Das Schattennetz - Anette Hinrichs - E-Book

Das Schattennetz E-Book

Anette Hinrichs

4,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Im klirrend kalten Hamburg treibt ein Mörder sein Unwesen. Eine transsexuelle Prostituierte und ein gut situierter Geschäftsmann werden in kurzer Folge brutal erstochen. Doch warum verdeckt der Täter die Gesichter seiner Opfer? Erste Spuren führen Kommissarin Malin Brodersen und ihre Kollegen vom LKA ins Rotlichtmilieu. Als ein weiterer Mord geschieht nimmt der Fall eine dramatische Wendung, denn das Opfer ist kein Unbekannter. Malin stößt auf eine Verbindung zum organisierten Verbrechen und stellt eigene Nachforschungen an. Immer tiefer dringt sie in ein Netz aus Lügen, Gewalt und Korruption. Dabei ist ihr der Täter näher, als sie ahnt. Ein dramatischer Fall, der Malin Brodersen an ihre Grenzen bringt.

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Seitenzahl: 390

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Anette Hinrichs

Das Schattennetz

Ein Fall für Malin Brodersen

Zum Autor

Anette Hinrichs wurde 1970 in Hamburg geboren. Nach Fachabitur und kaufmännischer Ausbildung am Hamburger Flughafen folgten berufliche Stationen bei einer Reederei, im Bereich Banken und Einzelhandel. Ihre Leidenschaft fürs Krimilesen wurde im Teenageralter durch Agatha Christie entfacht und weckte den Wunsch, eines Tages selbst zu schreiben. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie im Raum München.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2018 im Leda-Verlag)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Alexander Antony/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6516-1

Prolog

Sie würden ihn drankriegen. Früher oder später. Hinter ihm fiel die Stahltür ins Schloss. Sein Blick glitt die einsame Gasse entlang. Im oberen Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses brannte eine Deckenleuchte und tauchte einen Teil des trostlosen grauen Gemäuers in trübes Licht. Der Rest der Häuserreihe lag im Dunkeln, die düsteren Ecken verschmolzen mit der Nacht.

Tagsüber war es warm gewesen. Ein milder Spätsommertag, an dem kaum ein Lüftchen wehte und sich der Asphalt in der Sonne aufheizte. Mit Einbruch der Dunkelheit hatte die Kälte eingesetzt, erstes Anzeichen, dass sich der Herbst mit großen Schritten näherte. Ein leichter Wind kam auf und trug die nächtlichen Großstadtgeräusche an sein Ohr.

Sein Herz pulsierte in der Brust, als hätte er gerade einen Marathonlauf hinter sich gebracht. Scheiße. Er sollte sehen, dass er hier wegkam.

Ohne sich noch einmal umzuschauen, nahm er den Weg durch die schmale Häuserflucht. In seinem Kopf kreisten die Gedanken. Wie sollte er aus dieser Scheiße wieder rauskommen? Schon jetzt drehte er wie ein Hamster das Rad. Konnte er den Absprung schaffen, ohne sich dabei das Genick zu brechen? Und wenn ja, was käme danach? Sie würden erst Ruhe geben, wenn sie hatten, was sie wollten. Doch wie sollte er das bewältigen?

Der Schlag kam wie aus dem Nichts. Er hörte das Knacken von Knochen, Blut quoll aus seiner Nase und verfärbte sein hellblaues Hemd dunkelrot. Er schnappte nach Luft.

Sie waren zu viert. Kräftige Kerle in Lederjacken. Südländisches Aussehen. Im nächsten Moment beförderte ihn ein weiterer Schlag zu Boden. Mühsam rappelte er sich auf. Ein Tritt traf ihn am Schädel und greller Schmerz schoss von der Schläfe zu seinem Hinterkopf. Er schmeckte Blut. Warm und salzig. Er spuckte es aus. In der Erwartung eines neuen Tritts schloss er die Augen. Nichts geschah. Er blinzelte.

Über ihm zeichneten sich vereinzelt Sterne am dunklen Himmel ab. Von einem der naheliegenden Clubs vernahm er wie durch Watte den dröhnenden Bass wilder Rockmusik. Ein dünnes, warmes Rinnsal lief seitlich seinen Hals entlang. Vorsichtig hob er den Kopf. Sofort wurde ihm schwindelig und er sank zurück auf den Asphalt.

Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet. Die Arme vor der Brust verschränkt und ohne einen Laut von sich zu geben, starrten die Schlägertypen mit finsteren Mienen auf ihn herab. Es gab keinen Fluchtweg.

Er wollte schreien, um Hilfe rufen, doch über seine Lippen kam nur ein leises Krächzen, gefolgt von einem Schwall Blut. Panik übermannte ihn. Sollte es hier enden? Umgeben von Dreck und Pisse? Würde er in dieser Gosse sterben?

»Ihr wollt mich umbringen«, flüsterte er mit schleppender Stimme.

Einer seiner Angreifer, ein Muskelprotz mit kahlem Schädel und Augen wie kleinen Kohlestücken, trat einen Schritt näher und er hob instinktiv den Ellenbogen schützend vors Gesicht. Als nichts passierte, ließ er den Arm langsam wieder sinken.

Dann sah er die ausgestreckte Hand.

1. Kapitel

Niemand reagierte auf ihr Klopfen. Unruhig wippte Lissy vor der Zimmertür auf den Zehenspitzen. Sie war spät dran. In einer Stunde musste sie zu Hause sein. Dann würde die Nachbarin, die auf Lukas aufpasste, zu ihrem Job in die Bäckerei aufbrechen. Das Arrangement war keine Ideallösung, das wusste Lissy. Doch solange sie keinen Krippenplatz für ihren zweijährigen Sohn hatte, war die Nachtschicht im Hotel ihre einzige Option. Als Alleinerziehende brauchte sie die Kohle.

Ihr fiel ein, dass sie auf dem Nachhauseweg am Hauptbahnhof noch etwas zum Frühstück einkaufen musste. In ihrem Kühlschrank herrschte gähnende Leere. Sie warf einen Blick auf ihre pinkfarbene Armbanduhr. Das würde alles höllisch knapp werden.

Sie klopfte erneut. »Housekeeping.«

Hinter der Tür blieb es still. Kurzerhand zog Lissy den Generalschlüssel aus ihrem Kittel. Die Chefin betonte immer wieder, dass das Personal diskret sein müsse und warten solle, bis der Gast das Zimmer verließ, doch darauf konnte Lissy heute keine Rücksicht nehmen. Dies war ihr letztes Zimmer, dann konnte sie endlich Feierabend machen. Sie und ihre Kolleginnen arbeiteten in vier Schichten rund um die Uhr. In der Regel blieben die Gäste nicht länger als ein paar Stunden.

Lissy steckte den Schlüssel ins Schloss und stellte fest, dass die Tür nicht verschlossen war. Vielleicht waren die längst weg und die Chefin hatte es nur nicht bemerkt, weil sie wie so oft vor dem Fernseher eingeschlafen war. Mit dem Eimer Putzutensilien in der Hand trat Lissy über die Schwelle.

Als Erstes bemerkte sie den Geruch. Schwer. Metallisch. Ekelerregend. Lissy wurde heiß und kalt. Was zum Teufel war hier los? Sie ging einen Schritt in den Raum hinein. Ihr Blick fiel zunächst aufs Bett. Rote Sprenkel zierten die Bettwäsche. Lissy schwankte, als ihr Blick weiter zur Decke, den Wänden und schließlich zu einer Stelle auf dem Boden glitt. Es dauerte einige Sekunden, ehe ihr Gehirn realisierte, was ihre Augen sahen. Sie taumelte aus dem Zimmer, lehnte sich schwer atmend gegen die Wand im Flur und sackte zusammen.

Malin erwachte mit einem Ruck.

Irgendwo klingelte ein Handy. Schlaftrunken tastete sie auf dem Nachtschrank herum, doch da lag nichts. Verdammt, wie spät war es überhaupt?

Sie schlug die Augen auf und sah durch das Glaskuppeldach in den Himmel. Draußen war es noch dunkel. Neben sich hörte sie Thies’ regelmäßige Atemzüge. Das Handy gab endlich Ruhe. Mit einem zufriedenen Seufzen kroch sie tiefer unter die Bettdecke und schloss die Augen.

Es war spät geworden am vergangenen Abend. Sie hatten den Geburtstag ihrer Freundin Susanne in Carls Bistro gefeiert, einer charmanten Brasserie in der HafenCity, mit sehr leckerem Essen und viel gutem Wein.

Das Handy klingelte erneut. Malin schob entnervt die Decke beiseite und stieg aus dem Bett. Barfuß ging sie über die lasierten Eichendielen in den kombinierten Wohn-Essbereich des Hausbootes, das ihrem Freund als vorübergehendes Domizil diente. Es gehörte einem befreundeten Architekten, der sich für einige Zeit im Ausland aufhielt.

Das Display ihres Handys leuchtete auf der Küchenzeile und zeigte die Nummer von Kriminaloberkommissar Frederick Bartels an.

»Malin?« Ihr Teampartner klang wach und ausgeschlafen. »Es gibt eine Tote in der Talstraße. HotelAmour.«

Malin gähnte. »Warum kümmern sich die Kollegen vom KDD nicht darum?«

»Die sind schon vor Ort und wollen an uns übergeben. Also sieh zu, dass du in Gang kommst. Soll ich dich abholen?«

Schlaftrunken schüttelte Malin den Kopf. Dann fiel ihr ein, dass ihr Kollege sie überhaupt nicht sehen konnte. »Nein. Ich komme direkt an den Tatort. Gib mir eine halbe Stunde.« Sie legte auf und stellte die Kaffeemaschine an. Es war sechs Uhr dreißig.

Fünfzehn Minuten später verließ sie mit feuchten Haaren und einem Thermobecher Kaffee in der Hand die verzinkte Stahlbrücke, die das Hausboot mit dem Uferweg verband.

Über Nacht war Frost gekommen. Raureif hatte sich über Pflanzen und Gräser gelegt. Nebelschwaden waberten über dem Eilbekkanal. Malin schloss die Beifahrertür ihres alten grünen Minis auf, stellte den Thermobecher in die Halterung und kramte im Handschuhfach nach einem Eiskratzer. Fündig geworden, befreite sie notdürftig die zugefrorenen Scheiben.

Als ihr Auto nach dem dritten Versuch endlich ansprang, waren die Fenster schon wieder beschlagen. Sie drehte das Gebläse voll auf und das Radio an. Aus den Boxen plärrte Last Christmas I gave you my heart. Hallo …?! Es war gerade Mitte November. Entnervt stellte sie das Radio wieder aus, lenkte den Mini aus der Parkbucht und schlug den Weg Richtung Zentrum ein.

Malin konzentrierte sich auf die Straße. Draußen wurde es langsam hell und die Stadt erwachte zum Leben. Hinter den meisten Fenstern brannte Licht, Menschen machten sich auf den Weg zur Arbeit, Ladenbesitzer luden Ware aus ihren Transportern und die Straßen füllten sich mit Autos. Spätestens in einer Stunde würde diese Strecke durch den täglichen Berufsverkehr heillos verstopft sein.

Im Mini war es endlich warm geworden. An einer roten Ampel begegnete Malin ihrem Blick im Rückspiegel. Sie hatte auch schon mal besser ausgesehen. Ihr Gesicht war blass, die Augen von Müdigkeit umschattet und ihre schulterlangen blonden Haare in morgendlicher Eile zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden.

Die Ampel sprang um. Sie ließ den Millerntorplatz hinter sich und bog in die Reeperbahn. Die bunten Neonreklamen waren ausgeschaltet und die Mülleimer quollen über, vollgepresst mit leeren Bierdosen, Essensresten und Verpackungen­ der ansässigen Fast-Food-Restaurants. Vor einigen Haus­eingängen lagen zwischen Schlafsäcken und Plastiktüten Obdachlose im Schlaf vereint mit nächtlichen Partygängern, die ihren Rausch ausschliefen.

Sie passierte linkerhand die Davidwache und bog zwei Straßen weiter rechts in die Talstraße. Neben zahlreichen Imbissen, Kneipen und Clubs reihten sich hier in einem Mix aus Alt- und Neubauten auch ein Gay-Kino und die Heils­armee zu einer bunten Partymeile aneinander.

Auf halber Höhe blockierten Einsatzfahrzeuge der Polizei den Gehsteig. Ein Blaulicht blinkte stumm auf einem der blau-silbernen Peterwagen. Trotz der frühen Stunde hatten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Dutzend Passanten eingefunden und hielten ihre Handys gezückt. Einige Anwohner hingen aus den Fenstern und glotzten.

Malin seufzte. Es war immer das Gleiche mit den Gaffern, sensationslustig bis zum Anschlag und sobald man Informationen von ihnen wollte, verstummten sie wie Fische.

Sie parkte ihren Mini hinter einem der Einsatzwagen. Vor dem Hotel stand ihr Kollege Frederick Bartels und unterhielt sich mit Nele Richter vom KDD, dem Kriminaldauerdienst. Zwei Meter über den Köpfen der Polizisten leuchtete in einem satten Rot der Schriftzug Hotel Amour an der Hausfassade.

Wieder einmal fiel Malin auf, wie attraktiv ihr Teampartner war. Markantes Gesicht, dunkle Augen, dunkelbraune widerspenstige Haare, die einen Tick zu lang waren, und ein Drei-Tage-Bart, der ihm etwas Verwegenes verlieh. Seine sportliche Figur steckte an diesem Morgen in Jeans und einer schmal geschnittenen Lederjacke im Biker-Stil.

Sie nahm den letzten Schluck Kaffee aus dem Thermo­becher und stieg aus dem Mini.

»Moin!« Malin warf Nele Richter ein flüchtiges Lächeln zu. Sie kannte die burschikose Beamtin vom KDD seit ihrer Anfangszeit bei der Mordkommission, als sie gemeinsam in einem Fall ermittelt hatten. Seitdem war über ein Jahr vergangen. »Was ist passiert?«

»Ein Zimmermädchen hat in einem der Hotelzimmer eine Tote gefunden.« Bartels rieb sich sein unrasiertes Kinn. »Offenbar wurde das Opfer erstochen. Die Spusi ist schon drinnen.«

»Gibt es Zeugen?«

»Bisher nicht.«

»Was ist mit dem Zimmermädchen?«

»Sie konnte nicht viel sagen«, meldete sich Nele Richter zu Wort. »Die Frau steht noch unter Schock. Wir haben sie nach Hause bringen lassen.«

»Verständlich«, sagte Malin. »Man findet schließlich nicht jeden Tag einen Leiche. Ist Fricke schon da?«

Bartels schüttelte den Kopf. »Der Chef kommt erst später. Wir sollen schon mal ohne ihn loslegen.«

Nele Richter rieb sich ihre roten Hände. »Wenn ihr mich nicht mehr braucht, würde ich gerne im Präsidium noch schnell die Berichte schreiben, bevor ich für heute Schluss mache.«

»Wir kommen klar. Schönen Feierabend, Nele.« Bar­tels wandte sich an Malin. »Wollen wir?«

Die beiden Kriminalbeamten holten Schutzkleidung aus Bartels’ Dienstwagen und zeigten dem Uniformierten am Hotel-Eingang ihre Ausweise.

Das Foyer des Amour war klein und düster. Linoleumboden mit einem abgewetzten Perserteppich darauf, eine Sitzgruppe mit plüschigen Samtbezügen, ein einfacher Holztresen diente als Rezeption. Alles wirkte in die Jahre gekommen und ein wenig schmuddelig. Keine Menschenseele war zu sehen.

»Wir müssen in den vierten Stock«, sagte Bartels.

Schweigend streiften sie sich Schutzkleidung über und nahmen die mit rotem Teppich verkleidete Treppe.

Schon im Flur lag ein metallischer Geruch in der Luft. Sie folgten dem von der Spurensicherung freigegebenen Pfad zu einem der hinteren Zimmer. Im Türrahmen stand ein Kriminaltechniker und bepinselte die Klinke mit einer pulverartigen Substanz. Aus dem Inneren des Raumes war das Klicken einer Kamera zu hören.

»Guten Morgen.« Bartels nickte dem Mann zu und blieb vor der offenen Tür stehen. Malin stellte sich neben ihren Kollegen.

Die Tote lag auf dem Rücken in einer riesigen Blutlache am Boden, ihr Gesicht verdeckt mit der Plastiktüte eines Discounters. Schwarze, seidige Haare lugten hervor. Das einzige Kleidungsstück, ein roséfarbenes Babydoll, war bis auf die Träger blutdurchtränkt, Hals und Unterleib von zahlreichen Messerstichen zerfetzt. Lange, schlanke Beine in einem Ton wie Milchkaffee.

Malin schluckte. Ein Kriminaltechniker ging neben der Leiche in die Hocke. Anhand der kleinen runden Brille, die zwischen Kapuze und Mundschutz hervorlugte, erkannte sie ihn als Frank Glaser, den Chef der Spurensicherung. Vorsichtig zog er die Plastiktüte vom Kopf des Opfers und beförderte sie in eine Spurensicherungstüte. Das Gesicht der Toten war unversehrt und zu Lebzeiten vermutlich schön gewesen. Nun starrten die weit aufgerissenen Augen stumpf an die Decke.

Malin wandte den Blick ab und inspizierte den Raum. Blutspritzer klebten an den Wänden, am Fensterrahmen, an der Kommode. Am Bett. Was war hier geschehen? Ein unzufriedener Kunde? Dass Freier handgreiflich wurden, kam häufiger vor, dass sie mordeten, dagegen selten.

Ihr Blick glitt zurück zu der Leiche vor dem Bett. »Weiß man schon, wer sie so übel zugerichtet hat?«

»Sie?« Frank Glaser sah Malin hinter seinen runden Brillen­gläsern erstaunt an. Mit seiner behandschuhten Hand hob er einen Teil des zerfetzten Babydolls in die Höhe. Die Tote war ein Mann.

2. Kapitel

Dora Schiffer blies den Zigarettenqualm direkt in Ma­lins Gesicht. »Oh, ’tschuldigung.« Hektisch wedelte die Hotelwirtin mit der Hand durch die Luft ihres kleinen Büros, das direkt hinter dem Foyer lag.

Malin schätzte die Frau auf Mitte fünfzig. Strähnige aschblonde Haare, verlebtes Aussehen, kettenrauchend und sichtlich schockiert. »Kommen wir noch mal auf letzte Nacht zurück. Wann …«

»Wir halten uns hier immer an die Regeln«, fiel ihr die Hotelwirtin ins Wort. »Sonst hätten man uns den Schuppen schon längst dichtgemacht.« Ihre Stimme klang rau wie ein Reibeisen.

Bartels scharrte unruhig mit den Füßen. »Die Regeln interessieren uns gerade mal nicht, Frau Schiffer. Wir sind nicht vom Ordnungsamt, sondern von der Mordkommission. Da oben in einem Ihrer Zimmer liegt ein übel zugerichteter Toter. Oder eine Tote, ganz wie man es nimmt.«

Die Hotelwirtin drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. »Sie heißt Graciela.«

Malin zückte ihr Notizbuch. »Graciela. Und wie weiter?«

Dora Schiffer zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Sie ist eines der Mädchen aus der Schmuckstraße.«

Malin und Bartels tauschten einen Blick. Die Schmuckstraße war berühmt-berüchtigt für ihre Transsexuellen aus Südamerika, die sich dort zur Prostitution anboten.

»Geschieht es häufiger, dass diese Mädchen, wie Sie sie nennen, zu Ihnen ins Hotel kommen?«

Dora Schiffer zündete sich die nächste Zigarette an und nickte. Bartels öffnete das Fenster. »Um welche Uhrzeit ist Graciela im Hotel aufgetaucht?«

»Tja, wann war das?« Die Hotelwirtin krauste die Stirn. »Das muss so gegen Mitternacht gewesen sein.«

»Und Graciela war vermutlich nicht allein. Wissen Sie, wer sie begleitet hat? Können Sie den Mann beschreiben?«

»Also, das kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen.«

»Das Zimmer musste also nicht im Voraus bezahlt werden?«, fragte Malin.

»Das schon, aber ich war abgelenkt.« Dora Schiffer wies mit der Hand auf einen kleinen Fernseher, der in einer Ecke auf einem Hocker stand. »Graciela hat das Geld für das Zimmer auf den Tresen gelegt. Das machten wir häufiger so. Auf das Mädchen war Verlass. Sie hat mich noch nie betrogen.«

»Und Sie haben den Kerl auch nicht gesehen, als er das Hotel wieder verlassen hat?«, fragte Bartels.

Die Hotelwirtin lief rot an. »Ich bin eingeschlafen«, raunzte sie. »Ist auch kein Wunder, wenn man mehr als zwanzig Stunden auf den Beinen ist, oder?«

Bartels nickte. »Waren letzte Nacht noch weitere Zimmer belegt?«

»Vielleicht vier oder fünf«, erwiderte Dora Schiffer schroff. »Besonders viel war nicht los. Wir hatten noch ein paar Studenten aus München da, aber die sind schon in aller Herrgottsfrühe abgereist. Noch bevor Lissy …« Sie biss auf ihre Unterlippe.

»Wir brauchen die Namen und die Adressen. Die haben Sie doch, oder?«

Die Hotelwirtin klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel, griff nach einem Ringbuch mit zerfleddertem Umschlag und blätterte darin herum. Dann tippte sie auf einen Eintrag. »Hier steht es.« Asche fiel auf die Seite. Dora Schiffer fegte sie mit der Hand beiseite.

»Haben Sie einen Kopierer?«, fragte Bartels.

»Wir sind nicht das Atlantic.« Sie reichte dem Kriminal­beamten das Ringbuch. »Von mir aus, stecken Sie es ein. Aber ich brauche es zurück, für meine Buchhaltung.«

Bartels warf einen Blick in die Unterlagen. »Was ist mit den Zimmern, die Sie gestern stundenweise vermietet haben? Darüber steht hier nichts.«

Die Hotelwirtin wurde knallrot. »Hab ich wohl vergessen einzutragen.«

»Die Namen?«

»Da war einmal die Lilli, dann Ricarda und die Chantal, die war gleich zweimal mit einem Kunden da.«

Bartels notierte die Namen. »Aha, und wo finden wir besagte Damen?«

»Versuchen Sie es abends am Hans-Albers-Platz.«

»Können Sie uns noch etwas über Graciela erzählen?«, fragte Malin.

»Dafür bin ich die Falsche.« Dora Schiffer nahm einen tiefen Zug ihrer Zigarette und blies einzelne Kringel in die Luft. »Sprechen Sie mit Condoleeza. Ihr gehört die Bar in der Schmuckstraße.«

Die Schmuckstraße war eine düstere Gasse zwischen der Talstraße und der Amüsiermeile Große Freiheit und wirkte an diesem Morgen wie ausgestorben. Die Häuserfassaden waren zum Teil verschmutzt oder mit Graffiti besprüht. Mitten­drin lag ein heruntergekommener Gründerzeitbau, der im Erdgeschoss die Bar Condoleeza beherbergte. Schwarze Holzplatten verrammelten die Fenster des Lokals. Von den Außenwänden bröckelte der Putz.

Bartels hämmerte gegen die geschlossene Tür. »Aufmachen. Polizei.« Als sich niemand dahinter rührte, klopfte er erneut.

»Fred, das bringt nichts.« Malin steckte ihre kalten Hände in die Jackentaschen. »Lass uns später wiederkommen.«

Über ihren Köpfen wurde ein Fenster geöffnet. Die beiden Kriminalbeamten traten einen Schritt zurück und blickten hinauf.

»Qué es ese ruido ahí abajo!?« Ein Latino mit Halbglatze starrte aus dem zweiten Stock wütend auf sie herab. »Quiero dormir.«

Bartels hielt seinen Dienstausweis in die Höhe. »Polizei. Wir möchten mit der Betreiberin der Bar sprechen.« Der Latino schimpfte wieder etwas auf Spanisch.

»Der versteht dich nicht«, sagte Malin.

Bartels zeigte auf das Lokal. »Condoleeza. Wir möchten mit Condoleeza sprechen.«

»Ella duerme.« Der Latino schloss das Fenster und zog demonstrativ die Vorhänge zu.

Am Eingang neben der Bar fand Malin den Namen Condoleeza Rodriguez auf einem Klingelschild. Sie drückte den Knopf. Als niemand öffnete, schob sich Bartels neben seine Kollegin und klingelte Sturm. Eine halbe Minute später ertönte der Türsummer.

»Geht doch.« Bartels grinste und trat dicht gefolgt von Malin über die Schwelle ins Treppenhaus.

Eine steile Wendeltreppe mit ausgetretenen Stufen, löchrige Wände mit losen Kabeln, an vielen Stellen blätterte die Farbe ab.

Im dritten Stock stand eine Frau in einem seidig glänzenden Morgenmantel in der offenen Tür. Lange schwarze Haare, dunkle Augen in einem ebenmäßigen Gesicht, herausfordernder Blick. »Was wollen Sie?« In ihrer Stimme schwang ein südamerikanischer Akzent.

»Sind Sie Condoleeza Rodriguez?«, fragte Bartels.

Die Frau nickte.

»Wir sind von der Polizei.« Er hielt ihr seinen Dienstausweis hin.

Die Barbetreiberin lachte kehlig. »Dafür muss ich keinen Ausweis sehen. Also, worum geht es diesmal?«

»Nicht worum, sondern um wen.« Malin musterte die leicht bekleidete Frau. »Sie kennen Graciela?«

Die dunklen Augen wurden schmal. »Warum wollen Sie das wissen?«

Bartels deutete ein Kopfschütteln an. »Dürfen wir reinkommen oder sollen wir das hier im Hausflur besprechen?«

Condoleeza Rodriguez öffnete die Tür ein Stück weiter und ließ die Kriminalbeamten in ihre Wohnung. »Den Flur entlang bis zur Küche.«

Das Kücheninventar schien bereits etliche Jahre auf dem Buckel zu haben, doch alles in dem Raum wirkte penibel sauber und aufgeräumt. Auf der Fensterbank stand eine Reihe kleiner Gefäße mit Kräutern.

Die Barbesitzerin wies auf die Stühle einer kleinen Tischgruppe. »Setzen Sie sich.« Sie drehte sich um und stellte die Kaffeemaschine an, ehe sie sich dazusetzte. Ihr Morgenmantel klaffte auseinander und gewährte tiefen Einblick auf perfekt geformte Brüste.

Bartels räusperte sich. »Vielleicht sollten Sie sich erst etwas Passendes überziehen.«

Condoleeza Rodriguez lachte. »Ich störe mich nicht an nackter Haut, Sie vielleicht?« Sie schenkte Bartels einen betörenden Augenaufschlag.

»Im HotelAmour wurde heute früh eine Leiche gefunden«, unterbrach Malin. »Laut der Hotelwirtin handelt es sich um eines Ihrer Mädchen, wie sie es nannte. Graciela.«

Condoleeza Rodriguez raffte augenblicklich ihren Morgenmantel zusammen. »Graciela ist tot?« Ihr Blick war verstört.

»Sie wurde erstochen«, schob Malin hinterher.

»Espantoso. Schrecklich.« Die Barbetreiberin schlug ihre Hände mit den makellos manikürten Fingernägeln vor den Mund.

»Wohnte Graciela hier im Haus?«

Condoleeza Rodriguez nickte. »Sie kam vor etwa einem Jahr aus Caracas zu uns. Die meisten Mädchen stammen aus Südamerika.«

»Und Graciela arbeitete hier als Prostituierte?«, fragte Malin.

Condoleeza Rodriguez’ Blick wurde wachsam. »Darüber weiß ich nichts.«

»Verkaufen Sie uns nicht für dumm«, erwiderte Bar­tels barsch. »Natürlich wissen Sie Bescheid. Also, warum ist Graciela ausgerechnet nach Deutschland gekommen? Kannte sie hier jemanden?«

Die Barbetreiberin senkte die Stimme. »Hier ist es einfacher, als Transsexuelle zu leben, als in unserem Land.«

»Und wie hört man am anderen Ende der Erdkugel davon?«

»Über Mundpropaganda. Ich selbst habe es durch Freunde von der Schmuckstraße erfahren.«

»Wie lange leben Sie schon hier?«, fragte Malin interessiert. »Ihr Deutsch ist ausgezeichnet.«

»Seit zehn Jahren. Ich war mit einem Deutschen verheiratet und habe durch ihn die Sprache gelernt. Die anderen Frauen sprechen fast nur Spanisch.«

Bartels verschränkte die Arme vor der Brust. »Gibt es jemanden, der Graciela bei der Einreise geholfen hat?«

»Nein.«

»Sie hatte also ein Visum?«

»Mir war nur wichtig, dass sie ihre Miete zahlt.«

Malin zog ihr Notizbuch heraus. »Gehört Ihnen das Haus?«

»Nein, nein«, beeilte sich die Südamerikanerin mit der Antwort. »Das gehört einer Wohnungsgesellschaft, ich bin nur deren Ansprechpartnerin, falls etwas repariert werden muss oder es sonst irgendein Problem gibt. Dann sage ich denen Bescheid und jemand kommt vorbei.«

»Und die Bar?«

»Die habe ich gepachtet.«

»Wie ist Gracielas ursprünglicher Name?«

»Ich kannte sie nur als Graciela Fernández.«

Die Kaffeemaschine blubberte, dann zischte es kräftig. Condoleeza Rodriguez erhob sich von ihrem Stuhl, befüllte an der Küchenzeile drei Becher mit Kaffee und reichte sie an die Kriminalbeamten weiter. Sie stellte Milch und Zucker auf den Tisch und setzte sich wieder.

»Danke.« Malin rührte etwas Milch in die dampfende Flüssigkeit. »Wann haben Sie Graciela zuletzt gesehen?«

»Gestern Abend. Gegen elf.« Die Südamerikanerin fuhr sich durch die langen Haare. »Sie war in der Bar und hat etwas getrunken.«

»Haben Sie mitbekommen, ob sie sich dabei mit einem Gast unterhalten hat?«

»Kann ich nicht sagen, der Laden war voll.«

»Hatte Graciela einen Freund?«

Condoleeza Rodriguez schüttelte den Kopf.

»Gab es jemanden, mit dem Sie Graciela häufiger zusammen gesehen haben?«

»Da gibt es schon ein paar Kerle, die öfter kommen.« Ein amüsiertes Lächeln huschte über die Lippen der Südamerikanerin. »Frauen übrigens auch.«

»Können Sie uns Namen nennen?«

»Sie glauben doch nicht, dass die sich bei mir vorstellen.« Condoleeza Rodriguez trank einen Schluck Kaffee.

»Mit wem können wir sonst noch reden? Wer kannte Graciela besonders gut?«

»Sprechen Sie mit ihrer Freundin Maria.«

Malin notierte sich den Namen. »Wo können wir diese Maria treffen? Wohnt sie auch hier im Haus?«

»Nein, irgendwo in Hamm. Genaueres weiß ich nicht.«

»Haben Sie einen Schlüssel zu Gracielas Wohnung? Wir würden uns dort gerne ein wenig umschauen.«

»Nein«, erwiderte die Barbetreiberin barsch. »Dafür brauchen Sie erst Dokumente.«

»Wie ich sehe, kennen Sie sich aus«, erwiderte Bar­tels betont gelangweilt. »Vermutlich wissen Sie aber auch, dass ich ohne Probleme einen entsprechenden Beschluss beschaffen kann. Allerdings werde ich dann gleichzeitig sämtliche Unterlagen zu Ihrem Etablissement drei Stockwerke weiter unten anfordern.«

»Tun Sie, was Sie wollen. Sie werden nichts finden.«

Bartels lächelte. »Davon gehe ich aus, sonst hätte man Ihnen den Laden längst zugesperrt. Trotzdem werde ich das alles natürlich noch einmal überprüfen müssen. Gründlich, versteht sich. Ihre Gäste werden sich also an die Anwesenheit der Polizei in nächster Zeit gewöhnen müssen.«

Condoleeza Rodriguez’ Augen funkelten wütend, dann stand sie auf und zog aus einer Küchenschublade einen Schlüsselbund.

Das Zimmer der Ermordeten war kaum größer als eine Besenkammer. Ein schmales Metallbett, ein Hocker, der als Nachttisch diente, und ein Kleiderschrank mit Spiegeleinsatz. An einer Wand hatte Graciela Fernández eine Girlande aus bunten Lämpchen drapiert, an der anderen standen ein halbes Dutzend Stilettos mit mörderischen Absätzen am Boden.

Während ihr Kollege den Inhalt des Schranks inspizierte, widmete sich Malin den durchsichtigen Boxen unter dem Bett, die von der Bewohnerin als zusätzlicher Stauraum genutzt worden waren. Die meisten enthielten Kosmetikartikel, in einer Vielzahl, die jedem Drogeriemarkt Konkurrenz gemacht hätte. Tiegel und Tübchen mit Cremes, Make-up und Puder, Rouge in verschiedenen Schattierungen sowie Lidschatten, Lippenstifte und Nagellacke der gesamten Farbpalette. In einem etwas größeren Exemplar lagen Unter­wäsche und Strümpfe, daneben Kondompackungen in verschiedenen Ausführungen und zwei Tuben Gleitcreme.

Malin langte mit ihrer behandschuhten Hand nach einem Schuhkarton, der unter dem Kopfteil des Bettes verstaut war, und stellte angenehm überrascht fest, dass sich darin bunte Postkarten und Fotos befanden. Ihre Freude währte allerdings nur kurz. Sämtliche Postkarten waren in Spanisch verfasst, offizielle Dokumente fehlten.

Bartels drehte sich zu ihr um. »Bist du fündig geworden?«

»Nicht wirklich. Und du?«

»Im Schrank sind nur Klamotten. Lauter Fummel mit viel zu wenig Stoff.«

Malin verschloss den Schuhkarton mit dem Deckel. »Sieht so aus, als wenn wir hier erst mal nicht weiterkommen. Lass uns gehen.«

Bartels nickte. »Aber vorher versuche ich es noch mal nebenan.«

Graciela Fernández teilte sich die Zweizimmerwohnung mit einer Mitbewohnerin, doch diese hatte auf das Klopfen des Polizeibeamten zuvor nicht reagiert.

Malin klemmte sich den Schuhkarton unter den Arm und folgte ihrem Kollegen in den Flur.

Bartels klopfte an die verschlossene Tür des Nachbarzimmers. »Polizei. Machen Sie bitte auf.« Nichts rührte sich. Er wiederholte die Prozedur.

Schritte waren zu hören, dann wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. Bartels zückte seinen Dienstausweis und ein Schwall spanischer Schimpfworte ergoss sich über den Ermittler, ehe die Zimmertür mit einem lauten Knall wieder zugeschlagen wurde.

»Hier sind wir wohl nicht erwünscht«, stellte Malin fest. »Wir brauchen einen Dolmetscher.«

Kurz darauf standen die beiden Kriminalbeamten wieder vor dem Haus.

Bartels zog den Reißverschluss seiner Lederjacke hoch. »Ich frage mich nur, wie die sich mit ihren Freiern verständigen.«

»Vermutlich wird nicht viel geredet«, erwiderte Malin trocken.

Eisiger Wind schlug ihnen entgegen, als sie den kurzen Fußmarsch Richtung Talstraße antraten. Malin klemmte sich den Schuhkarton etwas fester unter den Arm und steckte ihre Hände in die Taschen ihres Parkas.

»Das ist alles ganz schön bizarr«, sagte Bartels. »Ein Haufen Kerle, die sich wie Frauen anziehen. Das Erschreckende daran ist, dass einige tatsächlich auch so aussehen.«

»Vielleicht fühlen sie sich als Frauen und sind nur im falschen Körper geboren.«

»Aber im Bett sind sie dann Männer, oder wie?« Bar­tels schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht nachvollziehen.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Du bist eine Frau.«

Bei der Art, wie er es sagte, schoss Malin die Röte ins Gesicht. Sie schlug die Kapuze ihres Parkas hoch.

Als sie in die Talstraße einbogen, erkannte Malin schon von weitem Kriminalhauptkommissar Hans Fricke, der sich vor dem Eingang des Amour mit einem Kriminaltechniker unterhielt. Wie üblich trug der Chef der Mordkommission eine seiner ausgebeulten Cordhosen, an diesem Tag in Dunkelbraun, und dazu eine grüne Daunenjacke, die ihn wie ein Michelinmännchen aussehen ließ. Seine aschblonden Haare waren vom Wind zerzaust.

»Moin.« Fricke deutete ein Nicken an. »Frank wollte mir gerade eine Zusammenfassung geben.«

Glaser lüpfte seinen Mundschutz. »Am Tatort wimmelt es nur so von Fremdspuren. Außerdem haben wir jede Menge DNA-Material sichern können. Sowohl in dem Zimmer als auch an der Leiche.«

»Habt ihr die Tatwaffe gefunden?«

»Nein. Der Täter muss sie mitgenommen haben.«

Fricke strich sich über seine zerzausten Haare. »Was schätzt du, wie lange ihr noch braucht?«

»Sicher noch ein bis zwei Stunden. Momentan sieht sich die Steinhofer die Leiche an«, informierte ihn der Kriminaltechniker über die Anwesenheit der Rechtsmedizinerin. »Ich gehe zurück an die Arbeit. Hier draußen ist es schweinekalt.« Er setzte den Mundschutz wieder auf und verschwand im Hoteleingang.

Fricke wandte sich seinen Mitarbeitern zu. »Konntet ihr etwas herausfinden?«

Bartels berichtete von dem Gespräch mit der Barbesitzerin und der anschließenden Zimmerdurchsuchung.

»Gut. Ich kümmere mich um einen Dolmetscher«, sagte Fricke. »Ihr beiden redet mit den Anwohnern in den Nachbarhäusern, hört euch auch in den Geschäften und in den Bars um, vielleicht hat jemand etwas gesehen.«

»Was ist mit Sven und Ole?«, erkundigte sich Malin nach ihren beiden anderen Teamkollegen.

»Die sind auf der Davidwache. Wenn jemand Bescheid weiß, was auf St. Pauli gerade vorgeht, dann sind das die Kollegen dort.«

Gerry schlug die Augen auf. Sein Körper war schweißüberströmt und sein Herz raste. Er zwang sich, ruhig zu atmen. Im nächsten Moment realisierte er, dass er in seinem Bett lag. Es ist nur ein Traum gewesen, dachte er erleichtert. Es war vorbei.

Sein Blick glitt zum Wecker. Er hätte seit einer halben Stunde im Büro sein müssen. Mühsam rappelte er sich hoch. Ihm dröhnte der Schädel, außerdem war ihm verdammt übel. Wie viel hatte er getrunken? Wo war er überhaupt gewesen?

Er erinnerte sich dunkel, dass er am vergangenen Abend mit ein paar Kollegen in einem Lokal im Portugiesenviertel Tapas gegessen hatte. Anschließend hatten sie in einer Kiezkneipe einen Absacker genommen, danach brach seine Erinnerung ab. Hoffentlich hatte er sich nicht danebenbenommen. Kurz spielte er mit dem Gedanken, blauzumachen, doch wenn das rauskam, würde das kurz bevorstehende Beurteilungsgespräch mit seinem Vorgesetzten möglicherweise nicht zu seinen Gunsten verlaufen. Dabei hatte er die jährliche Sonderzahlung, die sein Arbeitgeber für außergewöhnliches Engagement zahlte, schon fest eingeplant.

Er verließ das Bett und versuchte das Hämmern in seinem Schädel zu ignorieren, das mittlerweile die Lautstärke eines Presslufthammers erreicht hatte. Im Erste-Hilfe-Schränkchen im Badezimmer fand er eine Packung Kopfschmerztabletten, warf zwei davon ein und spülte sie mit Wasser aus seinem Zahnputzbecher hinunter. Sein Blick begegnete seinem Spiegelbild. Gerry erschrak. Seine Augen waren verquollen und gerötet, die Gesichtsfarbe unter den Bartstoppeln wirkte kalkweiß. Er sah aus, als hätte er tagelang gesoffen. Unter seinem Kinn zog sich eine Spur dunkelroter Spritzer bis zu seinem Schlüsselbein. Verdammt, was hatte er getrunken? Eine Bloody Mary? Eigentlich hasste er dieses Zeug.

Er ging unter die Dusche. Während die warmen Strahlen auf seinen Rücken prasselten, begann er sich langsam zu entspannen. Sollte er seinen Filmriss vor den Kollegen überspielen? Am besten, er ließ sich seinen Kater nicht anmerken und benahm sich wie sonst auch. Zurückhaltend, freundlich und auf die Arbeit konzentriert.

Als er zehn Minuten später aus der Duschkabine stieg und sich ein Handtuch um die Hüften schlang, fühlte er sich schon fast wie neu. Er putzte sich die Zähne, gurgelte ausgiebig mit Mundwasser und rasierte sich sorgfältig. Schon besser.

Zurück im Schlafzimmer griff er nach seinen Klamotten vom Vortag, die er achtlos auf einen Sessel gefeuert hatte, um sie in den Korb mit Dreckwäsche zu befördern. Auf seinem dunklen Sakko zeichneten sich ein paar eingetrocknete Flecken ab. Der Stoff fühlte sich rau an. Er runzelte die Stirn. Was hatte er gestern Abend bloß getrieben? Sein Oberhemd blitzte unter dem Sakko hervor. Er griff danach. Auf dem weißen Stoff prangten ähnliche Spritzer wie vorhin an seinem Hals. Es sah aus wie Blut.

Er schob den Gedanken umgehend beiseite. Der Traum hatte ihm offenbar mehr zugesetzt als gedacht. Dann glitt sein Blick zu seinem Mantel, der unter dem restlichen Haufen Klamotten lag. Aus einer Eingebung heraus fasste Gerry in die Innentasche des Mantels, in der er sein Messer verwahrte. Sein Vater hatte es ihm geschenkt, als er noch ein Kind gewesen war, und er trug es immer bei sich. Er hatte es noch nie benutzt.

Das Messer war nicht an seinem Platz. Hektisch kontrollierte Gerry die Seitentaschen des Mantels. In der rechten wurde er fündig. Schon als seine Finger sich um die Griffschale schlossen, spürte er, dass sie sich anders anfühlte als sonst. Er zog das Messer heraus, drückte den Schnappverschluss und die Klinge sprang auf. Die Schneide war blutverkrustet.

Keuchend ließ er das Messer fallen. Zeitgleich mit dem Aufprall auf den Boden kam die Erinnerung zurück.

Mit Einsetzen der Dunkelheit war die Gegend rund um die Reeperbahn zum Leben erwacht. Statt ruhig und trist wie noch vor wenigen Stunden war es nun bunt, grell und laut. Leuchtreklamen schillerten in verschiedensten Farben, aus Clubs und Lokalen wummerten die Bässe und Touristen lugten in die Fenster der Sex-Shops oder steuerten wie zahlreiche andere Kiezgänger die Tabledance-Bars der Amüsiermeile an. Es roch nach Currywurst, Astra und Testosteron.

Malin und Bartels verließen das Quartier der Heilsarmee, das in der Talstraße gegenüber einer Schwulenbar logierte.

»Also mir reicht es für heute.« Bartels warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir rennen uns schon seit Stunden die Hacken ab. Und wofür? Nicht ein einziger Hinweis.«

»Wir sollten es noch in der Bar Condoleeza versuchen«, schlug Malin vor. »Vielleicht sind einige Leute von gestern da. Jemand könnte gesehen haben, mit wem Graciela ins Hotel gegangen ist.«

»Die öffnen erst in zwei Stunden«, murrte Bartels und schlug den Weg Richtung Schmuckstraße ein.

Eisiger Wind peitschte den Nieselregen in ihre Gesichter. Es fühlte sich an wie Nadelstiche. Malin zog die Kapuze ihres Parkas enger. Sie ärgerte sich, dass sie am Morgen keinen Schal eingepackt hatte.

Vor der Bar Condoleeza stießen sie auf Kriminalhauptkommissar Fricke, der gerade das hell erleuchtete Wohnhaus verließ. Hinter ihm trat eine attraktive Brünette im schwarzen Trenchcoat aus dem Gründerzeitbau. Das Lokal im Erdgeschoss war noch immer geschlossen.

»Ach, Brodersen, Bartels.« Fricke winkte seine Mitarbeiter heran und wies auf die dunkelhaarige Frau an seiner Seite. »Darf ich vorstellen, das ist Elena Alegrett vom Dolmetscherdienst.«

»Hola.« Die Dolmetscherin reichte ihnen zur Begrüßung die Hand.

»Und?«, fragte Malin neugierig. »Hat eine der Frauen etwas mitbekommen?«

»Es ist wie mit den drei Affen«, brummte Fricke. »Nichts sehen. Nichts hören. Nichts sagen.«

»Die Frauen haben Angst, dass sie ausgewiesen werden«, erklärte Elena Alegrett. »Die meisten haben nur ein Touristenvisum oder gar keinen Pass, geschweige denn eine Arbeitserlaubnis. Deshalb reden sie nicht mit uns.«

»Sie wissen, dass wir sie sofort der Ausländerbehörde melden müssen, wenn sich bestätigt, dass sie sich prostituieren«, pflichtete Fricke ihr bei. »Da können wir ihnen dreimal erzählen, dass uns nur der Mord an ihrer Mitbewohnerin interessiert und nicht, wie sie ihr Geld verdienen.«

»Und Condoleeza Rodriguez?«, hakte Bartels nach. »War aus ihr noch etwas herauszuholen?«

Fricke schüttelte den Kopf. »Sie schützt die Frauen. Vorerst kommen wir hier nicht weiter. Und bei euch?«

»Wir haben die komplette Talstraße abgeklappert. Völlige Fehlanzeige. Niemand hat etwas gesehen. Brodersen hat vorgeschlagen, dass wir später noch in die Bar gehen und uns dort ein wenig unter den Gästen umhören.« Bar­tels wies mit dem Kopf auf die verrammelten Fenster des Lokals.

»Gute Idee«, erwiderte Fricke. »Aber ich will, dass du das zusammen mit einem deiner Kollegen erledigst, Fred.«

Malin wollte gerade zum Protest ansetzen, als ihr Chef weitersprach: »Frauen sind da drinnen unerwünscht, Brodersen. Deine Anwesenheit wäre eher kontraproduktiv. Tut mir leid, aber so ist es nun mal.«

Malin seufzte. »Also gut, dann fahre ich ins Präsidium und schreibe schon mal die Berichte.«

»Keine unnötigen Überstunden«, mahnte Fricke. »Die Berichte können warten. Wir sehen uns morgen um acht bei der Teambesprechung.« Er wandte sich an Elena Ale­grett. »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.«

Keine fünf Minuten später stieg Malin in ihren Mini, den sie am Vormittag auf den Parkplatz der Davidwache umgeparkt hatte. Während die Partygänger an ihrem Auto vorbeizogen, saß sie regungslos hinter dem Lenkrad und ließ in Gedanken den Tag noch einmal Revue passieren. Dabei hatte sie auch die Ermordete in ihrem blutdurchtränkten Babydoll vor Augen. Was war in dem Hotelzimmer geschehen? Hatte der Täter sofort zum Messer gegriffen? Oder war es zwischen der Transsexuellen und ihrem Kunden zu einem Streit gekommen? Zogen sie überhaupt die richtigen Schlüsse? Ging es am Ende um etwas Persönliches? Sie dachte an die zahlreichen Stiche. Was hatte den Täter derart in Rage versetzt?

3. Kapitel

Regenschwere Wolken hingen über der Stadt, als Malin am nächsten Morgen die Stufen zum Eingang des Präsidiums hinaufstieg. Das sechsgeschossige Gebäude, ein Rundbau mit zehn sternförmig angeordneten Riegeln, erinnerte in seiner Form an einen Polizeistern und beherbergte neben diversen Verwaltungsstellen, der Funkzentrale und dem Führungsstab auch die für Hamburg zuständigen Abteilungen des Landeskriminalamtes.

Sie verließ den Fahrstuhl im dritten Stock und steuerte das Großraumbüro der Mordkommission an. Die Tür stand offen.

Ihr Kollege Ole Tiedemann, ein langer, schlacksiger Kerl mit blassem Teint und sandfarbenem Haar, heftete gerade einige Tatortfotos an ein Whiteboard.

»Hi, Ole.« Malin lächelte ihn an. Sie mochte den ernsthaften Polizisten, trotz seiner steifen und oftmals zugeknöpften Art. Er war der Älteste ihrer Kollegen und Frickes Stellvertreter. Anders als andere im Team hatte Ole Tiedemann ihr von Anfang an kollegial zur Seite gestanden und es freute sie, dass er in letzter Zeit etwas lockerer geworden war. Darüber hinaus war er ein hervorragender Ermittler. Er verfügte über einen messerscharfen Verstand, analysierte präzise sämtliche Fakten und behielt dabei stets den Überblick.

»Moin, Malin.« Tiedemann verschränkte die Arme vor der Brust und begutachtete sein Werk.

Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Fotos am Whiteboard, ehe sie sich an ihren Platz setzte. »Scheußliche Sache.«

Tiedemanns Partner Sven Andresen, der an seinem Schreibtisch hockte und telefonierte, quittierte Malins Anwesenheit mit einem Nicken. In seiner Lederhose, den spitzen Cowboystiefeln und dem protzigen Goldschmuck, der unter seinem zu weit aufgeknöpften Hemd hervorlugte, präsentierte sich der rothaarige Ermittler auch an diesem Tag wie eine Kiezgröße aus den Achtzigern.

Vom Flur drangen Stimmen herein. Kurz darauf erschien Hauptkommissar Fricke dicht gefolgt von Bartels im Büro. Er blieb in der Mitte des Raumes stehen und wartete einen Moment, bis Andresen sein Telefonat beendet hatte. Dann klatschte er in die Hände. »Also gut, Leute, legen wir los. Was haben wir bisher über das Opfer? Ole?«

»Nichts.« Tiedemann setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Eine Graciela Fernández aus Caracas ist nirgends erfasst. Und da wir weder den Geburtsnamen noch das Geburtsdatum wissen, wird sich daran auch so schnell nichts ändern.« Er griff nach seinem Kaffeebecher mit Hamburgwappen und trank einen Schluck. »Sobald wir die biometrischen Daten aus der Rechtsmedizin bekommen, füttere ich INPOL damit. Vielleicht landen wir dann einen Treffer im Ausländer­zentralregister.«

Fricke nickte. »Wissen wir, wie das Opfer ins Land gekommen ist? Aus Venezuela braucht man doch bestimmt ein Visum.«

»Ich habe mich mal schlaugemacht«, nahm Tiedemann den Faden auf. »Bei einem Aufenthalt von weniger als drei Monaten brauchen venezolanische Touristen kein Visum. Vermutlich hat Graciela Fernández die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen der EU gezielt ausgenutzt und ist nach Ablauf der Frist einfach illegal in Deutschland geblieben.«

»Und damit ist sie kein Einzelfall«, meldete sich Andresen zu Wort. »Ich habe gerade noch mal mit der Ausländerbehörde telefoniert. Das Vorgehen ist kein unbekanntes Problem.« Er zwirbelte an seinem roten Schnauzer. »So lange wir die Frauen nicht bei Prostitution oder irgendwelchen Ausweiskontrollen erwischen, winden sie sich wie Aale durch unser System. Immer wieder gelingt es Schleuserbanden auf diese Weise, Frauen aus Südamerika gezielt nach Deutschland zu locken. Sie werden darin trainiert, ein möglichst unauffälliges und touristentypisches Verhalten an den Tag zu legen, damit sie bei Grenzkontrollen nicht auffallen. Sobald sie dann in Deutschland sind, nimmt man ihnen die Pässe weg, und sie müssen mit Prostitution den Schleuserlohn abarbeiten. Ein Problem, das uns die EU-Politik eingebrockt hat, und wir müssen die Suppe auslöffeln.«

»Gibt es Anhaltspunkte, dass auch bei Graciela Fer­nández solche Hintergründe eine Rolle spielen?«, fragte Fricke.

»Der Verdacht liegt zumindest nahe.«

»Was haben die Kollegen von der Davidwache dazu gesagt? Sind irgendwelche Namen bekannt?«

Tiedemann griff nach einem Schnellhefter in seinem Ablagefach. »Besim Shabani. Sagt dir der was?«

»Irgendetwas klingelt da bei mir. Hilf mir mal auf die Sprünge, Ole«, forderte Fricke seinen Stellvertreter auf.

»Auch als der Albaner bekannt. Tätigt Immobiliengeschäfte rund um den Kiez. Ihm gehören mehrere Lokale in St. Pauli und weitere Immobilien im Stadtbezirk. Hinter den Kulissen mischt er im Milieu so ziemlich bei allem mit. Drogen. Glücksspiel. Prostitution. Er steht im Verdacht, mit einem Schmugglerring zu kooperieren, der Prostituierte aus Südamerika und dem osteuropäischen Ausland nach Deutschland bringt.«

»Ich erinnere mich an Shabani«, sagte Fricke. »Gehörte ihm nicht auch der Cherry Club? Während meiner Zeit bei der Drogenfahndung hatte ich dort öfter zu tun.«

»Der gehört ihm immer noch.« Tiedemann blätterte in den Unterlagen. »Shabani steht schon seit langem unter Beobachtung durch die Kollegen von der OK. Er wurde bereits einige Male angeklagt, doch da ihm rechtskräftig noch nie etwas nachgewiesen werden konnte, kam es bisher nicht zur Verurteilung. Die Verfahren wurden eingestellt. Shabani beschäftigt nicht nur die findigsten Anwälte, er soll auch über gute Kontakte zu den Behörden und in der Politik verfügen. Was immer das bedeuten mag.«

Fricke runzelte die Stirn. »Und du siehst da einen Zusammenhang mit unserem Toten?«

»Ich halte es zumindest nicht für ausgeschlossen. Sollte er tatsächlich mit der Schleuserbande zusammenarbeiten, die Graciela Fernández in Land gebracht hat, könnte er bei dem Mord seine Finger im Spiel gehabt haben.«

»Dann bleibt da am Ball.« Fricke wandte sich Andresen zu. »Vielleicht kannst du deine alten Kontakte anzapfen.«

»Ist schon in Arbeit. Wobei ich eher darauf tippe, dass wir es mit mit einem unzufriedenen Kunden zu tun haben.« Andresen warf einen kurzen Seitenblick auf seinen Teampartner, ehe er weitersprach. »Irgend so ein Perverser, der Dinge verlangte, zu denen Graciela Fernández nicht bereit war. Oder es ging um Kohle.«

»Du meinst, die beiden sind in Streit geraten?«

Andresen zuckte die Achseln. »Wäre nicht das erste Mal. Die Transen gehören bekanntlich nicht gerade zur sanftmütigen Fraktion.«

»Wart ihr gestern Abend noch in der Bar von Condoleeza Rodriguez?«

Bartels nickte. »Hätten wir uns sparen können. Die meisten Gäste kannten das Opfer nicht und wenn, dann haben sie nichts mitbekommen oder waren in der Mordnacht nicht in der Bar. Überhaupt waren alle, mit denen wir gesprochen haben, nur dort, um Bier zu trinken, und nicht auf der Suche nach Sex. Wer’s glaubt …«

Fricke strich sich übers Haar. »Das war zu erwarten. Was ist mit der Freundin der Toten, dieser Maria? Habt ihr die schon ausfindig machen können?«

Bartels und Malin schüttelten zeitgleich die Köpfe.

»Dann bleibt da dran.« Er lehnte sich gegen die Fensterbank. »Ich habe vorhin mit Frank gesprochen. An der Leiche wurden Fremdspuren sichergestellt. Mit etwas Glück landen wir einen Treffer in der Datenbank, sobald die DNA ausgewertet ist. So lange hören wir uns weiter um. Ich will wissen, was an dieser Schleusersache dran ist. Darum kümmert ihr euch, Ole und Sven.«

Er sah Bartels an. »Fred, du kontaktierst diese Münchner Studenten, die in den Tatnacht ebenfalls im Amour abgestiegen sind, und am besten befragst du auch noch mal das Zimmermädchen und ihre Kolleginnen. Vielleicht ist denen im Nachhinein noch etwas eingefallen. Ich frage mich sowieso, warum niemand etwas gehört hat. Das Opfer hat doch bestimmt geschrien. Ach, da fällt mir ein: Was war eigentlich in dem Karton, den du aus dem Zimmer der Toten mitgenommen hast, Brodersen?«

»Ein paar Fotos und Postkarten. Leider alle auf Spanisch.«

»Dann ruf die Dolmetscherin an. Sie soll einen Blick darauf werfen.« Fricke löste sich von der Fensterbank und ging zur Tür. »Und danach begleitest du mich in die Rechtsmedizin. Dr. Steinhofer hat die Obduktion für elf angesetzt.« Er blickte auf seine Uhr. »Wir treffen uns in einer halbe Stunde am Fahrstuhl.« Er hob kurz die Hand und verschwand aus der Tür.

»Du bist zu spät.« Sonjas Stimme klang vorwurfsvoll, als er eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit die gemeinsame Wohnung betrat.

»Ich weiß, tut mir leid, ich konnte nicht eher weg. Bei der Arbeit geht mal wieder alles drunter und drüber.« Er gab seiner Freundin einen Kuss. Sofort entspannten sich ihre Gesichtszüge.

»Schon gut«, winkte Sonja versöhnlich ab. »Ich hatte nur gerade überlegt, ob ich ohne dich losfahre.« Sie zwinkerte ihm schelmisch zu.

»Untersteh dich!« Er legte ihr seine Hand auf den Bauch.

Sonja war im fünften Monat schwanger. Er wurde Vater. Dabei waren Kinder für ihn nie ein Thema gewesen, im Grunde mochte er sie nicht einmal besonders. Zuerst terrorisierten sie ihre Eltern mit Geschrei, dreckigen Windeln und schlaflosen Nächten, später erwarteten sie teure Geschenke und fraßen einem die Haare vom Kopf.

Zumindest hatte er früher so gedacht. Seit Sonja wieder bei ihm war, war alles anders, die Jahre dazwischen wie ausgelöscht. Auch die Frauen. Sie hatten ihn ohnehin kaltgelassen, waren austauschbar und nicht mehr als Ins­trumente zur Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse gewesen. Keine war wie Sonja. Nun, wo er eine zweite Chance bei ihr bekam, würde er alles tun, um sie glücklich zu machen.

Aus ihnen wurde eine Familie. Als der stecknadelgroße Punkt auf dem Ultraschallbild zu erkennen gewesen war, hatte sich bei ihm ein Hebel umgelegt und er war zu Tränen gerührt gewesen. Seit kurzem kannten sie auch das Geschlecht ihres Kindes. Es war ein Junge. Die Liste der Unternehmungen, die er mit dem Nachwuchs plante, wuchs von Tag zu Tag: Fußball spielen, Zelten gehen, einen Drachen fliegen lassen, überirdische Galaxien aus Legosteinen konstruieren, vielleicht sogar ein Baumhaus bauen.

Er spürte einen Tritt unter seiner Hand.

»Ich glaube, der Kleine kommt nach dir.« Sonja lächelte.

»Hoffentlich nicht«, rutschte es ihm heraus.

Seine Freundin sah ihn besorgt an. »Es ist doch alles in Ordnung, oder?«

»Natürlich. Ich habe alles unter Kontrolle.« Er schob ihr liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es gibt keinen Grund, nervös zu werden.«

Sonja schaute ihm prüfend in die Augen. »Sicher? Ich könnte es nicht ertragen, wenn das Ganze noch mal von vorne losgeht.«

»Sicher. Ich habe es dir doch versprochen.« Er lächelte sie an. »Und jetzt lass uns zum Ultraschall fahren. Ich bin gespannt, wie viel der kleine Racker seit dem letzten Mal gewachsen ist.«

»Ich hole noch schnell meine Handtasche.« Sonja eilte ins angrenzende Wohnzimmer.

Er sah ihr nachdenklich hinterher. Hoffentlich würde sie niemals die Wahrheit erfahren.

Das Institut für Rechtsmedizin befand sich im Butenfeld am Rande des Universitätsklinikums Eppendorf.

Es war bereits kurz nach elf, als Fricke seinen Dienstwagen auf dem gesondert ausgewiesenen Parkplatz für Einsatzfahrzeuge der Polizei abstellte und gemeinsam mit Malin auf das sandfarbene Institutgebäude zusteuerte.

Sie zeigten am Empfang ihre Dienstausweise vor und nahmen die Treppe ins Untergeschoss, wo sich der Autopsie­trakt befand. Wenige Minuten später traten die beiden Kriminalbeamten in der vorgeschriebenen Schutzkleidung in den Sektionssaal.

Ein schwerer, süßlicher Geruch gepaart mit einem Hauch Desinfektionsmittel lag in der Luft. Grelles Neonlicht strahlte von der Decke des Raumes auf den Obduktionstisch aus rostfreiem Edelstahl, auf dem die Leiche aus dem Stundenhotel lag. Unzählige Stichwunden übersäten die wächserne Haut.

Die Rechtsmedizinerin Dr. Steinhofer, die wie ihr assistierender Sektionsarzt Dr. Brunner in ihren obligatorischen grünen Kittel mit der Plastikschürze gekleidet war, nahm die Anwesenheit der Kriminalbeamten mit einem kühlen Nicken zur Kenntnis und fuhr damit fort, die Leiche zu vermessen. »Einhundertzweiundachtzig Zentimeter«, diktierte sie Brunner.

Schweigend sahen Malin und Fricke dabei zu, wie Dr. Steinhofer die Körpertemperatur ermittelte und im Anschluss die Leichenstarre und die Totenflecken überprüfte.