Nordlicht - Tod in den Fluten - Anette Hinrichs - E-Book

Nordlicht - Tod in den Fluten E-Book

Anette Hinrichs

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Beschreibung

Ein mörderischer Segeltörn auf der Flensburger Förde. Der neue Fall für Boisen & Nyborg von SPIEGEL-Bestsellerautorin Anette Hinrichs

Dauerregen und Starkwind über der Flensburger Außenförde. Während eines Kundenevents auf einer Segelyacht geht die junge Bankerin Saskia Niekamp bei einem Wendemanöver über Bord. Wenige Tage später wird ihr Leichnam in Sønderby an der dänischen Küste angespült. Was zunächst wie ein tragischer Unfall aussieht, erweist sich als heimtückischer Mord.
Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg ermitteln in der einflussreichen Welt von Vorstandsetagen und gut betuchten Kunden. Je tiefer sie graben, desto mehr belastende Erkenntnisse bringen sie über die Tote ans Tageslicht. Doch erst als sie auf die Verbindung zu einem alten, ungelösten Fall stoßen, kommen sie den wahren Hintergründen auf die Spur…

»NORDLICHT ist einfach eine der besten deutschen Krimireihen, die es aktuell gibt.« krimi-couch.de

Zwei Ermittler so unterschiedlich wie Ebbe und Flut: Boisen & Nyborg ermitteln in grenzübergreifenden Fällen in Deutschland und Dänemark.

Alle Bände der SPIEGEL-Bestsellerreihe sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 471

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Buch

Dauerregen und Starkwind über der Flensburger Außenförde. Während eines Kundenevents auf einer Segelyacht geht die junge Bankerin Saskia Niekamp bei einem Wendemanöver über Bord. Wenige Tage später wird ihr Leichnam in Sønderby an der dänischen Küste angespült. Was zunächst wie ein tragischer Unfall aussieht, erweist sich als heimtückischer Mord.

Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg ermitteln in der einflussreichen Welt von Vorstandsetagen und gut betuchten Kunden. Je tiefer sie graben, desto mehr belastende Erkenntnisse bringen sie über die Tote ans Tageslicht. Doch erst als sie auf die Verbindung zu einem alten, ungelösten Fall stoßen, kommen sie den wahren Hintergründen auf die Spur …

Autorin

Anette Hinrichs ist als geborene Hamburgerin ein echtes Nordlicht. Ihre Leidenschaft für Krimis wurde im Teenageralter durch Agatha Christie entfacht und weckte in ihr den Wunsch, eines Tages selbst zu schreiben. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie im Raum München. Ihre Sehnsucht nach ihrer alten Heimat lebt sie in ihren Küstenkrimis und zahlreichen Recherchereisen in den hohen Norden aus. Mit NORDLICHT, ihrer Krimireihe um das deutsch-dänische Ermittlerteam Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg, begeistert Anette Hinrichs ihre Leserinnen und Leser und erobert regelmäßig die Bestsellerlisten.

Weitere Informationen unter:

www.anettehinrichs.de

www.facebook.com/Anette-Hinrichs-Autorin-517398078303711/

www.instagram.com/anettehinrichs/

Boisen & Nyborg ermitteln in:

NORDLICHT – Die Tote am Strand

NORDLICHT – Die Spur des Mörders

NORDLICHT – Die Tote im Küstenfeuer

NORDLICHT – Die Toten im Nebel

NORDDLICHT – Tod in den Fluten

Weitere Fälle sind in Vorbereitung.

ANETTE HINRICHS

NORDLICHT

Tod in den Fluten

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dieses Buch ist ein Roman, das Beschriebene hat sich so nicht ereignet. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Copyright © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: Getty Images (Suphat Bhandharangsri Photography / Moment; Nick Brundle Photography / Moment); Evelina Kremsdorf / Arcangel Images

Karte/Illustrationen: www.buerosued.de nach einer Vorlage von Daniela Eber

WR · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29677-3V004

www.blanvalet.de

Für Finn

Prolog

Glücksburg, Deutschland – April 2002

Die Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit, als Fridjof Paulsen seinen alten Kombi den Hügel hinunterlenkte. Rechts und links säumten Bäume, Büsche und Sträucher den Asphalt, dazwischen schimmerten die Silhouetten vereinzelter Häuser, tief versunken in nächtlicher Stille.

Am Fuß der Anhöhe, kaum mehr als zu erahnen, lag die Flensburger Förde. Der Mond versteckte sich hinter einem Vorhang aus dichten Wolken. Land und Wasser verschmolzen in der Finsternis.

Fridjof erreichte den Strandparkplatz und stieg aus dem Wagen. Augenblicklich pfiff ihm kalter Wind um die Ohren. Die Temperaturen in der Nacht waren in den einstelligen Bereich gerutscht, und von der Wärme, die im Frühling tagsüber Einzug hielt, war noch lange nichts spürbar.

Er setzte seine Strickmütze auf und ließ den Blick durch die Dunkelheit schweifen. Außer ihm war keine Menschenseele zu sehen. Er öffnete den Kofferraum.

Beim Anblick seiner Angelausrüstung streifte ein Lächeln seine Lippen. Er war guter Dinge, dass er dieses Mal endlich eine Meerforelle an den Haken bekäme. Schon seit Tagen hatte er die Wind- und Brandungsbedingungen im Internet verfolgt und die Entfernungen abgemessen. Die Voraussetzungen waren nahezu perfekt. Der Wind fegte über die Ostsee, die Brandung rauschte, und mit ihr kamen die Dorsche und die Meerforellen, die auf freigespülte Nahrung in Ufernähe hofften. Er musste nur mit Beginn der Morgendämmerung am Spot stehen.

Ein paar Minuten später marschierte er, warm eingepackt in seine fünf Millimeter dicke Neopren-Wathose und Watjacke, mit dem Angelrucksack auf dem Rücken zum Strand. Dort angekommen, trank er noch einen Schluck Kaffee aus seiner Thermoskanne, band dann seine Montage und befestigte zwei Sprengringe und einen Einzelhaken an dem Meerforellenblinker, ehe er schließlich mit der Spinnrute in der Hand ins Wasser watete.

Die Möwen kreischten am Himmel und die Brandung krachte ihm gegen die Brust, als am Horizont ein erster Lichtstreifen erschien und die Konturen der angrenzenden Häuser am Ufer aus der Nacht hervortreten ließ. Die Morgendämmerung brach an, und mit ihr kamen die Fische in Schwung.

Fridjof servierte ihnen seinen Köder. Schon der dritte Wurf brachte ihm eine Meerforelle, doch sie lag unter dem geforderten Mindestmaß von vierzig Zentimetern, und er setzte sie zurück ins Wasser. Er warf die Rute erneut aus, holte den Schnurbogen schnell ein, einmal, zweimal, dreimal. Die Meerforelle galt nicht umsonst als Fisch der tausend Würfe.

Er wiederholte die Prozedur unzählige Male, variierte das Einholtempo, legte zwischendrin einen Spinstopp ein, indem er die Kurbel für ein paar Sekunden anhielt, so dass der Köder an der gestrafften Schnur Richtung Grund taumelte und zum Anbiss verführte. Doch auch dieser Trick verhalf ihm nicht zum Fang.

Die Dämmerung schritt voran, der Himmel verfärbte sich leuchtend orange, und der obere Rand der Sonne erschien am Horizont. Der Wind flachte ab. Nicht mehr lange, und die Fische würden wieder verschwunden sein.

Er warf seine Rute erneut aus, an die siebzig, achtzig Meter weit. Doch dieses Mal gelang es ihm nicht, die Schnur einzuholen. Der Köder hatte sich in irgendetwas verfangen. Kein Fisch, der hin und her zappelte, sondern irgendetwas Schweres, das sich kaum bewegen ließ. Vielleicht ein Ast, dachte Fridjof. Oder eine mit schlamm befüllte Plastiktüte, so wie im letzten Jahr. Er setzte erneut die Kurbel an, holte Zentimeter für Zentimeter ein. Was immer dort an seinem Haken hing, ein Ast war es jedenfalls nicht.

Zuerst erkannte er die Kleidung, doch es dauerte noch zwei weitere Umdrehungen, ehe er begriff, was seine Augen längst erfasst hatten.

Ein menschlicher Körper hing an seiner Angelrute, trieb mit dem Rücken nach oben auf der Wasseroberfläche. Entsetzt blickte er auf die weiße Hand, die sich ihm leblos entgegenstreckte. Die Fingerkuppen fehlten.

1. Kapitel

Flensburger Förde, Deutschland

Das Wetter hatte umgeschlagen, und schiefergraue Wolken hatten das Blau vom Himmel gewischt. Die Ostsee war rau und aufgewühlt, die Sicht schlecht, dazu kamen Starkwind und Dauerregen.

Trotzdem hatten die Firmenbosse der Sønderjylland Bank entschieden, dass ihr alljährliches Kundenevent, ein Segeltörn auf dem Traditionssegler Valeria im Vorfeld der Flensburger Fördewoche, stattfinden sollte. So wie in den vergangenen zweiunddreißig Jahren auch.

Jetzt hing die Valeria schief im Wind, kräftige Böen trieben die Geschwindigkeit auf über zehn Knoten, und die Crew hatte alle Hände voll zu tun, die Segel zu reffen und alles Bewegliche an Deck gegen das Verrutschen zu sichern.

Marie Jansens Magen rebellierte, und sie verfluchte die Entscheidung ihrer Vorgesetzten. In ihren Augen hätte man den Segeltörn absagen müssen. Doch natürlich hörte niemand in der Chefetage auf eine kleine Angestellte.

»Lieber ein büschen Wind als Flaute«, hatte Bankdirektor Henrik Bo Christensen mit dänischem Akzent und gut gelaunt zu Beginn des Törns gesagt.

Darüber hinaus war auch die Stimmung an Bord der Valeria ausgesprochen heiter, und die rund vierzig Personen, von denen sich die meisten mittlerweile unter Deck aufhielten, waren im Gegensatz zu ihr offensichtlich seefest. Neben der sechsköpfigen Crew, den Mitarbeitern der Bank und dem Servicepersonal war unter den Gästen vom erfolgreichen Jungunternehmer über Top-Manager und Wirtschaftsgrößen bis hin zur Generation Erben so ziemlich alles vertreten, was Rang und Namen hatte. Sogar ein Fregattenkapitän und eine dänische Segler-Legende befanden sich mit an Bord. Das brachte der Bank jede Menge positiver Publicity, auf die niemand verzichten wollte. Lediglich vier Kunden hatten im Vorfeld ihre Teilnahme aufgrund der schlechten Wetterprognose abgesagt, zwei weitere fehlten aus anderen Gründen.

Maries Magen beruhigte sich. Gischt spülte über die Reling an Deck und benetzte ihr Gesicht. Sie sah, wie eine Frau die Treppe vom unteren Deck hochkam. Blonde Haare lugten seitlich unter der Kapuze ihrer weißen Segeljacke hervor. Katrine Madsen von der Hauptniederlassung in Aabenraa. Die Anführerin, wie Marie sie im Stillen immer nannte. Sie hielt mit der Hand ihre Kapuze fest, die der Wind herunterzuwehen drohte, und ging zum Bug des Schiffes, wo sich noch ein paar Kunden aufhielten. Einige filmten das Wellenspektakel mit ihren Handykameras, ein Seegang, den man in der Flensburger Außenförde nur selten sah.

Die Valeria bekam erneut leichte Schlagseite. Der Boden unter Maries Füßen schwankte, und sie hielt sich an der Reling fest. Eine neue Welle der Übelkeit erfasste sie, und sie verfluchte sich innerlich, dieses Schiff je betreten zu haben. Sie atmete mehrmals tief durch. Als sie sich halbwegs besser fühlte, beschloss sie, unter Deck zu gehen.

Die Kajüte, die von allen nur der Salon genannt wurde, war holzvertäfelt und mit urigen Sitznischen und Messinglampen ausgestattet. Es herrschte lautes Stimmengewirr. Die Luft war feucht und stickig, es roch nach Schweiß und Alkohol. Fast alle Plätze waren belegt.

Thomas Pedersen, der aalglatte Leiter der Private-Banking-Abteilung, stieß gerade mit dem jungen, schmucken Yachtmakler Peer Landgraf mit einem Glas Prosecco an, während Andre Hoppstädter vom Investmentcenter den Kopf mit dem Bauunternehmer Bertram Kaminski zusammensteckte. Ihren ernsten Mienen nach zu urteilen, sprachen sie übers Geschäft. Daneben saß Frau Kaminski mit bleichem Gesicht und starrte auf einen imaginären Punkt auf der Tischplatte. Offenbar war Marie doch nicht die Einzige, die mit Übelkeit kämpfte.

Eine junge Frau vom Catering kam aus der Kombüse und balancierte eine Platte mit Fischbrötchen von Tisch zu Tisch, während ihr Kollege hinter einem schmalen Tresen Bier an die Gäste ausschenkte.

Ein weiteres Schwanken brachte die Gläser auf den Tischen zum Rutschen. Jemand lachte nervös, und auch Marie verspürte eine leichte Unruhe. Kaminskis Frau erhob sich von ihrem Platz und lief hastig in Richtung der Toilettenräume. Ihr Mann schien es nicht einmal zu bemerken.

Marie lächelte Svenja van Ulmen zu, der Gründerin von Grønt, einer deutschen Bio-Supermarktkette mit Filialen in Dänemark. Bei ihrem Termin in der nächsten Woche würde Marie ihrer Kundin sagen müssen, dass ein weiterer Firmenkredit von der Bank nicht bewilligt wurde. Denn auch wenn das Geschäft von Grønt in Deutschland mittlerweile boomte, nahm das Nachbarland das Warenangebot nur zögerlich an. Dänemark war bereits das elfte Jahr in Folge Bio-Weltmeister und stand mit einem Bio-Marktanteil von dreizehn Prozent weltweit an der Spitze. Weshalb also auf ein deutsches Angebot zurückgreifen, wenn es regional überall kontrolliert biologische Waren zu kaufen gab?

Marie graute vor der Reaktion der jungen Frau, die einen Großteil ihres Privatvermögens in den Ausbau des dänischen Filialnetzes gesteckt hatte, und wandte schnell den Blick ab.

»Alles in Ordnung, Marie?« Martin Möller, Leiter der Firmenkundenabteilung und ihr direkter Vorgesetzter, musterte sie hinter seiner Goldrandbrille. Er war ein korpulenter Mittfünfziger mit lichtem Haaransatz, dessen leicht hervorstehende Glotzaugen sie immer an die eines Fisches erinnerten. »Du bist ein wenig blass um die Nase.«

Es gehörte zur dänischen Firmenpolitik, dass sich alle Mitarbeiter duzten, doch in Martins Fall wäre Marie ein formeller Abstand lieber gewesen.

»Nein, alles in Ordnung.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie sich Bertram Kaminski von seinem Platz erhob. Offenbar hatte er nun doch vor, nach seiner Frau zu sehen.

»Gut«, sagte Martin. »Dann kümmere dich um die Kunden.«

Marie unterdrückte ein Seufzen und nickte. Small Talk lag ihr nicht. Finanzierungen. Wertanlagen. Kreditvergaben. Damit kannte sie sich aus. Doch sie riss sich zusammen, so wie sie es immer tat.

Sie entdeckte Gerhardt Baumann, den schmächtigen Geschäftsführer von Baumann Clima, allein mit einer Flasche Bier und seinem Smartphone in der Hand in einer der Sitznischen. Er war ein äußerst angenehmer Kunde, höflich und ohne jeglichen Selbstdarstellungsdrang, und sie betreute seine Firmenkonten bereits seit vielen Jahren.

Marie wollte gerade auf ihn zusteuern, als sich die Valeria erneut zur Seite neigte. Ein Glas ging zu Bruch, und ein älterer Herr stürzte zu Boden. Hektik brach aus. Stimmen riefen durcheinander, die Leute hielten sich an den Sitzbänken und den Tischen fest. Marie klammerte sich an den Türrahmen. Hinter ihr lag der Gang zu den Waschräumen und den Kabinen. Zwei ihrer Kollegen halfen dem gestürzten Kunden auf die Beine. Die Passagiere, die sich bislang an Deck aufgehalten hatten, kamen schwankend die Treppe hinunter.

»Alle Passagiere unter Deck«, tönte ein älterer Teilnehmer, dessen leuchtend rote Segeljacke über seinem mächtigen Bauch spannte. »Anweisung vom Kapitän.«

Marie kämpfte gegen die Übelkeit, die jetzt in heftigen Wellen kam. Es fehlte nicht viel, und sie würde sich hier vor allen Leuten übergeben.

Ihr Blick streifte den einer blonden Frau, die von den Waschräumen kam und sich an ihr vorbei in den Salon schob. Katrine Madsen. Hatte sie die Dänin nicht gerade noch an Deck gesehen? Doch vielleicht war es auch Saskia Niekamp gewesen, ihre junge Kollegin aus der Private-Banking-Abteilung. Die beiden Frauen ähnelten sich optisch, zumal alle Mitarbeiter der Bank die gleichen weißen Segeljacken trugen, sodass man sie bei aufgesetzten Kapuzen kaum auseinanderhalten konnte.

Marie fiel auf, dass sie Saskia ohnehin schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte, was ungewöhnlich war. Normalerweise war ihre Kollegin immer omnipräsent.

Die Valeria wurde erneut kräftig durchgeschüttelt.

»Kein Grund zur Beunruhigung«, beschwichtigte Henrik Bo Christensen die Anwesenden. »Wir haben eine sehr erfahrene Segelcrew, die uns sicher zurück in den Hafen bringen wird. Bleiben Sie einfach alle …«

Ein kräftiges Brüllen drang von draußen in den Salon.

Marie konnte die halb vom Wind verschluckten Worte nicht verstehen, doch jemand öffnete die Kajütentür, und im nächsten Moment erklang der lautstarke Ausruf erneut: »Mann über Bord!«

Augustenborg, Dänemark

Jonas Sødergren trat einen Schritt von der Leinwand zurück, um seine letzten Pinselstriche zu betrachten. Der helle Puderton, den er oberhalb des Wangenknochens aufgetragen hatte, hob das Dunkel der Augenschatten hervor. Doch er war noch nicht gänzlich zufrieden, setzte den Pinsel erneut an und akzentuierte den Bereich mit wenigen schnellen Strichen, ehe er wieder Abstand nahm und sein Werk ein weiteres Mal begutachtete.

Seit einer Woche arbeitete er an dem Bild, doch ihm blieb noch etwas Zeit, es fertigzustellen. Übernächsten Donnerstag fand die Vernissage anlässlich seiner ersten eigenen Ausstellung statt, und die Stellprobe würde einige Tage vorher erfolgen.

Insgesamt wurden fünfundzwanzig seiner Werke gezeigt. Sie waren bereits im Vorfeld ausgewählt worden, und auch der Hängungsplan war unter Berücksichtigung der Lichtverhältnisse und Proportionen der Ausstellungsräume schon vor Wochen erarbeitet worden. Ein stimmig ausgewählter Rahmen hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung des Kunstobjekts beim Betrachter. Die Verantwortlichen überließen daher nichts dem Zufall und hatten die Stellprobe geplant, um alle ästhetischen Gesichtspunkte seiner Bilder im Einklang mit der Architektur der Ausstellungsräume zu überprüfen.

Jonas fuhr sich mit der Hand über das raspelkurze dunkle Haar, wo vor Kurzem noch ein unbändiger dichter Schopf gewesen war. Es fühlte sich ungewohnt nackt an. Doch es passte zu dem neuem Jonas. Dem fünfundzwanzigjährigen aufstrebenden Künstler, wie man ihn kürzlich in einem Artikel bezeichnet hatte. Er konnte noch immer nicht fassen, dass er Teil des beeindruckenden Augustenborg Projects geworden war, das Kunst, Gastronomie und kreatives Arbeiten vereinte. In dem hochherrschaftlichen Gebäude, das früher Teil der Augustenborger Psychiatrie und des Schlosses Augustenborg gewesen war, hingen jetzt Kunstwerke anstatt weißer Kittel an den Wänden, im ersten Stock waren Ateliers untergebracht und im Souterrain ein Café mit Restaurant sowie eine Weinbar. In einem der Nebengebäude, das wie das Haupthaus direkt an den Schlosspark grenzte, hatte man wunderschöne Ferienwohnungen eingerichtet, um kunstinteressierte Gäste aus ganz Dänemark und auch aus dem Ausland nach Augustenborg zu locken. Ein Ort, der Kunstschaffenden den Freiraum gab, um an ihren Ideen zu arbeiten und ihre Bilder einem breiten Publikum im Rahmen einer öffentlichen Ausstellung zu präsentieren.

Jonas war stolz darauf, dass man ausgerechnet ihn als »Artist in Residence« für das Augustenborg Project ausgewählt hatte. Hier konnte er all seine familiären Probleme ausblenden und sich ganz auf seine Arbeit fokussieren.

»Ein Ort zum Atmen, Leben, Zusammenarbeiten, Erkunden und Experimentieren« lautete die Leitlinie des Projekts, und er genoss all diese Privilegien in vollen Zügen, dankbar, dass endlich jemand etwas anderes in ihm und seiner Kunst sah als nur seinen Familiennamen.

Schnelle Pinselführung, kontrastreiche Farben und gerade so viele Details wie nötig zeichneten den Stil seiner Bilder aus. Er malte Menschen, doch nie in Gänze, sondern er fing vielmehr den flüchtigen Moment ein, die Energie und die Stimmung, die sie in ihm auslösten. Ihn inspirierte das Unvollkommene und Unausgesprochene, und er versuchte, mit wenigen Pinselstrichen das Element zu treffen, das seine Motive zum Leben erweckte. Jedes seiner Bilder erzählte eine Geschichte.

Jonas’ Blick glitt für einen Moment durch das Künstleratelier, das man ihm neben einem kleinen Apartment zur Verfügung gestellt hatte. Ockerfarbene Ziegelwände, an den Längsseiten unverputzt, zum Fenster und zur Tür hin verspachtelt und weiß gestrichen, der Boden war aus rot gefärbtem Beton gegossen. Auf einem Tisch standen zahlreiche Lacke und Farbdosen, auf Pappunterlagen trocknete aus Tuben gequetschte und gemischte Acrylfarbe vor sich hin, in ausgedienten Konservendosen weichten Pinsel im trüben Wasser. Herumliegende Tücher verbreiteten einen leicht stechenden Geruch von Lösungsmitteln. Überall lehnten fertiggestellte Bilder an den Wänden, zudem ein paar frische Leinwände, die darauf warteten, dass ihnen Leben eingehaucht wurde.

Hinter den Fenstern war es bereits seit Stunden dunkel. Jonas trank einen Schluck seines Energydrinks und warf einen Blick auf sein Handy, das er während seiner Arbeit auf lautlos gestellt hatte.

Das Display zeigte einen verpassten Anruf und den Eingang einer Voicemail an. Beide stammten von Malthe.

Er runzelte die Stirn. Was wollte sein Bruder von ihm? Nach so langer Zeit? Es war eine halbe Ewigkeit her, seit sie zuletzt miteinander gesprochen oder sich vielmehr angebrüllt hatten. »Du kannst mir mal den Buckel runterrutschen« war eines der letzten Dinge, die er seinem Bruder an den Kopf geworfen hatte, gefolgt von einem »Verpiss dich endlich aus meinem Leben«.

Seitdem herrschte Funkstille zwischen ihnen.

Weshalb also rief sein Bruder ausgerechnet jetzt an? Vielleicht war etwas mit seinen Eltern, doch im Grunde wollte er es gar nicht wissen. Deren ganzes Heile-Welt-Getue kotzte ihn schon seit Langem an. Vielleicht hatte Malthe von seiner Ausstellung erfahren. Augustenborg und Stolbro, wo seine Familie lebte, lagen keine zehn Kilometer voneinander entfernt, und die hiesige Presse hatte die Veranstaltung bereits ankündigt.

Sein Finger schwebte über der Löschtaste der Voicemail, dann übermannte ihn doch die Neugier, und er hörte die Nachricht ab.

Sein Bruder klang betrunken, faselte irgendetwas von einem Segeltörn und einer Valeria, ehe er hysterisch zu schluchzen begann. Was zum Teufel, dachte Jonas. Malthe, der Hyperkorrekte, heulte er etwa ernsthaft wegen irgendeiner dämlichen Regatta?

»Sie ist über Bord gegangen«, lallte Malthe jetzt ins Telefon. »Saskia. Einfach weg.« Die nächsten Worte waren kaum zu verstehen. Irgendetwas mit Außenförde und Polizei. Dann ertönte erneut hysterisches Schluchzen, und das Gespräch brach abrupt ab.

Sekundenlang blieb Jonas regungslos mit dem Handy in der Hand stehen, schließlich rief er das Internet auf und gab ein paar Schlagwörter in die Suchmaschine ein. Eine Meldung von ESYS, dem Ticker für aktuelle Seenotfälle, über eine vermisste Seglerin ploppte auf. Es wurde nirgends Saskias Name genannt, doch der Bericht bestätigte, dass in der Geltinger Bucht am frühen Freitagnachmittag eine junge Frau aus noch ungeklärten Gründen über Bord einer Segelyacht gegangen war. Die umgehend eingeleitete Suchaktion war bis zum Abend ergebnislos verlaufen, würde aber am nächsten Tag fortgesetzt werden.

Jonas legte sein Handy beiseite. Er griff erneut nach dem Pinsel, tunkte ihn in ein dunkles Anthrazit und fuhr damit über das komplette Bild auf der Staffelei. Die mühsam herausgearbeiteten Konturen verschwanden.

2. Kapitel

Esbjerg, Dänemark – fünf Tage später

Rasmus Nyborg schlug die langen Beine übereinander. Neben ihm saßen Polizeidirektor Thure Christensen, Esbjergs neu gewählter Bürgermeister Morten Kaare Hækkerup und Mikkel Bødkov, verantwortlich für die Polizeistation im Rathaus Krydset am Stengårdsvej, und diskutierten seit einer guten halben Stunde, ob die Polizei zusätzliche Ressourcen für das gefährdete Wohngebiet freistellen konnte. In der Nacht von Sonntag auf Montag war es zu einer Schießerei mit zwei Toten gekommen, die unweit des Stengårdsvejs stattgefunden hatte.

»Das sind kriminelle Banden, die in der Bevölkerung für Unsicherheit sorgen, mehr als zuvor«, tönte der Bürgermeister und schlug damit in die Kerbe des Justizministers, der bei der Einweihung der Polizeistation im letzten Jahr ganz ähnliche Worte verwendet hatte.

Rasmus sah die Entwicklung der Bandenkriminalität ebenso besorgt. Vor vier Jahren war Esbjerg auf die Liste der dänischen Städte gerutscht, in denen ein Bandenkrieg herrschte. Auslöser war ein persönlicher Streit zwischen Mitgliedern der Kvaglundbande und der Stengårdsvejbande gewesen, zudem kämpften beide Gruppen um die kriminelle Vorherrschaft in der Hafenstadt.

Mit der neuen Polizeistation und härteren Strafen hatten sie die Situation jedoch weitestgehend in den Griff bekommen, und anders als im benachbarten Schweden gingen die Bandenmitglieder in Esbjerg bislang nur gezielt gegen ihre Rivalen vor. Doch natürlich mussten die Schießereien im öffentlichen Raum beendet werden.

»In Bezug auf Sicherheit sind wir am Stengårdsvej heute viel besser aufgestellt als vor zwei Jahren«, warf Thure Christensen gerade ein. Der Polizeidirektor, ein auffallend großer und kräftiger Endfünfziger mit silbergrauem Haar, bezog sich damit auf das Bandenpaket III, wodurch eine Verurteilung wegen Gewalt und Bandenkriminalität unter anderem dazu führte, dass die Schuldigen und die Haushaltsmitglieder an einen anderen Ort umziehen mussten. Ein klares Zeichen der Polizei und der Gemeinde Esbjerg, um größtmöglichen Druck auf das Bandenumfeld auszuüben, gegen die Kriminalität vorzugehen und mehr Sicherheit zu schaffen. »Es ist die erste Schießerei seit Langem, bei der ein Bandenmitglied beteiligt ist. Ich denke, wir sollten abwarten, wie sich die Lage entwickelt, ehe wir die Polizeistation mit weiteren Beamten aufrüsten, die an anderer Stelle womöglich dringender benötigt werden.«

Obwohl Rasmus mit dem Polizeichef seit dem Mord an seiner früheren Chefin, Vizepolizeiinspektorin Eva-Karin Holm, nicht auf bestem Fuß stand, nickte er beifällig. Seiner Meinung nach kam die Bedrohung für ihre Stadt ohnehin aus ganz anderer Richtung. Die niederländische Satudarah-Gruppe, die sich selbst als multikultureller Motorradklub bezeichnete und deren Name Satu »ein Blut« bedeutete, war in Dänemark auf dem Vormarsch und hatte Anfang des Jahres, nachdem sie zuletzt Standorte in Randses, Aalborg und Odense eröffnet hatte, bekannt gegeben, sich auch in Esbjerg niederzulassen. Dafür hatten sich siebenunddreißig Mitglieder der Rockergruppe vor den weißen Statuen Der Mensch am Meer ablichten lassen, maskiert und mit der Botschaft »Welcome West End«.

»Was sagst eigentlich du dazu, Rasmus?«, fragte der Bürgermeister, als könnte er seine Gedanken lesen. »Du bist doch an den Ermittlungen in dem Fall beteiligt, und wenn ich richtig informiert bin, hast du in Kopenhagen unter anderem der Abteilung Organisierte Kriminalität angehört. Wie ist deine Einschätzung?«

Sämtliche Blicke richteten sich auf Rasmus.

Er räusperte sich. »Ich sehe das ganz ähnlich wie Thure. Der Täter sitzt hinter Schloss und Riegel und ist geständig. In dem Fall ging es um eine Familienfehde, die eskaliert ist, und nicht um einen Bandenkonflikt.« Er beugte sich vor. »Meiner Meinung nach sollte es bei dieser Diskussion nicht nur um die Situation am Stengårdsvej gehen, sondern generell um die Ressourcen der Polizei. In den sozialen Netzwerken sind Videos aufgetaucht, dass die Satudarah-Gruppe eine alte Autowerkstatt in Sædding renoviert. Möglicherweise wollen sie das Gebäude als Klubhaus nutzen. Darauf sollten wir unser Augenmerk richten.«

»Dafür ist das NSK zuständig«, erwiderte der Bürgermeister. Das »National enhed for Særlig Kriminalitet« war eine neu gegründete Sondereinheit der dänischen Polizei, die sich landesweit mit der Ermittlung und Verfolgung von komplexer Wirtschaftskriminalität, organisierter Kriminalität und Cyberkriminalität befasste.

Rasmus nickte. »Trotzdem sind wir die Polizei vor Ort. Wir benötigen nicht nur mehr Präsenz, sondern auch Lösungen, um das Eindringen der Satudarah zu verhindern. Wir können diese Herausforderung nur gemeinsam stemmen. Und es ist Aufgabe der Politik, für genügend Ressourcen bei der Polizei zu sorgen.«

»Rasmus hat recht«, pflichtete ihm der Polizeidirektor bei. »Wir haben nicht genügend Personal für dieses Ausmaß an Bandenkriminalität. Meine Leute schieben schon jetzt permanent Überstunden.«

Morten Kaare Hækkerup verzog das Gesicht. »Das liegt an den Grenzkontrollen.«

Die dänische Polizei hielt fast dreihundert Vollzeitstellen für die Grenzkontrollen vor, von denen allein knapp zweihundert von den Ressourcen der Syd- og Sønderjyllands Politi stammten. Das führte nicht nur zu Personalknappheit in ihren Dienststellen, sondern mitunter auch zu langen Wartezeiten an den Grenzübergängen.

»Und auch das ist die Verantwortung der Politik«, schob Thure Christensen hinterher.

Rasmus wollte seinem Vorgesetzten gerade zustimmen, um Morten Kaare Hækkerup damit zum Umdenken zu bewegen, als das Handy an seinem Oberschenkel vibrierte. Er zog es unter den hochgezogenen Brauen des Bürgermeisters aus der Hosentasche. Das Display zeigte die Nummer der Leitstelle.

Rasmus erhob sich. »Tut mir leid, aber da muss ich rangehen.« Er deutete auf das Telefon in seiner Hand und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro.

»Hej, Rasmus.« Der diensthabende Beamte kam ohne Umschweife zur Sache. »In Sønderby Strand auf Kegnæs wurde eine Leiche angespült. Laut den Kollegen vor Ort könnte es sich um ein Tötungsdelikt handeln.«

»Ich fahre hin«, erwiderte Rasmus. »Schick mir die Adressdaten aufs Handy. Und verständige Søren Molin bei den Kollegen in Sønderborg. Er soll mich vor Ort treffen. Hej hej.« Er legte auf und ging zurück ins Büro des Bürgermeisters, um seine Jacke zu holen.

»Einsatz«, informierte er den Polizeidirektor. »In Sønderby wurde eine Leiche gefunden.«

»Wenigstens nicht am Stengårdsvej«, murmelte der Bürgermeister.

»Jeder Tote ist einer zu viel«, entfuhr es Rasmus scharf.

Die Augen des Bürgermeisters wurden schmal.

Rasmus presste die Lippen zusammen. Eigentlich hätte er mehr zu sagen gehabt, doch er hatte in der Vergangenheit bereits genügend Probleme mit Vorgesetzten und Entscheidungsträgern gehabt und hielt sich lieber zurück. Der Bürgermeister sorgte sich augenscheinlich ohnehin mehr um das Ansehen seiner Stadt als um ein Menschenleben. Zudem musste seine Personalakte nicht unnötig dicker werden, als sie es bereits war. Erst im letzten Jahr hatte ihn Interimschef Kasper Saltum wegen Missachtung einer Dienstanweisung, in deren Folge es zu einem Schusswechsel mit einem Tatverdächtigen gekommen war, vom Polizeidienst freigestellt. Es hatte eine interne Untersuchung gegeben, an deren Ende man übereingekommen war, dass Rasmus nicht anders hatte handeln können, als zu schießen. Was die Sache mit der Dienstanweisung anbelangte, hatte man es bei einer Verwarnung belassen. Seine Beförderung zum Chef der Mordkommission, die ihm von Eva-Karin Holm vor ihrem Tod in Aussicht gestellt worden war, hatte er sich damit natürlich endgültig abschminken können.

»Heute kommt die neue Abteilungsleiterin«, erinnerte ihn Thure Christensen prompt.

»Ich werde sie dann später begrüßen.« Rasmus schnappte sich seine Jacke, nickte kurz in die Runde und verschwand aus der Tür.

Der Regen der letzten Nacht hatte sich verzogen, und strahlender Sonnenschein tauchte die Stadt in helles Licht, als Rasmus aus dem Rathaus trat. Auf dem Weg zum Parkplatz rief er seinen Kollegen Mads Østergård an und bat ihn, im Büro die Stellung zu halten, bis die neue Chefin der Mordkommission eintraf. Wie erwartet hatte Mads keine Einwände. Sie arbeiteten jetzt seit knapp anderthalb Jahren Seite an Seite und kamen gut miteinander aus. Gemeinsam hatten sie Kasper Saltum überstanden, das schweißte zusammen. Der unsäglich arrogante Interimschef, der vorübergehend die Abteilung übernommen hatte, war erst vor Kurzem zurück nach Kopenhagen beordert worden, und sie hatten das ausgiebig mit ein paar Bier begossen.

An seinem alten hellblauen VW-Bus angekommen, zündete Rasmus sich noch schnell eine Zigarette an und lehnte sich gegen den Kotflügel.

Er war gespannt auf die neue Chefin. Maja Eriksen aus Aalborg. Wie sie wohl so war? Hoffentlich keine dieser ganz Korrekten, die ihn an die kurze Leine legte.

Vor Jahren hatte er mal eine Maja gekannt. Maja Malling. Eine Klassefrau. Brünett, mit einer Hammerfigur, schlagfertig und temperamentvoll. Während ihrer Ausbildungszeit in Kopenhagen hatten sie eine kurze, heftige Affäre gehabt. Damals hatte er Camilla noch nicht gekannt. Er blies einen Rauchkringel in die Luft, verlor sich für einen kurzen Moment in seinen Erinnerungen, dann klemmte er sich die Zigarette zwischen die Lippen und schwang sich auf den Fahrersitz seines Bullis.

Sønderby Strand, Dänemark

Es war bereits kurz nach elf, als Rasmus rund einhundertachtzig Kilometer von Esbjerg entfernt in seinem VW-Bus den schmalen Damm passierte, der das südliche Als von der Halbinsel Kegnæs trennte. Links und rechts der Fahrbahn glitzerte das Meer.

Die Landschaft war sehr flach und dünn besiedelt, kleine Siedlungen und Gehöfte, zahlreiche Wälder und schöne Strände. Ideal für Menschen, die Abgeschiedenheit und Erholung suchten. Nur in den Sommermonaten erwachte die Halbinsel zum Leben, und ganze Hundertschaften von Touristen bevölkerten die am Wasser gelegenen Campingplätze, während sich die Städter in den ehemaligen Fischerhäuschen ihr Feriendomizil einrichteten.

Hinter dem Ortsschild Sønderby fuhr Rasmus an ein paar rot verklinkerten Häusern vorbei, ehe sich zu seiner Linken die weiß gekalkte Kegnæs Kirke vor dem leuchtend blauen Himmel erhob. Ein paar tief hängende Zweige schabten über das Dach des Bullis, als er in die enge Straße bog, die zum Strand führte. Dichte Gebüsche zur einen Seite, zur anderen grüne Wiesen und ein paar mit Stroh bedeckte Fachwerkhäuser. Hin und wieder blitzte zwischen den Bäumen ein Dannebrog hervor, ehe das Gelände schließlich in einen Campingplatz überging.

Hinter der nächsten Biegung entdeckte er die Einsatzfahrzeuge der Polizei, die auf einem Parkplatz vor einer dicht bewachsenen Hecke abgestellt worden waren.

Rot-weißes Flatterband versperrte den Durchgang zu einer Metalltreppe, die zum Strand hinunterführte. Ein paar Schaulustige drängelten sich um die beste Sicht.

Rasmus parkte seinen Bulli hinter dem Transporter der Spurensicherung und zog sich Schutzkleidung über, ehe er dem Uniformierten am Durchgang seinen Dienstausweis zeigte. Wind kam auf und ließ das Polizeiband flattern.

Er ging die Metalltreppe zum Strand hinunter. Wenige Meter vor ihm führte ein etwa zwanzig Meter langer Badesteg in die Flensburger Förde hinein. Das Wasser schimmerte türkis im Sonnenlicht, ein paar Seevögel zogen am Himmel ihre Kreise. In der Ferne war schemenhaft die deutsche Küste zu erkennen.

Was für eine Idylle, dachte Rasmus und stapfte mit seinen blauen Überschuhen durch den Sand. Der Geruch von Salz und Seetang stieg ihm in die Nase.

Der Strand war an die fünfzehn bis zwanzig Meter breit, hell und feinsandig, mit Steinen und Tang. Unter seinen Sohlen zerbarsten Muschelschalen wie dünnes Glas.

Auf etwa halber Höhe der Bucht hatten Kriminaltechniker ein weißes Zelt aufgestellt, um die Leiche vor neugierigen Blicken und Wettereinflüssen zu schützen. Auch hier scharten sich Schaulustige hinter dem Absperrband und richteten ihre Handykameras auf das Geschehen.

Søren Molin von der Polizei Sønderborg stand etwas abseits und telefonierte, ein vollbärtiger Hüne mit kurz geschorenen blonden Haaren, die jetzt unter der Kapuze seines Overalls versteckt waren. Er gehörte genau wie Rasmus zu der deutsch-dänischen Sondereinheit, die bei Tötungsdelikten in der Grenzregion zusammengerufen wurde. Ihr letzter gemeinsamer Fall lag rund zehn Monate zurück, ein Serienverbrechen, das für das Ermittlerteam einiges an Nachwehen bedeutet hatte. Der grauenhafte Tod von Eva-Karin Holm verfolgte Rasmus bis heute in seinen Träumen, und auch die Narbe an seinem linken Oberarm erinnerte ihn nahezu täglich daran. Manche Spuren würden für immer bleiben.

Søren beendete sein Telefonat und kam ihm entgegen. »Hej, Rasmus.« Er schlug ihm zur Begrüßung mit seiner schaufelgroßen Hand freundschaftlich auf die Schulter. Bei einem Einsatz vor zwei Jahren war Søren lebensgefährlich verletzt worden, seitdem beharrte er darauf, dass Rasmus sein Lebensretter war, und hatte ihn letzten Herbst sogar zum Trauzeugen ernannt. Das gesamte Team hatte Sørens und Brigittes Hochzeit gefeiert. Feucht, fröhlich und unbeschwert. Auch Vibeke Boisen. Es schien Lichtjahre her zu sein. Er schob den Gedanken an die Flensburger Ermittlerin beiseite.

»Schön, dich zu sehen.« Rasmus lächelte angespannt. »Andere Umstände wären mir allerdings lieber gewesen.«

Søren nickte. »Eine Anwohnerin war heute Morgen mit ihrem Hund am Strand spazieren und hat die Leiche im Wasser entdeckt.« Seine Augen blickten ernst. »Die Kollegen haben die Tote bereits geborgen. Es könnte sich um die vermisste Seglerin handeln, die letzten Freitag bei einem Segeltörn über Bord gegangen ist. Saskia Niekamp. Eine Bankerin aus Flensburg. Sie trägt noch die Jacke mit dem Logo der Sønderjylland Bank. Die hatten ein Kundenevent auf einem Schiff.«

»Das erleichtert uns zumindest die Identifizierung.« Rasmus sah zum Zelteingang, hinter dem ein Kriminaltechniker gerade Fotos der Toten machte. Nicht selten kam es vor, dass die Bekleidung von Wasserleichen aufgrund der Strömung zerrissen wurde oder sogar vollständig verloren ging. Zudem wirkten sich neben dem eintretenden Verwesungsprozess zahlreiche weitere Einflüsse auf den Zustand der Leiche aus und erschwerten die Identifizierung. Treibverletzungen, Algenbewuchs, Verunreinigungen durch das Wasser, insbesondere durch den Bakteriengehalt, oder Tierfraß. Hin und wieder kam es zu Verletzungen durch Schiffsschrauben, dabei wurden zum Teil ganze Gliedmaßen abgetrennt.

Eine Bankerin aus Flensburg, dachte Rasmus. Der Gedanke an Vibeke kehrte zurück. Er hatte sie seit der Trauerfeier für Eva-Karin weder gesehen noch gesprochen. Jeder seiner Anrufe war auf ihrer Mailbox gelandet und unbeantwortet geblieben.

»Hast du in letzter Zeit etwas von Vibeke gehört?«, erkundigte er sich.

Søren schüttelte den Kopf. »Sie hat wohl vor einer Weile mit Pernille telefoniert. Aber dabei ging es nur um eine Sache bei der Nachbereitung unseres letzten Falls.« Sein Blick wanderte in Richtung Parkplatz. »Ich denke aber, dass sie hier bald aufschlägt. Jedenfalls kümmert sich das GZ darum, dass die Deutschen jemanden herschicken.«

Rasmus sah einem Wiedersehen mit Vibeke mit gemischten Gefühlen entgegen. Wie würde sie auf ihn zugehen, nachdem sie ihn ganze zehn Monate ignoriert hatte? Und wie sollte er sich verhalten? Er unterdrückte ein Seufzen. Dieser ganze zwischenmenschliche Kram lag ihm nicht. Vor allem Frauen waren manchmal so verdammt kompliziert. Immer wenn man dachte, man wüsste, wie sie tickten, bewiesen sie einem das Gegenteil, und Vibeke Boisen war in dieser Hinsicht ein ganz besonderes Exemplar.

»Schauen wir uns die Leiche an, ehe sie sich weiter auflöst.«

Nach der Bergung aus dem Wasser schritt die Verwesung rasch voran. Bereits nach wenigen Stunden konnte eine bis dahin gut erhaltene Leiche hochgradige Fäulniserscheinungen mit monströser Auftreibung des Körpers zeigen, insbesondere in der Kopf- und Halsregion.

Schweigend gingen die beiden Ermittler die wenigen Schritte zum Zelt, aus dem gerade einer der Kriminaltechniker herauskam. Es war Henrik Knudsen, der Chef der Spurensicherung, ein korpulenter Endfünfziger mit buschigen Brauen und dunklen Knopfaugen.

»Hej, Henrik!«

»Hej, Rasmus.« Knudsen deutete mit dem Kopf hinter sich. »Kein besonders schöner Anblick.«

»Das hatte ich befürchtet.« Rasmus folgte Søren ins Zelt. Trotz Mundschutz stieg ihm starker Verwesungsgeruch in die Nase. Sein Magen rebellierte augenblicklich.

Ein Spurentechniker kniete am Boden vor dem Opfer und sicherte unter Mithilfe von Klebeband Mikrospuren an der Kleidung. Jetzt erhob er sich und gab die Sicht auf die Leiche frei.

»Heilige Scheiße«, flüsterte Søren.

Die Tote trug eine tropfnasse Segeljacke, der Rumpf war aufgebläht, das Haar schlammverkrustet, die Farbe schwer definierbar, sie bewegte sich irgendwo zwischen blond und dunkelbraun. Die Gesichtskonturen hatten begonnen, sich aufzulösen, die Haut schimmerte leicht marmoriert. Fäulnisgase.

Rasmus schluckte. Die Jeans des Opfers war am linken Knie und am rechten Bein bis zum Oberschenkel aufgerissen, die darunterliegenden Hautschichten bis hin zum Knochen aufgeschürft, die Schuhe fehlten. An Händen und Füßen hatte sich die Oberhaut handschuhartig abgelöst.

Rasmus’ Blick heftete sich auf Mund und Nase, suchte nach dem feinblasigen Schaumpilz, der sich bei Ertrunkenen um die Atemöffnung herum bildete, doch er fehlte. Natürlich konnte er eingetrocknet oder während der Bergung abgestreift worden sein, doch genauso gut konnte es sich um ein Indiz dafür handeln, dass die Frau bereits tot gewesen war, als sie ins Wasser gelangte. Der Grund, weshalb die Mordkommission verständigt worden war.

Sein Blick wanderte weiter zum Hals der Toten. Auch hier waren die Fäulniserscheinungen schon fortgeschritten, doch in Höhe des Kehlkopfes zeichnete sich eine horizontale, gleichförmige dunkle Hautverfärbung ab.

»Wer hat die Leiche geborgen?«, fragte Rasmus, an Søren gewandt. Unerfahrene legten beim Bergen häufig ein Seil um den Hals der Leiche, um sie daran aus dem Wasser zu ziehen. Mitunter wurden dadurch postmortale Strangulationsverletzungen erzeugt.

»Die Kollegen aus Sønderborg zusammen mit Falck.« Falck war ein Rettungsunternehmen, mit dem die Polizei in der Region Süddänemark zusammenarbeitete.

Rasmus deutete auf die Hautverfärbung am Hals. »Es könnte eine Drosselmarke sein.«

Søren nickte. »Das ist wohl auch der Grund, weshalb die Mordkommission verständigt wurde.«

»Guten Tag, die Herrschaften!«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Rasmus drehte sich um und entdeckte Dr. Adam Larsen vom Rechtsmedizinischen Institut in Odense mit seiner Arzttasche in der Hand und seinem Assistenten im Schlepptau. Beide Männer standen am Zelteingang und trugen die obligatorische Schutzkleidung.

»Hej, Adam«, begrüßte er den Rechtsmediziner. Sie hatten in der Vergangenheit bereits mehrfach miteinander zu tun gehabt.

»Ich sehe mir die Leiche direkt an, ehe die Fäulnis weiter voranschreitet«, sagte Adam Larsen. »Und dann müssen wir sie schleunigst ins Institut schaffen.« Er wandte sich an Henrik Knudsen, der sich gerade neben ihm ins Zelt schob. »Wurde etwas verändert? Irgendwelche Bergungsverletzungen?«

Zwischen den Augen des Kriminaltechnikers bildete sich eine steile Falte. »Hier arbeiten Profis.«

»Gut. Gut.« Der Rechtsmediziner und sein Assistent kamen ins Zelt.

»Ich mache hier mal Platz.« Rasmus begab sich zurück ins Freie. Er lüpfte seinen Mundschutz und atmete mehrfach tief durch.

»Wasserleichen sind am schlimmsten«, sagte Søren, der ihm nach draußen gefolgt war. »Ich frage mich, was auf dem Segelschiff passiert ist. Vielleicht Leichendumping.«

Rasmus zog die Kapuze von seinem Kopf. »Sagtest du nicht irgendetwas von einem Kundenevent? Da müsste doch jemand etwas mitbekommen haben, wenn da einer einfach so eine Leiche verschwinden lässt.« Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, und er begann unter seinem Spurensicherungsoverall zu schwitzen. »Wir sollten abwarten, was Adam sagt.«

Die beiden Ermittler blickten zum Zelteingang und beobachteten den Rechtsmediziner und seinen Assistenten dabei, wie sie die erste Leichenschau vornahmen.

»Ah, da kommt Vibeke.« Sørens Blick war auf einen Punkt hinter Rasmus gerichtet.

Er wandte sich um.

Eine schmale Gestalt mit spitzen Schultern unter dem Spurensicherungsoverall kam ihnen mit entschlossenen Schritten entgegen. Rasmus verspürte einen Anflug von Freude, doch er blieb abwartend stehen.

»Hej, ihr!« Vibeke klang freundlich, aber distanziert. Dabei schien sie noch schmaler und blasser, als er sie in Erinnerung hatte. Ihre Wangen wirkten eingefallen, und unter ihren hellen Augen, die ihn in ihrer Farbe stets an einen Gletscher erinnerten, schimmerte die Haut bläulich, verriet den fehlenden Schlaf. Ihr hellbraunes Haar war unter der Kapuze versteckt.

Er bemühte sich um einen lockeren Tonfall. »Hej, Vibeke. Wie geht es dir?«

»Gut.« Sie wandte den Blick ab.

»Begrüßt man so seine Lieblingskollegen?« Søren zog Vibeke in eine bärenhafte Umarmung.

Für den Bruchteil einer Sekunde flog ein Lächeln über ihre Lippen, doch bereits mit dem nächsten Wimpernschlag war es wieder verschwunden, und sie löste sich aus der Umarmung. »Man hat mich informiert, dass Saskia Niekamp gefunden wurde.«

Søren nickte. »Wir gehen davon aus, zumindest trägt die Tote eine Segeljacke mit dem Logo der Sønderjylland Bank.«

»Ich habe mir das Foto von der Vermisstenanzeige schicken lassen.« Vibeke zog ihr Smartphone unter dem Overall hervor, scrollte durch eine Bilderdatei und hielt ihnen schließlich das Foto einer jungen Frau entgegen. Blond. Blauäugig. Feine Gesichtszüge. Entschlossener Blick.

Rasmus runzelte die Stirn. »Schwer zu sagen.« Er hatte das Bild der aufgeschwemmten Leiche vor Augen.

»Ich sehe mir die Tote an.« Vibeke setzte einen Mundschutz auf und trat mit dem Smartphone in der Hand durch den Zelteingang.

»Betriebsam wie immer«, stellte Rasmus fest.

»Gut so«, sagte Søren. »Sie hat viel durchgemacht.«

Søren hat recht, dachte Rasmus. Doch Vibeke Boisen zählte zu den zähesten Personen, die er kannte. Sie war nicht nur eine hervorragende Polizistin, sondern besaß dazu Stärke und Charakter. Eigenschaften, die er nicht nur schätzte, sondern vielmehr bewunderte, auch wenn sie ihn mit ihrer Korrektheit hin und wieder zur Verzweiflung brachte.

Er beobachtete, wie sie jetzt mit etwas Abstand die am Boden liegende Tote betrachtete, während Dr. Larsen die Mundhöhle inspizierte. Irgendwann erhob sich der Rechtsmediziner, und die beiden sprachen miteinander. Schließlich kamen sie gemeinsam aus dem Zelt.

»Die Leiche wird gleich abgeholt.« Adam Larsen lüpfte seinen Mundschutz.

»Kannst du schon etwas sagen?«, erkundigte sich Rasmus.

»Ich möchte die Tote lieber erst obduzieren, ehe ich mich festlege.«

»Aber eine erste Einschätzung kannst du uns doch sicherlich vorab geben, oder?«, hakte Rasmus nach. »War die Frau bereits tot, ehe sie ins Wasser gelangte? Ich konnte keinen Schaumpilz erkennen.«

Adam Larsen schmunzelte. »Du stellst die gleichen Fragen wie deine Kollegin.« Er wurde wieder ernst. »Ich weiß nicht, inwieweit ihr mit der Entstehung eines Schaumpilzes vertraut seid.«

»Es hat mit Aspiration zu tun, oder?«, fragte Vibeke.

Der Rechtsmediziner nickte. »Bei einem Ertrinkungstod sprechen wir von einem Vorgang des Erstickens mit einem flüssigen Medium. Wasser übt eine starke Reizwirkung auf das Atemzentrum aus. Gelangt es durch die Inspiration, also die Einatmung, in die Atemwege, versucht der Körper, es durch reflektorisch heftiges Husten wieder nach außen zu befördern. Dadurch erfolgt zwangsläufig eine Aspiration, also ein Einatmungssog, bei dem erneut Wasser in die Atemwege eindringt.« Er legte sich zur Unterstreichung seiner Worte die Hand auf die Brust. »Die Atmung gerät dabei völlig außer Kontrolle. Wasser, Schleim aus den Bronchien und die noch in den Atemwegen vorhandene Luft vermischen sich durch die krampfhaften Bewegungen zu einem feinblasigen Schaum, den man im Allgemeinen als Schaumpilz kennt und der in der Regel als Beweis dafür gesehen wird, dass die Person beim Untergehen im Wasser gelebt hat.«

Die Ermittler nickten unisono.

»Allerdings sind bei Personen, die bewusstlos ins Wasser gelangen, die Aspiration und damit die Ertrinkungszeichen nicht ganz so stark ausgeprägt.« Der Rechtsmediziner machte eine bedeutungsvolle Pause.

»Sie könnte also noch gelebt haben«, stellte Rasmus fest.

»Durchaus. Doch das lässt sich nur durch eine Obduktion endgültig klären.«

»Und die Strangulationsspuren am Hals?«

»Dazu sage ich dir mehr, sobald ich die Leiche auf dem Tisch habe.« Der Blick des Rechtsmediziners glitt zu Vibeke. »Gibt es Unterlagen über den Zahnstatus der Vermissten? Oder Angehörige, mit denen wir die DNA abgleichen können?«

»Ich kümmere mich darum.«

Adam Larsen warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich nehme den Abgleich vor, sobald ich das Material habe.« Er setzte seinen Mundschutz auf und ging zurück ins Zelt.

Rasmus wandte sich an Vibeke. »Nimmst du an der Obduktion teil?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich fahre zurück nach Flensburg und kümmere mich um das Abgleichsmaterial.« Ihre Miene war vollkommen ausdruckslos. »Ruf mich an, sobald die Identität bestätigt ist. Sollte die Frau tatsächlich stranguliert worden sein, spreche ich mit Petersen. Bis später.« Ein flüchtiges Lächeln streifte ihre Lippen, dann drehte sie sich um und stapfte über den Strand davon.

Søren trat neben Rasmus. »Sie hätte auch jemanden beauftragen können, den Zahnstatus zu besorgen.«

Rasmus nickte. »Sie weiß, dass es ein Fall für die Sondereinheit werden wird, wenn sich der Verdacht auf ein Tötungsdelikt bestätigt. Vielleicht macht ihr das zu schaffen.«

»Sie wird das schon wuppen«, sagte Søren. »So wie wir alle.« Gemeinsam blickten sie der schmalen Gestalt hinterher.

Odense, Dänemark

Rund fünf Stunden später trat Rasmus aus dem Obduktionssaal und schloss die Tür hinter sich. Ihm war kotzübel. All die Sekrete, Eingeweide und Gefäße und dazu dieser entsetzliche Gestank. Es hatte nicht viel gefehlt, und er hätte seinen Mageninhalt zum Zeitpunkt der Organentnahme direkt vor die Füße des Rechtsmediziners geleert.

Er lüpfte seinen Mundschutz, doch auch das Gemisch aus klimatisierter Luft und Desinfektionsmitteln konnte den stechenden Verwesungsgeruch, der ihm noch immer in der Nase hing, nicht gänzlich überdecken. Die Zersetzung des Leichnams war während des Transports in die Rechtsmedizin weiter vorangeschritten, trotzdem hatte Dr. Larsen die Tote mithilfe ihrer Zahnschemakarte eindeutig als Saskia Niekamp identifizieren können. Bei der Obduktion war darüber hinaus eine ausgedehnte ballonartige Überblähung an der Lunge erkennbar gewesen, was dafür sprach, dass das Opfer bewusstlos ins Wasser gelangt war. Zudem hatte sich durch die feingewebliche Untersuchung unter dem Mikroskop der Verdacht bestätigt, dass Saskia Niekamp zuvor stranguliert worden war.

Wer tat so etwas? Wer strangulierte eine Frau bis zur Bewusstlosigkeit und entsorgte sie anschließend wie ein achtlos weggeworfenes Stück Müll in der Förde? Noch dazu während eines Kundenevents. Eine Person ohne jeglichen Skrupel. Dies war zumindest die naheliegendste Erklärung, doch aus Erfahrung wusste Rasmus, dass es sich nicht immer ganz so einfach verhielt. Oftmals war die Motivation, einen Menschen zu töten, wesentlich vielschichtiger, und er beschloss, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Alles, was er zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit sagen konnte, war, dass sie es mit einem Tötungsdelikt und einem Fall für die Sonderheit zu tun hatten. Und dass die Obduktion noch nicht vollständig abgeschlossen war. Er hatte vorgeschützt, Vibeke Boisen dringend über die Identität des Opfers informieren zu müssen, doch Tatsache war, dass er es keine Sekunde länger mit der aufgeschnittenen Leiche im selben Raum ausgehalten hätte. Noch immer war sein Magen in Aufruhr.

Rasmus haderte mit sich, ob er in den Obduktionssaal zurückkehren sollte, doch am Ende hielt man ihn für unprofessionell, wenn er es nicht tat. Ehe er eine Entscheidung traf, würde er allerdings Vibeke anrufen, so wie er es Adam angekündigt hatte. Er zog das Handy unter seiner Schutzkleidung hervor und wählte ihre Nummer.

Flensburg, Deutschland

Vibeke legte den Hörer auf. Die Tote war wie erwartet als Saskia Niekamp identifiziert worden. Man hatte sie stranguliert und im bewusstlosen Zustand in die Förde geworfen, wo sie dann ertrunken war. Grausam, dachte sie. Blieb nur zu hoffen, dass die Frau von alldem möglichst wenig mitbekommen hatte.

Sie saß am Schreibtisch ihres Büros im dritten Stock der Polizeidirektion und war gerade die Vernehmungsprotokolle im Fall Manuel Sievers durchgegangen, einem zweiunddreißigjährigen Automechaniker, der im Alkoholrausch seinem achtundsiebzigjährigen Vater mit einer Axt den Schädel eingeschlagen hatte, als Rasmus angerufen hatte.

Der Mord an Saskia Niekamp war ein Fall für die Sondereinheit, und auch wenn der Einsatz formell noch von ihren Vorgesetzten abgesegnet werden musste, hatten sie die ersten Aufgaben verteilt. Während Rasmus die Teammitglieder zusammentrommelte und im GZ, dem Gemeinsamen Zentrum der deutsch-dänischen Polizei- und Zollzusammenarbeit in Padborg, alles für ihre Ankunft am nächsten Tag vorbereiten ließ, würde Vibeke die Angehörigen von Saskia Niekamp informieren, damit sie von ihrem Tod nicht aus der Presse oder durch die sozialen Medien erfuhren.

Vibeke starrte auf das Telefon. Jetzt war es also so weit. Die Sondereinheit kam ein weiteres Mal zum Einsatz. Sie hoffte, dass die Zusammenarbeit mit dem Team, insbesondere mit Rasmus, nicht alles wieder an die Oberfläche spülte, was sie seit Monaten zu vergessen versuchte.

Vielleicht hätte sie doch aus Flensburg weggehen sollen. Dann wäre ihr vieles erspart geblieben. Die Blicke ihrer Kollegen, die Zweifel, die ihr ehemaliger Stellvertreter Klaus Holtkötter mit seinen Boshaftigkeiten über sie in deren Köpfen gesät hatte und die ihr tagtäglich das eigene Versagen vor Augen hielten.

Sie hatte gegen zwei der wichtigsten Ermittler-Regeln verstoßen: objektiv bleiben und Distanz wahren.

Irgendwo da draußen hatte sie ihre Prinzipien verloren, Privates und Berufliches niemals zu vermischen. Dabei hatte sie nur versucht, alles richtig zu machen. Die zu sein, die alle in ihr gesehen hatten. Die perfekte Polizistin. Sie hatte elendig versagt, und das Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben, begleitete sie auf Schritt und Tritt. Trotzdem war Weglaufen keine Option. Sie würde sich den Dingen stellen und ihre Integrität beweisen, dann würden irgendwann die Tuscheleien verstummen. Und vielleicht konnte sie dann auch wieder in den Spiegel sehen.

Vibeke griff nach ihrem Kaffeebecher, dessen Inhalt längst kalt geworden war, und leerte ihn in einem Zug. Anschließend langte sie nach ihrer Jacke und ihrer Umhängetasche und verließ den Raum.

Am Büro ihrer Mitarbeiter blieb sie stehen. Der Platz von Michael Wagner war bereits verwaist, doch an Holtkötters früherem Schreibtisch saß seit Anfang des Jahres Kriminalhauptkommissarin Cornelia Nowak, ihre neue Stellvertreterin. Sie war eine robust gebaute Frau, Mitte fünfzig und Mutter von zwei erwachsenen Söhnen, mit roten Wangen und blonder Kurzhaarfrisur, die sie sich nach eigener Aussage selbst vor dem Spiegel schnitt. Sie hatte eine burschikose und direkte Art, die Vibeke anfangs leicht irritiert hatte, doch mittlerweile war Connie, wie sie von allen genannt wurde, aus ihrem Team nicht mehr wegzudenken. Sie war nicht nur eine erfahrene Polizistin und besaß Herz und Verstand, sondern war auch eine Person, die Probleme ohne Zögern anpackte und nach Lösungen suchte. Unaufgefordert. Etwas, das man von ihrem Vorgänger nicht gerade behaupten konnte.

»Und?« Connie hob den Blick von ein paar Unterlagen. »Hat sich die Rechtsmedizin gemeldet?«

Vibeke nickte. »Der Verdacht hat sich bestätigt. Die Tote ist Saskia Niekamp. Sie wurde stranguliert und anschließend bewusstlos in die Förde geworfen.«

Ein Schatten flog über Connies Gesicht. »Die arme Frau.« Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Noch dazu so jung.«

»Ich muss die Angehörigen benachrichtigen.« Vibeke sah auf ihre Armbanduhr. Es war bereits nach achtzehn Uhr. Feierabendzeit. »Kannst du mich begleiten?« Es gehörte zu den Vorschriften, dass Todesnachrichten immer persönlich und dazu von zwei Beamten überbracht wurden.

»Natürlich.« Connie war bereits aufgestanden und griff nach ihrer Jacke.

Kurz darauf verließen sie die Polizeidirektion durch die grüne Rundbogentür und stiegen in Vibekes Dienstwagen, den sie auf einem der Stellplätze für Einsatzfahrzeuge geparkt hatte. Während der zehnminütigen Fahrt nach Mürwik telefonierte Vibeke mit Kriminalrat Petersen, der ihr grünes Licht für den Einsatz der Sondereinheit gab, ehe sie schließlich vor einem Mehrfamilien-Wohnhaus mit roter Klinkerfassade zum Stehen kam.

»Die Angehörige heißt Ellen Niekamp«, sagte Vibeke, sobald sie das Auto verlassen hatten. Sie steuerte auf den Hauseingang zu. »Laut Vermisstenanzeige ist sie die Großmutter der Toten.«

Neben ihr hob Connie die blonden Brauen. »Die Großmutter? Was ist mit den Eltern?«

»Das werden wir sicher gleich erfahren.« Vibeke holte tief Luft, als sie den Namen der Frau zwischen den zahlreichen anderen gefunden hatte, und drückte auf die Klingel. Sie fragte sich, was sie hinter der Tür erwartete. Die Reaktionen der Angehörigen waren vielfältig. Manche schrien oder weinten, andere fingen an, das Haus zu putzen oder Wäsche zu waschen, einige verstummten. Wie würde Ellen Niekamp reagieren?

Der Summer ertönte. Im Erdgeschoss ging eine Wohnungstür auf, und eine grauhaarige Frau um die siebzig sah ihnen fragend entgegen, das Gesicht blass, die Augen gerötet. Sie wirkte, als hätte sie seit Tagen nicht mehr geschlafen.

Als Vibeke ihren Ausweis zückte, flackerte ihr Blick. Angst und Hoffnung vermischten sich darin.

»Vibeke Boisen. Polizei Flensburg.« Sie deutete auf Connie. »Meine Kollegin Cornelia Nowak. Sind Sie Ellen Niekamp?«

Die ältere Frau nickte. »Wurde Saskia gefunden?« Ihre Stimme zitterte.

»Dürfen wir vielleicht reinkommen?«

Ellen Niekamp nickte und öffnete die Tür ein Stück weiter. Vibeke und Connie traten ein und folgten der Frau ins Wohnzimmer. Landschaftsbilder auf Raufasertapete, eine geblümte Sofagarnitur, dazu ein klobiger Eichenschrank und Orientteppiche mit Fransen. Überall stand Nippes herum. Kristallfiguren, Blumen aus Porzellan, Häkeldeckchen. Vor dem Fenster hingen weiße Spitzengardinen.

»Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Enkelin tot aufgefunden wurde«, sagte Vibeke, nachdem sie die Personalien der Frau überprüft und sich gesetzt hatten.

Ellen Niekamp schlug die Hand vor den Mund, in ihren Augen schwammen Tränen. Mit zittrigen Fingern zog sie ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche hervor und schnäuzte sich.

»Wie konnte das passieren?« Die alte Frau klang fassungslos. »Saskia ist …«, sie stockte, »sie war eine erfahrene Seglerin. Da geht man doch nicht so einfach über Bord.«

Vibeke wechselte einen raschen Blick mit Connie, ehe sie antwortete. »Saskia starb durch Fremdverschulden. Sie wurde stranguliert und anschließend bewusstlos ins Wasser geworfen. Dort ist sie ertrunken. Ihre Leiche wurde heute früh an der dänischen Küste gefunden.«

In Ellen Niekamps Gesicht spiegelte sich Entsetzen.

»Wer tut so etwas?«, fragte sie schließlich. »Saskia hat nie jemandem etwas zuleide getan.« Sie knetete das Stofftaschentuch in ihrer Hand.

»Das müssen wir herausfinden«, erwiderte Vibeke. »Fühlen Sie sich dazu in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?«

Ellen Niekamp nickte.

»Wer könnte einen Grund gehabt haben, Ihre Enkelin umzubringen?« Sie zog Stift und Notizbuch aus der Tasche.

»Ich weiß es nicht.«

»Hatte Saskia vielleicht mit jemandem Streit? Mit Kollegen oder Vorgesetzten? Oder gab es Probleme mit einem Kunden?«

Ellen Niekamp schüttelte vehement den Kopf. »Saskia kam mit allen gut aus. Sie war vielleicht sehr zielstrebig, dabei aber immer freundlich und hilfsbereit anderen Menschen gegenüber.« Das Kneten verstärkte sich. »Ich kann nicht fassen, dass ihr etwas zugestoßen ist. Ich denke noch immer, sie ruft gleich an.« Ihr Blick wanderte zu der Vitrine im Eichenschrank, wo ein Foto von ihr und ihrer Enkelin stand. Arm in Arm mit strahlenden Gesichtern. »Saskias Mutter hat sie verlassen, als sie klein war. Ich habe sie großgezogen.«

»Aber ihre Mutter lebt noch?«, erkundigte sich Connie.

»Ja. Auf einer kleinen Insel vor Thailand. Sie gibt dort Yoga- und Life-Coach-Kurse.« Ein missmutiger Zug grub sich in die Mundwinkel der alten Frau und ließ erahnen, was sie vom Lebensstil ihrer Tochter hielt.

»Und der Vater?«, hakte Connie nach.

»Der hat in unser aller Leben nie eine Rolle gespielt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Nadine – so heißt meine Tochter – überhaupt seinen Namen kennt.«

Vibeke tippte nachdenklich mit dem Stift auf ihr Notizbuch. »Hatte Ihre Enkelin einen Freund?«

»Ja, aber das ist schon eine Weile vorbei. Frederick hat vor einem halben Jahr eine andere geheiratet. Saskia wollte sich nicht binden.« Ellen Niekamp neigte den Kopf leicht zur Seite. »Sie wollte unabhängig bleiben. Saskia sagte immer, sie könne sich nur auf sich selbst verlassen.«

»Wann haben Sie Ihre Enkelin zuletzt gesehen?«

»Am Montagabend. Sie hat ein paar Dinge für mich eingekauft, und wir haben dann zusammen Abendbrot gegessen. Sie wohnte ja ganz in der Nähe. In einem der Türme in Sonwik.«

Vibeke und Connie tauschten einen Blick. Das erst 2002 auf dem ehemaligen Marinegelände entstandene Yachthafenviertel Sonwik gehörte zu den exklusivsten Wohngegenden der Stadt.

»War Saskia an dem Tag irgendwie anders als sonst?«, erkundigte sich Vibeke.

»Nein. Alles war wie immer. Sie hat sich auf den Segeltörn gefreut. In letzter Zeit hat sie so viel gearbeitet, dass das Segeln viel zu kurz kam. Saskia war in ihrem Job sehr erfolgreich, müssen Sie wissen. Private Banking.« Stolz schwang in Ellen Niekamps Stimme mit. »Sie hatte nur mit den wichtigsten Kunden der Bank zu tun.« Im nächsten Moment schossen ihr Tränen in die Augen. »Aber jetzt ist meine Kleine tot. Dabei hatte sie doch ihr ganzes Leben noch vor sich.«

»Wir brauchen eine Liste mit Namen und Kontaktdaten von Saskias Angehörigen und Freunden.«

Ellen Niekamp nickte. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Offenbar schien der Tod ihrer Enkelin erst jetzt richtig zu ihr durchzudringen.

»Können wir vielleicht jemanden für Sie anrufen?« Connies Stimme war voller Mitgefühl. »Sie sollten jetzt nicht alleine sein.«

»Ja, bitte.« Ellen Niekamp schnäuzte sich wieder die Nase. »Meine Schwester. Martina. Ihre Nummer steht da drinnen.« Sie deutete auf ein geblümtes Adressbuch, das auf der Anrichte neben dem Telefon lag.

Connie stand auf und verschwand mit dem Adressbuch im Flur, um zu telefonieren.

»Haben Sie vielleicht einen Schlüssel zu Saskias Wohnung?«, erkundigte sich Vibeke.

»Er liegt auf der Kommode neben dem Eingang. In der blauen Schale. An dem Anhänger ist ein Seemannsknoten.«

»Danke.« Vibeke verstaute Stift und Notizbuch wieder in ihrer Umhängetasche. Anschließend zog sie eine Visitenkarte heraus und legte sie auf den Couchtisch. »Rufen Sie mich an, falls Ihnen noch etwas einfällt. Ansonsten hören Sie von uns.« Sie stand auf und ging in den Flur, wo Connie gerade ihr Telefonat beendet hatte.

»Die Schwester braucht etwa eine halbe Stunde, bis sie hier ist. Ich bleibe so lange.«

»Danke, Connie.« Vibeke lächelte ihre Stellvertreterin an. »Und anschließend machst du Feierabend. Ich fahre noch kurz in die Wohnung des Opfers. Morgen früh bin ich dann in Padborg. Du kannst mich aber auf dem Handy erreichen, falls etwas sein sollte.«

»In Ordnung, Chefin.« Connie ging zurück ins Wohnzimmer und fragte Ellen Niekamp, ob sie ein Glas Wasser wolle, doch ehe die Antwort kam, war Vibeke bereits aus der Tür.

Flensburg, Deutschland

Die beiden L-förmig angelegten Turmhäuser Lee & Luv ragten am Hang der Fördepromenade rund fünfundvierzig Meter in die Höhe. Mit ihren roten Ziegeln und den großzügig verglasten Fensterfronten fügten sich die Neubauten in das Yachthafenviertel mit den zwanzig Wasserhäusern und den unter Denkmalschutz stehenden ehemaligen Marine- und Militärgebäuden im Stil der norddeutschen Backstein-Neogotik harmonisch ein.

Das Wasser glänzte im Hafenbecken spiegelglatt im Licht der Abendsonne. An den Stegen entlang der Promenade lagen zahlreiche Yachten vor Anker. Segler saßen an Deck, tranken ein Glas Wein oder ein Feierabendbier, lasen in einem Buch oder spielten Karten, einige schrubbten die Planken. Die Stimmung war friedlich und unbeschwert.

Saskia Niekamp muss eine Menge Geld gehabt haben, wenn sie sich hier eine Wohnung leisten konnte, dachte Vibeke. Sie zog den Schlüssel mit dem Seemannsknoten aus ihrer Jackentasche und steuerte auf den Hauseingang zu. Neben dem Klingelschild blickte ihr das Auge einer Kamera entgegen.

Sie öffnete die Eingangstür und nahm den Fahrstuhl in den neunten Stock. Ein Hausflur mit filigraner Holzverkleidung führte sie zu Saskia Niekamps Wohnungstür.

Die Räume waren großzügig geschnitten und lichtdurchflutet. Wohnzimmer und Küchenbereich gingen nahtlos ineinander über. Dunkler Dielenfußboden, eine Sitzlandschaft mit hellen Bezügen, ein Egg Chair mit einer daneben stehenden Bogenlampe lud am Fenster zum Verweilen ein. Die Aussicht war spektakulär, reichte weit über den Yachthafen und die Förde bis zur dänischen Küste.

Ein Strauß vertrockneter Rosen, der in einer Vase auf dem Wohnzimmertisch stand, fiel Vibeke ins Auge. Rot und langstielig. Der Klassiker. Wer hatte sie Saskia Niekamp geschenkt?

Ein Gang führte zum Schlafzimmer. Einrichtungsstil und Farbkonzept fanden sich auch in diesem Raum wieder. Die gleichen Dielen wie im Wohnzimmer, ein beiges Boxspringbett mit hellen Bezügen, ein dezenter Einbauschrank, der sich über eine komplette Wandlänge zog.