Das Savoy - Glanz einer Familie - Maxim Wahl - E-Book
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Das Savoy - Glanz einer Familie E-Book

Maxim Wahl

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Beschreibung

Blitzlichtgewitter, Glamour und eine unverhoffte Liebe.

London, 1950: Die Hotelerbin Violet Mason hat große Sorgen. Seit rings um das Savoy neue Luxushotels aus dem Boden schießen, steht ihr geliebtes Hotel vor dem Ruin. Als man Violet zum Verkauf zwingen will, zieht sie alle Register und arrangiert ein Medienspektakel – Weltstars inklusive. Kann das Comeback der Hollywood-Diva Greta Garbo das Savoy noch retten? Violet ahnt nicht, dass der Mann, der sie hinters Licht führen will, ein ganz anderes Interesse an ihr hegt ... 

Das große Finale der Erfolgssaga um das berühmteste Hotel der Welt.

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Seitenzahl: 274

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Über das Buch

London, 1950: Die Bomben der Deutschen hat es überlebt, jetzt aber droht das Dach des Hotel Savoy über den Köpfen seiner Gäste einzustürzen. Hoteldirektorin Violet Mason plant eine Generalsanierung, doch wie soll sie bei der schwindenden Gästeschar das Geld dafür auftreiben? Sie geht in die Offensive: Die Begegnung der publicityscheuen Greta Garbo mit Charlie Chaplin im Savoy soll dem Hotel wieder zu altem Glanz verhelfen. Da stellt der Stammgast und Geschäftsmann Thomas Guinness Violet ein überraschendes Ultimatum, das ihre Pläne zu vereiteln droht. Ist das Savoy wirklich alles, was er von Violet will, oder verbirgt sich hinter seinen Plänen das Kalkül eines ungewöhnlichen Mannes?

Über Maxim Wahl

Hinter Maxim Wahl verbirgt sich ein deutscher Bestsellerautor, der mit seinen zahlreichen Romanen auch international Aufmerksamkeit erregte. Für seine Stoffe sucht sich Maxim Wahl große Schauplätze der europäischen Geschichte. Er lebt in Berlin und London – und am allerliebsten im Hotel Savoy. 

Im Aufbau Taschenbuch sind bisher seine Romane »Das Savoy. Aufbruch einer Familie«, »Das Savoy. Schicksal einer Familie«, »Das Savoy. Geheimnisse einer Familie«, »Das Savoy. Hoffnung einer Familie« sowie bei Rütten & Loening »Stürmische Weihnacht in Cornwall« erschienen.

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Maxim Wahl

Das Savoy - Glanz einer Familie

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

London 1950

1: Eine Liebe im Pazifik

2: Ein Augenblick im Paradies

3: Verfall

4: Dorchester Suite

5: Die Prinzessin

6: Klosters in der Schweiz

7: Die Männer aus Cornwall

8: Ein Sommerabend

9: Chaplin

10: Das Ultimatum

11: Zeitenwende

12: Petersfield

13: Amnestie

Die Göttliche und der Tramp

14: Zimmer zum Hof

15: Unter freiem Himmel

16: Briefe

17: Ratten

18: Hammer

19: Bei Kerzenlicht

20: Bei Tageslicht

21: Ermächtigung und Vollzug

22: In letzter Minute

Rendezvous mit der Zukunft

23: Das Äußerste

24: Das Gespenst

25: August

26: Gehen

27: Das doppelte Gesicht

28: Ohne mich

29: Acht vor acht

30: Die Loge

31: Machtlos

32: Der Kuss

33: Es gibt keinen Zweiten wie ihn

34: Casserole à l’écossaise

35: Sturm auf der Organji

36: Rendezvous mit dem Leben

Impressum

Wer von dieser großen Familiensaga begeistert ist, liest auch ...

London 1950

1

Eine Liebe im Pazifik

»Die Garbo?«, fragte Violet. »Greta Garbo? Warum sollte ausgerechnet sie mir helfen?«

»Weil sie es kann.«

Die Leitung wurde von Minute zu Minute schlechter. Violet presste den Hörer ängstlich ans Ohr. Sie war so glücklich, endlich wieder Garys Stimme zu hören. Drei Monate, Herrgott, hätte er sich nicht früher melden können? Seine Briefe, ja sicher, die waren voll unglaublicher Details und gefühlvoll geschrieben, aber sie ersetzten nicht die Freude, seine Stimme zu hören.

Jeden Tag, wenn Lucy von der Poststelle Violet ihre Korrespondenz brachte, suchte sie als Erstes nach dem nüchternen grauen Kuvert, auf dem die schwarzen Initialen G. S. standen. Er verlängerte das G immer mit einem Abstrich nach unten, sein S strebte fröhlich vorgeneigt in die Zukunft. Gary Stewart, der Mann, den es nie lange an einem Ort hielt, dessen Beständigkeit im Aufbruch lag – weshalb hatte sie sich ausgerechnet in so einen Menschen verliebt?

Weil ich das immer tue, dachte Violet, während sie hoffte, hinter dem Rauschen im Hörer möge doch wieder seine Stimme auftauchen. Onkel Henry hatte Violet vor Jahren die Augen über die Besonderheit ihres Charakters geöffnet: »Du verliebst dich gern in die dunklen Prinzen mit Vergangenheit. Das sind Männer, die dich anziehen. Doch jetzt hast du dich zu allem Überdruss in einen Juwelendieb verliebt.«

Auf seinen Verdacht hatte sie wütend, aufgeregt und verzweifelt reagiert. Wütend, weil sie fürchtete, ihr Onkel könnte recht haben, aufgeregt, weil ihr die Möglichkeit erst in jener Nacht klar geworden war, und verzweifelt, weil sie keinen Ausweg aus dem Schlamassel wusste. Damals hatte einfach alles gegen den weltgewandten Gary Stewart gesprochen. Er hätte tatsächlich der Dieb sein können, der die Gäste des Hotels Savoy beraubte, die Gäste ihres Hotels. Unausdenkbar, dass sie eine Beziehung mit jenem Verbrecher begonnen hatte, der ihr Haus bestahl. Doch schließlich war es Violet mit Garys Hilfe gelungen, die beiden Angestellten zu überführen, die im Savoy auf Beutezüge gegangen waren.

Das lag nun vier Jahre zurück, genau wie der Krieg, der dem Savoy tiefe Wunden geschlagen hatte. Doch die Wunden heilten, Violet und die Menschen, die sich dem Hotel verpflichtet fühlten, brachten die Dinge wieder in Ordnung. Das alte Haus stand wie eh und je unweit der Waterloo Bridge, eine kurze Wegstrecke von Big Ben entfernt. Es war und blieb die nobelste Adresse entlang des Strand.

Auch ich bleibe, dachte Violet. Ich bin wie ein Baum, den man eingepflanzt hat, um über das Savoy zu wachen. Gary Stewart liebt mich, aber er ist leider alles andere als ein Baum. Am ehesten verglich man ihn mit einer Libelle, schillernd, blitzschnell und nicht zu fassen. Ich wäre auch lieber eine Libelle, dachte sie. Als ich jung war, wollte ich reisen, ungewöhnliche Menschen treffen, am Leben der Welt teilhaben.

Violet hatte tatsächlich viele interessante Menschen kennengelernt, die aus aller Herren Länder stammten, aber selten geschah das auf Reisen. Stattdessen kam die Welt zu ihr, die Menschen stiegen gern in Violets Haus ab.

Dieses Hotel, das Savoy, war eine Welt für sich, die jeden Tag ihren eigenen Sonnenauf- und -untergang erlebte. Hier arbeiteten, bedienten, genossen und vergnügten sich Menschen, die nicht nur aus den verschiedensten Erdteilen stammten, sondern auch für die Vielfältigkeit der Welt standen. Das walisische Zimmermädchen, das Schauspielerin werden wollte. Der Liftboy, der die Aufmerksamkeit des französischen Modeschöpfers erregte. Die deutsche Witwe, die ihren Reichtum in die Zeit nach Hitler gerettet hatte. Der texanische Ölbaron, der aus Liebe zu Miss Hunt, der neuen Hausdame, häufig im Savoy Quartier nahm, der Privatlehrer der schwedischen Zwillinge und der tschechische Tenor, der am Telefon so laut sprach, dass sich die Gäste im Nebenzimmer beschwerten.

Violet kannte viele dieser Menschen persönlich. Die meisten stiegen nicht zum ersten Mal hier ab. Das Savoy war ein Hotel, in das man wiederkam; für jene, die es bezahlen konnten, war es ein Zuhause. Nach dem Skandal um die Juwelendiebstähle war Gary entgegen seinen Plänen bei Violet geblieben, fast ein Jahr lang, ein wunderbares Jahr. Doch schließlich hatte er es selbst an diesem glücklichen Ort nicht ausgehalten und war seinem Wesen gefolgt. Die Libelle hatte sich in die Lüfte erhoben und war davongeflogen. Er schrieb ihr zwei-, manchmal dreimal die Woche. Selten rief er an. Wen wunderte es? An der Pazifikküste eine Stadt zu finden, wo es eine Telefonleitung gab, die bis nach London führte, stellte ein Kunststück der besonderen Art dar.

»Hallo? Violet?«, ertönte seine Stimme vom anderen Ende der Welt.

»Ja, Gary! Jetzt höre ich dich wieder. Du warst weg –«

»Du bist weg gewesen –«, fiel er ihr ins Wort. »Ich weiß nicht, wie lange die Leitung noch …« Wieder das unheilvolle Rauschen – ihr erstes Gespräch nach Monaten würde wahrscheinlich kurz ausfallen.

»Du hast von Greta Garbo gesprochen«, schrie sie fast, um die Verbindung nicht zu verlieren. »Wieso sollte ausgerechnet die Garbo mir helfen können?«

»Weil sie den Atem der großen Welt besitzt, diesen unvergleichlichen Glamour, für den das Savoy berühmt ist. Du musst dir diesen Glamour zurückerobern.« Er machte eine Pause. »Und da ist noch … was, das … seit Langem sag … schmerzhaft … Vi –«

»Hallo?«

Das Rauschen wurde stärker.

»Hallo, Gary! Was wolltest du sagen? Gary – hallo!«

Eine andere Stimme meldete sich. »Die Verbindung wurde unterbrochen, Miss Mason«, sagte Lucy aus der Zentrale. »Vielleicht hat der Gesprächspartner aufgehängt.«

»Danke, Lucy.«

»Soll ich die Nummer noch einmal wählen, Miss Mason?«

»Nicht nötig. Wir waren ja schon fertig.« Sie hängte ein.

Wir waren noch nicht fertig, noch lange nicht, dachte sie. Das Büro mit der alten Holztäfelung und den schweren Jalousien, die das graue Londoner Tageslicht dämpften, kam Violet mit einem Mal schrecklich einsam vor. Schmerzhaft? Was hatte Gary wohl damit gemeint?

Miss Hunt, die Hausdame, trat ein und brachte wie jeden Tag die LdE, die Liste der dringenden Erledigungen, wie sie im Haus genannt wurde. Diese Liste wurde niemals kürzer, täglich länger.

»Es lässt sich nicht mehr hinausschieben«, begann Miss Hunt. »Wir müssen die Gäste aus der Wellington Suite in das Stockwerk darunter verlegen. Zimmer 437 ist unbewohnbar geworden.«

»Was stimmt nicht mit 437?«

»Der Wasserschaden hat sich vergrößert.«

»Aber das ist doch instand gesetzt worden. Ich dachte, wir hätten dort endlich Ruhe. Wieder das Dach?«, fragte Violet verzagt. »Hat Mr Ehrlichman es nicht vor drei Wochen ausgebessert?«

»Diese Flickschusterei würde jetzt nicht mehr reichen, sagt Ehrlichman. Das Dach braucht eine grundlegende Sanierung.«

Violet fühlte Wut aufsteigen. »Unser vorzüglicher Haustechniker hat gut reden«, gab sie zurück. »Wenn er von Sanierung spricht, meint er in Wirklichkeit ein neues Dach. Weiß Mr Ehrlichman, was das kostet?«

»Es ist …« Miss Hunt stockte.

»Was ist los? Heraus mit der Sprache.«

»Er behauptet, mittlerweile sei es nicht mehr nur die Beplankung. Der Schiefer ist porös geworden. In der Folge sind jetzt auch die Balken darunter betroffen.«

»Der Dachstuhl?« Violet sprang auf. »Das kann nicht sein! Der Dachstuhl ist aus Ulmenholz. Es gibt kein stabileres Material. Die London Bridge hat siebenhundert Jahre lang gehalten, und die bestand aus Ulme.«

»Es tut mir leid«, erwiderte Miss Hunt.

»Wenn wir das Dach austauschen müssten, wäre während der Arbeiten der Nordtrakt unbewohnbar. Unser Einnahmeverlust wäre … Ich müsste …« Violet wusste nicht weiter.

»Von den Zimmern dort oben sind aber nur wenige belegt«, gab Miss Hunt zu bedenken. »Meiner Ansicht nach wäre es kein Problem, die Gäste aus dem Nord- in den Westtrakt zu verlegen.«

Violet hob den Blick zu der jungen Frau in ihrem dunkelblauen Kostüm. Gleich nach dem Krieg war Miss Hunt zu ihnen gekommen, aber sie galt immer noch als »die Neue«. Das lag daran, dass ihre Vorgängerin, Mrs Drake, die Position so lange innegehabt hatte, dass sich niemand mehr an ein Savoy ohne Mrs Drake erinnern konnte. Ihr Abgang war traurig und demütigend gewesen. Sie hatte sich als die Drahtzieherin der Juwelendiebstähle entpuppt. Mrs Drake litt an einer unheilbaren Lichtallergie. Bevor sie nicht mehr hätte arbeiten können, wollte sie einen späten Reichtum anhäufen und brachte ihre Nichte July dazu, zur Meisterdiebin zu werden. July war ungewöhnlich stark und sportlich für eine Neunzehnjährige. Geschickt hatte sie die Hotelfassade bezwungen, war in die Gästezimmer eingestiegen und raubte, was sie fassen konnte. Für diese Taten war July zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Mrs Drake hatte eine Strafe bekommen, deren Ende sie wohl nicht mehr erleben würde.

Eigentlich hatte Violet eine Nachfolgerin mit mehr Erfahrung gesucht, doch die fünfundzwanzigjährige Miss Hunt hatte sie mit ihrer Ruhe, Selbstsicherheit und Kompetenz überzeugt. Obwohl sie eine zierliche Person war, vermochte sie sich bei der Belegschaft durchzusetzen.

»Nur wenige Zimmer sind belegt?«, wiederholte Violet nachdenklich.

»Wie meinen Sie, bitte?«

»Als mein Großvater, Sir Laurence, Direktor dieses Hauses war, musste man Beziehungen haben, um überhaupt ein Zimmer im Savoy zu kriegen. Bei großen politischen und wirtschaftlichen Ereignissen stiegen Kaiser und Könige, Botschafter und Regierungschefs in unserem Haus ab. Premierminister Lloyd George hat die britische Regierung zum Lunch hierher eingeladen. König George V. liebte unser Chocolate Chunk Shortbread, das er im Tearoom einnahm. Theater- und Filmgrößen, die etwas auf sich hielten, wurden erst als solche anerkannt, wenn sich die Journalisten in unserer Dorchester Suite um sie scharten. Ich weiß noch, wie mein Freund Larry Olivier mitten im Krieg die Pressekonferenz zu seinem Film Henry V. dort abhielt. Das waren große, wunderbare Zeiten im Savoy. Damals haben mein Großvater und ich …«

Violet unterbrach sich. Was brachte sie dazu, einer jungen Frau, die ihr Leben im Nachkriegslondon bestritt, vorzuschwärmen, wie es in der guten alten Zeit gewesen war? Das Savoy hatte seine glanzvollste Epoche in den dreißiger Jahren erlebt. Es war würdevoll durch den Krieg gekommen, doch seither waren entlang der Themse neue Hotels aus dem Boden geschossen. Neu bedeutete in diesem Fall: modern. Sie verfügten über moderne Heizungen, neue hygienische Bäder und ausreichend Parkplätze für die Gäste. Dort wurde internationale Küche serviert und neben Luxus Unterhaltung geboten. Auch Violet hatte im Keller ihres Hauses ein Spielcasino etabliert, aber mit dem schleichenden Niedergang des Savoy verlor auch das Casino an Reiz und Besuchern.

Violet fiel jener Ausflug nach Brighton Beach ein, den Gary und sie kurz vor seiner Abreise unternommen hatten. Vor dem Krieg galt Brighton als das formidabelste Seebad Englands. Es verfügte über eine belebte Strandpromenade, exquisite Restaurants und ein eigenes Theater, in dem Londoner Schauspielgrößen auftraten. Doch als Violet und Gary nach dem Krieg das Wochenende dort verbrachten, war sie erschrocken.

»Was hast du?«, hatte er, für den der Unterschied nicht offensichtlich war, gefragt.

»Alles ist schäbig geworden.« Wo sich früher ein Tearoom an den anderen gereiht hatte, lockten nun billige Spielhallen mit bunten Lichtern und aufdringlicher Musik. Die Restaurants wirkten muffig, die Kellner trugen fleckige Smokings, es roch nach altem Fett. Der Krieg hatte Großbritannien hart getroffen, überall ging es nur langsam aufwärts. Doch manche Orte befanden sich unübersehbar im Niedergang. Auch Violets Hotel, zu seiner Zeit das edelste und schönste, befand sich auf dem absteigenden Ast. Zu lange hatte sie vor dieser Entwicklung die Augen verschlossen.

Gary hatte vorhin von Greta Garbo und ihrem Glamour gesprochen, vom Atem der großen Welt, für den das Savoy berühmt war.

»Die Garbo kann mir nicht helfen, mein Dach zu renovieren«, murmelte Violet.

»Was meinen Sie?« Miss Hunt beugte sich über den Schreibtisch. »Ich habe Sie nicht verstanden.«

»Schon gut.« Violet griff zur Jacke, die über dem Stuhl hing. »Rufen Sie Mr Ehrlichman an. Ich will mir die Sache persönlich ansehen. Ich treffe ihn unter dem Dach.«

2

Ein Augenblick im Paradies

Der Saal war grau, das Licht war grau, die Kleidung, die sie trug, zerfloss im Grau des Raumes mit seinen vergitterten Fenstern. Und trotzdem brannte hier ein Licht. Im Besucherraum des Gefängnisses Seiner Majestät leuchtete die Liebe.

»Ich habe mit der Sanierung des Dachstuhls begonnen«, sagte Sir Tyrone, Herzog von Londonderry. »Hältst du es für möglich, dass ein neues Dach hunderttausend Pfund kosten kann?«

»Ich weiß wenig über Dächer«, antwortete July Gilbert. Die Gefangene trug ein Kattunkleid, wollene Strümpfe und feste Schuhe.

»Die Mauern von Oakwoodhill sind durch die Feuchtigkeit arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Wir werden Maueranker setzen müssen, um sie zu stabilisieren.«

»Könntest du nicht nur einen Teil des Schlosses renovieren?« July war bleich, ihr Haar wirkte strähnig, sie hatte es zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Ich meine, da doch praktisch niemand darin wohnen wird …« Sie starrte auf ihre Hände.

»Niemand darin wohnen?«, entgegnete er überrascht. »Meine Familie wird dort wohnen. Unsere Familie, July, du und ich und unsere Kinder.«

Sie nickte, ohne ihn anzusehen.

»Hast du Zweifel daran?«

»Ich meine nur, so ein riesiges Schloss …«

»Es ist kein Schloss«, korrigierte er sie lächelnd. »Nur ein Herrenhaus, aber groß ist es natürlich.« Zuversichtlich beugte er sich zu ihr. »Es ist schon richtig, wie wir es planen, July.«

»Wie du es planst, Terry.«

July Gilbert war die Juwelendiebin des Savoy gewesen. Sowohl das Gericht als auch die Presse hatten der Verwunderung Ausdruck verliehen, dass eine junge Frau zu etwas in der Lage gewesen sei, was einem kräftigen Mann kaum zuzutrauen wäre.

Darin lag das Motiv Julys. Sie lebte in einem Land, in dem alles von den Männern bestimmt wurde. Frauen konnten in Großbritannien bestenfalls durch Geschick und Einfühlungsvermögen etwas erreichen, nicht aber durch ihre Rechte. Erst in diesem Jahr hatte Clement Attlee das Amt des Premierministers von Winston Churchill übernommen. In der neuen Regierung gab es vierundzwanzig Ministerien, aber nur eine einzige Frau saß am Kabinettstisch.

July war überzeugt davon, dass es nichts gab, das eine Frau nicht genauso gut konnte wie ein Mann. Als Mädchen war sie bei sportlichen Wettkämpfen sogar in Männerdisziplinen angetreten und hatte gesiegt. Mit Anfang zwanzig war ihr in der Küche des Savoy überraschend schnell Verantwortung übertragen worden. Ihre Tante, Mrs Drake, hatte sie dazu gebracht, die Grenzen der Legalität zu überschreiten. Wie eine Echse war July an der Hotelfassade hinaufgeklettert und hatte bei den betuchten Gästen des Savoy Beute gemacht. Sie wäre wohl nie gefasst worden, hätte eine außergewöhnliche Begegnung sie nicht aus der Balance gebracht. July lernte einen jungen Mann kennen, der all das verkörperte, was sie verachtete. Sir Tyrone war der reiche, attraktive Erbe eines Adelstitels. Niemand konnte sich vorstellen, was er für Sorgen haben mochte.

Vor vier Jahren war Sir Tyrone im Begriff gewesen, sich das Leben zu nehmen. Er verachtete seine Existenz, verachtete die Welt, aus der er kam, doch ihm fehlte die Kraft, etwas daran zu ändern. Das Schicksal führte ihm die lebensbejahende July Gilbert über den Weg, der er während ihres einzigen gemeinsamen Tages zeigte, was er liebte: ein altes Haus, verrottet, heruntergekommen, dennoch schön und erhaltenswert. July verstand ihn, sie ahnte seine Verzweiflung und den Fluch, unter dem er sich gefangen fühlte.

Zwei Menschen, die aus unterschiedlichen Galaxien zu stammen schienen, fassten Zuneigung zueinander. Eine verzweifelte Kraft trieb das ungleiche Paar aufeinander zu, bis July vor Liebe nicht mehr anders konnte, als sich Tyrone als gesuchte Täterin zu offenbaren. Sie nahm alle Konsequenzen auf sich, auch den strengen Spruch des Gerichts.

Bei dem gesellschaftlichen Stand Sir Tyrones wäre es ratsam gewesen, jeden Kontakt zu der überführten Verbrecherin abzubrechen. Doch der Herzog beschritt den umgekehrten Weg. Er schlug sämtliche Einwände seiner Mutter in den Wind und schwor July Gilbert die Treue. Eines Tages, wenn sie wieder frei sein würde, wollte er sein Leben mit ihr verbringen. Dafür brauchten sie ein gemeinsames Nest. Seit vier Jahren arbeitete Tyrone daran, Oakwoodhill aus dem Dornröschenschlaf zu holen. Einmal die Woche zur Besuchszeit berichtete er July von den Fortschritten.

Immer noch stand sie der Unfassbarkeit, der Unverbrüchlichkeit seiner Liebe staunend gegenüber. So eine Liebe hatte July noch nie erfahren. Auch sie liebte Tyrone von Herzen, aber das Gefängnis veränderte einen Menschen. Das Grau der Tage und die Eintönigkeit, das Fehlen einer Gefühlswelt legten sich bleiern auf ihre Seele. Sie spürte, dass sie mit jedem Tag weniger hoffte, weniger liebte; und das war das Schlimmste. Tyrone sollte das nicht mitbekommen. July nahm daher allen Mut zusammen.

»Komm nicht mehr her, Terry«, unterbrach sie seinen Bericht über Oakwoodhill.

»Was? Wie meinst du das?«

»Komm mich nicht mehr besuchen.«

Verständnislos suchte er eine Verbindung zwischen ihren und seinen Worten.

»Warum?«, fragte er tonlos.

»Weil für mich alles stets nur schlimmer wird, nachdem du hier gewesen bist. Ich kann den Zustand hier ertragen, solange er das Einzige ist, was mein Leben ausmacht. Jedes Mal, wenn du kommst und mir vorspiegelst, wie es eines Tages werden könnte, weiß ich hinterher nicht mehr, wie ich die kommenden Jahre durchstehen soll.«

»Ich spiegle dir nichts vor. Alles wird genau so sein. Ich berichte dir nur davon, damit du Vorschläge machen kannst, wie es aussehen soll.«

»Ich will aber keine Vorschläge machen!«, rief sie. »Ich habe weder die Kraft noch die Phantasie dazu.«

Die Wärterin in der Ecke richtete sich auf. »Laute Gespräche sind verboten.«

July nickte entschuldigend und schwieg. Sie hatte keine Worte, um Tyrone ihre Not besser zu erklären.

»Liebst du mich denn nicht mehr?«, fragte er nach einer Pause, die ihr ewig schien.

»Ich liebe dich mehr, als du wahrscheinlich weißt. Ich liebe dich mehr als die Sonne, die hier so selten scheint, mehr als den Regen, der meine Zelle feucht und klamm macht. Ich liebe dich mehr als meine Hoffnung.«

»Aber Hoffnung ist doch das Einzige …«

Sie fiel ihm ins Wort. »Ich habe gehofft, eines Tages wieder zu leben, mit dir zu leben, Terry. Aber gerade die Hoffnung macht mich kaputt. Sie macht mich größer als die Wirklichkeit. Ich darf nicht größer sein als die Wirklichkeit in diesen Mauern. Weil ich sonst zusammenbreche. Wie kann ich es dir nur verständlich machen? – Vor Kurzem habe ich in einem Buch der Gefängnisbibliothek über Lord Byron gelesen. So wie du sollte auch er einen Sitz im House of Lords einnehmen. Aber Byron wollte leben, reisen und schreiben, er wurde ein Poet. Er geriet in große Armut, besaß praktisch nichts mehr. Da man ihn schätzte, verkehrte er immer noch in Adelskreisen und wurde zu Banketten eingeladen. Dort bot man ihm köstliche Speisen an, doch Byron bestand darauf, nur Kartoffeln und Essig serviert zu bekommen. Als man ihn nach dem Grund fragte, sagte er: ›Ich kann mir in meiner derzeitigen Lage nur Kartoffeln und Essig leisten. Wenn ich hier üppig speise, würde ich mich an meine Armut nicht mehr gewöhnen.‹ Meine Hoffnung wird hier immer kleiner. Jeden Tag stirbt sie ein wenig mehr. Armselig und trostlos werde ich. Das ist wohl der Sinn eines Gefängnisses: Man soll für seine Taten büßen. Es wäre keine Buße, wenn ich von einem Leben im Schloss träumen dürfte.«

»Es ist ein Herrenhaus«, gab er zart zu bedenken. »Ich glaube, jetzt verstehe ich, was du meinst.«

Sie suchte in seinem Gesicht. »Ich will nicht, dass du mich so siehst. Wenn ich mich im Waschraum im Spiegel betrachte, die Frau, die langsam aus mir wird, ertrage ich es nicht, dass auch du diese Frau kennenlernen musst.«

»Du bist die schönste und wunderbarste Frau für mich.« Er griff nach ihrer Hand.

»Keine Berührung«, sagte die Wärterin in der Ecke.

»Komm nicht mehr her, Terry«, beschwor ihn July. »Lebe dein wunderbares Leben, lerne jemanden kennen und vergiss mich nach und nach. Du würdest es mir dadurch leichter machen.«

»Ich verspreche dir, dich eine Weile nicht zu besuchen«, antwortete er nach einer Pause. »Aber das andere wirst du niemals von mir bekommen. Ich vergesse dich nicht, July. Denn du bist die Frau, die mir das Leben wiedergeschenkt hat.«

3

Verfall

»Mama, schau, eine Malerei.«

»Wo?«

»Da!« Maxine lief ein Stück voraus, kam zurück, rannte in die Gegenrichtung, holte ihre Mutter wieder ein und überholte sie ein zweites Mal.

Violets Tochter fand die Wanderung durch das Hotel, zu der Violet sie eigeladen hatte, langweilig. Deshalb verdoppelte, verdreifachte sie die Strecke durch Korridore, über Treppen, in den Keller, unter den endlos langen Rohren und Leitungen hindurch, bis hinauf in die Höhe, unter das Dach, wo es brütend heiß war.

Einen Sommer wie diesen hatte London lange nicht gesehen. Ein Sommer, wie man ihn in Venedig oder Biarritz erwarten würde, nicht in einer Stadt, wo die Menschen ihren Regenschirm notorisch mit sich führten. In diesem Juni, diesem Juli hatte man erlebt, dass Gäste des Savoy zu einem Spaziergang aufgebrochen waren, nach wenigen Minuten aber zurückkamen und dem Rezeptionisten ihren Schirm mit den Worten in die Hand drückten: »Es sieht heute nicht nach Regen aus, Fairchild.« Und Fairchild antwortete: »Eine kluge Wahl, Mylady.«

Jeden Nachmittag, wenn die zehnjährige Maxine aus der Schule kam, nahm sich Violet möglichst viel Zeit für ihre Tochter. Morgens blieben ihnen leider nur ein paar Minuten, um zu frühstücken, bevor Maxine ihren Ranzen schulterte und aufbrach. Nach Kriegsende hatte das Mädchen nicht mehr zur Schule begleitet werden wollen. Violet hatte diesem Wunsch schweren Herzens zugestimmt. Nicht, weil sie Maxine nicht zutraute, die paar Blocks allein zu laufen, sondern weil der alte Mann, dem das Mädchen täglich anvertraut worden war, nicht mehr lebte. Auf seinen Stock gestützt, hatte Mr Sykes, seit Jahrzehnen der gute Geist des Savoy, seine Pflicht als Maxines Nanny erfüllt, bis er eines Morgens tot in seinem Dienstzimmer aufgefunden worden war. Das ganze Haus hatte um Mr Sykes getrauert.

Diese besondere Inspektion heute hätte Violet lieber allein unternommen. Sie schämte sich vor ihrer eigenen Tochter, in welchem Zustand sich das Savoy befand. Zu Recht bezeichnete der Hausinspektor seine Arbeit hier als Flickschusterei.

»So werden wir das Problem nicht lösen«, hatte er vorhin gesagt. Maxine war, während Violet sich mit Mr Ehrlichman unterhielt, durch den geheimnisvoll dämmerigen Dachboden gegeistert.

»Könnten wir an den undichten Stellen nicht neue Blechplatten anbringen?«, hatte Violet vorgeschlagen.

»Die Platten waren eine Behelfslösung«, widersprach Ehrlichman. »Damit kein Wasser mehr hereinläuft, habe ich sie sauber vernietet, aber genau an dieser Stelle schießt der Regen mit voller Wucht in die Traufe. Eines Tages war es dann so weit, der erste Tropfen ist durchgesickert.«

Violet betastete die Balken des Dachstuhls. Im Kern war das Holz stabil, doch an der Außenseite konnte man mit dem bloßen Finger Löcher hineinbohren.

»Irgendwann gibt das beste Material nach«, seufzte Ehrlichman. »Wir müssen alles austauschen.«

»Alles?«

Er lief ins Innere des Speichers. »Von hier –« Mit großen Schritten eilte er zum anderen Ende. »Bis hier muss der Dachstuhl herausgeschnitten werden.«

»Sie können mein Dach doch nicht abnehmen wie einen Hut! Es würde hereinregnen.«

»Und genau das ist das Kostspielige an der Angelegenheit.« Mit problematischem Gesicht kam er zurück. »Bevor wir alles abreißen, müssen wir eine Konstruktion errichten, die das Wasser abhält.« Als Violet etwas entgegnen wollte, hob er die Hand. »Und wir müssen die Arbeit schon im nächsten Monat anpacken.«

»In der Hauptsaison? Warum?«

»Weil eine Sanierung an der Außenhaut nur in der warmen Jahreszeit möglich ist. Der Sommer ist weit fortgeschritten. Morgen beginnt der August.«

Der Schock fuhr Violet in die Beine. »Oh Gott.« Sie setzte sich auf einen Balken.

»Alles in Ordnung?«

»Nichts ist in Ordnung!«, fuhr sie Ehrlichman so heftig an, dass sich Maxine zu ihr umdrehte. »Wie soll ich eine Reparatur dieser Größenordnung finanzieren?«

»Ich habe es Ihnen schon während des Krieges gesagt, Miss Mason. Wir müssen von den Einnahmen jedes Jahr etwas zurücklegen, für den Tag, der jetzt gekommen ist.«

»Kein Hotel war nach diesem Krieg in der Lage, Reserven anzulegen.«

»Es muss etwas geschehen, Miss Mason, sonst –«

»Sonst?«

»Ich bin Ihr Hausinspektor. Wenn Sie das Dach nicht reparieren lassen, muss ich den Nordtrakt sperren. Außerdem, sobald die Stadtverwaltung von dem Schaden Wind bekommt, brummen die Ihnen wegen Gefährdung der Gäste eine saftige Strafe auf. Das Dach könnte einstürzen. Wenn es dazu kommt, reißt es die unteren Stockwerke mit.«

»Hören Sie auf.« Violet legte das Gesicht in ihre Hände. Als sie aufblickte, schaute sie in die fragenden Augen ihrer Tochter.

»Was hast du, Mama? Findest du es nicht schön hier oben?«

»Doch, sehr schön. Ich bin nur ein bisschen müde.«

Kurz darauf, Violet hatte mit Maxine eine Zimtschnecke gegessen, beschloss sie, dem Monster ein für alle Mal ins Auge zu schauen. Das Monster hieß Savoy und war ihr Hotel.

»Wollen wir eine Entdeckungsreise machen?«, hatte sie Maxine gefragt. »Wir fangen am besten unten an.«

Mit dem Fahrstuhl waren sie hinuntergefahren, bis es nicht mehr tiefer ging. Im zweiten Untergeschoss roch es muffig. Maxine hielt sich ihren Sweater vor den Mund.

»Das stinkt, Mama. Was ist das?«

Moder, dachte Violet. Schwarzer Schimmelpilz, gesundheitsgefährdend. »Das ist in alten Kellern oft so. Lass uns schnell wieder rausgehen.«

Im ersten Untergeschoss blitzte es in unregelmäßigen Abständen über ihnen auf. Mit der Elektrik war etwas nicht in Ordnung. Außerdem fiel der Putz von den Wänden.

Die Etage zu ebener Erde schien die einzige zu sein, in der das Savoy seinen alten Glanz verströmte. Die Lobby hatte nichts von ihrer Eleganz verloren. Poliertes Messing und geätztes Glas, dunkle Täfelung aus Mahagoni, marmorverkleidete Säulen. Über der getäfelten Treppe zog sich der renovierte Fries entlang, der jugendliche Gottheiten darstellte.

Während Violet mit Maxine zur Treppe ging, musste sie an den Mann denken, der all das aufgebaut, zum Erfolg geführt und während der Blütezeit geleitet hatte. Als ihr Großvater, Sir Laurence Wilder, das Savoy 1889 eröffnet hatte, galt das Haus als eines der feudalsten der Stadt. Leider waren manche Einrichtungen von damals heute, sechzig Jahre später, immer noch in Betrieb. Wehmut befiel Violet. Wie sehr wünschte sie sich, ihren Großvater noch einmal hier zu sehen, mit seinem stahlgrauen Haar, im dunklen Cutaway mit heller Weste und elfenbeinfarbener Krawatte. Er hätte es nie so weit kommen lassen. Sie schämte sich, sein Haus derart heruntergewirtschaftet zu haben.

»Warum gehst du nicht weiter, Mama?«, fragte Maxine.

»Ich habe an deinen Urgroßvater denken müssen. Er wäre glücklich über seine prachtvolle Urenkelin gewesen.«

»Wo ist Urgroßvater denn jetzt?«

»Im Himmel. Aber er beschützt uns, da bin ich sicher.«

Als Violet sich noch einmal in der prunkvollen Lobby umsah, umfing sie plötzlich der Klang der Halle. Dieses Geräusch hatte sie immer schon geliebt. Es war ein ständiges Anstimmen und Verklingen, das Gläserklirren eines früh bestellten Brandys, das Knautschen der Ledersessel. Im Tearoom schwoll die Musik des Jazztrios an und ab, je nachdem, ob eilende Kellner die Schwingtür bedienten. Die Geigen des Salonorchesters aus dem Wintergarten hingen träge in der Sommerluft. Das zarte Singen der Seidenstoffe bei den Damen, das Rascheln der Trenchcoats der Herren. Hier spürte man das Savoy, wie es sein sollte.

Zusammen mit Maxine lief sie die Treppe in die erste Etage hinauf. Die Seidentapeten, die Fußleisten aus Mahagoni, der gediegene Teppich, der die Schritte dämpfte, das machte immer noch etwas her.

Im zweiten Stock bemerkte sie jenen Schaden, den Maxine als »Malerei« bezeichnet hatte. Es handelte sich um einen Wasserfleck, älter schon und nachgedunkelt. Irgendwann war hier ein Leitungsrohr geplatzt.

»Es sieht aus wie ein Gesicht«, rief Maxine. »Jemand hat ein Gesicht an die Wand gemalt.«

»Das Gesicht sieht sogar einem berühmten Mann ähnlich.« Violet kniff die Augen zusammen. Kein Zweifel, der Fleck vom Wasserrohrbruch ähnelte der Physiognomie Winston Churchills.

Violet nickte dem Premierminister, der England durch den Krieg geführt hatte, zu und machte sich mit Maxine auf die Suche nach weiteren Zeichen des Verfalls.

4

Dorchester Suite

Durfte man es Taktik nennen, dass Violet Mr Charles Laprelly zu ihrem dreiundvierzigsten Geburtstag eingeladen hatte?

»Es ist Verzweiflung, weiter nichts«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild.

In Unterwäsche saß Violet auf dem Bett, zog den Beistelltisch näher und löffelte ihre Gemüsesuppe. Sie brauchte Kraft, sie brauchte Festigkeit. Wenn die Lady vom Savoy, wie die Presse sie nannte, Geburtstag feierte, war dies ein gesellschaftliches Ereignis. In wenigen Minuten würde sie den Fotoblitzen ausgesetzt sein, mit Ministern, Schauspielern und Möchtegerns in die Kameras lächeln und Fragen beantworten müssen. Die wirtschaftliche Situation des Savoy würde zur Sprache kommen. Violet wollte verhindern, dass die Londoner Gerüchteküche zu brodeln begann. Jedes Gerücht, ob wahr oder unwahr, konnte ihr in der derzeitigen Lage nur schaden.

Während sie mit Gästen und Journalisten plaudern würde, kam sie nicht zum Essen. Daher wollte sie sich eine Grundlage schaffen. Die Suppe wärmte, Violet löffelte sie langsam und warf hin und wieder einen Blick auf den Zettel, auf dem sie die Stichworte für ihre Rede notiert hatte. Die Kriegsfolgen sind überwunden. Das Savoy repräsentiert Londons Tradition und schaut gleichzeitig in die Zukunft.

»Kriegsfolgen – Tradition bewahren – Modernisierung«, repetierte sie.

Glücklicherweise unterstützte die Presse Violet. Die BBC brachte Reportagen über Bankette mit berühmten Persönlichkeiten, die im Savoy abstiegen. Leider waren solche Ereignisse seltener geworden. Die Regierung und der Buckingham Palace quartierten große Delegationen nicht mehr so selbstverständlich wie früher in Violets Hotel ein.

»Verzweifelte Zeiten«, sagte sie zum Spiegel. »Verzweifelte Zeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen«, antwortete das Spiegelbild.

Violet brauchte Charles Laprelly, der in seiner Bank Einfluss besaß. Pockett & Pockett war eine Privatbank, Laprelly einer ihrer Direktoren. Violet konnte die Sanierung des Savoy nur mit einem großzügigen Kredit in Angriff nehmen.

»Im Savoy arbeiten vierhundert Menschen«, sagte sie zum Spiegel. »Sie verlassen sich auf mich. Ich muss alles tun, um ihre Jobs zu sichern.«

In diesem Zusammenhang durfte es keine Rolle spielen, dass Violet die Gefühle von Charles Laprelly ein wenig zu ihren Gunsten ausnützen wollte. Der Direktor verehrte sie seit Langem, schickte manchmal Blumen oder lud sie zu einem Geschäftsessen ein. Als das Savoy vor Jahren durch den Betrug Kamarowskis fast in fremde Hände gefallen wäre, hatte Violet es Laprelly zu verdanken, dass zur rechten Zeit genügend finanzielle Mittel zur Verfügung standen.

Sie nahm die Sitzordnung zur Hand. An ihrem Tisch würde heute der holländische Botschafter sitzen, außerdem der Minister für Schottland, ihr Onkel Henry und Charles Laprelly. Normalerweise hätte es keinen Grund gegeben, den Schottlandminister an Violets Tisch zu bitten, doch ihm wurde eine besondere Aufgabe zuteil: Er würde die Schottlandreise der jüngeren Prinzessin begleiten, die von Edinburgh über Inverness und Aberdeen nach Balmoral Castle führen sollte. Ursprünglich hätte ihre ältere Schwester die Reise in Vertretung des Königs unternehmen sollen, doch Prinzessin Elizabeth war zum zweiten Mal guter Hoffnung. Die Geburt wurde im August erwartet. Obwohl noch keine Bestätigung aus dem Palast vorlag, war es möglich, dass Prinzessin Margaret Geburtstagswünsche des Königs überbringen würde.