Das siebte Symbol - Anette Hinrichs - E-Book

Das siebte Symbol E-Book

Anette Hinrichs

0,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine tote Frau in der Alster. Erschlagen und in Müllbeutel verpackt. Die Spuren führen Kriminalkommissarin Malin Brodersen und ihre Kollegen zu einer Elite-Hochschule. Im Freundeskreis des Opfers stoßen sie zunächst auf eine Mauer des Schweigens. Erst als Malin verdeckt ermittelt, kommt sie der Lösung des Falls näher. Dabei wird sie in ein Netz aus Lügen, Hass und Intrigen verstrickt, das bis in die höchsten Kreise der Hamburger Gesellschaft reicht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 424

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anette Hinrichs

Das siebte Symbol

Kriminalroman

Zum Buch

Anette Hinrichs wurde 1970 in Hamburg geboren. Nach Fachabitur und kaufmännischer Ausbildung am Hamburger Flughafen folgten berufliche Stationen bei einer Reederei, im Bereich Banken und Einzelhandel. Ihre Leidenschaft fürs Krimilesen wurde im Teenageralter durch Agatha Christie entfacht und weckte den Wunsch, eines Tages selbst zu schreiben.

Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie im Raum München.

Impressum

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2020 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

(Originalausgabe erschienen 2013 im Leda-Verlag)

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Elke Hötzel/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6410-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Prolog

Sie wusste, dass sie sich in unmittelbarer Gefahr befand.

Irina rannte, ohne zu bemerken, wie Äste und Zweige ihre Haut unter der zerrissenen Bluse zerkratzten.

Auf einer kleinen Anhöhe blieb sie einen Augenblick keuchend stehen, um sich Orientierung zu verschaffen, doch in der Dunkelheit konnte sie lediglich die Konturen des Parksees erkennen. Wenn sie nur wüsste, auf welcher Seite sie sich befand!

Sie schluchzte verzweifelt auf, als sie aus zusammengekniffenen Augen unweit ihres Standortes die Umrisse des Seehauses erkannte. Gedämpfter Lichtschein drang aus einem der Fenster. Sie war im Kreis gelaufen.

Krampfhaft versuchte sie sich den Plan von Planten un Blomen ins Gedächtnis zu rufen. Sie musste den Weg zur Straße finden, das war ihre einzige Chance. Hinter ihr war ein Knacken zu hören. Ihr Blick flog in die Dunkelheit, doch sie konnte niemanden erkennen. Dann rief er ihren Namen.

Sie hastete die Anhöhe in die Richtung hinunter, wo sie den Hauptweg vermutete. Keine zweihundert Meter weiter ragte vor ihr ein langer, dunkler Schatten empor. Ein Schluchzen der Erleichterung entfuhr ihr, als sie das blaue U-Bahnschild auf dem Wegweiser erkannte. Wieder hörte sie sein Rufen. Dieses Mal ein wenig näher.

Sie rannte Richtung U-Bahn. Wenige Augenblicke später sah sie in der Ferne das Schimmern der Straßenlaternen. Sie mobilisierte sämtliche Kräfte und wurde schneller. An der nächsten Wegbiegung blieb sie abrupt stehen. Ein schmiede­eisernes Tor versperrte ihr den Durchgang.

Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie panisch an den Stäben rüttelte. »Hilfe! Ich brauche Hilfe!«

Irinas Rufe verhallten in der Nacht. Sie sank in die Hocke und umschlang zitternd ihre Knie. Dabei ertasteten ihre Hände klebriges Blut, das in dünnen Rinnsalen ihre nackten Beine hinunterlief. Ihr Unterleib schmerzte fürchterlich.

Sie musste hier weg. Irina musterte das Tor und die daran grenzende Mauer. Zu hoch, um hinüberzuklettern. Fieberhaft wägte sie ihre Möglichkeiten ab.

Seine Stimme kam wie aus dem Nichts. »Ich weiß genau, dass du hier irgendwo bist. Glaub nicht, dass du einfach so davonkommst.«

Irina unterdrückte einen Aufschrei. Er konnte nur noch wenige Meter entfernt sein. Sie rannte zu einem der naheliegenden Gebüsche und verkroch sich dahinter. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und ihr Gesicht unter den rotblonden Locken war schweißüberströmt. Atemlos lauschte sie den sich nähernden Schritten. Sie schob ein paar Zweige beiseite und konnte die Umrisse seiner Statur erkennen. Er bewegte sich Richtung Ausgang. Jetzt stand er direkt vor dem verschlossenen Tor.

Diesen Augenblick nutzte Irina, um aus ihrem Versteck hervorzukommen und loszuspurten. Sie ignorierte die pochenden Schmerzen in ihrem Unterleib und rannte ohne sich umzuschauen querfeldein. Sie hoffte, dass sie instinktiv die Richtung einschlug, die zum Dammtor führte. Dort waren Menschen.

Tränen strömten ihr übers Gesicht und sie keuchte vor Anstrengung. Sie hatte das Gefühl, dass ihr jeden Augenblick die Beine versagen würden.

Er holte sie nach der nächsten Biegung ein. Irina schrie auf, als er sie am Arm packte und herumriss. Sie hatte jetzt keinen Zweifel mehr, dass ihr das Schlimmste noch bevorstand.

1

Die Alsterquelle befindet sich in Schleswig-Holstein, nur wenige Kilometer nördlich der Stadtgrenze Hamburgs. Von dort aus schlängelt sich die Alster mehr als sechzig Flusskilometer bis zur Elbmündung. Zunächst durchfließt sie Moor- und Wildnisgebiete, bis sie die Grenzen Hamburgs erreicht. Der weitere Flussverlauf windet sich vom nördlich gelegenen Duvenstedt durch das beschauliche Alstertal bis hin zur Fuhlsbütteler Schleuse. Ab hier ist die Alster fast strömungs­los und kanalartig eingemauert. Kleine Abzweigungen führen den Fluss durch Seitenkanäle, an deren Ufern prachtvolle Villen mit gepflegten Parkanlagen, Schrebergärten und vielfältiges Gewächs das Bild bestimmen, bevor der Fluss in die Außenalster und Binnenalster übergeht.

Fährkapitän Hinrich Paulsen manövrierte die Bredenbek, einen der typischen weiß-roten Alsterdampfer, durch das Netz dieser Kanäle. Begleitend dazu sprach er in das Mikrophon seines Schaltpultes und versorgte die Passagiere mit kuriosen Informationen über die Dampferfahrt. Dies war Paulsens letzte Saison, bevor er sich gegen Ende des Jahres in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden würde.

An diesem milden Morgen, einem der ersten Junitage, war die Bredenbek bis auf den letzten Platz mit Touristen besetzt.

»So, Jungs und Deerns, jetzt passt mal auf, wir verlassen den Goldbekkanal und schippern Richtung Rondeelteich.« Geschickt manövrierte Paulsen den Alsterdampfer in den schmalen Kanal. »Wenn ihr mal nach Backbord schauen mögt, dann wisst ihr, was exklusives Wohnen bedeutet.« Er machte eine weit ausholende Handbewegung Richtung Teich, während seine Fahrgäste sich die Hälse verrenkten. »Der Rondeelteich ist von Land aus nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, sondern kann nur von den Anwohnern über ihre Grundstücke erreicht werden. Das ist doch mal was, nech?«, erzählte er routiniert, bevor er mit breitem Hamburger Dialekt hinzufügte: »Dann drehn wir mal ’ne Runde.«

Paulsen stellte das Mikro ab und zwinkerte dem grauhaarigen Herrn zu, der neben ihm am Steuerpult lehnte. »Ist nicht immer einfach, das Alte hinter sich zu lassen.« Er legte seine Kapitänsmütze beiseite und strich sich über sein schütteres Haar.

»Recht hast du.« Das faltige Gesicht seines Freundes und ehemaligen Kollegen Erich Brodersen verzog sich zu einem verschmitzten Lächeln. Beide Männer blickten melancholisch auf das schimmernde grüne Gewässer.

Sie sahen es beide gleichzeitig. Ein großer, rechteckiger, in schwarze Folie gewickelter Gegenstand schwamm wenige Meter vor dem Bug der Bredenbek.

»Was zum Teufel …« Paulsen versuchte seinen Dampfer um das Hindernis herumzumanövrieren. Vergeblich. Die Bredenbek kollidierte mit dem Gegenstand. »Verflucht, was ist das?«

»Treibgut«, erwiderte Erich Brodersen trocken. »Halt die Maschinen an.«

Einige Passagiere erhoben sich von ihren Plätzen, um das Geschehene besser verfolgen zu können.

»Was ist denn da los?«, rief ein dicklicher Herr von einem der hinteren Tische.

»Ich glaube, wir haben etwas gerammt«, erwiderte eine junge Blondine.

»Gehen wir jetzt unter?«, war die ängstliche Stimme eines kleinen Jungen zu vernehmen.

Paulsen, dem es endlich gelungen war, die Bredenbek zu stoppen, wandte sich an die Passagiere. »Bitte bleiben Sie auf Ihren Sitzen und bewahren Sie die Ruhe. Es ist alles unter Kontrolle. Die Weiterfahrt verzögert sich nur einen kurzen Moment.«

Das zweite Crewmitglied, ein junger Mann mit dunklem Lockenschopf, eilte herbei. »Soll ich nachsehen?«

»Das ist Kapitänssache. Sie halten die Stellung.« Paulsen verließ den Innenbereich des Dampfers durch die Kajütentür und balancierte vorsichtig an der Reling entlang zum Schiffsbug. Etwa zwei Meter linker Hand befand sich das schwarze Paket. »Da hat wohl jemand seinen Müll entsorgt. Unverantwortlich«, schnaubte Paulsen.

»Das ist kein Müll«, erwiderte Erich Brodersen, der ihm in den Außenbereich gefolgt war. Er wies auf eine Stelle, an der sich etwas aus der Folie löste.

Beide betrachteten einen Augenblick die weiße, leblose Hand, die sich ihnen wie um Hilfe bittend entgegenstreckte.

2

Sie hatte sich verändert.

Malin betrachtete prüfend ihr Spiegelbild. Es lag nicht nur an der neuen Frisur, die ihr der fröhlich schnatternde Pablo an diesem Morgen in seinem schicken Salon geschnitten hatte. Nein, an der Frisur war nichts auszusetzen. Sie fuhr sich durch das schulterlange, nun leicht durchgestufte, blonde Haar und ließ dann die Fingerspitzen über die feine Linie am Hals, direkt unterhalb des linken Ohres, gleiten. Die Narbe war kaum noch zu sehen.

Ihr erster Fall in ihrer Laufbahn als Kommissarin der Mordkommission, acht Monate zuvor, wäre fast auch ihr letzter gewesen.

Malin seufzte und drehte ihrem Spiegelbild den Rücken­ zu. Sie durfte die Bilder nicht zulassen. Sie hatte überlebt, nur das allein zählte.

Ihr Blick fiel auf ihre Armbanduhr. Mist. Sie musste sich beeilen, wenn sie es noch rechtzeitig schaffen wollte. In einer halben Stunde war sie mit ihrem Großvater zum Mittagessen verabredet. Fricke sei Dank, dachte Malin. Ihr Vorgesetzter hatte sie fast dazu nötigen müssen, ihre Überstunden endlich abzubummeln.

Malin griff nach ihrer Tasche und verließ rasch das Haus. Draußen erwartete sie strahlendes Wetter. Die Sonne stand hoch am knallblauen Himmel und tauchte die sonst meist wolkenverhangene Stadt in ungewöhnliche Helligkeit.

Nach wenigen Metern hatte Malin ihren alten grünen Mini an der Ulmenstrasse erreicht. Sie wollte gerade den Motor starten, als ihr Handy klingelte. Sie meldete sich und lauschte den Worten ihres aufgeregten Großvaters Erich Brodersen. Wie es schien, hatte sich sowohl das gemeinsame Mittagessen als auch ihr freier Tag erledigt. Sie war wieder im Dienst.

Vierzig Minuten später ging Malin am Fähranleger Krugkoppelbrücke, der letzten Anlegestelle vor dem nördlichsten Zipfel der Außenalster, an Bord der WS Polizei 19, eines Einsatzbootes der Wasserschutzpolizei.

Kriminalhauptkommissar Fricke, Malins Vorgesetzter und Leiter des LKA 411, befand sich bereits an Bord, wie auch Frank Glaser, der Chef der Spurensicherung, und Torben Sommer vom LKA 38, zuständig für den Fachbereich Fotografie.

Malin stand auf dem Außendeck und schob sich gerade einen Kaugummistreifen in den Mund, als Fricke aus der Kajüte trat und sich zu ihr gesellte. »Dass die Toten jetzt auch schon in unserer herrlichen Alster schwimmen«, brummte er und schaute zum Ufer des Rondeelkanals, den sie soeben passierten.

Sie musterte ihren Chef aus den Augenwickeln. Trotz der Wärme steckte Frickes leicht untersetzte Figur in einer seiner ausgebeulten Cordhosen. An diesem Tag war sie dunkelbraun. Unter seiner blauen Windjacke lugte der Zipfel eines blau-grün-karierten Hemdes hervor und sein aschblondes Haar war wie immer leicht zerzaust, obwohl sich an diesem Vormittag kaum ein Lüftchen regte. Ungewöhnlich für Hamburg. Genauso ungewöhnlich wie Frickes sorgenvoller Gesichtsausdruck, den er bereits seit ein paar Wochen mit sich herumtrug. Malin fand, dass ihr Chef ausgesprochen schlecht aussah. Zudem hatte sie bemerkt, dass sich sein Bauchumfang in letzter Zeit um einiges reduziert hatte.

»Alles in Ordnung, Chef?«

Bevor Fricke ihre Frage beantworten konnte, traten Glaser und Sommer zu ihnen. Das Polizeiboot hatte die Einmündung zum Rondeelteich erreicht.

Ein weiß-roter Alsterdampfer, flankiert von einem Boot der Wasserschutzpolizei, und ein kleines Aluminiumboot, auf dem sich zwei Taucher zum Einsatz bereithielten, beherrschten die Szenerie. Das Ufer war weiträumig abgesperrt worden und mehr als ein Dutzend Beamte der Spurensicherung in grauen Schutzanzügen durchkämmten die gepflegten Grundstücke der Anwohner.

Fricke pfiff leise durch die Zähne und lenkte Malins Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand. Ein großes, in schwarze Folie gewickeltes Paket schwappte im Wasser vor der Bredenbek. Malin starrte auf die Stelle, an der sich die Folie ein wenig gelöst hatte.

Fricke räusperte sich. »Schöner Schiet. Ich sag’s ja, unseren Kunden ist nichts mehr heilig, auch nicht unsere Alster.« Seine Stimme klang belegt.

Sie schauten einen Moment schweigend aufs Wasser, während im Hintergrund das leise Klicken von Sommers Kamera zu hören war.

Malin wandte sich ab. »Wo sind eigentlich die anderen?«

»Sven koordiniert die Befragung der Anwohner, Ole muss irgendwo drüben am Ufer sein und Bartels hat die organisatorischen Dinge am Wickel«, brummte Fricke und bemerkte nach einen kurzen Seitenblick auf seine Mitarbeiterin: »Kannst du ohne diesen verdammten Job nicht leben oder war es reiner Zufall, dass du genau in dem Augenblick angerufen hast, als wir ausgerückt sind? Du solltest deine Überstunden abbummeln.«

Malin errötete. Jetzt war der richtige Augenblick, ihm von dem Anruf zu erzählen.

»Wir bespechen das später, Brodersen«, entgegnete Fricke, ehe sie antworten konnte. Ihr Boot hatte den Alsterdampfer umrundet und legte längsseits des Wasserschutzpolizeibootes an.

Ein Uniformierter reichte Malin die Hand, um ihr an Bord zu helfen. Fricke folgte seiner Mitarbeiterin, ebenso wie Glaser und Sommer. Dann trat er auf einen kleinen, drahtigen Beamten zu, dessen Uniformabzeichen ihn als Ranghöchsten auswiesen. »Erster Kriminalhauptkommissar Fricke, LKA 41. Ich leite die Ermittlungen. Meine Kollegen Glaser, Sommer und Brodersen.«

»Strübick«, erwiderte der Angesprochene knapp und beäugte die Neuankömmlinge unter buschigen Augenbrauen. Sein Blick glitt zu Malin. »Sie heißen Brodersen? Da haben wir noch einen.« Er wies zur Kajütentür, aus der gerade ihr Großvater heraustrat. Dessen ernster Gesichtsausdruck verwandelte sich beim Anblick seiner Enkelin in ein Lächeln. »Herr Brodersen war so freundlich, uns einige Fragen zu beantworten«, erklärte Strübick.

Fricke war seine Verwirrung deutlich anzusehen. Dann wurde sein Gesichtsausdruck streng. »Vielleicht könnte mich mal jemand aufklären?«

»Das ist Erich Brodersen, mein Großvater«, erwiderte Malin. »Er war an Bord der Bredenbek und hat zusammen mit Kapitän Paulsen die Leiche entdeckt. Und er hat mich angerufen.«

»Ach, Sie sind das.« Frickes Stimme klang schroff. Obwohl beide Männer im vergangenen Jahr zeitgleich an einem Fall ermittelt hatten, waren sie einander nie begegnet. »Ich hoffe, Sie wollen mir nicht wieder mein Revier streitig machen.«

»Zumindest werde ich mich bemühen.« Erich zwinkerte seiner Enkelin zu.

Der Hauch eines Lächelns streifte Frickes Mundwinkel. »Also gut, genug geplänkelt.« Er sah den Beamten der Wasserschutzpolizei an. »Warum zum Teufel hat noch niemand die Passagiere von hier weggebracht? Wie sollen wir in Ruhe unsere Arbeit machen, wenn uns halb Hamburg dabei zuschaut?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an Torben Sommer. »Hast du die Bilder mit dem Dampfer im Kasten?«

Sommer nickte und hielt zur Bestätigung seinen silbernen Alukoffer in die Höhe, in der sich alle seine Arbeitsutensilien befanden.

Fricke ging zur Reling und machte dem Kapitän der Bredenbek ein Zeichen. Ein sichtlich mitgenommener Paulsen streckte seinen Kopf aus dem Kajütenfenster. »Meine Passagiere werden langsam unruhig. Und ich auch.«

Fricke nickte. »Verständlich. So etwas passiert einem ja auch nicht jeden Tag. Mein Name ist Fricke. LKA. Meine Kollegin«, er deutete mit dem Kopf auf Malin, »wird jetzt zu Ihnen an Bord kommen und Sie zurück zum Anleger begleiten.«

Malin zog die Stirn in Falten. »Bist du sicher, dass du mich nicht hier vor Ort brauchst? Jemand muss noch die Zeugenaussage aufnehmen.«

»Guter Versuch, Brodersen, aber du weißt genau, dass du keine Familienangehörigen befragen darfst. Außerdem wirst du auf der Bredenbek gebraucht. Sieh zu, dass sich die Leute beruhigen. Fang schon mal an, die Personalien aufzunehmen, und finde raus, ob jemand Fotos gemacht hat. Ich will davon nichts in der Presse finden.« Fricke musterte sie. »Hier gibt es ohnehin nicht mehr viel zu tun. Die Beaufsichtigung der Bergung übernehme ich und dann geht die Leiche auf direktem Weg in die Rechtsmedizin.«

»In Ordnung, Chef.« Malin schluckte ihre Enttäuschung hinunter, trat an die Stelle, an der das Boot der Wasserschutzpolizei mit der Bredenbek vertäut war, und stieg hinüber. Sie warf ihrem Großvater ein flüchtiges Lächeln zu. »Wir hören später voneinander.«

Während Paulsen den Alsterdampfer langsam herausmanövrierte, schaute Malin zurück zum Polizeiboot. Einträchtig standen Fricke und Erich Brodersen nebeneinander an der Reling und sahen der Bredenbek hinterher.

Das Institut für Rechtsmedizin befand sich im Butenfeld am Rande des Universitätsklinikums Eppendorf.

Es war bereits später Nachmittag, als Malin ihren Mini neben Frickes Dienstwagen auf dem gesondert ausgewiesenen Parkplatz für Einsatzfahrzeuge der Polizei abstellte. Am Empfang des zweistöckigen, sandfarbenen Institutsgebäudes zeigte sie ihren Dienstausweis und ging dann rasch über die Treppe ins Untergeschoss des Gebäudes, wo sich der Autopsietrakt befand. Sie folgte einem tristen Flur und trat in einen kleinen Korridor, wo sie auf Fricke und auf Mike Hansen, einen der Sektionsgehilfen, traf.

Hansen war Mitte zwanzig, hatte eine kräftige Statur, hellbraune Haare, und die himmelblauen Augen in seinem runden Gesicht sahen Malin ergeben an. »Wunderbar, meine Gebete wurden erhört. Endlich wieder ein Lichtblick in unserer trostlosen Hütte!«

»Herr Hansen«, erwiderte Malin knapp, ohne sein Lächeln zu erwidern. Wie so oft, wenn sie mit dem Sektionsgehilfen zusammentraf, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Fröhlichkeit und Tod passten für sie nicht zusammen. Sie sah zu Fricke. »Hallo, Chef. Habe ich bei der Bergung irgendetwas verpasst?«

Fricke schüttelte den Kopf. »Wir sollten jetzt reingehen. Dr. Steinhofer wird nicht ewig warten, bis sie das Paket öffnet.«

Malin griff in ihre Jackentasche und zog einen kleinen Tiegel mit Tigerbalsam heraus. Sie schmierte sich ein wenig davon unter die Nase und sog die Kombination von Menthol und anderen ätherischen Ölen ein, um gegen eventuell aufkommende Übelkeit gewappnet zu sein. Sie hatte dazugelernt.

Anschließend streifte sie sich die vorgeschriebene Schutzkleidung über und folgte den beiden Männern in den Sektionssaal.

Grelles Neonlicht strahlte von der Decke des Raumes auf den Obduktionstisch aus rostfreiem Edelstahl, auf dem das schwarze, längliche Paket aus dem Rondeelteich lag. Die große, schmale Gestalt von Dr. Steinhofer und die ihres assistierenden Sektionsarztes Dr. Brunner waren beide in die obligatorischen grünen Kittel gekleidet. Frank Glaser, den Chef der Kriminaltechnik, erkannte Malin einzig an seiner kleinen runden Brille, die zwischen Kopfbedeckung und Nasen-Mund-Schutz hervorlugte.

Dr. Steinhofer nahm die Anwesenheit der Neuankömmlinge mit einem kühlen Nicken zur Kenntnis und fuhr fort, in ihrem nüchternen und sachlichen Tonfall in ihr Diktiergerät zu sprechen, während sie langsam um den Obduktionstisch herumging und die äußere Beschaffenheit des Paketes begutachtete.

Die schwarze Folie wurde an einigen Stellen von braunem Paketklebeband zusammengehalten. Seitlich klaffte ein Loch, aus dem eine leblose Hand herausragte. Beim Anblick der sorgfältig manikürten Fingernägel entfuhr Malin ein leises Stöhnen.

Dr. Steinhofer stellte ihr Diktiergerät ab. »Hat Ihre Mitarbeiterin sich im Griff?« Die Frage galt Fricke.

Malin kam ihm zuvor. »Alles bestens.«

Die hellen Augen der Rechtsmedizinerin musterten sie für einen Moment, dann wandte sie sich an Glaser. »Wir legen los.«

Der Kriminaltechniker nahm mit sterilen Wattetupfern einige Proben an verschiedenen Stellen der Außenfolie und ließ die Tupfer anschließend in die vorbereiteten Kartonboxen gleiten. »Ich will nur sichergehen. Vielleicht hat das Wasser nicht alle Rückstände weggespült.«

Die Leiche wurde umgedreht und Glaser wiederholte die Prozedur an der Rückseite. Im nächsten Schritt zog er behutsam das Paketklebeband ab und tütete es für spätere Untersuchungen ein.

Malin hatte Mühe, die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken, als Glaser vorsichtig die schwarze Folie löste.

»Das sind Müllsäcke, zwei stinknormale Müllsäcke«, nuschelte der Kriminaltechniker vor sich hin. Wenige Minuten später hatte Glaser das letzte Stück der Folie entfernt und die Leiche war freigelegt.

Die Tote war eine zierliche junge Frau. Ihre nackte wächserne Haut glänzte vor Feuchtigkeit. Die nassen Haare waren lang und dunkel. Wie eine Kappe umgaben sie das schmale Gesicht. Oberhalb der linken Augenbraue klaffte eine Wunde, die sich bis zum Stirnansatz ausweitete.

Malin zog hektisch die ätherischen Öle des Tigerbalsams ein, den Blick starr auf den Obduktionstisch gerichtet.

»Wurde sie erschlagen?«, fragte Fricke.

Dr. Steinhofer hatte bereits mit der äußeren Leichenschau begonnen und war dabei, die Tote zu vermessen. »162 Zentimeter«, diktierte sie Brunner. »Um das zu sagen, ist es noch zu früh, Herr Fricke«, beantwortete sie die Frage des Kriminalbeamten. Sie ermittelte die Körpertemperatur, überprüfte die Leichenstarre und betrachtete die Totenflecken. »Die Tote ist in einem besseren Zustand als eine normale Wasserleiche. Die Leistenhaut an Händen und Füßen ist noch fast vollständig intakt. So gut wie keine Waschhautbildung. Die Folie hat sie weitestgehend geschützt.« Die Rechtsmedizinerin umfasste den Kopf der Toten und drehte ihn vorsichtig ein wenig zur Seite.

Malin bemerkte einen schwarzen Leberfleck direkt oberhalb des rechten Mundwinkels der Toten.

»Am Hinterkopf gibt es noch eine weitere Wunde.« Dr. Steinhofer betrachtete sie eingehend. »Die Verletzung wurde durch einen halbscharfen Gegenstand verursacht. Ich tippe auf eine Art Werkzeug. Der Schlag wurde mit äußerster Intensität ausgeführt.« Ihr geschulter Blick glitt zu den Armen des Opfers und blieb an einem Striemen oberhalb des linken Handgelenkes hängen. »Eine leichte Abschürfung. Kein Blutaustritt. Vermutlich wurde die Leiche an dieser Stelle von dem Alsterdampfer touchiert.« Sie untersuchte die Handflächen der Toten. »Keinerlei Abwehrverletzungen.«

»Der Täter hat sie also überrascht?« Fricke betrachtete die Kopfwunde.

»Zumindest hat sie nicht mit dem Angriff gerechnet«, bestätigte Dr. Steinhofer.

»Vielleicht hat sie ihren Täter gekannt«, warf Malin ein.

»Möglich.« Dr. Steinhofer widmete sich der Stirnverletzung. »Eine Rissquetschwunde, nicht besonders tief. Vermutlich eine Sturzverletzung.« Dann begutachtete sie eingehend den Unterkörper der Toten.

»Gibt es irgendwelche Anzeichen für ein Sexualdelikt?«, fragte Fricke.

Dr. Steinhofer schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Leiche zu nehmen. »Bisher nicht.«

»Können Sie schon was zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Dazu fehlen mir noch einige Faktoren.« Dr. Steinhofer hob die Brauen, als sie Frickes Gesichtsausdruck bemerkte. »Also gut. Sie ist maximal achtundvierzig Stunden tot, die Leichenstarre ist noch nicht vollständig aufgelöst. Genaueres weiß ich aber erst nach Abschluss weiterer Untersuchungen.«

»Und wann wird das sein?«, hakte Fricke nach.

»Ich hoffe, ich werde morgen Nachmittag mit der Obduktion beginnen können. Bis alle Ergebnisse ausgewertet sind, wird es aber noch ein paar Tage dauern.«

Fricke nickte. »Wie schätzen Sie das Alter der Toten ein?«

»Zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren.«

»Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie mit der Obduktion beginnen. Ich möchte dabei sein.« Fricke sah auf die Uhr und wandte sich an Glaser. »Frank, ich weiß, es ist schon spät. Trotzdem wäre es gut, wenn ihr noch heute Abend mit den Auswertungen beginnt.«

»Das hatte ich ohnehin geplant.« Der Kriminaltechniker verstaute sorgfältig die sichergestellten Spurenträger.

»Das Gleiche gilt leider auch für uns, Brodersen«, sagte Fricke. »Ab ins Präsidium.«

Malin nickte. Die Ermittlungen hatten begonnen.

3

Henriette Lehmann wohnte in einem hübschen weißen Haus mit Sprossenfenstern und rotem Ziegeldach in der Blumenstraße, die parallel zum Rondeelkanal lag. Obwohl ihr Haus auf der gegenüberliegenden Seite und somit nicht auf der Butterseite lag, wie manche Anwohner die Lage der Grundstücke mit Wasserblick bezeichneten, waren Henriette die ungewöhnlichen Vorgänge in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nicht entgangen. Gestern hatte sie mehrere Streifenwagen in der Straße gesichtet und an diesem Vormittag zwei unbekannte Männer dabei beobachtet, wie sie an den Haustüren der anderen Straßenseite klingelten und mit den Bewohnern sprachen.

Henriette Lehmann war Ende sechzig, eine kleine drahtige Person mit kurzen blonden Haaren. Sie war äußerst vital für ihr Alter und bereits seit über zwanzig Jahren Witwe. Um ihre Rente aufzubessern, vermietete sie Zimmer an Studentinnen.

Henriette beschloss, dass sie genug Zeit damit vergeudet hatte, über die merkwürdigen Vorgänge in ihrer Nachbarschaft nachzudenken. Sie wurde schließlich auch nicht jünger. Außerdem musste sie ihre Küchenfenster putzen. Die hatten es mal wieder bitter nötig. Sie stellte das Radio an, pfiff eine flotte Swingnummer mit und suchte ihre Putzutensilien zusammen.

Sie hatte gerade mit dem Küchenfenster begonnen, als sie mitten in der Bewegung innehielt, um den Worten des Nachrichtensprechers zu lauschen. Als Großstädterin war sie an dramatische Nachrichten gewöhnt, doch vier Worte des Sprechers erlangten ihre volle Aufmerksamkeit: »unbekannte Tote im Rondeelteich«.

Ein Schaudern durchfuhr sie, als sie begriff, dass dies nur wenige Meter von ihrer eigenen Haustür entfernt war. Deshalb also die vielen Streifenwagen am gestrigen Tag.

Henriette war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie nicht hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Erst als sie die letzten Schlieren am Küchenfenster mit dem Ledertuch beseitigt hatte und zufrieden das Ergebnis betrachtete, hörte sie ein Poltern im Obergeschoss. Verwundert ging sie in den Flur und lauschte an der Treppe zur oberen Etage nach Geräuschen. Da sie über die Lebensgewohnheiten ihrer Mieter stets bestens Bescheid wusste, überraschte es sie, dass jemand um diese Zeit zu Hause war.

»Theresa? Sind Sie das?«, rief sie die Treppe empor.

Theresa Althoff war eines von ihren Sorgenkindern. Obwohl es bei Henriette Lehmann klare Hausregeln gab, bemühte sich Theresa nicht im Geringsten, sie einzuhalten. Schon zweimal hatte Henriette sie beim Versuch erwischt, einen männlichen Besucher auf ihr Zimmer zu schmuggeln. Außerdem missachtete Theresa regelmäßig die vorgeschriebenen Ruhezeiten und glänzte oft tagelang durch Abwesenheit.

Es wurde Zeit, sich die junge Dame mal richtig zur Brust zu nehmen, dachte Henriette. »Theresa?«

Eine junge Frau in Jeans und Poloshirt erschien am Treppenabsatz. Sie hatte hellbraune Haare und ein großflächiges Gesicht, aus dem zwei weit auseinanderstehende Augen blickten. Unter ihrem Arm klemmte ein Aktenordner. »Ich bin es nur, Frau Lehmann.«

Henriette Lehmann zog die Augenbrauen hoch. »Ach, Fenja. Ich habe gar nicht bemerkt, wie Sie hereingekommen sind.«

»Kein Wunder, bei dem flotten Beat.« Fenja grinste und deutete mit dem Kopf in Richtung Küche. Dort drangen jetzt die ersten Takte eines alten Schlagers heraus.

»Mein Gott, Sie haben ja recht. Bei diesen grauenhaften Klängen kann man ja nicht mal sein eigenes Wort verstehen. Haben Sie vielleicht Lust, einen Kaffee mit mir zu trinken?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Henriette schnurstracks zurück in die Küche und drehte das Radio aus.

Fenja war ihrer Vermieterin gefolgt. »Haben Sie schon von der Toten im Rondeelteich gehört?«

Henriette nickte. »Es kam gerade im Radio. Einfach furchtbar. Dass so etwas ausgerechnet bei uns passieren muss.« Betrübt schenkte sie zwei Tassen Kaffee ein.

Fenjas Augen blitzten auf. »Die Zeitungen sind auch voll damit. Angeblich wurde die Leiche von einem der Alsterdampfer gerammt. Stellen Sie sich das mal vor.«

»Wo steckt eigentlich Theresa?«, fragte Henriette besorgt.

Fenja zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Bei der Vorlesung war sie auch nicht.«

»Hat sie vielleicht einen neuen Freund? Nicht, dass es mich etwas anginge. Aber bei den Nachrichten macht man sich seine Gedanken.«

»Der ist schon nichts passiert. Sie kennen doch Theresa.« Fenja bemerkte den finsteren Blick ihrer Hauswirtin. »Jetzt schauen Sie mich nicht so an. Ich bin schließlich nicht diejenige, die ständig gegen die Regeln verstößt. Außerdem habe ich keine Zeit für einen Kaffee. Ich muss zur nächsten Vorlesung. Wenn ich meinem Vater nicht bald ein paar anschauliche Ergebnisse präsentiere, dreht er mir noch den Geldhahn zu und ich muss zurück nach Hause. Dort herrscht noch mehr Knastcharakter als hier.« Fenja drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ das Haus.

Henriette blieb verblüfft mit zwei Kaffeetassen in der Hand zurück. Was war nur in das Mädchen gefahren? Knastcharakter? Hatte sie nicht das Recht, in ihren eigenen vier Wänden ein paar Regeln aufzustellen? Schließlich war dies ein anständiges Haus. Henriette seufzte. Fenja verhielt sich recht merkwürdig in letzter Zeit. Sie dachte an ihre zweite Mieterin. Dass Theresa sich jetzt schon seit drei Tagen nicht mehr blicken ließ, begann ihr jetzt auch langsam Sorgen zu bereiten.

Sie stellte die noch vollen Kaffeetassen in die Spüle, griff nach ihrer Handtasche und schaute nach, ob sich ihre Geldbörse auch am richtigen Platz befand. Dann verließ sie das Haus, um sich in der nahegelegenen Marie-Louisen-Straße eine Zeitung zu besorgen.

Das Gebäude des Polizeipräsidiums Hamburg, ein Rundbau mit zehn sternförmig angeordneten Riegeln, befand sich an der Hindenburgstraße im Stadtteil Alsterdorf. In dem sechsgeschossigen Gebäude waren neben diversen Verwaltungsstellen der Polizei, dem Führungsstab und der Funkzentrale auch die Abteilungen des zuständigen Landeskriminalamtes untergebracht.

Malin verließ den Fahrstuhl im dritten Stock, wo sich die Räume des LKA 41 befanden, dem Fachkommissariat für Tötungsdelikte, und steuerte das Großraumbüro der Mordkommission an. Schon von weitem konnte sie am Ende des Flurs die große Gestalt von Frederick Bartels erkennen. Wie so oft schlug ihr Herz beim Anblick des gutaussehenden Kriminalbeamten mit der sportlichen Statur ein wenig schneller. Ihr Teamkollege war Mitte dreißig, hatte einen dunkelbraunen Haarschopf, kantige Gesichtszüge und dunkle, fast schwarze Augen. Während einer Ermittlung acht Monate zuvor waren sie sich näher­gekommen. Es hatte lange gedauert, ehe Malin sich ihre Gefühle für den Kollegen eingestanden hatte. Dann war es zu spät gewesen. Seine von ihm getrennt lebende Frau war zu ihm zurückgekehrt. Schwanger.

Seitdem ging Malin jeglicher Vertraulichkeit strikt aus dem Weg. Was nicht immer einfach war, denn zumindest beruflich bildeten sie noch immer ein Team.

Bartels unterhielt sich mit Sven Andresen. Ein weiteres Minenfeld. Der muskulöse rothaarige Ermittler mit der Vorliebe für schwarze Lederhosen und dem Auftreten eines Türstehers ließ selten eine Gelegenheit aus, ihr das Leben schwer zu machen. Eine Zeit lang hatte es ausgesehen, als hätten sich die Wogen geglättet, doch in jüngster Zeit hatten sich ihre Unstimmigkeiten wieder gehäuft.

Malin murmelte einen kurzen Gruß in Richtung ihrer Kollegen und betrat das Büro der Mordkommission. Der nüchterne Raum unterschied sich kaum von anderen Großraumbüros. Helle graue Möbel, vier große Schreibtische, die sich in Zweierblocks gegenüber standen, und eine mit Aktenregalen bestückte Wand dominierten. Alles wirkte sachlich und klar strukturiert.

»Hi, Ole«, begrüßte sie den Kollegen, der sich als Einziger im Raum befand.

Der große, schlaksige Kriminalhauptkommissar Ole Tiedemann hatte sandfarbenes Haar, und helle, fast durchscheinende Haut. Auf Außenstehende wirkte er oft nüchtern und emotionslos, doch Malin wusste, dass seine Art, die Dinge stets zu versachlichen, dazu diente, seine Professionalität zu wahren.

Tiedemann verschränkte die Hände im Nacken und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. »Jetzt sind fast vierundzwanzig Stunden seit dem Auffinden der Leiche vergangen und was haben wir bisher? Nichts.«

»Hast du noch mal mit den Kollegen von Viersiebzehn gesprochen?«, fragte Malin.

Tiedemann löste die Hände aus seinem Nacken. »Hab ich. Allerdings ohne Erfolg. Die haben keine Vermisstenmeldung vorliegen, die zu unserer Toten passt. Vielleicht …« Er hielt inne, als die Tür geöffnet wurde.

Hauptkommissar Fricke trat dicht gefolgt von Andresen­ und Bartels ins Büro und blieb in der Mitte des Raumes stehen. »Also gut, Leute, legen wir los. Was hat die Befragung der Anwohner ergeben? Sven?«

Andresen hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und zwirbelte an seinem roten Schnäuzer. »Von denen, die wir bisher angetroffen haben, hat niemand etwas mitbekommen. Aber wir bleiben dran. Hast du schon mit der Spurensicherung gesprochen?«

Fricke nickte. »Sie haben jede Menge Funde sichergestellt. Allerdings war nichts dabei, das darauf schließen lässt, dass es am Ufer einen Tatort gibt oder eines der Grundstücke dazu genutzt wurde, sich der Leiche zu entledigen. Frank ist gerade dabei, eine Aufstellung für uns fertigzumachen.«

»Was ist mit den Müllsäcken und dem Klebeband?«, fragte Malin.

»Massenware, beides bekommt man in jedem Baumarkt. Unmöglich, daraus etwas herzuleiten. Allerdings hat das Labor noch nicht alle mikroskopischen Spuren ausgewertet und auch die Analyseergebnisse der Wasserproben liegen noch nicht vor. Die Kollegen gehen davon aus, dass zumindest an der Innenseite der Folie oder am Klebeband Rückstände vorhanden sind. Zwar ist der Täter auf Nummer sicher gegangen und hat die Kleidung des Opfers mit möglichen Spuren entsorgt, aber Frank meint, beim Verpacken der Leiche sei er recht dilettantisch vorgegangen.«

Malin runzelte die Stirn. »Vielleicht stand der Mörder unter Zeitdruck. Oder er hat die Tat im Affekt begangen. Möglicherweise während eines Streits.«

»Warten wir die weiteren Ergebnisse der KTU und der Rechtsmedizin ab«, erwiderte Fricke leicht ungehalten. »Wir müssen uns jetzt auf die Identifizierung der Leiche konzentrieren. Bisher hat sich noch niemand auf die veröffentlichte Personenbeschreibung gemeldet. Wenn wir bis heute Mittag nichts haben, geben wir Fotos raus. Verdammt, dabei wollte ich das eigentlich vermeiden.« Er drehte sich zum Fenster um und starrte in Gedanken versunken zur Bürostadt City Nord.

Tiedemann klopfte mit seinem Kugelschreiber auf den Tisch. »Ich schlage vor, wir überprüfen die Möglichkeiten, eine Leiche auf dem Wasserweg zum Rondeel­teich zu bringen.«

Andresen stöhnte auf. »Was vermutlich ein halbes Dutzend Transportmittel betrifft, von denen es dann geschätzte mehrere Hundert im Alsterraum gibt. Mal abgesehen von den ganzen Privatgrundstücken, die Wasserzugang haben. Na prima … Wie ich meinen Job manchmal liebe!«

Fricke kehrte dem Fenster den Rücken zu. »Du hast recht, Ole, überprüft das. Teilt euch auf. Einer kümmert sich um die Bootsverleiher, einer um die Anwohner der Grundstücke mit Seezugang, einer um die Ruderclubs und so weiter. Ole, es wäre gut, wenn du die Datenbanken durchgehst und nach Vergleichsfällen suchst. Vielleicht ist bei VICLAS ein ähnlicher erfasst. Ich mache einen kurzen Abstecher in die KT und sehe nach, was bisher ausgewertet wurde. Außerdem mache ich der Steinhofer noch ein wenig Druck, vielleicht bringt das was.« Er brummte einen kurzen Abschiedsgruß und verließ dann das Büro.

Nachdenklich starrte Malin auf die Tür, die sich gerade hinter Fricke geschlossen hatte. »Sag mal, Fred …« Sie wandte sich ihrem Kollegen am gegenüberliegenden Schreibtisch zu. »Findest du nicht auch, dass der Chef sich etwas merkwürdig benimmt?«

»Nicht merkwürdiger als du.« Bartels sah sie lange und intensiv an. »Was hältst du davon, wenn wir nach Feierabend etwas zusammen trinken gehen?«

»Ich hab schon was anderes vor«, murmelte Malin und senkte den Blick.

Bartels hob die Brauen. »Wie lange willst du dem Gespräch mit mir eigentlich noch ausweichen? Meinst du nicht, wir sollten uns endlich mal aussprechen?« Malin schwieg. »Also, gut. Dann lass uns jetzt die Aufteilung machen. Möchtest du die Bootsverleiher oder die Ruder­clubs übernehmen?«

»Ich übernehme die Bootsverleiher.« Malin griff nach der Liste, die ihr Bartels über den Schreibtisch reichte. Es versprach ein langer Tag zu werden.

Malin parkte ihren Mini an der Elbchaussee in Övelgönne, als es bereits dunkel wurde. Es hatte deutlich abgekühlt und sie zog ihre dünne Jacke ein wenig enger. Kräftiger Wind war aufgekommen und zerzauste ihre Haare. Gedankenverloren wich sie einem jungen Pärchen aus, das stehen geblieben war, um sich zu küssen. Unwillkürlich durchfuhr sie die Sehnsucht nach Frederick. Gleich darauf ärgerte sie sich. Seit wann war sie so gefühlsduselig? Das musste jetzt endgültig ein Ende haben. Sie war Kriminalkommissarin, kein pubertierender Teenager. Eine Beziehung mit einem Kollegen brachte ohnehin nichts als Ärger. Dafür war ihr bisheriger Weg zu mühsam gewesen. Abgesehen davon, dass der Abbruch ihres Jurastudiums und der Wechsel zur Polizeihochschule fast zum Bruch mit ihrer Familie geführt hatte, hatte sie sich die Zugehörigkeit zum Team erst erkämpfen müssen. Vermutlich wäre es noch um einiges schwerer geworden, hätten ihre Kollegen ihren Familienhintergrund gekannt.

Malins Familie gehörte die Heidenberg Bank, ein hanseatisches Privatunternehmen, das sich seit über 150 Jahren im Familienbesitz befand. Ihre Mutter war Hauptgesellschafterin des Unternehmens, und die Entscheidung ihrer Tochter für die Polizei und damit gegen die Gesellschafterfunktion in der Bank, in deren Erwartung sie aufgezogen worden war, empfand Constanze­ Heidenberg als persönlichen Affront. Ebenso die Tatsache, dass Malin den Nachnamen ihres abtrünnigen Vaters behielt. Dies war allerdings der Grund dafür, dass es Malin bisher gelungen war, ihren Familienhintergrund vor ihren Kollegen geheimzuhalten.

Malin erreichte den schmalen Fußweg am unteren Ende des Schulbergs, der zu den ehemaligen Lotsenhäusern führte. Vor einem der mit Backstein gebauten Fachwerkhäuser blieb sie stehen und genoss einen Moment den wohltuenden Anblick der beleuchteten Fenster.

Wenige Minuten später trat Malin in die Küche ihres Großvaters. Weiß-blaue Kacheln, massive Küchenschränke mit einer rustikalen Arbeitsplatte, freigelegte Deckenbalken und ein alter Gesindetisch sorgten für Gemütlichkeit.

Malin machte es sich auf einer der Holzbänke bequem, während Erich zwei Teller großzügig mit Rührei und Nordseekrabben befüllte.

»Die Tote ist ein paar Jahre jünger als ich«, eröffnete Malin das Gespräch, nachdem Erich am Tisch Platz genommen hatte. »Kein besonders gutes Gefühl.«

Erich reichte seiner Enkelin einen Korb mit Schwarzbrot und schmunzelte. »Vielleicht hättest du doch in der Bank arbeiten sollen. Das Geld anderer Leute zu verwalten, kann äußerst beruhigend sein.«

Unwillkürlich musste Malin lachen. »Vermutlich würde ich vor Langweile sterben. Mutter wäre allerdings begeistert.«

»Stimmt. Apropos, wie läuft es zwischen dir und deiner Mutter?«

»Alles wie gehabt. Wenn man mal davon absieht, dass sie mir in den letzten Wochen ständig damit in den Ohren liegt, ich müsse doch endlich einen geeigneten Partner finden.«

»Geeigneter Partner?«

Malin verdrehte die Augen. »Du kennst doch Mutter. Sie hat da natürlich ihre ganz eigenen Vorstellungen. Beim letzten Familienessen hat sie mir schon ein solches Prachtexem­plar präsentiert. Ich sag nur, typischer Fall von Unternehmersöhnchen.«

»Oh je. Ich nehme mal an, daraus wird nichts.«

Malin nickte und schob sich eine Portion Krabben in den Mund. Es schmeckte köstlich. »Du hast mir noch gar nicht verraten, wie es gestern mit Fricke gelaufen ist. Hat er dich sehr in die Mangel genommen?«

Erichs Augen blitzten amüsiert auf. »Nein, es ist gut gelaufen, soweit man das in diesem Fall überhaupt sagen kann.« Er schob seinen leeren Teller beiseite. »Dein Chef scheint recht anständig zu sein, Malin, auch wenn er alles versucht, um das zu verbergen. Und er hält offenbar große Stücke auf dich.«

»Ich hoffe, das tut er auch noch, wenn wir weiter so schlecht in dem Fall vorankommen«, erwiderte Malin trocken, freute sich aber insgeheim über das Lob.

»Hat sich noch immer niemand auf die Personenbeschreibung gemeldet?«

»Leider nicht. Wir sind gerade dabei, die Transportwege zum Rondeelteich zu überprüfen. Vermutlich wurde die Leiche mit einem Boot dorthin gebracht.«

Erich Brodersen fuhr sich nachdenklich übers Kinn. »Kann ich dir dabei behilflich sein?«

Malin ließ ihr Besteck auf den Tellerrand sinken. »Weißt du nicht mehr, was Fricke gesagt hat?«

»Du meinst, dass ich mich nicht mehr in seine Ermittlungen einmischen soll?« Erich zwinkerte ihr zu. »Mal davon abgesehen, dass ich diesmal unmittelbar betroffen bin, schließlich habe ich die Leiche gefunden, erinnerst du dich vielleicht ja auch noch an meine Antwort.«

Malin seufzte. Das hatte sie nun davon. Seit ihrem Einstieg bei der Mordkommission betrachtete sich ihr Großvater als eine Art Ehrenkommissar. Aber vermutlich war das ihre eigene Schuld. Sie hatte ihn bei ihrem ersten Fall schließlich um Hilfe gebeten. Jetzt schien sich die Sache zu verselbstständigen.

Auf der Stirn ihres Großvaters hatte sich eine tiefe Falte gebildet, offenbar dachte er angestrengt über etwas nach. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Mir kommt da gerade so eine Idee.« Mit einem zufriedenen Lächeln erhob er sich und begann, den Tisch abzuräumen.

4

Der Anruf war in den frühen Morgenstunden gekommen. Eine Anwohnerin der Blumenstraße glaubte in der Personenbeschreibung der Toten aus dem Rondeelteich eine ihrer Mieterinnen erkannt zu haben.

Es nieselte, und Malin setzte die Kapuze ihrer Regenjacke auf, als sie aus dem Mini stieg. Sie zog eine Tüte vom Bäcker aus ihrer Tasche und verzehrte genüsslich ein Franzbrötchen, ein Hefegebäck mit reichlich Zimtzucker und Butter, während sie auf die Ankunft ihres Kollegen wartete. Dabei betrachtete sie ihre Umgebung. Die Blumenstraße war typisch für die Wohngegend rund um die Alster, durch hochherrschaftliche Villen geprägt.

Die Gardinen des Küchenfensters an dem weißen Haus mit den Sprossenfenstern bewegten sich. Wie es schien, wurden sie bereits erwartet.

Sie verzehrte gerade den letzten Bissen ihres Frühstückes, als Bartels’ Dienstwagen in die Straße einbog. Als er aus dem Wagen stieg, fiel ihr wieder einmal auf, wie attraktiv er war. Seine athletische Figur steckte an diesem Tag in hellen Chinos und einer sportlichen Jacke. Darunter lugte ein dunkelblaues Hemd hervor. Er wirkte müde und missmutig. »Tut mir leid, ging nicht früher. Britta hat mal wieder …« Bartels hielt inne. »Ach nichts, sorry, Malin.« Seine dunklen Augen suchten ihren Blick.

»Jetzt bist du ja da.« Malin wies mit dem Kopf auf das vor ihnen liegende Haus. »Wollen wir?«

Bartels folgte seiner Kollegin durch eine schmiede­eiserne Pforte, die zu einer roten Haustür führte. Noch bevor Malin den Klingelknopf drücken konnte, wurde die Tür von innen aufgerissen und sie standen einer älteren Dame mit flottem, blondem Kurzhaarschnitt gegenüber.

Malin stellte sich und ihren Kollegen vor. »Frau Lehmann?«

Die Frau nickte. Sie hatte einen wachen Blick und einen kräftigem Händedruck. »Gut, dass Sie da sind. Ich habe in der letzten Nacht kaum ein Auge zugetan.« Sie trat beiseite, um die Kriminalbeamten einzulassen und zeigte auf eine Tür, die vom Korridor abging. »Bitte dort hinein.«

Der Raum beherbergte eine gut ausgestattete Küche im Landhausstil. Es roch nach Kaffee.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Henriette Lehmann wies auf eine Eckbank mit rot bezogenen Sitzpolstern. »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«

»Danke, gerne«, antwortete Bartels. Malin nickte.

Nachdem Henriette Lehmann drei Kaffeetassen gefüllt und auf den Tisch gestellt hatte, setzte sie sich ebenfalls. Ihre blaugrünen Augen blickten besorgt.

»Frau Lehmann«, fragte Malin, »Wie kommen Sie darauf, dass es sich bei der Toten im Rondeelteich um Ihre Mieterin handeln könnte?«

»Der Leberfleck.« Henriette Lehmann umklammerte krampfhaft ihre Tasse. »In der Zeitung stand etwas von einem Leberfleck. Theresa hat genau so einen. Die anderen Angaben passen auch.«

»Theresa?«

»Ja. Theresa Althoff. Sie ist eine meiner beiden Mieterinnen.«

»Und Sie haben Frau Althoff wie lange nicht mehr gesehen?«, fragte Bartels.

»Seit letztem Samstagnachmittag nicht mehr.«

»Hat Frau Althoff noch weitere spezielle Merkmale?«, hakte Malin nach. »Narben oder vielleicht ein Tattoo?«

Die Pensionswirtin schüttelte den Kopf. »Zumindest nichts, was mir aufgefallen wäre. Aber ich habe ein Foto von ihr. Wissen Sie, ich vermiete meine Zimmer nicht an jeden. Ausschließlich an Studentinnen, die entsprechende Empfehlungen vorweisen können. Und ich hinterlege von jeder Mieterin immer eine Ausweiskopie in meinen Unterlagen.« Henriette Lehmann erhob sich und zog einen schmalen Ordner aus einer Küchenschublade. »Ich habe sie schon rausgesucht.« Sie reichte Malin die Farbkopie eines Personalausweises. Ihre Hand zitterte.

Das Foto zeigte ein ebenmäßiges schmales Gesicht mit strahlenden blauen Augen, umrahmt von glatten schwarzen Haaren. Schön wie Schneewittchen, schoss es Malin durch den Kopf. Wäre da nicht dieses leicht überhebliche Lächeln, sie wäre makellos. Malin atmete tief durch. Schon bevor sie den Leberfleck oberhalb des rechten Mundwinkels auf dem Foto entdeckte, wusste sie, dass die Tote aus der Alster und Theresa Althoff identisch waren. Sie reichte die Kopie an Bartels weiter.

»Ist sie es?«, fragte Henriette Lehmann.

Malin ließ die Frage unbeantwortet. »Frau Lehmann, haben Sie eine Adresse, unter der wir die Angehörigen von Frau Althoff erreichen können?«

Henriette Lehmann starrte sie einen Moment an. Dann griff sie mit Tränen in den Augen nach ihrem Ordner und blätterte wie in Zeitlupe den Inhalt durch. »Hier.« Ihre Stimme zitterte, als sie Malin einen Zettel reichte, auf dem in zierlicher Handschrift eine Adresse in München notiert war.

»Danke. Können Sie uns noch irgendetwas über Theresa erzählen? Hat sie einen Freund?«

Henriette Lehmann neigte den Kopf zur Seite. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie einen festen Freund hat. Aber Männer gab es. Zumindest hat sie ab und zu einen mit nach Hause gebracht. Obwohl sie genau wusste, dass ich das nicht dulde.« Empörung schwang in ihrer Stimme mit. Dann schien ihr etwas einzufallen. »Mit einem jungen Mann habe ich sie öfters gesehen. Ein Kommilitone von ihr. Groß, dunkelhaarig, äußerst gut aussehend.« Sie schaute Bartels an. »Vom Typ etwa so wie Sie.«

»Kennen Sie den Namen des Mannes?«

Die Pensionswirtin krauste die Stirn. »Richard Soundso. Tut mir leid. Aber Sie können Fenja fragen. Meine andere Mieterin. Die drei studieren zusammen an der CLS.«

Malin zog hörbar die Luft ein. Bartels blickte von seinem Notizbuch auf. »Was ist denn die CLS?«

»Das ist die Corvinius Law School«, beantworte Malin die Frage barscher als beabsichtigt. »Eine Elite-Hochschule für Rechtswissenschaften.«

»Wenn Sie möchten, suche ich Ihnen die Adresse heraus«, bot Henriette Lehmann an.

Malin zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Lehmann, aber es wird nicht nötig sein.«

Wenige Minuten später verließen die beiden Kriminal­beamten das Haus in der Blumenstraße. Sichtlich genervt folgte Bar­tels seiner davoneilenden Kollegin. »Sag mal, was ist da drinnen bloß in dich gefahren? Du kannst doch nicht einfach mittendrin abbrechen.«

Malin drehte sich um. »Wir haben doch alle Eckdaten. Jetzt müssen wir uns erst mal um die Identifizierung kümmern.«

Bartels dunkle Augen verengten sich. »Irgendetwas stimmt doch nicht, Malin. Kennst du diese Theresa? Oder vielleicht diesen Richard?« Er klang verärgert.

»Quatsch. Ich fahre jetzt los. Wir treffen uns dann gleich im Präsidium.« Malin stieg in ihren Mini und blieb einen Moment regungslos hinter dem Steuer sitzen.

Corvinius Law School. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

5

Das Ermittlungsteam hatte sich am späten Nachmittag­ zur Fallbesprechung im Konferenzzimmer der Mordkommission versammelt. Wie in den meisten Räumen des LKA herrschte auch hier eine nüchterne und sachliche Arbeitsatmosphäre. Einzig die um den Konferenz­tisch herum gruppierten Metallschwinger verliehen dem tristen­ Raum mit ihren grünen Sitzflächen ein wenig Farbe.

Hauptkommissar Fricke stand neben einem Whiteboard, an das jemand Fotos der Leiche geheftet hatte. »Ich habe vor ein paar Minuten einen Anruf aus der Rechtsmedizin bekommen. Die Eltern von Theresa Althoff haben die Tote anhand der Fotos als ihre Tochter identifiziert. Sie treffen noch heute mit einer Maschine aus München ein.« Er wies auf die Kopie des Personalausweises, die stark vergrößert neben den Fotos aus der Rechtsmedizin hing. »Theresa Althoff war 22 Jahre alt und stammt ursprünglich aus München, wo ihr Vater, Bernhard Althoff, Partner einer der größten Wirtschaftskanzleien in Süddeutschland ist. Seit anderthalb Jahren studierte Theresa in Hamburg. Und zwar«, Fricke warf einen kurzen Blick auf seine Notizen, »Rechtswissenschaften an der Corvinius Law School. Ole, ab hier kannst du weitermachen.«

Ole Tiedemann erhob sich von seinem Stuhl und befestigte ein Hochglanzfoto, das die Hochschule aus der Vogelperspektive zeigte, neben dem Foto von Theresa Althoff. Man sah den Campus mit einem historischen Gebäude neben Bauten im modernen Design, dazwischen großzügig angelegte Grünflächen.

Andresen piff durch die Zähne. »Das nenn ich doch mal eine Location.«

»Du hast völlig recht, Sven.« Tiedemann wandte sich dem Foto zu. »Die Corvinus Law School verfügt über eine beeindruckende Ausstattung. Seminarräume mit neuester Medientechnik, ein gläsernes Auditorium mit erstklassiger Akustik, ein modern gestaltetes Bibliotheks- und Hörsaalgebäude. Studentenlounges, eigener Coffeeshop, die Liste ist endlos.« Tiedemann hielt eine Broschüre hoch. »Das ist nur eine von ungefähr ein Dutzend weiteren. Alles Infomaterial über die Schule. Ich habe für jeden von euch einen Satz, den bekommt ihr später. Zuerst fasse ich noch kurz die Eckdaten zusammen.«

Er trank einen Schluck Wasser und fuhr dann mit seinem Bericht fort. »Die Corvinius Law School ist die erste private Hochschule für Rechtswissenschaft in Deutschland. Gründer sind Friedrich Corvinius und die namensgleiche Corvinius-Stiftung. Die Hochschule ist komplett aus privaten Mitteln finanziert. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Leistungsorientierung des einzelnen Studenten, Internationalität und Praxisnähe. Sie gilt als Kaderschmiede für ambitionierte Jurastudenten und ist bekannt für die hervorragenden Examensergebnisse ihrer Absolventen, natürlich alles staatlich und international anerkannt.«

»Da haben wir doch mal wieder eine feine Zweiklassen­gesellschaft«, warf Andresen ein. Sein Blick glitt zu seiner Kollegin. »Sag mal, Brodersen, du hast doch auch Jura studiert. Diese Streberschmiede würde ganz hervorragend zu deiner Nase passen. Die trägst du doch gerne mal ein wenig höher.« Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

»Mensch, Sven, das ist doch nur was für Kids mit reichen Eltern«, mischte Bartels sich ein, ehe Malin reagieren konnte.

»Das stimmt so nicht ganz, Fred.« Tiedemann blätterte in einer der Broschüren. »Wusste ich es doch, da steht es: Fast zehn Prozent der Studenten sind Stipendiaten. Damit haben sie von sämtlichen Hochschulen in Deutschland die höchste Quote.«

»Hört, hört«, war es von Andresen zu vernehmen.

Fricke klatschte in die Hände »Also gut, dann mal weiter im Text.« Er wandte sich an Glaser. »Frank, was hast du bisher für uns?«

Der hagere Kriminaltechniker zog einen Stapel Papiere aus einer Mappe und breitete sie umständlich vor sich aus. »Ich habe euch eine Liste mit den Funden am Ufer zusammengestellt. Die meisten Spuren stammen von den Anwohnern oder von Touristen, die ihren Müll beim Tretbootfahren entsorgt haben. Keine einzige weist darauf hin, dass Täter und Opfer sich am Ufer befunden haben. Leider konnten auch an der Leiche keine Fremdspuren festgestellt werden. Wir gehen davon aus, dass der Täter sämtliche Mikrospuren entfernt hat. Möglicherweise hat er die Leiche abgespült, bevor er sie eingewickelt hat.« Sein verkniffenes Gesicht verzog sich zu einem angedeuteten Lächeln. »Erfreuliches hat sich allerdings bei der Untersuchung der Folie und des Klebe­bandes ergeben.« Er zog ein Blatt Papier zu sich heran.

»Jetzt mach es nicht so spannend, Frank«, beschwerte sich Andresen. »Was habt ihr gefunden?«

»Tja, was am Klebeband alles so hängenbleiben kann«, säuselte Glaser höchst zufrieden. »Unser Täter war beim Einwickeln der Leiche weniger sorgfältig.«

»Vielleicht war er unter Zeitdruck«, brummte Fricke. »Das würde auch erklären, warum der Täter sich nicht die geringste Mühe gegeben hat, dafür zu sorgen, dass die Leiche unter Wasser bleibt. Aber entschuldige, Frank, ich habe dich unterbrochen.«

Glaser sah auf seinen Zettel. »Wir konnten Staub, Glasfaserspuren, Lackpartikel und Spuren von Schmierstoffen feststellen. Des weiteren habe ich an der Innenseite eines der Müllsäcke ein paar Holzspäne gefunden.«

»Dann war unser Tatort vielleicht eine Werkstatt«, überlegte Malin laut. »Vielleicht eine Schreinerei?«

»Das rauszufinden, ist euer Job«, erwiderte Glaser.

»Was ist mit den Schmierstoffen? Lässt sich daraus etwas ableiten, Frank?«, fragte Tiedemann.

»Möglich. Aber dafür haben wir noch nicht alle Auswertungen.«

Fricke räusperte sich. »Dann kommen wir zur Aufteilung …«

»Vielleicht könnte ich zur CLS fahren?«, unterbrach Malin ihren Vorgesetzten.

Er fixierte sein jüngstes Teammitglied einen Moment aus zusammengekniffenen Augen. Dann glitt sein Blick zu seinem Stellvertreter Tiedemann. »Das machen Ole und Sven. Und zwar gleich morgen früh. Fred und Malin, ihr fahrt noch mal zu dieser Pensionswirtin. Befragt die anderen Mieterinnen, die Nachbarn und schaut euch, sobald die Spusi durch ist, das Zimmer der Toten an. Ich selbst werde an der Obduktion von Theresa Althoff teilnehmen. Die wurde auf morgen verschoben. Noch irgendwelche Fragen? Nein? Dann ist die Besprechung für heute beendet.« Auf dem Weg zur Tür wandte er sich noch einmal um. »Brodersen, in zehn Minuten in mein Büro!«

Sie bemerkte sofort, dass sich in Frickes Büro etwas verändert hatte. Wo noch vor kurzem ein Hometrainer gestanden hatte, befand sich nun ein alufarbener Rollcontainer. Darauf thronte eine krumme Yuccapalme in einem Plastiktopf. »Nanu, Chef, hast du dem Sport jetzt endgültig abgeschworen?«

Fricke machte eine wegwerfende Handbewegung, die so gut wie alles bedeuten konnte. Dann zeigte er auf den Besucherstuhl und setzte sich selbst auf seinen durchgesessenen schwarzen Lederstuhl, ein Überbleibsel seiner früheren Dienststelle. Unter einem Berg von Unterlagen zog er eine Akte heraus und legte sie vor sich auf den Tisch.

Seine hellen, leicht unterlaufenen Augen starrten Malin einige Sekunden wortlos an. Ihr wurde ein wenig mulmig zumute. Fricke war in der Regel ein aufbrausender Mensch und sein hochroter Kopf, verbunden mit einer seiner laut polternden Tiraden, waren in den Reihen des LKA geradezu von legendärem Ruf. Wenn er aber wie jetzt äußerst ruhig agierte, obwohl man an seiner leicht zuckenden Schläfe gut erkennen konnte, dass sich einiges dahinter regte, dann hatte man wirklich ein Problem.

»Chef? Alles klar?«, fragte Malin zögerlich. Das ist doch lächerlich, dachte sie. Diesmal hatte sie sich doch wirklich nichts zuschulden kommen lassen. Trotzdem begann sie zu schwitzen.

Mit einem lauten Knall, bei dem Malin zusammenzuckte, schlug Fricke die vor ihm liegende Akte auf den Tisch. »Und jetzt sprechen wir mal über deine Zeit an der Corvinius Law School. Also?« Seine Stimme hatte einen gefährlichen Unterton.

»Ja – ich habe dort studiert«, gab Malin barsch zu. »Was ist daran so schlimm?«

»Warst du eine von diesen Stipendiaten?«, fragte Fricke ruhig. Eine verräterische Röte zog sich von seinem Hals Richtung Kopf und begann sich über sein gesamtes Gesicht auszubreiten. »Es wird langsam Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen.«

Malin schluckte. »Nein. Es wurde finanziert …«

»Von Constanze Heidenberg. Hauptgesellschafterin der Heidenberg Privatbank – deiner Mutter«, vervollständigte Fricke.

»Du weißt es also«, stellte Malin fest.

Fricke strich sich mit beiden Händen über die Haare. Dabei wirkte er müde und resigniert. »Was glaubst du denn? Denkst du, ich kann keine Personalakte lesen?«

»In der Akte steht etwas über meine Familie?«

»Nein, aber in dieser.« Er schob ihr die Akte zu, die vor ihm gelegen hatte. »Ich bin Polizeibeamter, Malin. Glaubst du, ich hole mir irgendwen in mein Team, ohne die Person vorher gründlich zu durchleuchten?«

»Dann wusstest du die ganze Zeit Bescheid?«, fragte Malin empört.

»Vom ersten Tag an.« Fricke erhob sich, ging zum Fenster und starrte in den Abendhimmel.

»Und warum regst du dich dann so auf?«

»Ich will keine Unruhe in meinem Team. Nicht schon wieder.« Er drehte sich wieder um. »Du hättest deinen Kollegen reinen Wein einschenken müssen. Heute wäre die beste Gelegenheit dafür gewesen.«

»Du bist sauer«, stellte Malin fest und blätterte in der Akte.

»Ich bin enttäuscht«, brummte Fricke und stützte seine Hände auf den Schreibtisch. »Am liebsten würde ich dich gleich von dem Fall abziehen.«

Malin schlug die Akte zu und sprang auf. »Das ist nicht dein Ernst. Nur weil ich an der CLS studiert habe? Was ist denn das für ein Grund!?«