Nordlicht - Die Toten im Nebel - Anette Hinrichs - E-Book
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Nordlicht - Die Toten im Nebel E-Book

Anette Hinrichs

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Beschreibung

Eine grausame Mordserie erschüttert den Norden! Der neue Fall für Boisen & Nyborg von Bestsellerautorin Anette Hinrichs

An einem stürmischen Herbsttag wird im Hafen von Esbjerg die Leiche eines Mannes in einer Lagerhalle gefunden. Mit gefesselten Händen und durchtrennter Kehle. Wenige Wochen später taucht in einer norddeutschen Kleinstadt eine zweite Leiche auf. Schrecklich entstellt und auf dieselbe Art gefesselt wie der Tote in Esbjerg liegt das Opfer auf dem Förderband einer Papiersortieranlage.
Vibeke Boisen von der Flensburger Mordkommission und Rasmus Nyborg von der dänischen Polizei nehmen die Ermittlungen auf. Schnell stellt sich heraus, dass die beiden Verbrechen nur der Auftakt einer grausamen Mordserie sind. Der Täter schlägt erneut zu, und der Fall nimmt eine dramatische Wendung. Denn das Opfer ist diesmal keine Unbekannte ...

»NORDLICHT ist einfach eine der besten deutschen Krimireihen, die es aktuell gibt.« krimi-couch.de

Zwei Ermittler so unterschiedlich wie Ebbe und Flut: Boisen & Nyborg ermitteln in grenzübergreifenden Fällen in Deutschland und Dänemark.

Alle Bände der SPIEGEL-Bestsellerreihe sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 461

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Buch

An einem stürmischen Herbsttag wird im Hafen von Esbjerg die Leiche eines Mannes in einer Lagerhalle gefunden. Mit gefesselten Händen und durchtrennter Kehle. Wenige Wochen später taucht in einer norddeutschen Kleinstadt eine zweite Leiche auf. Schrecklich entstellt und auf dieselbe Art gefesselt wie der Tote in Esbjerg liegt das Opfer auf dem Förderband einer Papiersortieranlage.

Vibeke Boisen von der Flensburger Mordkommission und Rasmus Nyborg von der dänischen Polizei nehmen die Ermittlungen auf. Schnell stellt sich heraus, dass die beiden Verbrechen nur der Auftakt einer grausamen Mordserie sind. Der Täter schlägt erneut zu, und der Fall nimmt eine dramatische Wendung. Denn das Opfer ist diesmal keine Unbekannte …

Autorin

Anette Hinrichs ist als geborene Hamburgerin ein echtes Nordlicht. Ihre Leidenschaft für Krimis wurde im Teenageralter durch Agatha Christie entfacht und weckte in ihr den Wunsch, eines Tages selbst zu schreiben. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie im Raum München. Ihre Sehnsucht nach ihrer alten Heimat lebt sie in ihren Küstenkrimis und zahlreichen Recherchereisen in den hohen Norden aus. Mit NORDLICHT, ihrer Krimireihe um das deutsch-dänische Ermittlerteam Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg, begeistert Anette Hinrichs ihre Leserinnen und Leser und erobert regelmäßig die Bestsellerlisten.

Weitere Informationen unter:

www.anettehinrichs.de

www.facebook.com/Anette-Hinrichs-Autorin-517398078303711/

www.instagram.com/anettehinrichs/

Boisen & Nyborg ermitteln in:

NORDLICHT – Die Tote am Strand

NORDLICHT – Die Spur des Mörders

NORDLICHT – Die Tote im Küstenfeuer

NORDLICHT – Die Toten im Nebel

Weitere Fälle sind in Vorbereitung

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Anette Hinrichs

NORDLICHT

Die Toten im Nebel

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Dieses Buch ist ein Roman, das Beschriebene hat sich so nicht ereignet. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Copyright © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: David Baker/Arcangel Images; www.buerosued.de; privat

Karte/Illustrationen: www.buerosued.de nach einer Vorlage von Daniela Eber

WR · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26399-7V006

www.blanvalet.de

Für meinen Vater

Prolog

Kolding, Dänemark – Januar 2013 

Sie lag auf der Seite. Um sie herum war alles verschwommen. Verwaschene Grautöne, die miteinander verschmolzen. Flackernde Schatten. Geräusche, die sie nicht zuordnen konnte. Die Augen fielen ihr zu. Dunkelheit umhüllte sie wie eine schützende Decke. Sie konnte sich nicht bewegen, aber das war nicht schlimm. In ihren Gedanken lief sie barfuß durch die Dünen, an den endlos weiten Strand. Sand rieb zwischen ihren Zehen, und der Wind zerzauste ihre Haare. Wasser spritzte unter ihren Füßen auf, als sie das Meer erreichte. Zwischen den Muscheln und Algen leuchteten nass und glänzend bunte Kieselsteine. Die Wellen schlugen hoch, trugen die Gischt bis an ihre Knie. Am Himmel zogen Seevögel kreischend ihre Kreise.

Sie hatte das Gefühl zu schweben. Unter ihren zuckenden Lidern spürte sie die wärmenden Strahlen der Sonne. Im nächsten Moment schossen Lichtkegel vorbei, und sie klammerte sich an den Strom ihrer Gedanken. Der Sand, der Wind, das Meer.

Die Lichter pulsierten kräftiger, wurden zu roten und gelben Blitzen. Die Kälte kam zurück. Zusammen mit den Schmerzen. Auch die Geräusche veränderten sich. Sie hörte Schreie. Rufe. Jemand wimmerte.

Es tat weh. So unendlich weh. Ihr Brustkorb zog sich zusammen. Sie konnte kaum atmen, spürte, dass der dünne Bindfaden, der sie am Leben hielt, jeden Augenblick zu reißen drohte.

1. Kapitel

Esbjerg, Dänemark

Nebelschwaden umhüllten die Bohrtürme, die wie stählerne Riesen schier endlos in den Himmel ragten. Darunter leuchteten die Lichter der Industrie- und Hafenanlage im morgendlichen Grau. Der Betrieb an den Docks und den hochmodernen Containerterminals lief rund um die Uhr.

Gigantische Schiffsrümpfe, surrende Kräne, in der Ferne die Silhouetten von Windrädern, deren geschwungene Rotorblätter sich hoch über der Nordsee drehten. Die Kaianlagen zogen sich über fünfzehn Kilometer die Küstenlinie entlang.

»Dort muss es sein«, sagte Polizeikommissar Mads Østergård und wies auf den Streifenwagen, der in Höhe von etwa zwei Dutzend 40-Fuß-Containern den seitlichen Kai blockierte.

Rasmus Nyborg drosselte das Tempo und kam kurz darauf mit seinem VW-Bus neben dem Streifenwagen zum Stehen. Das Seitenfenster glitt herunter, und eine junge Polizistin schaute zu ihnen herüber. Er kannte sie vom Sehen, konnte sich aber nicht an ihren Namen erinnern.

Er kurbelte das Fenster des Bullis herunter. »Hej. Ist die Spurensicherung schon da?«

»Die Kollegen sind noch unterwegs«, verkündete die Streifenbeamtin. Rasmus fiel ein, dass sie Marianne hieß.

Er bedankte sich mit einem Kopfnicken, und sie setzte den Streifenwagen ein Stück zurück, um ihn und Mads Østergård durchzulassen.

Langsam rollte Rasmus mit dem Bulli den Kai entlang. Nieselregen setzte ein, und er betätigte die quietschenden Scheibenwischer, die er schon vor Monaten hatte ersetzen wollen.

Der Anruf war um kurz vor sieben gekommen, da hatte er gerade unter der Dusche gestanden und sich auf einen heißen Kaffee und eine Zimtschnecke gefreut, die er auf dem Weg in die Polizeistation in der Bäckerei hatte besorgen wollen. Stattdessen hatte er Mads eingesammelt und war in den Hafen gefahren. Ein Leichenfund in einer leer stehenden Lagerhalle. Kein natürlicher Tod, wie die Streifenbeamten, die als Erstes vor Ort gewesen waren, festgestellt hatten. Was auch immer das heißen mochte.

Der Regen wurde stärker, senkte sich wie ein trüber Schleier über das Hafengelände, ließ es trist und trostlos erscheinen. Die Konturen von Land und Wasser verschwammen miteinander.

In etwa hundert Meter Entfernung parkte ein weiterer Streifenwagen vor einem Bauzaun. Dahinter ein zweigeschossiges fensterloses Gebäude. Haushohe verrostete Tore, Wellblechverschalung. Zwei Uniformierte flankierten den Zugang.

Rasmus parkte den VW-Bus seitlich vom Zaun und stieg aus.

Kräftiger Wind fegte vom Meer an Land und peitschte ihm augenblicklich Regen ins Gesicht. Er fluchte leise.

Halb acht, eine Leiche und Sauwetter.

Dazu war es für Mitte Oktober ungewöhnlich kalt. Die Temperaturanzeige in seinem VW-Bus hatte gerade mal fünf Grad angezeigt. Seine Laune sank von Minute zu Minute.

»Hast du Schutzkleidung dabei?«, erkundigte sich Mads und warf einen skeptischen Blick in den hinteren Laderaum des Bullis, wo die alte Matratze lag.

Wortlos öffnete Rasmus die seitliche Schiebetür und beförderte einen Stapel Schutzkleidung aus einer Klarsichtbox heraus, den er seinem Kollegen reichte. Mads und er arbeiteten seit einem halben Jahr zusammen. Er war ein kräftiger, dunkelhaariger Mann mit der Statur eines Preisboxers und erinnerte ihn im Aussehen stets ein wenig an Sylvester Stallone. Sie kamen gut miteinander aus, und Rasmus respektierte ihn als Polizisten und als Mensch. Doch nach Dienstschluss trennten sich ihre Wege. Rasmus wusste, dass Mads in einem Doppelhaus in Sædding wohnte, verheiratet war und zwei Söhne hatte, darüber hinaus hatte er keinerlei private Einblicke. Was Rasmus gut in den Kram passte. Er schleppte selbst genügend Gepäck mit sich herum. Ein toter Sohn, eine gescheiterte Ehe, Rückschritte im Berufs- und im Privatleben. Nichts, worüber er gerne sprach. Einziger Lichtblick war seine kleine Tochter Ida, die bei seiner Ex-Frau Camilla in Kopenhagen lebte.

Rasmus setzte die Kapuze seines Schutzanzugs auf und trat zusammen mit seinem Kollegen auf die zwei Uniformierten zu.

»Hej, Rasmus«, begrüßte ihn der Ältere der beiden und nickte Mads zu.

»Wo befindet sich die Leiche?«, erkundigte sich Rasmus. Eine leere Plastiktüte, aufgewirbelt vom Wind, landete neben seinen Füßen.

»Geht einfach rein.« Der Beamte zeigte auf das Hallentor, das ein Stück weit offen stand. »Ihr könnt sie nicht übersehen.«

Gefolgt von Mads betrat Rasmus das Gebäude und fand sich in einer riesigen Halle wieder. Schwere Metallstreben an Decken und Wänden, auf dem Betonboden waren noch die Abdrücke der Regale und Maschinen zu erkennen, die hier einmal gestanden hatten. Schummriges Licht drang durch die schmalen Fenster im Dachfirst und tauchte die Halle in eine gespenstische Atmosphäre. Spinnenweben hingen wie Gardinen von den Trägern herab, der Boden war übersät mit Staub, Dreck und kleinen schwarzen Krümeln. Irgendwo tropfte Wasser von der Decke. In der Luft hing der metallische Geruch von Blut.

Der Tote saß auf einem Stuhl in der Mitte der Halle. Er trug Anzug und Hemd und war mit einem Strick um den Oberkörper an die Lehne gebunden, die Beine lang ausgestreckt. Einer der Schnürsenkel hatte sich gelöst und hing lose auf den Boden herab.

Der Kopf des Mannes war in den Nacken gesunken, die Augen weit aufgerissen, die Gesichtszüge erschlafft. Unter dem Kinn klaffte eine breite, keilförmige Wunde und offenbarte einen Krater rohes Fleisch.

Überall klebte Blut. An den kurzen dunklen Haaren, im Gesicht, an der Kleidung. Am Stuhl. Auf dem Betonboden darunter hatte sich ein kleiner See gebildet. Geronnenes Blut. Dunkelrot, fast schwarz.

Rasmus’ Magen rebellierte augenblicklich. Schnell wandte er den Blick ab.

»Was für eine Sauerei.« Mads zückte das Handy und begann, die Leiche zu fotografieren. Ihm schien der Anblick nicht das Geringste auszumachen. »Wer hat den Toten gefunden?«

Rasmus atmete flach, versuchte, seine Übelkeit in den Griff zu bekommen. »Ein anonymer Anrufer hat es unter der Notrufnummer gemeldet.«

Mads ließ den Blick durch die Halle schweifen. »Vielleicht irgendeiner, der sich hier ein Plätzchen zum Schlafen gesucht hat.« Er steckte sein Handy wieder ein. »Oder der Täter selbst.«

»Möglich.« Rasmus ging um den Toten herum und betrachtete die Fesselung auf der Rückseite.

Das Seil war mehrfach um Oberkörper und Lehne geschlungen, die Hände des Opfers zusätzlich mit einem Handschellenknoten fixiert. Eine tückische und gefährliche Fesselmethode. Zerrte der Gefesselte an den Seilenden, zog sich der Knoten enger zusammen, bis es irgendwann zu Durchblutungsstörungen kam. Offenbar hatte der Mann auf dem Stuhl genau das getan. Das Seil schnürte sich tief in die Haut seiner Handgelenke.

Rasmus’ Blick glitt weiter zu dem in den Nacken gesunkenen Kopf und blieb schließlich am Gesicht des Toten hängen. Er schätzte den Mann auf um die fünfzig, nur wenige Jahre älter als er selbst. Die weit aufgerissenen Augen spiegelten das Entsetzen seiner letzten Lebenssekunden wider.

Stimmen wurden laut und kündigten die Ankunft der Spurensicherung an. Im nächsten Augenblick erschien rund ein Dutzend Kriminaltechniker in Schutzkleidung vor dem Eingang der Lagerhalle.

Rasmus ging ihnen entgegen und erkannte Henrik Knudsen, den Chef der Spurensicherung, anhand seiner buschigen Brauen und dunklen Knopfaugen, die zwischen Kapuze und Mundschutz hervorlugten. »Hej, Henrik.«

»Hej.« Knudsen musterte ihn flüchtig, ehe sein Blick zur Leiche wanderte, wo Mads gerade eingehend den Fesselknoten inspizierte.

»Ihr habt hoffentlich nichts angefasst.«

Rasmus hob die Brauen. »Was denkst du von uns?«

»Das willst du lieber nicht wissen.« Um Knudsens Augenpartie bildeten sich für einen kurzen Moment Lachfältchen, dann wurde er wieder ernst. »Und jetzt trampelt nicht länger an meinem Tatort herum, sondern lasst mich und meine Leute in Ruhe unsere Arbeit machen.« Er drehte sich um und instruierte seine Mitarbeiter.

Rasmus und Mads gingen zurück ins Freie. Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen, doch es war noch immer kalt, grau und windig.

»Weißt du, wo man hier am schnellsten einen Kaffee bekommt?«, sprach Rasmus einen der Uniformierten an.

»Ich habe eine Thermoskanne dabei.« Der Beamte deutete auf den Streifenwagen. »Wenn ihr möchtet, es ist noch genug da.«

»Großartig«, sagte Rasmus.

Kurz darauf standen die beiden Kriminalbeamten mit Pappbechern voll Kaffee vor dem offenen Tor und beobachteten die Spurensicherung bei der Arbeit.

In der Lagerhalle sah es mittlerweile aus wie an einem Filmset. Scheinwerfer waren aufgestellt worden, Kameras klickten, und Kriminaltechniker wuselten um den auf dem Stuhl sitzenden Toten herum.

»Wie ist er hierhergekommen?« Rasmus leerte den restlichen Inhalt seines Bechers. Er drehte sich um und sah durch den Bauzaun. Sein Blick blieb an einer dunklen Limousine hängen, die ein Stück den Kai entlang geparkt war. Sie wirkte in der Umgebung wie ein Fremdkörper. »Ich sehe mir mal das Auto dahinten an.«

Im nächsten Moment wurde sein Name gerufen.

»Rasmus!« Knudsen kam aus dem Hallentor und hielt eine schwarze Brieftasche in die Höhe. »Die war im Jackett des Toten.« Er reichte den Fund an Rasmus weiter und eilte zurück.

Rasmus inspizierte das Innere der Brieftasche und zog einen Ausweis heraus. »Nohr Lysgaard, geboren am 3. November 1969«, las er vor. »Wohnhaft Lindelunden in Esbjerg.« Er betrachtete das Foto, das einen dunkelhaarigen Mann mit markanter Brille zeigte.

»Das ist der Tote«, bestätigte Mads, nachdem er ebenfalls einen Blick darauf geworfen hatte. »Nur die Brille fehlt.«

Rasmus nickte. Er sah die restlichen Fächer der Brieftasche durch. Drei Hundertkronenscheine, mehrere Kreditkarten, Führerschein und diverse Kassenbelege. Schließlich zog er eine Visitenkarte mit dem Namen des Toten heraus. Er krauste die Stirn. »Nohr Lysgaard ist der CFO von Rønsted Offshore.«

»Heilige Scheiße«, entfuhr es seinem Kollegen.

Rønsted Wind A/S war einer der weltweit führenden Hersteller von Windkraftanlagen.

Rasmus drehte die Karte in der Hand. »Ich dachte immer, die hätten ihren Sitz in Kopenhagen.« Sein Blick glitt zu der Limousine hinter dem Bauzaun.

»Nur den Hauptsitz. Die haben Niederlassungen und Produktionsstätten in ganz Europa, und die Offshore-Tochter hat sich in Esbjerg angesiedelt.«

Rasmus überlegte, wie sich die Tatsache, dass der Tote einer der führenden Manager des Rønsted-Konzerns war, auf die Ermittlung auswirken könnte. Dänemark bezog seinen Strom fast zu fünfzig Prozent aus Windenergie und war damit weltweit führend, ein Land voller Windpioniere und Innovatoren, die ihre Überzeugung, Wind als erneuerbare Energiequelle zu nutzen, teilten. Der Fall würde mit Sicherheit jede Menge öffentliches Interesse auf sich ziehen.

»Ich informiere Eva-Karin.« Rasmus öffnete den Reißverschluss seines Overalls und zog sein Handy heraus. »Wir brauchen mehr Leute. Sobald die Presse hiervon Wind bekommt, haben wir keine ruhige Minute mehr.«

Er wandte sich ab, um zu telefonieren. Während er darauf wartete, dass die Vizepolizeiinspektorin am anderen Ende das Gespräch annahm, glitt sein Blick zurück zur Leiche. Die Lagerhalle. Der Stuhl. Die Fesseln. Das viele Blut. Der Mord glich einer Hinrichtung. Doch wer tat so etwas? Wer schnitt einem anderen Menschen kaltblütig die Kehle durch?

Esbjerg, Dänemark

Das Wohngebiet Lindenlunden lag in der Kirchspielgemeinde Kvaglund Sogn, rund fünf Kilometer nördlich vom Stadtzentrum entfernt. Hübsche Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten und frisch gestutzten Hecken säumten die Straße, in der der tote Finanzvorstand laut Ausweis gewohnt hatte.

»Wir sind da.« Rasmus parkte seinen VW-Bus am Straßenrand und sah zu dem angrenzenden Rotklinkerbau.

Weiße Sprossenfenster, Doppelgarage und perfekt getrimmter Rasen. Kugelförmige Buchsbäume reihten sich am Weg vom Bürgersteig bis zur Haustür entlang. Wind fegte durch die Bäume, wirbelte Blätter und Laub in die Auffahrt, in der ein leuchtend blauer Mini stand.

Die beiden Kriminalbeamten stiegen aus dem VW-Bus und gingen zum Hauseingang. Rasmus betätigte die Klingel.

Eine blonde Frau öffnete ihnen die Tür. Sie war um die vierzig, hatte ein freundliches, mit Sommersprossen übersätes Gesicht und war leger in Jeans und eine helle Hemdbluse gekleidet.

Rasmus zeigte seinen Dienstausweis und stellte sich und seinen Kollegen vor. »Wie ist dein Name?«

»Mille. Mille Lysgaard.« Sie hob irritiert die Brauen.

»Dürfen wir vielleicht reinkommen?« Er fühlte sich unwohl in seiner Haut. Das Überbringen von Todesnachrichten wurde auch im Laufe der Jahre nicht leichter. Er war schlecht in diesen Dingen. Fremden sein Mitgefühl auszudrücken. Dabei wusste er selbst am besten, wie es sich anfühlte, einen geliebten Menschen zu verlieren.

»Ja. Natürlich.« Mille Lysgaard trat einen Schritt beiseite, um sie hineinzulassen.

Die beiden Kriminalbeamten folgten der blonden Frau in einen großzügig geschnittenen Wohnraum. Die Einrichtung war modern und funktional gehalten. Helle Farben und schlichtes Design. Große Fenster ließen trotz des tristen Wetters viel Licht herein.

»Ich würde euch etwas anbieten, aber ich habe es ehrlich gesagt ein wenig eilig.« Mille Lysgaard warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie wirkte nicht im Geringsten darüber beunruhigt, dass die Polizei bei ihr auftauchte, stellte Rasmus verwundert fest. Doch vielleicht war sie mit ihren Gedanken auch einfach nur woanders. »In einer halben Stunde habe ich eine Patientin.«

»Du bist Ärztin?«, erkundigte sich Mads.

»Physiotherapeutin.«

Rasmus räusperte sich. »In einer leer stehenden Lagerhalle im Hafen wurde heute früh eine Leiche aufgefunden. Wir haben Grund zur Annahme, dass es sich dabei um deinen Mann handelt.«

Mille Lysgaards Augen weiteten sich, dann schlug sie die Hände vor den Mund. Rasmus fiel auf, wie kräftig ihre Finger waren.

Sekunden vergingen, ohne dass jemand etwas sagte.

»Kann das ein Irrtum sein?«, fragte sie schließlich.

Mads zog sein Handy heraus und scrollte auf dem Display die Fotos durch, die er kurz zuvor am Tatort gemacht hatte. Er hielt ihr eine Nahaufnahme des Opfers entgegen, ohne dass die Halswunde darauf zu erkennen war.

»Das ist Nohr.« Mille Lysgaard ließ sich auf die Couch sinken. »Was ist meinem Mann passiert?« Sie klang gefasst.

Rasmus zog sich einen Stuhl heran. Er hatte schon die unterschiedlichsten Reaktionen beim Überbringen einer Todesnachricht erlebt. Für die meisten Angehörigen waren es die schwärzesten Stunden ihres Lebens.

Mille Lysgaards Sachlichkeit irritierte ihn. Doch vielleicht handelte es sich um eine reine Schutzreaktion. »Jemand hat ihn gefesselt und ihm den Hals durchgeschnitten.«

Mille Lysgaard starrte ihn an. »Wer tut so etwas?« Sie schluckte.

»Das wäre meine nächste Frage gewesen.« Rasmus beugte sich vor. »Gibt es jemanden in der Umgebung deines Mannes, dem du so etwas zutraust? Wurde Nohr vielleicht bedroht?«

Mille Lysgaard schüttelte den Kopf. »Nein. Davon hätte er mir mit Sicherheit erzählt.«

»Gab es Schwierigkeiten in seinem Job?«

»Nichts, was über das Übliche hinausging.« Bitterkeit schwang in ihrer Stimme.

»Kannst du das vielleicht etwas genauer erläutern?«, fragte Mads, der sich gegen die Fensterbank gelehnt hatte.

»Nohr ist … er war CFO bei Rønsted Offshore. Ein Job, der alles einfordert.« Mille Lysgaard strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Bei Nohr drehte sich alles um Bilanzen, Reporting, Cashflow, Budget und Forecast und ROI, aber am Ende zählte immer nur der Gewinn. Das Geld.« Sie holte tief Luft. »Mein Mann war ein Workaholic, stand permanent unter Druck. Hätte er nicht zu hundert Prozent abgeliefert, hätten im nächsten Moment ein Dutzend anderer bereitgestanden, um zu übernehmen. Kurz: Nohr schwamm täglich in einem Haifischbecken.«

»Das klingt nicht gerade gesund«, stellte Rasmus trocken fest.

»Ist es auch nicht. Besonders nicht für eine Ehe.« Mille Lysgaard nestelte an ihrer Armbanduhr, und ihm fiel auf, dass sie keinen Ehering trug. »Ich sag es euch lieber gleich, ehe ihr es von anderer Seite erfahrt. Unsere Beziehung war nicht besonders harmonisch. Mein Mann und ich haben viel gestritten.« Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Deshalb haben wir uns auch vor Kurzem getrennt.«

Das erklärt so einiges, dachte Rasmus. Die Frau hatte offenbar bereits emotional mit ihrem Mann abgeschlossen.

»Danke für deine Offenheit«, sagte er. Sein Blick fiel auf ein Familienfoto in einem der Regale. Nohr Lysgaard, seine Frau und zwei dunkelhaarige Jungen, die ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten waren, lächelten breit in die Kamera. Er hatte Mühe, den schlanken, braun gebrannten Mann auf dem Foto mit dem Toten in der Lagerhalle in Einklang zu bringen. »Wohnte Nohr noch hier?«

»Nein. Er ist vor ein paar Wochen ausgezogen. Wir haben ein Ferienhaus in Blåvand. Dort wollte er bleiben, bis er etwas Geeignetes in der Stadt gefunden hätte.«

Rasmus zog sein Notizbuch aus der Jackentasche. »Es tut mir leid, aber ich muss das fragen. Wo warst du in den letzten vierundzwanzig Stunden?«

Mille Lysgaard runzelte die Stirn. »Ich hatte gestern den ganzen Tag Behandlungstermine, nur um die Mittagszeit, zwischen halb eins und halb drei, war ich zu Hause, um den Jungs etwas zu kochen. Gegen achtzehn Uhr habe ich Feierabend gemacht. Seitdem bin ich hier.«

Rasmus notierte die Angaben. »Wie alt sind deine Kinder?«

»Dreizehn und fünfzehn. Ihr habt jetzt aber nicht vor, die beiden zu befragen, oder?« Ihre Nasenflügel vibrierten.

»Gibt es jemand anderen, der deine Angaben für den Abend bestätigen kann?«

»Meine Mutter hat angerufen. Gegen halb acht«, entgegnete Mille Lysgaard leicht ungehalten. »Und ich habe eine Nachbarin getroffen, als ich den Müll rausgebracht habe. Das war ungefähr eine Stunde später.«

»Wann hast du deinen Mann zuletzt gesehen?«

»Vorgestern. Er hat noch ein paar Sachen geholt.«

»War er dabei irgendwie anders als sonst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben kaum miteinander gesprochen.«

Rasmus ließ den Stift sinken. »Waren die Streitereien schuld an eurer Trennung, oder gab es noch einen anderen Grund?«

Mille Lysgaard bekam einen harten Zug um den Mund. »Was hat das jetzt mit dem Mord zu tun?«

»Wir müssen uns ein umfangreiches Bild machen. Und dazu gehört auch zu wissen, ob dabei möglicherweise eine dritte Person im Spiel war.« Er musterte sie. »War dies der Fall?«

»Seine Arbeit war schuld. Weil Nohr sich mehr für seinen Job bei Rønsted interessiert hat als für seine Familie.« Mille Lysgaard erhob sich. Ihre Augen wirkten plötzlich glasig. »Ich möchte euch bitten, jetzt zu gehen.«

Die beiden Kriminalbeamten erhoben sich. Rasmus zog eine Visitenkarte heraus und legte sie auf den Tisch. »Wir benötigen die Adresse des Strandhauses und eine Auflistung von Familie und Freunden, mit denen dein Mann in Kontakt gestanden hat. Unter Umständen brauchen wir auch noch weitere Angaben. Stell dich also darauf ein, dass wir wiederkommen.«

Sie verabschiedeten sich.

»Sie ist deiner letzten Frage ausgewichen«, sagte Mads, sobald sie wieder im Freien standen.

Nachdenklich sah Rasmus zu der Haustür, die sich gerade hinter ihnen geschlossen hatte. »Das ist mir auch aufgefallen.«

Esbjerg, Dänemark

Der Firmensitz von Rønsted Offshore Wind A/S lag im Østhavn, einem 650 Quadratmeter großen Hafenareal, in dem sich zahlreiche Unternehmen aus dem Offshore-Windenergiesektor angesiedelt hatten. Neben speziellen Testanlagen standen dort auch Einrichtungen zur Verfügung, die für die Vormontage und die Verschiffung von Windenergieanlagen ausgelegt waren. Das Gelände war durch meterhohe Zäune hermetisch abgeriegelt.

Rasmus blickte die Gebäudefassade hinauf. Fünf Stockwerke aus Glas und Stahl. Das Haifischbecken, schoss es ihm in den Sinn. Kräftiger Wind wehte vom Meer heran und blies ihm kalt in den Nacken. Er fröstelte.

»Dann wollen wir mal eine Runde schwimmen gehen.« Er folgte Mads zum Eingangsportal. Die Firmenflagge von Rønsted und ein Dannebrog flatterten an Fahnenmasten im Wind.

Die Empfangshalle war von beeindruckender Größe und glänzte darüber hinaus im modernen Design. Dunkelgrauer Granitboden, viel Chrom und Möbel von betont schlichter Eleganz. In flach angelegten Wasserbassins drehten Windkrafträder-Miniaturen ihre Rotorblätter. Die Gondel einer Windkraftanlage war für Wartende als Working Space umgebaut worden, ein gläserner Fahrstuhl beförderte Mitarbeiter und Besucher bis in die fünfte Etage. Aus eingelassenen Deckenlautsprechern drang dezente Lounge-Musik.

Neben ihm stieß Mads einen leisen Pfiff aus. Rasmus steuerte zielstrebig auf eine junge Rothaarige hinter dem Empfangstresen zu, deren schmal geschnittener Blazer ebenso perfekt saß wie ihr Lächeln.

»Willkommen bei Rønsted Offshore«, begrüßte sie ihn und seinen Kollegen mit einem strahlenden Lächeln. »Wie kann ich euch helfen?«

Rasmus legte seinen Dienstausweis auf den Tresen. »Wir würden gerne den Chef sprechen. Lars-Ole Solberg.« Den Namen des CEOs hatte er zuvor aus dem Netz gefischt.

Die Brauen der Empfangsmitarbeiterin rutschten ein Stück höher, während ihr Blick in Sekundenschnelle sein Äußeres scannte. Schwarze Jeans, schwarzes Hemd, schwarze Jacke. Alles im Lauf der Jahre ein wenig verwaschen und außer Form geraten, genau wie sein Dreitagebart. Ihr Blick wanderte zu Mads. »Habt ihr einen Termin?«

Rasmus schüttelte den Kopf. »Wir möchten ihn trotzdem sprechen.« Er äugte auf das Namensschild am Revers ihres Blazers. Lone Madsen. »Hör mal, Lone. Es geht um eine Mordermittlung, die eine Person aus der Führungsetage betrifft.«

Die Empfangsmitarbeiterin wurde eine Spur blasser. »Einen Moment bitte.« Sie ging durch eine offene Tür in einen Nebenraum, und Rasmus hörte, wie sie leise mit jemandem sprach.

Kurz darauf erschien ein dunkelhaariger Anzugträger. »Hej, ich habe gehört, ihr möchtet mit dem CEO sprechen?« Er lächelte jovial, als gehörte ihm der Laden. »Leider ist Lars-Ole zurzeit im Ausland bei einem Kongress.«

»Mit wem können wir stattdessen sprechen?«

Die Empfangsmitarbeiterin kam zurück an ihren Platz. Gleich darauf flogen ihre Hände über die Computertastatur. »Nohr Lysgaard, unser CFO, ist noch nicht im Haus«, informierte sie ihn. »Aber ich kann es bei Harald Jacobsen versuchen.« Sie griff nach dem Telefon. »Er ist der COO.«

»In Ordnung«, meinte Rasmus. Er fragte sich, weshalb fast sämtliche Jobs heutzutage so kryptische Namen trugen. CEO. CCO. Business Developer. Trafficer. Facility Manager. Vision Clearance Engineer. Chief oder Head of Irgendwas.

Wer sollte da überhaupt noch durchsteigen? In den meisten Fällen verbarg sich hinter den neumodischen englischen Berufsbeschreibungen ohnehin mehr Schein als Sein. Soweit er wusste, stand COO für Chief Operating Officer und bezeichnete damit die Person, die das operative Geschäft eines Unternehmens leitete. Aber die englische Kurzform betonte natürlich die Wichtigkeit. Manchmal schien es ihm, als stünde hinter dem Ganzen ein Wettbewerb. Je ausgefallener die Jobbezeichnung, desto wichtiger fühlte sich der Titelträger.

»Harald erwartet euch«, unterbrach die Empfangsmitarbeiterin seine Gedanken. »Mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock und dann links den Gang entlang.«

»Danke.« Rasmus schnappte sich seinen Dienstausweis.

Keine zwei Minuten später standen sie in einem großzügig geschnittenen Büro. Wie bereits in der Empfangshalle waren auch hier die Möbel von betont schlichter Eleganz. Hinter einem großen Schreibtisch aus hellem Eichenholz hing ein etwa ein Meter fünfzig mal zwei Meter großes Foto hinter Acrylglas. Windkrafträder vor dem Blau des Himmels und des Meeres.

»Das ist der Offshore-Windpark vor der Küste Blåvands.« Harald Jacobsen war neben Rasmus getreten, ein hochgewachsener Endfünfziger mit grauem Haarkranz und Goldrandbrille. »Die jährlich erzeugte Strommenge ist ausreichend, um den Strombedarf von 425.000 dänischen Haushalten zu decken. Und das mit unseren Windkraftanlagen.« In seiner Stimme schwang Stolz.

»Beeindruckend«, sagte Rasmus. Er hatte in den Medien mitverfolgt, wie das Windparkfeld im vergangenen Jahr unter Anwesenheit des Kronprinzenpaares, der Ministerpräsidentin und des Ministers für Klima, Energie und Versorgung offiziell in Betrieb genommen worden war. Um die Produktion solcher Offshore-Anlagen auf ein neues Level zu bringen, plante Dänemark in der Nordsee, rund achtzig Kilometer vor der Küste Jütlands, eine künstliche Energieinsel als Knotenpunkt für Offshore-Windstrom mit gigantischem Ausmaß. Rund vierhundertsechzigtausend Quadratmeter sollte die Insel nach Fertigstellung messen und mit einer Kapazität von zehn Gigawatt rund zehn Millionen europäische Haushalte über Unterwasserkabel mit Ökostrom versorgen. Das größte Bauvorhaben in der dänischen Geschichte.

»Aber deshalb seid ihr sicher nicht gekommen, oder?« Die Stimme des COO war ernst geworden. »Die Kollegin am Empfang sagte, es ginge um eine Mordermittlung?«

»Wir ermitteln im Fall Nohr Lysgaard«, bestätigte Rasmus. »Er wurde heute früh in einer Lagerhalle in Nordhavn tot aufgefunden.«

Harald Jacobsen wurde blass. »Nohr? Um Himmels willen.« Er klang fassungslos. »Bitte.« Er wies auf die Sessel einer Sitzgruppe.

Sie setzten sich.

Der COO nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Weiß Mille schon Bescheid?«

Rasmus nickte. »Wir sprechen mit allen Personen in Nohr Lysgaards unmittelbarem Umfeld. Das betrifft natürlich auch seine Kollegen.«

»Verstehe.« Harald Jacobsen setzte die Brille wieder auf. Seine Augen hinter den Gläsern gingen von links nach rechts. Offenbar arbeitete es gerade mächtig hinter der Stirn des COOs.

Mads holte sein Notizbuch heraus. »Du kanntest den Toten gut?«

»Ja. Wir arbeiten seit drei Jahren zusammen im Führungsteam und haben uns auch hin und wieder privat getroffen. Gemeinsame Abendessen oder mal eine Geburtstagsfeier.«

»Wann hast du Nohr zuletzt gesehen?«

Harald Jacobsen zog die Stirn in Falten. »Gestern Abend. Gegen achtzehn Uhr. Ich habe ihn auf dem Weg zum Fahrstuhl im Flur getroffen. Da wollte ich gerade nach Hause fahren. Nohr sagte, er hätte noch zu tun.«

»Weißt du, ob er im Anschluss etwas vorhatte?«, hakte Mads nach.

»Ich nehme an, er wollte zu Mille und den Kindern, wie sonst auch.«

Rasmus beugte sich vor. »Die beiden haben sich getrennt.«

»Ach, das wusste ich nicht«, entgegnete der COO überrascht.

»War Nohr gestern irgendwie anders als sonst? Gab es vielleicht irgendwelche Probleme mit seiner Arbeit?«

Harald Jacobsen wich seinem Blick aus. »Nicht, dass ich wüsste. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass Nohr sich anders verhielt.« Er strich einen imaginären Fussel von seinem Hosenbein. »Was ist passiert?«

»Jemand hat ihn an einen Stuhl gefesselt und ihm die Kehle durchgeschnitten.«

Harald Jacobsen schnappte hörbar nach Luft. »Das klingt barbarisch.«

»Das ist es auch.« Rasmus ließ den Blick zum Fenster schweifen. Dicke Regentropfen liefen an der Außenseite der Scheibe entlang. Er tauschte einen kurzen Blick mit Mads, und sie erhoben sich. »Wir würden jetzt gerne Nohrs Büro sehen. Außerdem benötigen wir eine Übersicht von den Dingen, an denen er zuletzt gearbeitet hat.«

Der COO kniff die Lippen zusammen und stand ebenfalls auf.

»Ihr werdet sicher verstehen, dass wir unsere Finanzunterlagen und Daten zu Projekten nicht einfach an Dritte herausgeben können. Das betrifft auch die Dinge in Nohrs Büro.«

»Natürlich«, erwiderte Rasmus. »Deshalb werden wir mit einem entsprechenden Beschluss wiederkommen.« Er hob zum Abschied die Hand. »Wir finden alleine raus.«

Vor der geschlossenen Tür blieben die beiden Kriminalbeamten stehen. Im nächsten Moment war Harald Jacobsens gedämpfte Stimme zu hören. Offenbar hatte der COO direkt zum Telefon gegriffen.

»Ich gehe schnell zur Toilette«, sagte Mads, der ein WC-Schild an einer der anderen Türen entdeckt hatte.

Rasmus nickte und sah nachdenklich aus dem bodentiefen Fenster am Ende des Flurs. Er blickte auf ein Außenlager mit Rotorblättern.

Was für einen Jahresumsatz ein Windenergieanlagenhersteller wie Rønsted wohl machte? Da ging es mit Sicherheit um Beträge im dreistelligen Millionenbereich, vielleicht sogar um Milliarden.

Was bedeutete es also, wenn der CFO eines solchen Unternehmens ermordet wurde? Wo es um viel Geld ging, war der Morast häufig tiefer als anderswo. War der Finanzchef am Ende in irgendwelche zwielichtigen Transaktionen verwickelt gewesen? Illegale Insidergeschäfte zum Beispiel? Möglicherweise hatte sich Nohr Lysgaard auch mit den falschen Leuten eingelassen.

Oder betrachtete er die Sache falsch herum? War Nohr Lysgaard während seiner Arbeit auf Unregelmäßigkeiten gestoßen und dadurch für eine andere Person zur Gefahr geworden?

Esbjerg, Dänemark

Es war bereits nach zweiundzwanzig Uhr, als Rasmus zu seiner täglichen Laufrunde aufbrach.

Der Wind war abgeflacht, der Regen hatte aufgehört, und das Wasser der Nordsee glitzerte im Mondlicht wie eine schimmernde Decke. Strand und Dünen verschmolzen zu einer dunklen Silhouette.

Bereits nach wenigen Minuten strömte ihm der Schweiß über die Stirn, und das T-Shirt unter seiner Funktionsjacke klebte ihm feucht am Rücken.

Er lief seine übliche Strecke. Erst die Esbjerg Brygge am Hafenufer entlang, von dort an den Strand bis zu der Anhöhe mit der neun Meter hohen Skulpturengruppe Der Mensch am Meer und weiter den Weg oberhalb des Grünstreifens parallel zum Wasser.

Seine Gedanken kreisten um den toten CFO. Nach dem Gespräch mit Harald Jacobsen waren er und Mads noch einmal zurück an den Tatort gefahren, hatten dort mit dem aus Odense eingetroffenen Rechtsmediziner gesprochen und waren im Anschluss mit Henrik Knudsen die Spurenlage durchgegangen. Die war mehr als dürftig. Keine Tatwaffe. Keine Spuren, die dem Täter oder der Täterin bislang zugeordnet werden konnten, keinerlei Zeugen.

Doch sie waren noch am Anfang. Die Obduktion und die Laborergebnisse der Kriminaltechnik standen aus, ebenso die Auswertungen von Handy- und Computerdaten. Auch zahlreiche Befragungen sowie die Durchsuchungen von Büro und Ferienhaus mussten noch durchgeführt werden.

Am frühen Abend hatte in der Polizeistation unter der Leitung von Vizepolizeiinspektorin Eva-Karin Holm eine Pressekonferenz stattgefunden. Wie erwartet schlug der Fall hohe Wellen. Jeder Radiosender und jedes Nachrichtenmagazin berichtete von der Ermordung des Finanzvorstands von Rønsted. Landesweit. Schon jetzt standen die Ermittler unter hohem Druck.

Am Badehotel Hjerting drehte Rasmus um. Eine halbe Stunde später erreichte er keuchend und durchgeschwitzt das Whitehouse, ein schneeweißes Hochhaus an der Esbjerg Brygge. In seinem Apartment im siebten Stock angekommen ging er direkt unter die Dusche, anschließend bereitete er in der Küche sein Abendessen zu. Er schlug zwei Eier in die Pfanne, bestrich eine dicke Scheibe Roggenbrot mit Honig-Senf-Frischkäse, belegte sie mit Roastbeef und schnitt noch etwas Zwiebeln und rote Bete klein. Danach lud er die Spiegeleier auf das Fleisch, verteilte das Gemüse darauf und spendierte einen großzügigen Klecks Remoulade als Topping. Er holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich mit seinem Abendessen an den Küchentresen.

Während er genüsslich kaute, ließ er den Blick durch das Apartment schweifen. Zweiundvierzig Quadratmeter verteilt auf zwei Zimmer mit hohen Decken und bodentiefen Fenstern, die bei Tageslicht einen atemberaubenden Ausblick über die Nordsee bis zur Insel Fanø boten. Jetzt war das Meer von der Dunkelheit verschluckt, nur vereinzelt schimmerten an der Küste entfernte Lichter.

Er hatte sich Mühe gegeben, die kargen Räume mit ein wenig Farbe, zahlreichen Kissen und gerahmten Plakaten von Jazzfestivals an den Wänden gemütlicher zu gestalten, doch es fühlte sich noch immer nicht wie ein Zuhause an. Vermutlich lag es an seiner Einsamkeit, die er hier, allein in seinen vier Wänden, am deutlichsten spürte. Er vermisste sein altes Leben. Anton. Und Camilla. Bei dem Gedanken an seine Ex-Frau entfuhr ihm ein tiefes Seufzen.

Sie hatte längst begriffen, was er lange Zeit nicht wahrhaben wollte. Dass es vorbei war mit ihnen. Endgültig. Camilla hatte sich in Kopenhagen ein neues Leben aufgebaut und einen anderen Mann an ihrer Seite. Erst als er sie vor ein paar Monaten aus heiterem Himmel geküsst hatte, war ihm klar geworden, dass es sich nur um einen letzten verzweifelten Versuch gehandelt hatte, die Vergangenheit zurückzuholen. Die alten Gefühle. Und ein Stück von Anton. Doch sein Sohn war tot. Nichts auf der Welt konnte ihn wieder lebendig machen, auch nicht die Liebe seiner Eltern.

Erst seit er das endlich kapiert hatte, war es einfacher geworden. Alles, was zählte, war, ein guter Vater für Ida zu sein, auch wenn dies bedeutete loszulassen. Ein gemeinsames Kind konnte eine zerbrochene Ehe nicht kitten. Sie war bereits lange vor Idas Geburt zu Ende gewesen.

Camilla hatte all das natürlich längst realisiert. Deshalb hatte sie ihm die Kussaktion auch übel genommen und ihm anschließend kräftig den Kopf gewaschen. Seitdem war ihr Verhältnis angespannt.

Er musste jetzt nach vorne schauen und eine berufliche Entscheidung treffen. Seine Chefin Eva-Karin Holm würde ab Januar den Platz als stellvertretende Polizeidirektorin einnehmen und wollte Rasmus als ihren Nachfolger für die Leitung der Mordkommission vorschlagen. Wenn es mit dem Job klappte, würde er nicht nur seinen alten Dienstrang zurückbekommen, sondern auch seine früheren Bezüge. Ein Angebot, das ihm sehr verlockend erschien.

Doch es gab noch eine zweite Option. Die Rückkehr in den Politigården, das Polizeihauptquartier in Kopenhagen, wo er bereits den Großteil seines Berufslebens verbracht hatte. Dort konnte er näher bei Ida sein. Und in seiner vertrauten Umgebung. Doch bislang hatte man ihm lediglich eine Stelle beim Wirtschaftskriminalistischen Prüfdienst angeboten. Ein reiner Schreibtischjob, noch dazu in einem Bereich, der ihn nicht im Geringsten interessierte. Seine Kompetenz lag in der Ermittlungsarbeit und nicht in der Sichtung irgendwelcher Rechnungen und Kontodaten. Deshalb hoffte Rasmus auf eine freie Stelle in den Fachabteilungen der Schwerkriminalität. Der Leiter der Personalabteilung hatte ihm versichert, sich umgehend zu melden, sobald sich dort eine personelle Veränderung abzeichnete.

Eva-Karin hatte ihm bis Ende Oktober Bedenkzeit gegeben, was ihre Nachfolge betraf. Bis dahin waren es noch gut zwei Wochen. Er beschloss, die Entscheidung zu vertagen und sich vorerst ganz auf den neuen Fall zu konzentrieren.

Rasmus trank den letzten Schluck Bier aus der Flasche. Er sehnte sich nach einer Zigarette, doch er hatte mit dem Rauchen aufgehört. Seit fünf Wochen und drei Tagen hatte er keinen einzigen Glimmstängel mehr angerührt. Ida zuliebe.

Sein Blick fiel auf den großen Karton, der an der Wand neben dem Sofa lehnte. Darin war das Kinderbett, das er eine Woche zuvor gekauft hatte. Er musste es nur noch zusammenschrauben.

Mit ein paar wenigen Handgriffen räumte er die Küche auf und lag kurz darauf mit müden Gliedern im Bett.

Mondlicht schien durch die bodentiefen Fenster und warf geisterhafte Schatten an die Schlafzimmerwand.

Rasmus kroch tiefer unter die Decke. Ihm ging durch den Kopf, was Mads gesagt hatte, nachdem sie Rønsted verlassen hatten. Dass sich hinter den glattesten Fassaden oftmals der meiste Schmutz verbarg. Das passte zu seinen Gedanken, dass Nohr Lysgaard womöglich in illegale Geschäfte verwickelt gewesen war, doch ehe er den Faden weiterspinnen konnte, fielen ihm die Augen zu.

2. Kapitel

Sønderborg, Dänemark, zwölf Tage später

Vibeke Boisen warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel der Sonnenblende. Make-up und Frisur saßen perfekt. Anstatt des üblichen strengen Zopfes trug sie die schulterlangen Haare zur Feier des Tages in lässigen Beach Waves. Zufrieden klappte sie den Sichtschutz zurück, griff nach ihrem Mantel auf dem Beifahrersitz, der farblich auf ihren mitternachtsblauen Jumpsuit abgestimmt war, und stieg aus dem Auto.

Anders als an den Tagen zuvor, wo es nahezu durchgängig geregnet hatte, strahlte an diesem Vormittag die Sonne vom tiefblauen Himmel. Offenbar hatte der Wettergott ein Einsehen mit dem Hochzeitspaar gehabt.

Ihre Absätze klackerten über das Kopfsteinpflaster, während sie die Gasse mit den kleinen bunten Giebelhäusern entlangging, die durch die südliche Altstadt zum Rathaus führte.

Sie freute sich auf die Feier. Bereits vor Monaten hatte ihr Søren Molin, der genau wie Vibeke der deutsch-dänischen Sondereinheit in Padborg angehörte und als der Pragmatiker in ihrem Team galt, die Save-the-Date-Karte mit dem Hochzeitsdatum geschickt. Sie fand es ungewöhnlich, dass die Trauung und das anschließende Fest unter der Woche stattfanden, doch der Däne hatte ihr erklärt, dass dies der Kennenlerntag mit Brigitte war, der Frau seines Lebens. Da es sich für ihn dabei um die vierte und – seinen Worten nach – definitiv letzte Ehe handelte, wollte er dieses Mal alles richtig machen. Neben besagten Karten hatte Søren deshalb eine Hochzeitshomepage eingerichtet, auf der die Gäste sämtliche Informationen rund um die Feierlichkeiten erhielten.

Vibeke erreichte das Rathaus, ein ockerfarbenes Gebäude mit Rundbögen und langen schmalen Fenstern. Es lag am Ende der Fußgängerzone an einem runden Platz, umgeben von Bäumen und Bänken und mit einem Springbrunnen in der Mitte. In den angrenzenden Cafés und Restaurants tummelten sich die letzten Touristen der Saison.

Vor dem Rathaus standen Grüppchen festlich gekleideter Menschen, darunter auch ihre Kollegen von der Sondereinheit. Jens Greve, der hellhäutige Brillenträger von der Landespolizei Schleswig-Holstein, war wie üblich in einen seiner formellen grauen Anzüge gekleidet, daneben saß Luís Silva in einem schicken blauen Sakko und sandfarbener Hose in seinem Rollstuhl. Der portugiesische Informatiker mit deutscher Polizeiausbildung hatte das typische Aussehen eines Südeuropäers. Dunkle Haare, dunkle Augen sowie ein dunkler Teint, der selbst in den Wintermonaten kaum verblasste. Gerade lachte er über etwas. Seit einem übermütigen Kopfsprung als Teenager in seichtes Gewässer war er querschnittsgelähmt.

»Hej, Vibeke!« Pernille Larsen, eine brünette Schönheit mit markanten Brauen, die bei Ermittlungen meist die Akten wälzte, hatte sie entdeckt und winkte. Auch sie hatte sich in Schale geschmissen und trug einen rostroten Hosenanzug, der ihr ganz fabelhaft stand. Die dunklen Haare fielen ihr glatt und glänzend über die Schultern. In der Hand hielt sie einen Strauß aus weißen Luftballons.

»Hej, ihr!« Vibeke umarmte Pernille. »Bist du alleine gekommen?«

Sie nickte. »Hanne kommt später nach. Die Schulleitung wollte sie nicht freistellen.«

Pernilles Lebensgefährtin arbeitete als Lehrerin an einer Volksschule in Aabenraa.

»Wo steckt Rasmus?« Suchend sah Vibeke sich um.

Luís grinste breit. »Der musste noch einmal zurück zu Søren nach Hause. Er hat die Ringe liegen lassen.«

»Ich hab Søren gleich gesagt, er soll lieber mich als Trauzeugen nehmen«, verkündete Jens ohne den geringsten Anflug von Ironie. »Aber er wollte es ja unbedingt so.« Er wirkte leicht angesäuert.

»Du musst ihn verstehen«, Pernille ließ ihre charmante Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen aufblitzen. »Für Søren ist Rasmus sein Lebensretter. Er hält das für ein gutes Omen, schließlich haben ihm die vorherigen Trauzeugen wenig Glück gebracht. Drei Ehen, und keine hat gehalten.«

»Dann hoffen wir mal, dass es dieses Mal besser klappt.« Jens warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Vorausgesetzt, Rasmus taucht endlich mit den Ringen auf.«

»Wenn man vom Teufel spricht.« Luís deutete mit der Hand zur Fußgängerzone.

Vibeke drehte sich um. Mit langen Schritten kam Rasmus Nyborg zwischen den mit Einkaufstüten beladenen Passanten auf sie zugeeilt. Überrascht stellte sie fest, wie gut der Ermittler aussah. Er trug einen schwarzen Anzug, ein gleichfarbiges Hemd und hatte die beiden oberen Knöpfe lässig offen gelassen. Zudem sah sie ihn zum ersten Mal glatt rasiert. Dadurch wirkte sein Gesicht noch hagerer und markanter.

»Hej, Vibeke.« Rasmus lächelte schief. Sein Blick war gewohnt intensiv, rebellisch mit einer leichten Melancholie darin. Vibeke dachte an die schwärmerische Aussage ihrer Mutter Elke, die stets behauptete, er sehe aus wie der dänische Schauspieler Lars Mikkelsen. Einen Moment schien es, als wollte Rasmus sie umarmen, doch dann hielt er eine kleine Schachtel hoch. »Ich hab die Ringe.«

»Halleluja«, murmelte Jens leise.

Im Eingang des Rathauses tauchte ein vollbärtiger Hüne im sandfarbenen Anzug auf.

»Hej, Leute, wir sind als Nächstes dran«, rief Søren Molin mit seiner Baritonstimme über den Platz.

Vibeke ging ihm zusammen mit ihren Kollegen und weiteren Hochzeitsgästen entgegen und fand sich kurz darauf in einer bärenhaften Umarmung wieder.

»Was für ein Glück, dass die Flensburger ausnahmsweise einen Tag auf dich verzichten können.« Der Bräutigam strahlte mit der Sonne um die Wette.

Vibeke lächelte. »Das hätte ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen.«

»Jetzt heirate ich endlich meine Brigitte.« Zufrieden blickte Søren in die Runde. Im nächsten Moment stiegen ihm Tränen in die Augen, und ein kaum wahrnehmbarer Schatten flog über sein Gesicht. Vibeke ahnte, woran er dachte. Dass er es im letzten Jahr, als man auf ihn geschossen hatte, fast nicht geschafft hätte. Doch bereits mit dem nächsten Wimpernschlag war sein dröhnendes Lachen zurück. »Jetzt kommt! Lasst uns heiraten. Brigitte und die Kinder warten schon.«

Rund drei Stunden später hob Søren sein Bier, nachdem er seine liebevolle und humorige Rede auf seine Frischangetraute beendet hatte. »Skål!«

»Skål«, erklang es im Chor.

Auch Vibeke stimmte mit ein. Es war lange her, seit sie zuletzt an einer derart ausgelassenen Feier teilgenommen hatte. Nach dem formellen Teil im Rathaus hatten Sørens Kollegen der Polizei Sønderborg draußen auf dem Platz in Uniform Spalier gestanden, Papierfähnchen geschwenkt und pfundweise Reis auf das strahlende Brautpaar geworfen, während der Chor, dem Søren seit Langem angehörte, ein Ständchen zum Besten gegeben hatte.

Jetzt saß die Hochzeitsgesellschaft an einer festlich gedeckten Tafel im Colosseum, einem traditionellen dänischen Familienrestaurant an der Hafenpromenade, und hatte bereits ein opulentes Drei-Gänge-Menü hinter sich. Zwischen den Gängen waren Lieder gesungen und Geschichten über das Brautpaar zum Besten gegeben worden, und Sørens sechs Töchter, die jüngste auf dem Arm der ältesten, hatten wie die Orgelpfeifen nebeneinanderstehend und mit vor Aufregung geröteten Wangen ein Gedicht vorgetragen. Währenddessen waren nicht nur zahlreiche Tränen, sondern auch reichlich Bier und Sekt geflossen.

Vibeke hatte sich mit dem Alkohol bislang zurückgehalten. Laut Programm gab es nach dem Hochzeitskuchen einen Location-Wechsel, wo dann das eigentliche Fest begann. Musik, Tanz und Spiele, bei denen die Gäste mit Besteck gegen die Gläser klopften und das Hochzeitspaar zum Küssen auf die Stühle stieg, wie ihr Sørens Cousin erklärt hatte, der bis vor ein paar Minuten neben ihr gesessen hatte.

Gerade wurde Kaffee ausgeschenkt. Kinder rannten zwischen den Tischen herum und spielten Fangen.

»Hej, Frau Kollegin.« Rasmus ließ sich auf den freien Stuhl neben Vibeke sinken. »Alles klar in Flensburg?«

Sie lächelte. »Die Verbrecher verhalten sich zurzeit angenehm ruhig. Und bei euch? Ich habe von dem Mord an dem Rønsted-CFO gehört. Ist es dein Fall?«

Rasmus fuhr sich mit einer müden Geste übers Gesicht, und ihr fiel auf, wie abgespannt er wirkte. »Jep.«

»In den Medien war zu lesen, man hätte dem Mann die Kehle durchgeschnitten.«

»Das stimmt leider.« Rasmus langte nach der Tasse Kaffee, die ihm eine Kellnerin reichte. »Man hat ihn an einen Stuhl gefesselt, aber diese Information haben wir bislang zurückgehalten.«

»Das klingt wie eine Exekution. Habt ihr einen Tatverdächtigen?«

Die Kiefermuskeln ihres Kollegen malmten, während er den Kopf schüttelte. »Wir haben alles durch. Obduktion. Befragungen. Spurenauswertungen.« Er klang resigniert. »Es gab einige Verdachtsmomente, aber leider hat sich daraus nichts Konkretes ergeben. Wir tappen nach wie vor im Dunkeln.« Ihm entfuhr ein Seufzen. »Können wir vielleicht das Thema wechseln?« Er musterte sie. »Du siehst anders aus. Irgendwie entspannt. Neuer Freund?«

Vibeke fragte sich, wie er es immer wieder schaffte, bei einer vergleichsweise harmlosen Frage derart unverschämt zu klingen und dabei gleichzeitig den Nagel auf den Kopf zu treffen. War es ihr tatsächlich anzusehen, dass sie nach langer Zeit wieder jemanden datete? In den letzten Jahren hatte es in ihrem Leben nur One-Night-Stands und kurze Affären gegeben, ohne große Gefühle oder irgendwelche Verpflichtungen. Doch dann hatte sie vor einigen Wochen in einer Bar Claas getroffen. Eigentlich hatte sie nur einen stressigen Arbeitstag mit einem Glas Rotwein runterspülen wollen, als er sie angesprochen und ihr zu ihrem Auftritt bei einer Pressekonferenz gratuliert hatte, bei der sie einen Journalisten mit unverschämten Fragen hatte auflaufen lassen. Gleich im Anschluss hatte er sich dazu geoutet, derselben Berufsgruppe anzugehören, und als sie ihn eine Woche später durch Zufall an der Supermarktkasse wiedergetroffen hatte, war Vibeke klar geworden, dass sie ihn wiedersehen wollte. Eine Polizistin und ein Journalist. Das war nicht unbedingt die beste Kombination. Vielmehr waren damit Ärger und Konflikte vorprogrammiert. Ein Grund, weshalb sie es langsam angehen ließ. Sie strich sich durch ihre Beach Waves. »Neue Frisur.«

Rasmus lachte leise.

»Was ist eigentlich aus der Stelle beim wirtschaftlichen Prüfdienst geworden?«, lenkte Vibeke das Gespräch in eine andere Richtung.

»Die ist leider futsch.« Rasmus nahm einen Schluck Kaffee. »Ich habe gestern mit Kopenhagen telefoniert. Da sagte man mir, sie hätten den Job jetzt mit jemand anderem besetzt.«

»Du wirkst darüber nicht gerade unglücklich. Dann wirst du also Eva-Karins Nachfolger?«

Er hatte ihr vor einer Weile von dieser Option erzählt und auch erklärt, weshalb er zögerte.

»Sieht ganz danach aus. Zumindest, wenn sich bis Ende der Woche nichts anderes ergibt.«

Vibeke verstand, dass Rasmus näher bei seiner Tochter in Kopenhagen sein wollte und deshalb noch immer auf eine Rückkehr in seine alte Dienststelle im Politigården hoffte. Doch seine Personalakte war dick, und nicht jeder Fachgebietsleiter legte Wert auf einen Querulanten im Team. Außerdem konnte sie sich eine Sondereinheit ohne Rasmus nur schwer vorstellen. »Warte nicht zu lang mit deiner Entscheidung.«

Er verdrehte die Augen, hob die Hand und orderte ein weiteres Bier.

Die Musik, die bislang dezent im Hintergrund gelaufen war, wurde aufgedreht, und unter lautem Jubel wurde der Kranskage, ein kegelförmiger Hochzeitskuchen, hereingerollt. Er bestand aus mehreren übereinandergeschichteten Kränzen, die mit einem schlingenförmigen Muster aus Zuckerglasur verziert waren; auf der Spitze thronte eine Brautpaarfigur.

Vibekes Handy klingelte. Sie zog es aus der Handtasche und warf einen Blick aufs Display. Ihre Dienststelle. Sie runzelte die Stirn. Mit ihren Mitarbeitern hatte sie vereinbart, dass sie sich nur im Notfall meldeten.

»Entschuldige, da muss ich rangehen.« Sie erhob sich von ihrem Platz, um sich ins Freie zu begeben.

Draußen war es angenehm warm. Strahlender Sonnenschein tauchte die bunten Hausfassaden, die sich an der Hafenpromenade wie Perlen dicht aneinanderreihten, in helles Licht. Sie nahm das Gespräch entgegen.

»Ich bin’s«, schallte ihr die aufgeregte Stimme von Kriminalkommissar Michael Wagner entgegen. »Entschuldige die Störung, aber es ist wichtig. Die Kollegen aus Leck haben sich gemeldet. In Ahrenshöft gibt es einen Leichenfund.«

Ausgerechnet jetzt, schoss es Vibeke durch den Kopf. »Kannst du das zusammen mit Holtkötter übernehmen?«

Einen Moment blieb es still, und sie konnte das Unbehagen ihres jungen Mitarbeiters förmlich durch die Leitung spüren. »Herr Holtkötter hat vor einer halben Stunde Feierabend gemacht und geht nicht an sein Handy.«

Vibeke seufzte. Ihr Stellvertreter, Kriminalhauptkommissar Klaus Holtkötter, machte ihr nichts als Ärger. »Haben die Kollegen aus Leck etwas Genaueres gesagt?«

Während sie der Stimme am anderen Ende der Leitung lauschte, ging ihr Blick gedankenverloren die Hafenpromenade entlang. Segler hantierten auf ihren Booten herum, Urlauber flanierten am Wasser entlang. Gerade legte ein Ausflugsdampfer am Fähranleger an und spuckte einen Pulk Touristen aus. Über ihren Köpfen kreischten Möwen. »Schickst du mir die Adresse aufs Handy? Wir treffen uns dort in ungefähr einer Stunde.«

Vibeke legte auf und wählte direkt Holtkötters Nummer. Nur die Mailbox. Sie hinterließ eine Nachricht, in der sie ihren Stellvertreter aufforderte, umgehend zurückzurufen, und eilte wieder ins Lokal. Gerade wurde feierlich der Hochzeitskuchen angeschnitten.

Ihr Handy piepte und kündigte eine Textnachricht an. Michael Wagner hatte ihr die Adresse einer Papiersortieranlage geschickt.

Ahrenshöft, Deutschland

Es war bereits drei Uhr nachmittags, als Vibeke rund vierzig Kilometer mitten in einer idyllischen Geest- und Marschlandschaft südwestlich von Flensburg aus dem Auto stieg.

Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit, als sie die vielen Einsatzfahrzeuge der Polizei vor dem eingezäunten Gelände der Abfallwirtschaftsgesellschaft stehen sah.

»Moin, Vibeke.« Michael Wagner, ein junger Schlaks in Schutzkleidung, eilte ihr entgegen. Das Gesicht unter seinem blonden Backenbart war vor Aufregung gerötet.

»Moin.« Sie ging zum Kofferraum, tauschte ihre Pumps gegen ein Paar alte Sneakers, die dort neben einem Paar Gummistiefel und Schutzkleidung parat lagen.

»Tut mir echt leid«, sagte ihr Mitarbeiter mit einem Blick auf ihren Jumpsuit, der gerade unter dem weißen Overall verschwand.

»Nicht deine Schuld.«

»Herr Holtkötter hat sich übrigens gemeldet«, schob Michael Wagner hinterher. »Er kommt bald.«

Vibeke lag eine bissige Bemerkung auf der Zunge, sie hielt sich aber zurück. Es wäre unprofessionell, sich vor Michael Wagner über ihren Stellvertreter auszulassen. Holtkötter war ein Mitarbeiter der unbequemsten Sorte, der aus seiner Abneigung ihr gegenüber nie einen Hehl gemacht hatte. Allein die Tatsache, dass er sich lieber bei seinem Kollegen anstatt bei seiner Vorgesetzten meldete, obwohl sie ihm eine klare Anweisung dazu erteilt hatte, stieß ihr sauer auf. Vermutlich war es genau das, was Holtkötter mit seinem Verhalten erreichen wollte. Sie atmete tief durch und schob ihren Ärger beiseite. Den Mann würde sie sich später zur Brust nehmen.

»Weiß man schon, was passiert ist?«

»Die Leiche wurde auf dem Förderband der Papiersortieranlage entdeckt«, erklärte Michael Wagner eifrig. »Offenbar war sie in einem Abfallsammelfahrzeug, das kurz zuvor seine Schüttung abgeladen hatte. Das Opfer muss demnach in einem der Altpapiercontainer gelegen haben, die an dem Tag von dem Müllwagen angefahren wurden.«

»Werden die denn nicht vorher kontrolliert?«, fragte Vibeke irritiert.

»In der Regel schon. Aber wenn das Opfer unter Bergen von Papier und Pappe liegt, nutzt wohl auch kein Kontrollblick, hat man mir erklärt. Dann geht es zusammen mit dem Inhalt der Tonne direkt in die Presse des Sammelfahrzeugs.«

Vibeke schauderte. Erst im letzten Jahr hatte sie von einem Fall in Süddeutschland gelesen, wo ein Obdachloser im Winter in einem Papiercontainer Schutz gesucht hatte. Doch er war noch rechtzeitig entdeckt worden und mit ein paar Blessuren und großem Schreck davongekommen. Ob das Opfer noch gelebt hatte, ehe es in die Presse gelangt war?

Ein furchtbarer Gedanke. »Hast du die Leiche schon gesehen?« Sie schlüpfte in die Überschuhe.

Michael Wagner schüttelte den Kopf. »Die Spusi ist gerade drinnen.«

»Dann wollen wir mal.« Vibeke steuerte auf den Geländeeingang zu, der von zwei Streifenbeamten flankiert wurde, und zückte ihren Dienstausweis.

Ihr Mitarbeiter deutete auf ein Flachdachgebäude, das mit weiß-rotem Polizeiband großzügig abgesperrt worden war. Auch hier stand ein Uniformierter, ein paar Meter entfernt eine Gruppe Männer mit ernsten Gesichtern. Sie trugen Blaumänner und orangefarbene Warnwesten.

»Sind das die Arbeiter, die den Toten entdeckt haben?«

»Ja. Die Personalien wurden bereits aufgenommen.«

»Gut, wir sprechen später noch mit ihnen. Erst einmal möchte ich mir ein Bild von der Leiche und dem Fundort machen.«

Vibeke steuerte an einem abgestellten Müllfahrzeug vorbei auf das Tor der Anlieferungshalle zu und schlüpfte unter dem Absperrband hindurch.

In einer turnhallengroßen Halle mit Stahlträgern empfingen sie neben einer riesigen Papiersortieranlage mit zahlreichen Förderbändern meterhohe Papierberge und eine nebelartige Staubwolke. Zu Würfeln gepresste Papierballen waren an der Wand entlang aufeinandergestapelt worden, ein gelber Radlader stand mit halb offener Fahrertür quer im Eingangsbereich. Kriminaltechniker in Schutzanzügen wuselten an einem der Förderbänder herum. Es roch nach Papier und Staub.

»Moin, Arne«, rief Vibeke dem korpulenten Chef der Spurensicherung zu. Er war ein langjähriger Freund ihres Vaters, und sie kannte ihn schon seit Kindesbeinen.

»Moin.« Arne Lührs kam auf sie zu. Er lüpfte den Mundschutz, und sein grauer Walrossbart wurde sichtbar. »Üble Sache. Ich glaube, ich werde mich nie daran gewöhnen.«

Vibeke nickte. Sie kannte diese Gedanken nur allzu gut. »Hast du schon etwas für mich?«

»Mit dem ganzen Papier gestaltet sich die Spurenlage ein wenig schwierig.« Der Kriminaltechniker rümpfte die Nase. »Zumal es sich nicht um den Tatort handelt. Wie es aussieht, lag die Leiche zwischen zahlreichen Kartonagen.« Er deutete mit seiner behandschuhten Hand auf einen der großen Papierberge. »Sie wurde entdeckt, als der Radlader das ganze Zeug auf das Förderband geschaufelt hat.«

Vibeke sah zu der Stelle, an der die Scheinwerfer aufgestellt worden waren. »Wann kann ich mir den Toten ansehen?«

»Sofort, wenn du willst. Wir können hier vermutlich ohnehin nicht mehr viel machen.« Der Kriminaltechniker ließ den Blick durch die Halle schweifen. »Hier irgendwelche tatrelevanten Spuren zu finden, halte ich nahezu für ausgeschlossen.«

Schweigend gingen sie die wenigen Schritte zum Förderband. Einer der Kriminaltechniker trat beiseite und gab die Sicht auf die Leiche frei.

Der Tote lag auf dem Rücken, die Kleidung, ein blau kariertes Holzfällerhemd und eine khakifarbene Arbeitshose, waren zum Teil blutdurchtränkt, die Beine seltsam verrenkt. An einem der Füße fehlte der Schuh. Die hochgerollten Ärmel entblößten dunkle Hämatome und Hautabschürfungen an den Unterarmen, die Hände waren in Schlingen vor den Bauch gefesselt.

Papierstaub umgab den Kopf des Mannes, überzog das dunkle Haar wie eine feine Schicht Puder. Das darunterliegende Gesicht war durch massive Stauungsblutungen nahezu vollständig entstellt. Weitere Blutunterlaufungen zeichneten sich durch den offenen Hemdkragen am Hals und am Brustkorb ab. Wie es aussah, war der Mann zu Tode gequetscht worden.

Was für eine schreckliche Art zu sterben, dachte Vibeke. Ihr Blick blieb an den Fesseln hängen. Ein Handschellenknoten. Das verwendete Seil war bis auf ein paar Abriebspuren intakt geblieben. Der ermordete CFO in Esbjerg kam ihr in den Sinn. Er war ebenfalls gefesselt worden. Konnte es einen Zusammenhang geben?

Sie registrierte die schwieligen Hände des Toten. Am linken Zeigefinger fehlte das oberste Fingerglied, doch es schien eine ältere Verletzung zu sein, zumindest wirkte der Stumpf gut verheilt.

Vibeke hörte hinter sich ein leichtes Aufstöhnen. Sie drehte sich um und sah, dass Michael Wagner kalkweiß im Gesicht war. »Alles in Ordnung?«

Er winkte sofort ab. »Geht schon.«

»Vielleicht kümmerst du dich schon einmal um die Zeugen«, schlug sie vor. »Ich möchte wissen, wie das Ganze abgelaufen ist. In welchem Müllwagen die Leiche war, welche Route das Fahrzeug genommen hat, wie das Opfer in die Presse gelangen konnte. Außerdem möchte ich mit den Mitarbeitern sprechen, die auf dem Müllwagen mitgefahren sind.«

»Geht klar, Chefin.« Michael Wagner deutete ein schwaches Lächeln an und zog ab.

Vibeke wandte sich wieder der Leiche zu. Einer der Kriminaltechniker war gerade dabei, mithilfe von Klebeband Spuren von der Arbeitshose des Opfers zu nehmen. Sowohl Haut als auch Kleidung des Toten waren mit einer feinen hellen Schicht überzogen. »Ist das Papierstaub?«

»Teils.« Der Kriminaltechniker beäugte den Klebstreifen. »Wie es aussieht, sind auch Sägespäne dabei.«

»Vermutlich stammen sie aus dem Container.« Vibeke betrachtete nachdenklich die Kleidung des Toten. »Oder das Opfer hatte beruflich mit Holz zu tun. Habt ihr schon in den Taschen nachgesehen?«

Arne Lührs, der gerade an seinem Spurensicherungskoffer herumhantierte, wandte sich um. »Der Mann hatte nur ein bisschen Kleingeld bei sich. Und einen Kassenbon von einer Fleischerei in Leck mit dem Ausstellungsdatum von gestern.«

Der Blick des Kriminaltechnikers wanderte zu einem Punkt hinter ihrem Rücken. »Endlich. Die Rechtsmedizin.«

Vibeke drehte sich um und entdeckte Dr. Violetta Dudek vom rechtsmedizinischen Institut in Kiel mit ihrer Arzttasche in der Hand und ihrem Assistenten im Schlepptau. Beide trugen die obligatorische Schutzkleidung.

»Hallo, Frau Boisen. Karl.« Dr. Dudek warf einen prüfenden Blick in die Runde, ehe sie sich der Leiche zuwandte.

Vibeke sah der Rechtsmedizinerin einen Moment bei der Arbeit zu und ging dann zurück ins Freie. Vor der Anlieferungshalle sprach Michael Wagner gerade mit einem dunkelhaarigen Mittfünfziger in Anzug und Krawatte, der wild mit den Händen in Richtung Gebäude gestikulierte.

»Kann ich irgendwie helfen?« Sie lüpfte die Kapuze ihres Schutzanzugs und öffnete den Reißverschluss.

»Ich habe gerade dem Beamten hier erklärt, dass wir schnellstmöglich die Arbeit wieder aufnehmen müssen, ehe wir noch weiter in Verzug geraten.« Der Anzugträger deutete zum Geländezugang. Hinter dem Absperrband warteten mehrere Müllfahrzeuge. »Aber offenbar ist die Polizei nicht in der Lage dazu, mir zu sagen, wie lange das Ganze noch dauert.« Empörung schwang in seiner Stimme mit. »Wo ist denn eigentlich der Chef Ihrer Truppe?«