violet im traditionsreichen Savoy aufgewachsen. Umso mehr fasziniert sie die Dynamik, für die das moderne Medium Radio steht. Plötzlich erleidet Violets Großvater, Patriarch der Familie und Symbolfigur des Savoy, einen Schlaganfall. Er betraut ausgerechnet Violet damit, die Leitung des großen Hotels zu übernehmen. Violet gerät in die dramatische Verstrickung von Ereignissen, deren Ausgang sie nicht abzusehen vermag …

Das Savoy - Schicksal einer Familie.

London 1936. Violet tritt das Vermächtnis ihres Großvaters an und leitet das Hotel Savoy. Neben ihren nicht enden wollenden Pflichten belastet sie eine große persönliche Schuld. Violet wirft sich vor, ihren Partner John in den Selbstmord getrieben zu haben. Erst die Begegnung mit dem französischen Adeligen Omar de la Durbollière scheint ihr neues Glück zu bringen. Obwohl sie die politischen Veränderungen in Deutschland mit Abscheu beobachtet, folgt sie seiner Einladung zu den Olympischen Sommerspielen. Doch nicht nur auf der Bühne der Weltpolitik, sondern auch im Savoy überschlagen sich Ereignisse, denen Violet sich nicht entziehen kann ...

Über Maxim Wahl

Hinter Maxim Wahl verbirgt sich ein deutscher Bestsellerautor, der mit seinen zahlreichen Romanen auch international Aufmerksamkeit erregte. Für seine Stoffe sucht sich Maxim Wahl am liebsten große Schauplätze der europäischen Geschichte. Er lebt in Berlin und London, und am allerliebsten im Hotel Savoy.

Im Aufbau Taschenbuch sind bisher „Das Savoy. Aufbruch einer Familie“ und „Das Savoy. Schicksal einer Familie“, die ersten Bände seiner erfolgreichen Saga erschienen.

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Maxim Wahl

Das Savoy

Aufbruch einer Familie&Schicksal einer Familie

Band 1 und 2 der großen Savoy-Saga erstmals in einem E-Book!

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Das Savoy: Aufbruch einer Familie

Erster Teil: London 1932

1 Revolution

2 Der Himmel

3 Oppenheim

4 Späte Zeit

5 Der Klang von Champagner

6 Tauben

7 Butter und Zwiebelduft

8 Die Befürchtung

9 Kamarowski

10 Der Stich

11 Nachfolger

12 Connaghy, Snowdon & Katz

Zweiter Teil

13 Le grand bal

14 Das Rezept

15 Das Pentagramm

16 Die Initialen

17 Schwarzgrau

18 Die letzte Ölung

19 Siebenundvierzig elf

20 Ein gelähmtes Herz

21 Das Ende des Liedes

Dritter Teil

22 Paulo

23 Trudy

24 Wie Wasser in den Händen

25 Heimkehr

26 Das Bildnis

27 Eccentric Club

28 Eine Frage der Liebe

29 Dover – Ostende

30 Zur Lage der Dinge

31 Die Lady vom Savoy

Nachbemerkung

Das Savoy: Schicksal einer Familie

London 1936

1 Die Geliebte

2 Ein treuer Diener seines Herren

3 Die Vorbereitung

4 Das Auge

5 Eine Blume aus Blut

6 Omar

7 Bully

8 Alles, was er liebte

9 Von oben herab

10 Das Jahrhundert

Die Spiele

11 Am Steuer

12 Helden

13 Ein Vorgeschmack

14 Earl Grey

15 Bewölkt von Tauben

16 Die Macht der Masse

17 Gemma Galloway

18 Siebzig Fuß

19 Die Augen eines Hundes

20 Die Flamme

21 Der schönste Ort auf Erden

22 Sechzig Meilen die Stunde

Das andere Savoy

23 Winston und Charlie

24 Unsichtbar

25 Zu schmal für zwei

26 Der Faschist

27 Liebe am Nachmittag

28 Larry

29 Vabanque

30 Jungfer im Grünen

31 Ein Feind, so kühn erobert

32 Judy

33 Number 10

34 Für England

35 Das Ende des Marquet

36 Noch nicht jetzt

Impressum

Maxim Wahl

Das Savoy

Aufbruch einer Familie

Roman

Für Steffen K.

Number One In Town

Erster TeilLondon 1932

1Revolution

Die Tür schwang auf. Poliertes Messing und geätztes Glas, dunkle Täfelung aus Mahagoni. Sir Laurence brauchte nicht stehenzubleiben, um die Flecken an den Messinggriffen zu registrieren, das musste heute noch behoben werden. Marmorverkleidete Säulen, halb schwarz, halb Elfenbein, die Goldblatt-Tapete war vor zwei Jahren erst erneuert worden. Über der getäfelten Treppe zog sich ein Fries mit jugendlichen Gottheiten.

Sir Laurence Wilder war der König dieses Palastes und wie so mancher König beschlich er sein Reich mitunter heimlich, ohne erkannt zu werden. Er registrierte, dass es dem Clerk, der die Schwingtür bediente, an Haltung fehlte und dem Butler neben dem Empfang an Aufmerksamkeit. Larrys Chefbutler hätte den Eintretenden längst bemerkt und mit unsichtbarem Wink einen Pagen zu ihm dirigieren müssen, der sich erkundigen würde, ob Zeitungen oder Zigaretten gewünscht seien, vielleicht Theaterkarten. Es gab noch überteuerte Tickets für das Sadler’s Wells, wo Gielgud Was ihr wollt spielte. Doch Mr Sykes, sein dienstältester Butler, hatte den Herren im Leinenanzug mit der Sonnenbrille nicht bemerkt und unterhielt sich stattdessen mit Lady Edith, der Herzogin von Londonderry. Eine Frau mit kohlrabenschwarzem Haar, hängenden Schultern und traurigen veilchenblauen Augen. Larry hätte Lady Edith gern seine Aufwartung gemacht, zog es aber vor, unerkannt zu bleiben. Sein tief in die Stirn gezogener Strohhut und die schwarz getönte Brille machten ihn sozusagen unsichtbar. Jeder kannte Sir Laurence im dunklen Cutaway mit grauer Weste und elfenbeinfarbener Krawatte. Man bewunderte sein stahlgraues Haar, den täglich gestutzten Schnäuzer und die bernsteinfarbenen Augen, scheinbar stets ein wenig feucht, als ob er den Tränen nahe sei. Das kam von der lästigen Augenentzündung, er trug Tropfen zur Linderung in seiner Tasche. Obwohl diese Augen ihm den Anschein von Güte gaben, entging ihnen kein Detail, er war dafür berüchtigt, dass er aus fünfzig Yards Entfernung feststellen konnte, ob ein Bild schief hing.

Larry schlenderte weiter Richtung Treppe. Der Lüster über ihm war ein goldener Ring aus Licht und konkurrierte mit der glitzernden Sonne, die er bei seinem Spaziergang entlang des Strand genossen hatte. Wie albern die englischen Gentlemen mit ihren untergehängten Regenschirmen bei dem herrlichen Wetter ausgesehen hatten. Der Klang der Halle umfing Sir Laurence, kein eindeutiger Akkord, eher ein Anstimmen und Verklingen, das Gläserklirren eines früh bestellten Brandys, das Knautschen der Ledersessel, glänzend von Sattelfett, jenes Geheimmittel, das Larry während seiner Lehrzeit als Page selbst entdeckt hatte. Im Tearoom schwoll das Jazztrio an und ab, je nachdem, ob eilende Kellner die Schwingtür bedienten. Die Geigen aus dem Wintergarten hingen träge in der Luft, er nahm sich vor, das Salonorchester zu ermuntern, endlich das Programm zu wechseln. Niemand ertrug Wiener Kitsch im Frühling. Ein zartes Singen von den Seidenkleidern der Frauen, das Rascheln der Trenchcoats und Schals. Larry erreichte die Treppe.

Spätestens jetzt hätte ihn ein Page oder Hausdiener anhalten und sich höflich erkundigen müssen, was zu Diensten stehe. Niemand durfte einfach so ins Savoy hineinspazieren, der hier nichts zu suchen hatte. Das Savoy war ein Kosmos für sich, der jeden Tag seinen eigenen Sonnenauf- und Untergang erlebte. Hier arbeiteten, bedienten, genossen und vergnügten sich Menschen, die nicht nur aus der ganzen Welt kamen, sondern auch für die ganze Welt standen. Das irische Blumenmädchen, das ein Verhältnis mit dem dalmatinischen Baron hatte, der indische Zigarettenverkäufer und sein Scotch Terrier, die Witwe des amerikanischen Rinderzüchters, die österreichische Gouvernante, der sizilianische Tenor, der jüdische Unterhändler, der einarmige Captain der Royal Airforce, die englische Autorin französischer Liebesromane, der deutsche Diplomat und in Gottes Namen auch die Stenotypistin, die gegen ein Extrahonorar nachts in das Zimmer des Generaldirektors schlüpfte.

Sir Laurence kannte viele von ihnen persönlich, die meisten waren nicht zum ersten Mal hier. Das Savoy war ein Hotel, in das man wiederkam. Für den, der es sich leisten konnte, war es Zuhause. Lloyd George hatte seine Regierung hierher zum Lunch geladen, King George liebte das Chocolate Chunk Shortbread, das im Tearoom gereicht wurde, und Theatergrößen galten erst als solche, wenn sich die Journalisten im gediegenen Clarence Room um sie scharten.

Während Sir Larry auf den Fahrstuhl wartete, drehte er sich noch einmal nach Lady Edith um. Sie war gewiss die schönste Frau, die dem Savoy derzeit die Ehre gab. Ihre Augen standen ein klein wenig zu weit auseinander, ihre Nase war um eine Winzigkeit zu kurz, ihr Mund hatte etwas knabenhaft Trotziges, aber gerade die Summe dieser Unvollkommenheiten verlieh der Duchess etwas Unwiderstehliches. Wenn Lady Edith im Haus war, durfte man damit rechnen, dass noch am selben Tag der Wagen des Premierministers vorfuhr. Meistens betrat Ramsey MacDonald das Savoy durch den Seiteneingang und ließ sich direkt zur Suite der Herzogin bringen. Mit dem Erkerblick auf die Themse galt die Zimmerflucht als die romantischste im ganzen Haus.

Der Fahrstuhl schwebte in die Lobby, der Liftboy öffnete, ohne Sir Laurence ins Gesicht zu blicken. So wurde es den Eleven antrainiert, der Gast sollte sich vom Personal unbeobachtet fühlen. Dieser Liftboy machte eine Ausnahme.

»Guten Morgen, Sir Laurence.« Sein Finger im weißen Handschuh schwebte über dem Armaturenbrett. »Fünfter, wie immer?«

Da er ohnehin erkannt worden war, nahm Larry die Sonnenbrille ab. Wie hieß der Junge noch mal, Emil oder Erich? Ein Deutscher, so viel wusste er, frech, hübsch, schlank. »Wie lange bist du schon bei uns?«

»Im Juli wird es ein Jahr, Sir.«

»Ein Jahr schon, ähm …?«

»Otto, Sir.«

»Ich weiß.«

Korrekt drehte der Junge ihm den Rücken zu. 1931 war Otto ins Savoy gekommen, ein übles Jahr, alles in allem. Die Weltwirtschaftskrise hatte auch vor dem Hotel nicht Halt gemacht. Die Übernachtungen waren zurückgegangen, für die Zimmer ohne Themseblick hatte Laurence die Preise senken müssen. Obwohl die Staatsausgaben drastisch reduziert worden waren, kriegte die Regierung den Schlamassel nicht in den Griff. Man hatte die Renten und das Arbeitslosengeld gekürzt, gewalttätige Streiks waren die Folge gewesen. Nicht nur die Gewerkschaften, sogar die Royal Navy streikte. Der Premierminister, selbst ein Labour-Mann, hatte den Regierungsauftrag zurückgelegt und einen neuen zur Bildung einer nationalen Regierung unter Einbeziehung der Konservativen erhalten, woraufhin ihn seine eigene Partei hinausgeworfen hatte. Im Juli einunddreißig hatte die Bank of England den Goldstandard aufgeben müssen. Seitdem befand sich das Pfund im freien Fall und war abhängig von Angebot und Nachfrage der Devisenbörsen.

Larry musterte den Flakon mit Eau de Cologne in der Kabinenecke. Während der warmen Jahreszeit stand das erfrischende Parfum auf einer winzigen Konsole bereit, daneben Tücher mit dem Monogramm des Hauses. Gewohnheitsmäßig nahm er ein Tüchlein, bediente den Spender und tupfte sich Kölnischwasser in den Nacken.

»Der Flakon muss ausgetauscht werden«, sagte er zu Otto. »Er ist fast leer.«

»Ich werde Mrs Drake Bescheid sagen.« Der Page öffnete die Glastür und das Scherengitter. »Fünfter, Sir.«

»Wann warst du das letzte Mal zu Hause, Otto?«, fragte Larry beim Aussteigen.

»Das ist ewig her, Sir.«

»Woher stammst du?«

»Aus München.«

»Dort ist jetzt einiges los, mit eurem neuen Mann in München, nicht wahr?«

»Was soll denn los sein, Sir?«

Larry nickte dem Jungen zu, wanderte den Korridor hinunter und schloss die Tür zu seinen Privaträumen auf. Wohnen im Hotel, dachte er jedes Mal, wenn er hier eintrat. Wohnen im Hotel.

»Frühstück, Sir Laurence?« Dorothy Pyke marschierte an ihm vorbei. Wieso konnte diese Frau nicht gehen, wie Frauen gingen? Es klang, als ob die Royal Army die Wohnung besetzt hätte.

»Frühstück?« Er zog die Jacke aus. »Es ist halb eins.«

»Lunch also.« Dorothys Kostüm war tailliert und blau gestreift. Als Zugeständnis an den Frühling trug sie heute eine fliederfarbene Bluse.

»Nichts, danke, nur Tee.« In Hemdsärmeln setzte sich Sir Laurence an den Schreibtisch und öffnete die Unterschriftenmappe. »Sagen Sie Mrs Drake, die Messinggriffe an den Eingangstüren müssen poliert werden. Sie soll das Zinkmittel verwenden lassen, sonst sind die Flecken morgen wieder da.«

»Sie müssen mehr essen«, rief Dorothy von nebenan. »Sie sollten wirklich tun, was der Doktor sagt.«

»Der Doktor sagt auch, dass ich was am Herzen hätte. Beides ist Unsinn.« Lächelnd sang Larry vor sich hin: »Kein Herz schlägt treuer als das deine.«

Sein Arbeitszimmer ging nach Westen, der Salon auf den Innenhof. Laurence hatte kein Interesse an dem berühmten London-View des Savoy. Wer den genießen wollte, musste teuer dafür bezahlen.

»Sie dürfen das nicht auf die leichte Schulter nehmen.«

Larry blickte auf, da stand sie, Dorothy Pyke, die jüngste Assistentin, die das Savoy je gesehen hatte und die hübscheste. Hochgewachsen, das lange Haar streng nach hinten gescheitelt, verlor es sich am Hinterkopf in lustigen Locken. Bis auf die Lippen schminkte sie sich nicht. Mit der dampfenden Teetasse marschierte sie auf ihn zu.

»Schon fertig, der Tee?« Larry legte den Kopf schief. »Können Sie zaubern?«

»Mr Sykes hat Sie vorhin hereinkommen sehen und hier oben angerufen.«

»Sieh mal an, mein Chefbutler hat also doch Augen im Rücken.«

Dorothy machte kehrt, um die Post zu holen. Sir Laurence trank den ersten Schluck.

***

Bevor Violet Mason das BBC Building verließ, küsste sie Max Hammersmith leidenschaftlicher, als ihr lieb war. Er würde jetzt bald mit ihr schlafen wollen, genaugenommen hatte er schon seit der ersten Zärtlichkeit vor zwei Wochen mit ihr schlafen wollen. Für Violet gab es nichts Inspirierenderes, als für Max Hammersmith zu arbeiten. Niemand verstand sie besser als er. Max war bereit, ihre handwerkliche Unfertigkeit zu dulden, weil er Violets revolutionäre Art liebte, Storys zu erfinden. Die ganze BBC war eine Revolution, das Medium Radio war eine Revolution, und Max brauchte junge Köpfe, verrückte Kreative wie Violet, um die Revolution mit Futter zu versorgen. Wie jung das Medium war, erkannte man nicht zuletzt daran, dass der neue Stammsitz der BBC immer noch nicht fertig war. Man hatte das Gebäude auf dem Portland Place bereits eröffnet, obwohl überall noch gebaut wurde. Dieser Umstand gab Max Gelegenheit, Violet zu küssen.

Nach der Aufnahme in Studio B4 hatte sie sich von den Sprechern verabschiedet, Max begleitete sie zum Fahrstuhl. Bevor sie den Lift erreichten, schob er die Baustellenabsperrung beiseite und zog Violet in den Orchester-Saal, wo nackte Pfeiler und kalter Beton die Prognose zuließen, dass hier noch lange kein Orchester spielen würde. Max nahm die Brille ab, zog Violet in seinen Arm und küsste sie auf den Mund. Max war riesig und obwohl er sich tief hinunterbeugte, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Violet brannte lichterloh, weil sie für Max schreiben durfte. Kraftvolle, scharfzüngige Texte verlangte er, Tagespolitik, Dokumentationen, Hörspiele – den Sendungen, die Millionen Menschen täglich vor die Geräte lockten, waren keine Grenzen gesetzt. Aber Violet wollte ihren beruflichen Aufstieg nicht auf diese Weise erreichen. Sie wollte es Max nicht als Geliebte zurückzahlen müssen. Wenn sie einander während der Redaktionssitzungen Stichworte zuwarfen, fühlte sie sich ihm am nächsten. Niemand dachte, niemand sprach schneller als er, niemand durchschaute Zusammenhänge so schonungslos wie Max Hammersmith.

»Ich komme zu spät«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Ohne sie loszulassen, sah er auf die Uhr. »Nein, ich komme zu spät.« Seine Hände glitten über ihre Taille. »Sehen wir uns heute Abend?«

»Ich kann nicht.«

»Was machst du denn an jedem verdammten Abend jedes verdammten Tages?«, knurrte er zärtlich.

»Nur eine Woche noch.«

»Du verzettelst dich, Vi.« Er strich über ihr Haar. »Wie sagte meine Tante Rachel, eine kluge Frau: Man kann nicht mit einem Hintern auf zwei Pferden reiten.«

»Aber sie brauchen mich dort.«

»Wozu? Es ist Shakespeare. Wollen sie, dass du Shakespeare umschreibst?« Als sie nicht antwortete, hob Max ihr Gesicht zu sich. »Ich fange an zu glauben, dass du etwas mit einem dieser nichtsnutzigen Schauspieler hast.«

Sie lächelte. Was für eine absurde Vorstellung. Sie hatte nichts mit einem Schauspieler, das war nicht ihr Problem. »Ich muss jetzt wirklich.« Behutsam zog sie sich zurück.

»Ich auch.« Er ließ sie los.

Sie spürte, er sagte es, um nicht wie ein verliebter Idiot dazustehen. »Dann bis morgen.«

»Ja, bis morgen.«

Max brachte sie zum Aufzug, wartete aber nicht, bis sich die Tür öffnete, sondern schlenderte den Korridor hinunter. Er ist enttäuscht, dachte sie, ich bin nicht ehrlich zu ihm. Spätestens nächste Woche muss ich ihm reinen Wein einschenken.

Violet verließ das Broadcasting House durch den Haupteingang. Die Underground am Regent’s Park war ihr zu weit zum Laufen, also winkte sie ein Taxi heran. Eine Bequemlichkeit wie diese entsprach nicht ihrer Gehaltsklasse, ersparte ihr aber eine Standpauke von Gielgud. John Gielgud, der leuchtendste Stern auf Londons Bühnen, verabscheute Unpünktlichkeit. Er verabscheute auch das neu gebaute Sadler’s Wells Theatre, weil er fand, der Zuschauerraum sehe aus wie eine abgefressene Hochzeitstorte, und die Akustik sei erbärmlich. Trotzdem spielte Gielgud dort Shakespeare.

»Zum Theater am Arlington Way«, rief Violet dem Fahrer zu.

»Am Arlington Way gibt es kein Theater«, antwortete der Mann, ohne sich in Bewegung zu setzen.

»Glauben Sie mir, da steht ein brandneues.«

Alles neu, dachte sie, während der schwarze FX3 stockend anfuhr. Überall ist alles neu, und ich bin die Frau der ersten Stunde. Ich bin genau wie London, konservativ und fortschrittlich zugleich. Konservativ erzogen, mit konventionellen Werten vollgepumpt, die ich gerade über Bord werfe. Das ist gefährlich – vor allem aber ist es herrlich.

»Umfahren Sie Kingscross«, rief sie dem Fahrer zu. »Dort kommt man um diese Zeit schlecht durch. Nehmen Sie die Argyle Street, danach zweimal nach rechts, dann sehen Sie es schon.«

Murrend bog der Mann an der nächsten Kreuzung ab. Trotz der Abkürzung kam Violet zu spät. Sie würde Gielguds Zorn nicht entgehen.

Er trug das traditionelle Kostüm des Malvolio. Wenn John Gielgud Shakespeare spielte, war das nicht traditionell. Gielgud war Avantgarde. Nie hatte man Shakespeares Worte so frisch, so rein, so eindringlich gehört. Während er Violet die Leviten las, musste sie innerlich lachen. Da stand der größte Schauspieler Englands, trug Kniehosen und kreuzweise geschnürte Strumpfbänder und hielt ihr eine Strafpredigt. Andererseits war Gielgud ein Perfektionist, er würde sich nicht länger als zwei Minuten damit aufhalten, eine unbedeutende Dramaturgin zurechtzuweisen. Der Mann funktionierte wie ein Uhrwerk. Er begann die Proben pünktlich auf die Minute und beendete sie noch pünktlicher. Um ein Uhr mittags überkam ihn eine bleierne Müdigkeit, weshalb er sich in seiner Garderobe schlafen legte, selbst wenn das Stück dafür mitten in einer Szene unterbrochen werden musste.

»Bitte entschuldigen Sie, Sir. Es kommt nicht wieder vor«, antwortete Violet so zerknirscht, wie Gielgud es erwarten durfte.

Er nickte huldvoll, die zwei Minuten waren vorbei, Malvolio schritt zum Auftritt. Violet huschte an ihren Platz. Ihr Job war es, das Soufflierbuch stets auf den aktuellen Stand zu bringen. Die Aufführung war zu lang. Das durfte nicht so bleiben, sonst würde das Publikum die Busse um zehn Uhr nachts nicht mehr erreichen. Selbst Shakespeare würde einsehen, dass man das den Leuten nicht zumuten konnte. Gielgud hatte ganze Passagen gestrichen, heute probten die Schauspieler die neuen Übergänge.

Der Inspizient winkte Violet schon zum zweiten Mal. Über ihr Buch gebeugt, hatte sie es nicht bemerkt. Er machte der Souffleuse ein Zeichen, die stieß Violet an. Als sie aufblickte, machte der Inspizient die Telefon-Geste und zog sich rasch zurück, Gielgud hatte die Unruhe bemerkt.

»Dank sei meinen Sternen!«, rief der Schauspieler mit ausgebreiteten Armen und warf dem Inspizienten gleichzeitig einen strafenden Blick zu. »Ich will gelbe Strümpfe tragen und sie unter den Knien binden, noch diesen Augenblick. Jupiter sei gepriesen!«

Den Rest des Monologs hörte Violet nur noch entfernt. Lautlos war sie durch die Seitentür des Zuschauerraumes geschlüpft und hielt den Telefonhörer ans Ohr.

»Was ist mit Großvater?«, flüsterte sie.

Sir Laurence war kein Mann, wie man sich einen Großvater vorstellte. Violet kannte ihn als Menschen, dem das Vorwärtsstürmen zum Prinzip geworden war. Selbst im Alter eines Patriarchen wirkte Larry jünger als die jungen Männer, die ihn in seinem Reich umgaben. Dieses Reich lag über eine Meile von dort entfernt, wo Violet jetzt überstürzt aufbrach. Mochte Gielgud toben, mochte sie auch ihren Job verlieren, nichts konnte sie daran hindern, zu ihrem Großvater zu eilen.

2Der Himmel

»Wer war als Erstes bei ihm?«

Violet nahm zwei Stufen auf einmal, während Mr Sykes neben ihr ins Keuchen geriet.

»Mrs Drake hat ihn gefunden. Sie kam, um sich wegen der Messingpolitur zu erkundigen.« Mit fliegenden Frackschößen lief der Chefbutler neben Violet die Treppe hoch.

»Und wo ist Dorothy die ganze Zeit gewesen?« Auf dem Treppenabsatz kam ihnen eine Gruppe arabischer Gäste entgegen. Violet wich nicht aus, sondern bahnte sich ihren Weg mittendurch.

Mr Sykes machte eine kurze Verbeugung vor den Männern in den bodenlangen Gewändern. »Seit dem Unglück ist Miss Pyke nicht mehr gesehen worden«, rief er Violet nach.

Sie ließ den Butler hinter sich. Im fünften Stock war die Tür zu Larrys Privaträumen angelehnt, Violet stürmte hinein. Henry und Judy warteten mit bangen Gesichtern im Vorzimmer.

»Der Doktor ist noch bei ihm.« Henry, der Kronprinz, war Violet ans Herz gewachsen. Der fast Fünfzigjährige hatte etwas Knabenhaftes an sich. Er war der einzige legitime Sohn Larrys und damit dessen Nachfolger. Violet bedauerte ihn für diese Bürde. Sie wusste, Henry wartete nicht etwa ungeduldig darauf, dass er an die Reihe kam, sondern in der ängstlichen Gewissheit seiner Unzulänglichkeit. Sein altes Jungengesicht sah blass und eingefallen aus, der strohblonde Haarschopf stand zu Berge.

Violet begrüßte ihn mit einem verwandtschaftlichen Kuss. »Was sagt Dr. Hochsinger zu Larrys Zustand?«

»Wir haben ihn noch nicht gesprochen. Ich dachte nur, da er Papa nicht ins Krankenhaus bringen ließ, ist zu hoffen …«

Er wandte sich zu seiner Frau.

»Wir dachten, dass der Anfall möglicherweise nicht so schwer ist«, vollendete sie seinen Satz.

Judy war eine Frau, die wenig für ihr Äußeres tat und gerade deshalb frisch und natürlich aussah. Um einiges jünger als Henry hätte man sie eher für seine kleine Schwester gehalten.

»Wo war Dorothy, während es passiert ist?«

»Sie wird noch gesucht.« Judy trug ihr Haar zum Dutt geschlungen und versuchte nicht, das beginnende Grau zu übertünchen.

»Wollen wir hineingehen?« Ungeduldig drängte Violet zur nächsten Tür.

»Hochsinger sagt, dass Papa absolute Ruhe braucht.« Henry kam hinter ihr her.

»Larry hat mich anrufen lassen. Er will mich sehen.«

»Weil du sein Liebling bist.« Henry lächelte mit jener Traurigkeit, die sein Leben ausmachte. »Du und Laurence, ihr wart immer wie Kumpane. Du bist ihm ähnlicher, als ich es je sein werde.« Er legte Violet die Hand auf die Schulter.

»Geh hinein«, bekräftigte auch Judy. »Sprich mit Larry und sag uns nachher, was wir für ihn tun können.«

Violet wusste nicht, was sie erwidern sollte. Es stimmte, sie und ihr Großvater waren aus demselben Holz geschnitzt. Sie betrat den Salon. Durch eine Schiebetür getrennt, verlängerte sich der Raum ins Schlafzimmer. Das Bett stand am gegenüberliegenden Ende, Violet hatte einen langen Weg zurückzulegen.

Sir Laurence war ein Mann mit Traditionsbewusstsein, dennoch hatte er alles Altmodische, Überladene und Überzuckerte, alles Viktorianische aus dem Haus verbannt. Nirgends gab es verstaubte Troddeln und gefältelte Samtvorhänge, keine verkitschten Gemälde oder tüddelige Beistelltische. Er liebte die moderne Linie dieses Jahrzehnts. Auch der schwarzweiß getäfelte Deckenbogen, der die Glaskuppel stützte, war ein Sinnbild für Larrys Geschmack. Über ihm gab es nur den Himmel, durch die Kuppel über seinem Bett konnte er die Sterne sehen. Ein mitternachtsblauer Sessel, ein Spiegel im Silberrahmen, eine Nachttischlampe in Form eines Kelches stellten die ganze Einrichtung dar. Das Ananas-Motiv auf rotem Grund, das den Teppichrand schmückte, war das einzig verspielte Detail im Zimmer.

»Wie geht es dir?« Entlang der Ananas lief Violet auf den Großvater zu.

In dem riesigen Bett wirkte er wie ein Kind.

»War es schwer, dich loszueisen?« An der Art, wie er die Hand hob, erkannte sie seine Schwäche.

»Kein Problem.« Sie sank auf den Bettrand. »Was ist passiert?«

»Lächerlich. Mir ist schwarz vor Augen geworden.« Wie um zu beweisen, dass es sich um eine Bagatelle handelte, zog Laurence die Enkelin in seine Arme.

Professor Hochsinger kam aus dem Bad und krempelte die Hemdsärmel herunter. »Absolute Ruhe, Sir Laurence, nicht so viel sprechen.« Er nahm den Rezeptblock aus der Tasche.

»Das ist meine Enkelin.« Larry drückte Violet an seine Brust.

Nachdenklich musterte Dr. Hochsinger den kranken Mann und die junge Frau. »Ich komme heute Abend noch einmal.«

»Wozu? Mir geht es blendend.«

Hochsinger zog den Gehrock an. »Sie haben ein zweiundsiebzigjähriges Herz in Ihrer Brust, Sir Laurence, und es schlägt nicht, wie es sollte. Es geht Ihnen nicht blendend.«

»Violet ist wie Medizin für mich«, lächelte Larry.

»Ich habe Ihnen zur Sicherheit noch eine andere Medizin aufgeschrieben. Man soll sie Ihnen holen. Die Dosierung steht auf dem Rezept.«

»Lassen Sie mich das machen.« Violet nahm den blassblauen Zettel entgegen. Hochsinger war eine Koryphäe. Von ihm wurde behauptet, er hätte mehr Babys adeliger Damen auf die Welt gebracht als jeder andere. »Können Sie mir sagen, was es ist, Professor?«

»Das Herz«, antwortete Hochsinger. »Aber die Ursache liegt woanders. Ich habe Ihrem Großvater Blut abgenommen. Näheres weiß ich heute Abend.« Er schloss seine Tasche, machte eine knappe Verbeugung vor Sir Laurence und verließ das Zimmer. Als er die Vordertür öffnete, traten ihm Henry und Judy entgegen.

»Willst du Henry nicht hereinlassen?«, flüsterte Violet. »Er und Judy machen sich große Sorgen.«

»Ich bin gleich bei euch, meine Lieben. Mir geht es gut, der Professor wird es euch bestätigen.« Larry winkte den beiden zu. »Ich brauche noch einen Moment mit Violet.«

»Lass dir Zeit, Papa«, erwiderte Young Henry.

Sobald sich die Tür geschlossen hatte, verwandelte sich Larrys Ausdruck, alle Heiterkeit fiel von ihm ab, seine Wangen waren fahl, Violet entdeckte dunkle Ringe unter den Augen. »Vi, hör zu. Die tun mir etwas in den Tee.«

»Was meinst du damit?«

»Ich werde vergiftet.«

Violet sank neben dem Bett auf die Knie und umfasste seine Hand. »Wie kannst du das wissen?«

»Es war Dorothy.« Er erwiderte den Druck. »Es muss Dorothy gewesen sein. Sie hat mir den Tee gebracht.«

»Hast du Hochsinger deine Vermutung mitgeteilt?«

»Wo denkst du hin? Ich bin doch nicht verrückt. Niemand darf davon wissen, keine Menschenseele.«

»Wo ist Dorothy jetzt?«

»Keiner weiß es. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Bereitet sie immer deinen Tee zu?«

»Meistens.« Er bemerkte Violets zweifelnden Blick. »Ich gehe schließlich nicht jedes Mal in die Küche und kontrolliere, von wem mein Tee aufgegossen wird.«

Violet zeigte zu den hofseitigen Zimmern. »Neben der Küche liegt der Lastenaufzug. Dorothy könnte den Tee auch unten bestellt haben. Was macht dich so sicher, dass sie es war? Was macht dich so sicher, dass überhaupt irgendjemand so etwas tun könnte? Immerhin hattest du schon einmal …«

»Einen Herzinfarkt?« Er verengte die Augen. »Der liegt zehn Jahre zurück, und das hat sich anders angefühlt.« Larry deutete nach oben, wo sich der wolkenlose Himmel über der Kuppel spannte. »Heute Morgen war ich spazieren, der Tag war herrlich, es ging mir blendend. Ich kam zurück und sagte Dorothy, ich wolle Tee. Dann passierte das Merkwürdige. Der Tee war schon fertig. Woher konnte sie das wissen? Manchmal will ich statt Tee nämlich lieber …«

»Brandy.«

Laurence strich über Violets Haar, das an den Schläfen feucht war von der Eile. »Als ich Dorothy fragte, wie sie den Tee so schnell herbeigezaubert hätte, sagte sie, Mr Sykes hätte ihr mein Kommen angekündigt.«

»Das klingt plausibel.«

»Bloß hat mich Sykes in der Halle gar nicht bemerkt. Oppenheim hat sich bei ihm erkundigt.«

»Du hast den Hoteldetektiv darauf angesetzt?«

»Wer wäre besser dafür geeignet?«

»Die Polizei.«

Larry öffnete den obersten Knopf des Schlafanzugs. »Das fehlte noch, dass uniformierte Kriminalisten durch mein Hotel geistern. Oppenheim ist ideal dafür. Es fällt nicht auf, wenn der Hoteldetektiv zu mir hochkommt. Von nun an wird er nicht nur Jagd auf Taschendiebe und Heiratsschwindler machen, sondern auch auf einen Giftmörder.«

»Die Angelegenheit scheint dir Spaß zu machen«, entgegnete Violet besorgt. »Als ob das Ganze nur ein Spiel wäre.«

»Spiel im Savoy«, lächelte Larry. »Entweder ich bin am Ende tot, dann habe ich verloren, oder Oppenheim macht den Täter unschädlich; in dem Fall hätte ich gewonnen.«

»Und wenn du dich täuschst?« Sie stand auf. »Wenn dir einfach schlecht geworden ist, ohne dass irgendjemand seine Hand im Spiel hatte? Ich kann mir bei Miss Pyke nicht vorstellen …«

»Sir Laurence!«

Mr Sykes stand in der Tür. »Miss Pyke ist da. Darf ich sie hereinlassen?«

»Zuerst musst du Henry zu dir bitten.« Violet beugte sich zu ihrem Großvater. »Du darfst deinen Sohn vor den Angestellten nicht demütigen.«

»Du bist ein kluges Mädchen.« Laurence zwinkerte ihr zu. »Henry, Judy, entschuldigt, dass ich euch so lange habe warten lassen«, rief er nach drüben. »Bitte kommt doch herein.« Er winkte dem Butler. »Miss Pyke soll warten. Schicken Sie sie ins Büro.«

»Wie Sie wünschen, Sir Laurence.«

»Setzt euch, setzt euch doch.« Larry streckte den beiden die Arme entgegen. »Wie ihr seht, geht es mir gut. Wollt ihr Tee? Ach, wie dumm, jetzt habe ich Sykes weggeschickt.«

»Ich mache das.« Violet überließ den beiden das Feld und betätigte den Klingelknopf im Salon. In wenigen Augenblicken würde ein Page erscheinen.

3Oppenheim

Otto war angehalten, Herrschaften von Rang mit ihrem ordnungsgemäßen Titel anzusprechen – Mylady, Commander, Your Excellency. Andererseits sollte er bekannten Persönlichkeiten im Fahrstuhl weitgehende Anonymität gönnen. Am liebsten hätte Otto den Gentleman, der sich hinter ihm im Spiegel betrachtete, ohne Worte in den dritten Stock gebracht, aber der Mann hatte ihm eine Frage gestellt, schon der Zweite an diesem Tag, der sich nach seiner Heimat erkundigte.

»Was hören Sie aus München?« Der Mann trug sein Haar in ergrauten Locken, besaß einen edlen Kopf, nüchterne Augen und einen Walrossbart, er schien mit seinem Anblick zufrieden zu sein.

»Ich war lange nicht mehr zu Hause, ähm … Sir.« Wenn man Mitgliedern des Hochadels begegnete, war die korrekte Anrede beim ersten Mal Your Grace, beim zweiten Mal genügte Sir oder Mylady. Aber galt das auch für einen Premierminister? Otto sah sich in der Zwickmühle.

»Bei euch in München brodelt es ganz ordentlich. Man darf gespannt sein.«

Was hatten sie denn heute alle mit München, dachte Otto. Er stammte aus Maxglan, sein Vater war im Krieg gefallen. Otto wusste von ihm hauptsächlich, dass er Queen Victoria verehrt hatte, und dass es für den belesenen Buchhändler eine Zumutung gewesen war, gegen die kultivierten Briten in die Schlacht zu ziehen. Vielleicht hatte er seine Meinung geändert, nachdem die Engländer die deutschen Schützengräben an der Somme nach siebentägigem Trommelfeuer mit anderthalb Millionen Granaten in eine Mondlandschaft verwandelt hatten. Ottos Vater starb durch keine Granate, er wurde von einer gigantischen Mine zerfetzt, die britische Pioniere in langen Rohren unter der deutschen Frontlinie durchgeschoben und zur Detonation gebracht hatten. Der Knall war angeblich bis nach London zu hören gewesen. In der Schule hatte man Otto beigebracht, dass der Franzose der Erbfeind der Deutschen sei, doch wegen seiner Hinterlist müsse man dem Briten noch mehr misstrauen.

Otto hatte seiner Mutter nicht auf der Tasche liegen wollen und war mit dreizehn als Tellerwäscher im Vier Jahreszeiten an der Maximilianstraße in den Hoteldienst getreten. Ein wohlhabender Gentleman aus Sussex hatte einen Leibdiener gesucht und Otto das Angebot gemacht, ihn nach Großbritannien zu begleiten. Nach einjähriger Dienstzeit hatte Otto sein Heil in London gesucht und war im Savoy zunächst als Schuhputzer untergekommen. Sir Laurence war rasch auf ihn aufmerksam geworden und fand, so ein frisches Gesicht dürfe nicht in der Schuhputzkammer verkümmern. Er hatte Otto eine Livrée und weiße Handschuhe verpasst und ihm den Aufzug Nummer drei zugewiesen.

Durch einen konkaven Spiegel über der Armatur konnte Otto seine Fahrgäste unbemerkt beobachten. Seit er seine Tage in dieser auf und ab schwebenden Gondel verbrachte, hatte er gelernt, die Blicke der Menschen einzuordnen, die lächelnden Blicke der Damen, neugierige Blicke von greisen Würdenträgern, Otto konnte inzwischen bei jedem Einzelnen Gefallen, Begehren und Neid unterscheiden. Im Blick des Mannes hinter sich fand er nichts davon. Dieser Mann sah nur sich selbst. Otto lächelte.

»Was ist daran so komisch?« Der andere hatte Ottos Entgleisung bemerkt. Ein Fehler, ein Riesenfehler, denn ein Liftpage war sozusagen Luft und hatte sich keinerlei Emotionen anzumaßen.

»Bitte verzeihen Sie, Sir, aber Sie sind heute schon der Zweite, der mich nach München befragt. Ich weiß leider wenig, da meine Mutter kaum Zeit findet, mir zu schreiben.«

»Aber die Zeitungen werden Sie doch lesen.« Der Premier fuhr sich mit beiden Zeigefingern über den Schnäuzer.

»Wir Angestellten haben keinen Zugang zu den Journalen.«

»Wir leben in Zeiten, in denen jeder informiert sein sollte.«

»Danke, dass Sie mich darauf hingewiesen haben, Sir.« Der Fahrstuhl hielt. »Dritter Stock, Sir.«

Im Hinaustreten warf der Premierminister Otto einen prüfenden Blick zu. »Typisch für Sir Laurence, dass er einen deutschen Liftpagen beschäftigt.«

Otto machte eine sinnlose Verbeugung. Es stimmte schon, seine Mutter schrieb ihm so gut wie nie, dafür schickte Ottos Cousine Gabriele ihm häufig Briefe. Gabriele war zwei Jahre älter als er. In der Nacht, bevor er aus Deutschland abgereist war, hatten er und Gabriele einander geküsst. Nur ein einziger Kuss in Schwabing, aber Otto hatte seither oft an sie denken müssen. Gabriele berichtete über die verrückten Veränderungen, die in München vor sich gingen und von den Auftritten jenes Mannes, der selbst in London im Gespräch war. »Es ist alles wahr, was er sagt«, hatte Gabriele geschrieben. »Ich frage mich, wieso vor ihm niemand diese einfachen, klaren Wahrheiten über Volk und Rasse und unser Vaterland gesagt hat. Nächsten Freitag gehe ich wieder zu seiner Veranstaltung. Mir ist, als ob dieser Mann nichts als die reine Wahrheit sprechen kann.« Otto verwahrte Gabrieles Briefe liebevoll, weniger wegen ihres Inhalts, sondern weil die schöne Cousine es ihm angetan hatte.

Während Otto das Scherengitter des Fahrstuhls schloss, nickte der Premierminister den Polizeioffizieren zu, die das Treppenhaus inspiziert und gesichert hatten und ihn auf dem Korridor erwarteten. »Melden Sie mich bei der Herzogin.«

Der ranghöhere Polizist ging voraus und klopfte an die Tür der Erkersuite. Zugleich kam Mrs Drake den Korridor entlang. Die Hausdame erkannte den besonderen Gast und versank ordnungsgemäß in einem Hofknicks, während der Premier die Suite von Lady Edith betrat.

So mancher im Hotel hätte darauf gewettet, dass Mrs Drake ein Mann war. Als dienstälteste Hausdame kleidete sie sich in der Uniform ihres Ranges, war aber größer als die meisten männlichen Angestellten. Ihre Haut hatte die Grobporigkeit eines Elefanten, das Blond ihrer Dauerwelle konnte man nur als aggressiv bezeichnen. Niemand hatte jemals einen Mister Drake im Hotel gesehen.

»Warte!«, rief Mrs Drake, bevor Otto den Fahrstuhl in Bewegung setzte. Sie bestieg ihn, nahm den Flakon mit dem Eau de Cologne und blinzelte durch das geschliffene Glas. »Der ist ja noch gar nicht leer.«

»Sir Laurence wünscht trotzdem, dass er ausgetauscht wird.« Sie nahm die Flasche an sich. »Fahr mich runter, Junge.«

»Wie Mylady befehlen.« Er zwinkerte und schloss das Scherengitter.

***

Alt fühlte sich Sir Laurence, alt und leer, obwohl es ihm spürbar besser ging. Schwerfällig sank er in den Schreibtischsessel, ein Stück aus dem frühen 19. Jahrhundert, der sich nicht nur drehen, sondern mittels einer Federkonstruktion auch kippen ließ. Zum Schlafanzug trug er den schwarzen Morgenmantel mit Monogramm. Sir Laurence gab Oppenheim ein Zeichen, zu beginnen.

Dorothy Pyke war aufgefordert worden, gegenüber Platz zu nehmen. Der Hoteldetektiv hatte ihren Stuhl dort platziert, wo das harte Licht der Nachmittagssonne ihr Gesicht traf. Die Sonne war Oppenheims Verhörlampe.

»Das ist eine interne Untersuchung«, begann er. »Es ist entscheidend, dass ich meine Nachforschungen anstellen kann, ohne dass jemand davon erfährt. Sollten Sie etwas von der Untersuchung verlauten lassen, muss ich Anzeige gegen Sie erstatten. Verstehen Sie das, Miss Pyke?« Oppenheim stützte sich auf die Schreibtischplatte.

Larry fiel auf, dass die Oberarme seines Detektivs die Nähte der Anzugjacke zu sprengen drohten. »Gut, Clarence, das haben wir verstanden.« Er faltete die Hände. »Dorothy, hören Sie zu. Ich lasse Sie deshalb als Erste befragen, damit sich Ihre Unschuld rasch erweist. Vorher können wir nämlich nicht zu unserer Arbeit zurückkehren.«

»Das ist mir klar, Sir Laurence.«

Er schätzte an Miss Pyke, dass sie trotz ihrer Jugend eine natürliche Autorität besaß. Im Augenblick war allerdings wenig davon zu spüren. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn, der Lippenstift wirkte in dem ungeschminkten Gesicht grell und übertrieben.

»Bitte Clarence, fahren Sie fort.«

»Wieso haben Sie die Tasse und das Kännchen von Sir Laurences Teegeschirr sofort ausgewaschen?«

»Weil es normal ist, benütztes Teegeschirr sauber zu machen«, antwortete sie.

»Waschen Sie das Teegeschirr jedes Mal selbst ab?«

»Wenn es meine Zeit erlaubt.« Miss Pyke musterte Oppenheim, als ob sie eine derart dumme Frage von ihm nicht erwartet hätte.

»Der Zimmerservice erzählt mir etwas anderes«, erwiderte er. »Normalerweise stellen Sie das gebrauchte Geschirr in den Lastenaufzug und schicken es in die Küche.«

»Heute war im Büro nicht viel zu tun. Da habe ich es selbst gemacht.« Dorothy strich die Taille ihres Kostüms glatt.

»Ich habe die Tasse, das Kännchen und die Teebüchse ins Labor geschickt.« Oppenheim umrundete den Schreibtisch. »Wenn darin auch nur die kleinste Spur von Gift zurückgeblieben ist, wird man sie finden.«

Oppenheims Ton klang weniger drohend, eher warnend, fand Larry, als ob er Miss Pyke eine geheime Botschaft übermitteln wollte. Sir Laurence betrachtete seinen Detektiv. Es war erwiesen, dass durchtrainierte Männer einen Anzug ruinieren konnten, Männer dagegen, die ein wenig schmächtig gebaut waren und in nacktem Zustand schwach und hilflos aussahen, wirkten in einem gut geschnittenen Anzug wendig, elegant und sportlich. Oppenheim gehörte zur ersten Gruppe, er ähnelte einer Skulptur aus Gusseisen. Entweder er bewegte sich, oder er erstarrte. Es gab kein Mittelding, nichts Langsames, Geschmeidiges, ungewöhnlich für einen Hoteldetektiv, von dem man erwarten würde, dass er unauffällig durch die Räume strich, mehr floss als lief, mehr schwebte als stand. Eines war sicher, das teure Tuch von Oppenheims Anzug war an diesem Muskelberg verschwendet.

Miss Pyke hatte einen Augenblick in die Sonne gestarrt, jetzt wandte sie sich an Larry. »Ich bin schockiert und tief getroffen, dass Sie mich für fähig halten, Sie zu vergiften, Sir Laurence.«

»Sie sprechen nur mit mir, Miss Pyke«, ging Oppenheim dazwischen, fast als wäre er ein eifersüchtiger Liebhaber. »Sir Laurence hat gebeten, dem Verhör als Zuhörer beizuwohnen. Sie haben ihm gegenüber behauptet, Mr Sykes hätte Sir Laurence ins Hotel kommen sehen und Sie darauf benachrichtigt. Ich habe mit dem Chefbutler gesprochen. Er wusste nichts von diesem Gespräch und hat Sir Laurence auch nicht kommen sehen.«

Larry wippte in seinem Sessel. »Wieso haben Sie mich angeschwindelt, Dorothy?«

»Weil Sie nicht wollen, wenn ich auf das Dach steige«, antwortete sie beherrscht.

»Auf die Kuppel?« Ein kleines Lächeln stahl sich in Larrys Gesicht.

»So ist es. Ich war dort oben.«

»Während Ihrer Arbeitszeit?«, fragte Oppenheim.

»Sir Laurence war noch nicht im Haus, da habe ich den Ausstieg benützt.«

»Was haben Sie dort gemacht?«

»Da kommen Sie von selbst drauf, Clarence«, sagte Larry schmunzelnd.

»Sie sind auf die Kuppel gestiegen«, wiederholte Oppenheim und musterte Miss Pyke von Kopf bis Fuß, ihre strenge Frisur, die verführerische Linie ihres Nackens, die ungewöhnlich breiten Schultern und ihre langen Beine. »Auf die Kuppel gestiegen, um die Mittagszeit.« Der Ärger, weil er das Rätsel nicht lösen konnte, ließ Oppenheims Backenmuskeln hervortreten.

»Miss Pyke ist auf mein Dach geklettert, um bei dem schönen Wetter eine zu rauchen. Und dabei, nicht wahr …?« Er machte eine ermunternde Geste.

»Dabei habe ich Sie gesehen, Sir Laurence«, vollendete sie. »Ich sah Sie den Strand entlangspazieren, Sie haben sich dem Hotel genähert.«

Eine bessere Assistentin als Dorothy würde Larry so schnell nicht finden. Deshalb hoffte er, sie möge ihre Finger in der Sache nicht im Spiel haben.

Oppenheim war anderer Meinung. »Auf diese Entfernung hätten Sie Sir Laurence unmöglich erkennen können. Außerdem trug er einen Hut.«

»Unter tausend Menschen würde ich Ihren Gang erkennen, Sir Larry.«

»Was ist mit meinem Gang?« Er hielt im Wippen inne.

»Er ist einmalig. Es sieht so aus, als ob Sie gleich tanzen würden.«

»Tanzen, wirklich, ach wirklich?« Er konnte nicht anders, als in sich hineinzulachen.

Oppenheim ließ seine geballte Faust in die Handfläche klatschen, der vertraute Ton zwischen seinem Chef und der Verdächtigen störte ihn. »Dass Sie Sir Laurence auf der Straße entdeckt haben, war noch kein Grund, ihn zu belügen.«

»In diesem Fall doch«, widersprach Dorothy. »Sir Laurence hat mir ausrücklich verboten, auf das Dach zu steigen.«

»Das habe ich tatsächlich«, nickte er. »Falls etwas passiert.«

»Ich werde prüfen, ob man von dieser Seite des Daches den Strand überhaupt sehen kann«, konterte Oppenheim. »Nun zum zeitlichen Ablauf. Nachdem Sie das Geschirr abgeräumt hatten, erlitt Sir Laurence eine Herzattacke.«

»Einen vorübergehenden Schwächeanfall«, korrigierte Larry.

»Sie hätten den Zustand Ihres Chefs doch bemerken müssen, Miss Pyke. Aber Sie waren nicht da. Mrs Drake hat Sir Laurence erst eine halbe Stunde später gefunden. Währenddessen hätte das Schlimmste passieren können. Wo waren Sie, Miss Pyke?«

Mal den Teufel nicht an die Wand, dachte Larry. Was wäre denn das Schlimmste, der Tod? Sonderbarerweise empfand er den Tod nicht als bedrohlich. Unverzeihlich war jedoch, dass er seine Angelegenheiten noch nicht geordnet hatte. Laurence besaß keine Reichtümer, aber sein Vermächtnis wollte er weitergeben. Als Enkel deutscher Einwanderer hatte er das Hotelgewerbe von der Pike auf gelernt, sich rasch emporgearbeitet und das Savoy schließlich vor fast vierzig Jahren übernommen. Er hatte das Hotel zu einer der ersten Adressen Londons gemacht und war vom König mit dem Ritterschlag geehrt worden. Diese Errungenschaften galt es zu bewahren. Zugleich fürchtete Larry die Regelung seiner Nachfolge. Henry war das beste Beispiel eines Sohnes, der mit dem silbernen Löffel im Mund geboren worden war. Jedes Mal, wenn in Henrys Leben etwas schiefgelaufen war, hatte Sir Laurence seinen Einfluss geltend machen müssen. Dieser Sohn, der nun selbst bald fünfzig war, konnte Larrys Werk unmöglich fortsetzen. Einerlei, ob man ihn vergiften wollte oder ob ihn sein Herz im Stich gelassen hatte, heute war er durch eine Tür getreten. Was er dahinter gesehen hatte, bekräftigte ihn, zu handeln. Schwerfällig stand er auf.

»Entschuldigt mich bitte.«

Dorothy hatte den Impuls, ihren Chef zu stützen, doch sie blieb sitzen.

»Heute keine Geschäfte mehr«, sagte er, als ob sich an ihrem Verhältnis nichts geändert hätte. »Machen Sie weiter, Clarence.«

Larry verließ das Büro, durchquerte den Salon und kehrte zu seinem Bett zurück. Die Stimmen von drüben wurden schwächer. Larry schloss die Tür, griff zum Telefon und ließ sich mit Mr Connaghy von Connaghy, Snowdon & Katz verbinden.

4Späte Zeit

Es wurde Nacht im Savoy, zugleich war es die Zeit höchster Betriebsamkeit. Der Tanzsaal im ersten Stock füllte sich, Damen führten ihre neuesten Roben aus, Herren erprobten ihren Charme bei den Damen. Verdrossene Ehemänner bestellten Champagner, um ihre Verdrossenheit hinunterzuspülen. In den Bars erwachten die Gläser und Flaschen, die Tumbler und Shaker in den Händen der Mixer. Im Nightingale-Room glitt der Klang des Klaviers dezent an den Wänden entlang und störte keines der Gespräche, während im Tanzsaal der temperamentvolle Arturo Benedetti und sein Orchester jedes Wort, das nicht geschrien wurde, unhörbar machten. Benedetti leitete die vierzig Mann, darunter auch drei Damen, mit einer Vehemenz, als ob er Wagner oder Meyerbeer dirigieren würde. Er motivierte die Holzbläser, drosselte das Blech, sprang im Takt des Cakewalks auf und ab und wiegte sich bei jeder Rumba in den Hüften.

In den Schreib- und Lesezimmern ging es gewohnt leise zu, einsame Handelsreisende schrieben Briefe nach Übersee, eine Geliebte schlug die Zeit, bis ihr Gönner sich zeigen würde, mit einem gefühlvollen Roman tot, ein Spekulant verfasste eilige Telegramme. Auf den Korridoren huschten Plaudereien an den Spiegeln entlang, man verabredete und stritt sich, hatte eine Meinung zur Regierungskrise und munkelte, dass der Premierminister im Haus gewesen sei, obwohl er in Downing Street dringender gebraucht werde. Der butterige Duft von Roastbeef und Zwiebelgemüse verflüchtigte sich allmählich, die Dinnerzeit war vorbei.

Violet betrat das Haus zum zweiten Mal an diesem Tag und wurde zum zweiten Mal von Mr Sykes begrüßt.

»Zu Sir Laurence?«, erkundigte sich der Chefbutler und erhielt eine ausweichende Antwort.

In ihrem schlichten Trenchcoat, der nicht zu den extravaganten Garderoben des Savoy passte, huschte Violet an den Fahrstühlen vorbei, nickte Otto zu, der einer Matrone in den Aufzug half, die sich mithilfe zweier Stöcke vorwärts schleppte. Violets Gedanken waren bei der abendlichen Shakespeare-Probe. Gielgud hatte alle zur Kritik zusammengetrommelt, die Diktion der Darsteller bekrittelt, die unpräzise Bühnentechnik und den Mann, der das Donnerblech bediente. Die Aufführung hatte immer noch Längen, Violet sollte die neuesten Striche bis morgen in den Text einarbeiten. Sie dachte an den kranken Mann unter der Glaskuppel. Sir Laurence war das Herz des Hotels, und seit heute schlug es unregelmäßiger. Larry war der stärkste Mensch, den Violet kannte, aber auch er musste die Grenzen seines Körpers akzeptieren. Sie zweifelte daran, dass es eine Vergiftung gewesen sei und war froh, dass Larry nichts davon nach außen dringen ließ. Im Hotel würde man trotzdem tuscheln, die Gerüchte würden sich durch die Teeküchen und Dienstzimmer fortpflanzen. Keiner der Angestellten konnte sich ein Hotel Savoy ohne Sir Laurence vorstellen. Die meisten waren unter seiner Führung in den Dienst getreten, manches Baby war in diesem Haus geboren worden und arbeitete heute als Zimmermädchen. Er stand schon so lange an der Spitze, dass kaum jemand noch im Savoy lebte und arbeitete, der sich an eine Zeit vor Sir Laurence erinnern konnte. Man behandelte ihn wie einen Olympischen. Aber das war er nicht, dachte Violet, während sie durch den Korridor des dritten Stockes eilte.

Vom anderen Ende kam ihr Miss Rachel, die Stenotypistin entgegen. Sie war die Schnellste in der Kurzschrift und an der Schreibmaschine, verständlich also, dass Geschäftsleute ihren Schriftverkehr am liebsten durch Miss Rachel erledigen ließen. Es gab Gerüchte über sie, Eindeutiges war aber nie zu hören gewesen. Diese Gerüchte verstummten vor den Zimmertüren der Gäste, niemand hatte sich je über Miss Rachels nächtliche Tätigkeit beschwert. Violet und die Stenotypistin nickten einander zu. Klein und zierlich, mit großen Kinderaugen, trug sie ein dezent geschnittenes Kostüm und eine Wasserwelle. Violet sah Miss Rachel an die Tür von Zimmer 307 klopfen.

Sie verließ die dritte, durcheilte die vierte Etage, machte aber auch dort nicht Halt. Für den Zimmerservice hatten die Etagenkellner hier oben in einer Kammer ein Sortiment an Alkohol angelegt, um nicht für jede Bestellung in den Weinkeller hinunterlaufen zu müssen. Bier, Wein, Sekt und Brandy waren zur Hand. Violet klopfte, erhielt keine Antwort, trat ein, zog einen Vorhang beiseite, griff sich eine Flasche Schampus, drei Flaschen Bier und schrieb dem Etagenkellner eine Notiz. So ausgerüstet erklomm sie die Treppe ins letzte Geschoss.

Man sagte Sir Laurence nach, dass er jedes noch so kleine Zimmer im Savoy vermietete.

Sein Konzept ging auf, denn vielen Leuten war es nicht so wichtig, ob ihr Zimmer luxuriös war, solange sie nur im Savoy logierten. Johns Behausung war allerdings kein Zimmer, sondern ein Teil des Gebäudespeichers, notdürftig mit Wänden und einem Fußboden ausgestattet, im Sommer brütend heiß, im Winter unbewohnbar, sofern man nicht Johns Konstitution besaß. Glücklicherweise herrschte gerade weder Sommer noch Winter, es war die angenehme Zeit, die beste Zeit in London, wenn sich der regnerische Frühling in den gediegenen Sommer verwandelte, wenn es Tage gab, an denen die Themse weder Nebel noch Pestilenz verströmte, sondern Heiterkeit, die an ein mediterranes Gewässer erinnerte.

John war der Hausmechaniker des Savoy. Egal ob Wasser, Gas oder Elektrizität, tagsüber sah man ihn in einer Ecke knien und ein Rohr reparieren oder an einem Schaltkasten fummeln, er verwandelte knisternde, verschmorte Drähte wieder in funktionierende Leitungen. John hieß Mankievicz mit Nachnamen und niemand hätte seinem Namen gerechter werden können als Violets Liebster, der beste, verrückteste und herzlichste Mensch, der Mann, den sie nicht verlassen konnte, aber eigentlich verlassen musste, sofern sie ihrem Verstand folgte.

Für Violet war der Verstand die wichtigste Waffe einer Frau. Großbritannien, das verstaubte Königreich, war eine verschworene Männerwelt. Wollten Frauen auch nur die geringste Chance ergreifen, die Welt der Männer auszuhebeln, würden sie es einzig ihrem Verstand zu verdanken haben. Nüchternheit, Witz und Originalität waren die Eigenschaften, die für Violet wichtiger waren, als alles andere, und an sechs von sieben Tagen folgte sie diesem Dreigestirn. Dann kam der siebente Tag und das bedeutete, dem Tier zu begegnen.

John war sich seiner Tierhaftigkeit nicht bewusst, überhaupt war Bewusstsein nicht seine starke Seite. John erspürte die Welt, und er spürte sich selbst in dieser Welt. Er schenkte Liebe und teilte Hiebe aus, er trank Bier und trug einen Bauch vor sich her. Er besaß viele Muskeln und einen Hals, den kein Hemdkragen umschließen konnte. Er hatte helle Augen, die ihm manchmal so etwas wie Schläue verliehen, aber Violet ließ sich nicht täuschen, John war nicht schlau. John war gut, ein guter Mensch, Himmel Herrgott, wo wurden heutzutage noch gute Menschen hergestellt? John Mankievicz konnte nicht lügen, nicht einmal schwindeln, in seiner Welt war die Lüge noch nicht erfunden worden.

Johns größte Sehnsucht war es, Maler zu sein, Bilder faszinierten ihn. Er liebte Gemälde und stellte eine ganze Menge davon her. Es waren schlechte Bilder, aber er liebte sie wie seine Kinder, weshalb Violet es nicht übers Herz brachte, ihm ihre wahre Meinung darüber zu sagen. Sie nannte Johns Bilder politisch und ehrlich und intensiv. Er hatte noch kein einziges davon verkauft. John arbeitete als Mechaniker, um sich seine wahre Arbeit, die Malerei, leisten zu können.

Der Mann, der eindeutig besser zu Violet gepasst hätte, war Max Hammersmith, der Intellektuelle, der Humorist, der Organisator und Zyniker. So ein Mann hielt Violets Geist auf Trab, er legte die berufliche Latte für sie hoch, forderte und überforderte sie. Sich von Max küssen zu lassen, war kein Ausdruck von Violets Liebeshunger, sondern Ausdruck ihrer Vernunft. Max war der Mann der Zukunft, Violets Zukunft, John dagegen war Violets Liebe, was sollte sie dagegen nur machen? Sie liebte diesen schweren Brocken, der wie ein Gebirge neben ihr lag, wenn sie miteinander geschlafen hatten. Sie liebte den reinen Tor, diesen Parsifal, der nichts wusste und alles fühlte, der niemandem je etwas zuleide getan hatte. John, dem das geschliffene Wort fremd war und der trotzdem intuitiv verstand, wenn Sprache etwas Besonderes ausdrückte, der bei Shakespeare weinen konnte, weil er die Wahrheit der Kunst gleichsam durch seine Poren aufnahm. John hatte die Fähigkeit, ein billiges Kunstwerk zu durchschauen, sofern es nur glitzernder Schein war, falscher Zauber. Dann wurden seine Augen trübe, er wandte sich ab wie ein Gorilla im Zoo, wenn Kinder ihn nachmachten.

»Ich habe mich noch nicht gewaschen«, sagte er zur Begrüßung, schloss Violet in seine Arme, spreizte dabei aber die Hände ab.

»Hast du viel zu tun?«

»Seit sie nachts immer die großen Scheinwerfer auf der Straße einschalten, um das Haus zu beleuchten, ist an der Lichtanlage dauernd etwas kaputt. Das Netz ist überlastet.«

»Tut mir leid«, antwortete sie, stieg auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. Gleich darauf fühlte sie sich von ihm hochgehoben und auf der Matratze behutsam abgesetzt.

Violet war nicht ganz nackt, so viel Zeit hatten sie sich nicht genommen.

Auch John trug noch sein Unterhemd. Seine Hand glitt über ihre Hüfte. »Ich habe ein neues Bild fertig.« Ohne sich darum zu kümmern, ob sie schon aufstehen wollte, kam er von der Matratze hoch. »Willst du es sehen?«

Sie hätte es lieber später gesehen, doch wenn es um seine Bilder ging, war John empfindlich. »Natürlich«, antwortete sie, weil ihn nichts so sehr verletzte, als wenn er eine Ahnung davon bekam, dass Violet in der Welt des realen Kunstbetriebs lebte, er aber bloß ein Dilettant war, der unter dem Dach des Savoy Bilder pinselte. Müde ließ sich Violet von ihm hochhelfen.

Es hatte auch Vorteile, dass Johns Behausung auf dem Speicher lag. Durch einen Durchgang gelangte man rasch auf den eigentlichen Dachboden. Dort befand sich Johns Atelier, seine Werke standen gegen die Dachschräge gelehnt. Halbnackt ging er voraus, sie folgte ihm im Hemdchen.

»Sei vorsichtig, aus manchen Balken stehen Nägel heraus.«

Sie schlüpften in den weiten Raum, der das Innenleben der Fassadenkonstruktion des Savoy trug. Es roch nach uraltem Holz und Ziegelstaub.

John präsentierte Violet sein Bild. Er hatte einen Himmel eingefangen, wie es ihn in Wirklichkeit nicht gab. Es war ihm gelungen, den Himmel über London neu zu erfinden. Dieses Bild war das Beste, was Violet je von ihm gesehen hatte. Er hatte keinen Pinsel benützt, sondern die Grautöne mit der Spachtel aufgetragen, in fetten Schichten, in dicken Klecksen.

»Das ist gut, John«, sagte sie. Es klang schlichter als die Worte, die sie sonst benutzte, wenn ihr etwas nicht gefiel.

»Das hast du noch nie gesagt.«

»Wirklich?«

»Du hast gut gesagt. Mehr als gut gibt es nicht.« Er umarmte sie von hinten. »Du machst mich froh, Violet.«

Nur er nannte sie so. Bei der BBC und im Hotel verwendeten alle die unsinnige Abkürzung ihres Vornamens. Sie war unglücklich. Wie konnte sie sich auf ihre Aufgabe konzentrieren, ihre Zukunft gestalten, wie konnte sie diesen Mann verlassen, wenn er ihr so gut tat, wenn sie voller Frieden war, kaum dass er einen Raum betrat, wenn sie ihren John so liebte?

»Du machst mich auch froh, John.« Sie streichelte seine Arme mit den Sommersprossen. »Jetzt sollten wir das Bettzeug abziehen und in die Wäscherei bringen.«

»Wollen wir es nicht einfach an der Sonne trocknen lassen?«

Sie standen umarmt auf dem warmen Speicher, Violet betrachtete den Himmel über London, so wie ihr Geliebter ihn gemalt hatte.

5Der Klang von Champagner

»Try to make it true, say you need me too«, sang Violet leise. Melancholisch klang dieser Ohrwurm und war zugleich Noël Cowards unumstrittener Triumph des Jahres. Wie oft mochte der Pianist den Song auf Wunsch der Gäste schon gespielt haben? Violet ließ ihre Augen durch den Nightingale Room wandern, ob jemand an der einsam trällernden Barbesucherin Anstoß nahm. Um diese Uhrzeit nahm niemand an irgendetwas Anstoß. Kurz vor dem Morgengrauen gab es keine Forderungen mehr, keinen Ehrgeiz und keine Reue über verpasste Gelegenheiten. Um drei Uhr früh herrschte hier eine behagliche Gleichgültigkeit.

Violet hatte die Gelegenheit vertan, John reinen Wein einzuschenken und damit die Chance, aufrichtig zu Max zu sein. Unterm Strich blieb sie dabei, ihr Sowohl-als-auch-Leben weiterzuführen. Einerseits war sie ein Kind dieses Hotels, hier geboren und nach dem unrühmlichen Verschwinden ihres leiblichen Vaters auch hier groß geworden. Großvater Laurence hatte sie in die Familie aufgenommen. Zugleich war sie ein Kind des neuen, schnellen London, ihr Geist gehörte der jungen BBC, ihr Körper würde möglicherweise bald Max Hammersmith gehören. Ihr Herz aber gehörte John, dem Hausmechaniker, dem Idealisten unter dem Dach.

Beim Abschied hatte sie gesagt, sie müsse nach Hause, um an einer Buchrezension zu arbeiten. Neben dem BBC-Auftrag, der bereits morgen gesendet werden sollte, kam noch die Überarbeitung des Shakespeare-Textes dazu. Trotzdem hatte sich Violet von den Klängen aus dem Nightingale Room verführen lassen, einen letzten Drink zu nehmen. Eine kleine Weile wollte sie sich der Gleichgültigkeit zwischen Nacht und Tag hingeben. Danach würde sie durchmachen müssen, um ihre Arbeit zu schaffen. Und wenn schon, in diesem vor Müdigkeit wachen Zustand gelangen ihr oft die besten Texte.

»Ich bin auf Hochzeitsreise«, hörte Violet an einem Tisch hinter sich jemanden sagen.

»Ich hoffe, Sie genießen es«, erwiderte eine sanfte Frauenstimme.

»Ich erwarte meine Frau erst«, antwortete der Mann, in dessen Aussprache ein Akzent zu hören war. »Sie ist noch nicht angekommen.«

Ein Deutscher, nein, östlicher, dachte Violet, ein Pole?

»Und was machen Sie hier?«, fragte er.

»Ich höre dem Klavierspieler zu«, antwortete die sanfte Stimme.

»Wussten Sie, dass er Konzertpianist ist?«, sagte der Mann. »Er stammt aus Brasilien, wo er buchstäblich am Verhungern war. Er kam nach London und wäre wieder fast verhungert, bis man ihm diese Stelle gab.«

»Sie kennen ihn?« Violet hörte das Anzünden einer Zigarette.

»Wir plaudern gelegentlich.«

Man vernahm das charmante Geräusch, wenn Champagner in ein Glas floss. »Wo haben Sie Ihre Braut kennengelernt?«, fragte die Frau.

»In Danzig.«

Die sonderbare Plauderei veranlasste Violet, sich umzudrehen. Der männliche Gast war ihr unbekannt, doch wer hätte diese Dame nicht sofort, selbst bei Kerzenlicht erkannt? Lady Edith trug ein Kleid, das man bei anderer Gelegenheit für ihr Nachthemd hätte halten können, weiße Seide, gerade geschnitten, hauchdünne Träger, doch die dreireihige Perlenkette und die armlangen Handschuhe verliehen ihr unzweifelhafte Eleganz. Violet war zu Ohren gekommen, dass der Premierminister der Herzogin heute seine Aufwartung gemacht, sie nach der schicklichen Frist von einer Stunde jedoch wieder verlassen hatte.

»Sind Sie öfter in Danzig?«, fragte Lady Edith.

»Ich bin dort geboren.«

Kein Deutscher, dachte Violet, sondern das Kind einer Stadt, in der viele Deutsche wohnten. Abgetrennt von Preußen war Danzig seit dem Krieg ein unabhängiger Stadtstaat geworden, polnische und britische Truppen gewährten der Stadt unter Aufsicht des Völkerbundes diesen Status. Der Mann hatte eine Hakennase, sein dunkles Haar lichtete sich. Im Smoking, mit Rose im Knopfloch wirkte er nicht wie jemand, der noch rasch einen Whisky trank, sondern als ob dem zufälligen Gespräch mit Lady Edith eine Verabredung vorausgegangen wäre.

In diesem Moment betrat Otto die Bar, ein Silbertablett balancierend. »Mr Brandeis?«, fragte er dezent.

Der Mann drehte sich um. »Ja?« Otto händigte ihm einen Brief in offenem Umschlag aus. »Verzeihen Sie bitte«, sagte der Mann zu Lady Edith.

Während er die Nachricht las, überlegte Violet, weshalb Otto noch im Dienst war, seine Schicht hatte um Mitternacht geendet. Außerdem durften die Jungs in den Fahrstühlen ihren Platz nicht verlassen. Für Botengänge waren die Hausdiener zuständig.

»Es ist gut.« Der Mann aus Danzig drückte Otto eine Münze in die Hand.

»Etwas Unangenehmes?«, fragte die Herzogin.

»Durchaus nicht, trotzdem muss ich mich nun entschuldigen.« Er stand auf. »Darf ich Sie zum Fahrstuhl begleiten?«

»Sehr freundlich, nicht nötig.«

Mr Brandeis machte eine knappe Verbeugung, nahm seinen Hotelschlüssel vom Tisch und verließ den Nightingale Room. Während er vorüberging, versuchte Violet vergebens, einen Blick auf die Nummer des Schlüsselanhängers zu werfen. Sie ließ sich zurücksinken. Ein Mann aus Danzig, auf Hochzeitsreise, plauderte um drei Uhr morgens mit der Herzogin von Londonderry. Wäre Violet nicht so müde gewesen, sie hätte sich darüber Gedanken gemacht.

Der Pianist stimmte Dancing in the Dark an. Violet gab sich der Illusion hin, er spielte es nur für sie. Seine Finger entglitten ihm über die Tastatur, er präludierte mit geschlossenen Augen. Von Zeit zu Zeit warf er den Fingern einen Blick zu, dann formierten sie sich neu und kehrten zur eigentlichen Melodie zurück.

***

»Stellen wir uns vor, wir leben in einer einzigen großen Weltgemeinschaft, unter einer globalen Regierung. Die Nationalstaaten haben sich aufgelöst, auch das britische Weltreich gibt es nicht mehr. Wir stehen am Beginn einer neuen, globalen Zivilisation, in der nichts dem Zufall überlassen wird, nicht einmal die Zeugung des Menschen. Der neue Mensch wird nicht geboren, sondern in staatlichen Aufzuchtzentren produziert. Diese moderne Gesellschaft braucht Alpha-Menschen, deren Aufgabe die Führung und Gestaltung des Staates ist, ihr Privileg ist absolutes, nie enden wollendes Vergnügen. Die Epsilon-Menschen stellen dagegen die niedrigste Gesellschaftsschicht dar. Schon im Zustand des Embryos entzieht man ihnen den Sauerstoff, damit sie geistig zurückgebliebene Wesen werden. Wie viele Epsilons produziert werden, definiert sich an der jeweiligen wirtschaftlichen Notwendigkeit.«

Der Sprecher legte ein Textblatt beiseite. »Huxleys Roman lebt nicht vom billigen Optimismus herkömmlicher Zukunftsromane, die eine Welt in rosigem Licht erträumen, er will uns kein unerreichbares Wunschbild vorzaubern, er predigt nicht, er will uns nicht bessern.«

»Eine Welt in rosigem Licht?« Max Hammersmith drehte den Ton leise. »Wärst du heute nicht so verdammt spät ins Haus gekommen, hätte ich dir diesen mageren Sermon nicht durchgehen lassen.«

Sie befanden sich in der Schleuse, jener schalldichten Kammer zwischen dem geschäftigen Betrieb des BBC-Gebäudes und der nüchternen Stille, die im Studio herrschte. Hier drin gab es nichts, bis auf das länglich verglaste Fenster, durch das man in den Aufnahmeraum hinuntersehen konnte. Dort hing das Mikrofon an einem beweglichen Galgen, das rote Licht brannte, konzentriert las der Sprecher Violets Text ab.

Sie musste Max recht geben. Um vier Uhr morgens hatte sie nichts Vernünftiges mehr zustande gebracht und war über der Schreibmaschine eingeschlafen. Ihre Rezension war gestaltlos. Um nicht gleich klein beizugeben, tippte sie auf die bewusste Stelle. »Was hast du gegen Welt in rosigem Licht?«

»Du sollst nicht beschreiben, was der Roman nicht ist, sondern was er in seinem Kern darstellt«, antwortete Hammersmith. »Dieser Roman, glaube mir, wird nicht nur die Literatur verändern, er wird alles verändern.«

»Er ist schrecklich düster, absolut schwarz.«

»Genau deshalb ist er so gut«, nickte Hammersmith. »Huxley denkt den globalen Fortschritt, dem heute alle blindlings folgen, unerbittlich zu Ende.«

»Grotesk«, flüsterte Violet. »Er denkt den Fortschritt grotesk zu Ende.«

Max richtete sich auf. »Das ist es. Das hättest du schreiben sollen. Wieso fällt es dir erst jetzt ein?« Bevor sie etwas erwidern konnte, drückte er die Sprechtaste. »Entschuldige die Unterbrechung, Dennis«, ertönte es über den Lautsprecher. »Wir wollen hier noch etwas ändern.«

Eine Etage tiefer hob Dennis, bekannt für seinen sonoren Sprechstil, den Kopf und ließ das Blatt sinken. »Wie du meinst, Max. Wird es lange dauern?«

»Nur ein paar Minuten.«

»Habe ich Zeit, um eine zu rauchen?«