Das Scheitern Mitteleuropas - Walter Rauscher - E-Book

Das Scheitern Mitteleuropas E-Book

Walter Rauscher

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Beschreibung

Walter Rauscher, der sich mit Biografien über Karl Renner und Reichspräsident Hindenburg sowie mit der Doppelbiografie "Hitler und Mussolini" als Sachbuchautor einen Namen machte, zeigt in seinem neuen Buch auf, wie der Frieden in Europa in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf dramatische Weise scheiterte. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, erbitterte Streitigkeiten um territoriale Grenzen bestimmten zwei Jahrzehnte lang das politische Geschehen. Nationale Egoismen und ein wachsender Antisemitismus vergifteten das gesellschaftliche Klima. Staatenbund- und Zollunionsprojekte, die eine Entspannung der politischen und wirtschaftlichen Lage bringen sollten, scheiterten. Damit wurde der Boden für den Siegeszug der faschistischen Diktaturen bereitet: Mussolini in Italien, autoritäre Regime in Ungarn, Jugoslawien, Polen, Rumänien und dem restlichen Osteuropa, Ständestaat in Österreich und schließlich das Dritte Reich. Als Hitler Österreich annektierte und die Tschechoslowakei zerschlug, sahen die westeuropäischen Mächte tatenlos zu. Die Folgen sind bekannt: Der Zweite Weltkrieg entbrannte und brachte millionenfachen Tod, Vernichtung, Vertreibung und verheerende Zerstörung.

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Walter Rauscher

Das ScheiternMitteleuropas

1918–1939

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-01053-5 Copyright © 2016 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien Coverfotos © United Archives/picturedesk.com und Maurice-Louis Branger/picturedesk.com Lektorat: Paul Maercker Typografische Gestaltung und Satz: Sophie Gudenus, Wien Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

I. 1918: Das Ende der Alten Welt

II. Die Neuordnung von Paris

III. Auf der Suche nach Stabilität

IV. Status quo gegen Revision

V. Die Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen

VI. Im Schatten des Dritten Reichs

VII. Der Weg in die Katastrophe

Das Scheitern Mitteleuropas

Anmerkungen

Namenregister

I1918: Das Ende der Alten Welt

Mitteleuropa war nie ein Staat oder gar ein Reich. Als Phantom, Mythos, Niemandsland, Hassgemeinschaft oder Nostalgie bezeichnet, ist es weder geografisch noch politisch oder kulturell eindeutig zu definieren. Welche Staaten oder Nationen Mitteleuropa zuzuschreiben sind, wird durch das Fehlen eindeutiger Abgrenzungskriterien und wegen zahlloser Überschneidungen stets strittig bleiben.1 Ist also Mitteleuropa bloß ein Synonym für eine Zusammenfassung der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie? Gehört Deutschland dann nicht zu Mitteleuropa? Oder soll als Mitteleuropa all das bezeichnet werden, was einmal den Habsburgern gehörte und dem sie als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches oberster Souverän waren? Schließt Mitteleuropa daher, abgesehen von den deutschen Ländern, auch Norditalien, Elsass-Lothringen und Luxemburg mit ein? Ist die Schweiz dagegen bloß geografisch, aber nicht politisch ein Teil dieses Raums?

Vor dem Hintergrund der Konkurrenz zwischen Berlin und Wien um die Lösung der deutschen Frage entstand um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Alternatividee Mittele­uropa. Anders als die rein deutschen Pläne umfasste sie, gleichsam von Hamburg bis Triest, Deutschland und die gesamte Habsburgermonar­chie. Der österreichische Ministerpräsident Fürst Schwarzenberg sprach dabei von einem „Reich der 70 Millionen“. Aber sowohl damals als auch in weiterer Folge ging es beim Begriff Mitteleuropa in letzter Konsequenz stets um die Vorherrschaft der Deutschen in diesem Raum. Im Ersten Weltkrieg erfuhr der Begriff Mitteleuropa zu guter Letzt durch alldeutsche Fantasien eines Staatenbunds unter der Führung Berlins eine surreal anmutende Ausdehnung vom Nordkap bis zum Persischen Golf.2

Die Habsburgermonarchie, jene „Experimentieranstalt für Weltuntergänge“, wie sie Karl Kraus einmal gewohnt spöttisch bezeichnete, lebte Mitteleuropa. Doch das Vielvölkerreich befand sich im Zeitalter des Nationalismus in der Dauerkrise. Sein eklatanter Reformstau forderte seit der Revolution von 1848 die politische Intelligenz heraus, sich mit der Nationalitätenfrage, einem zumeist föderalen und demokratischen Umbau der Donaumonarchie und damit auch mit der Gestaltung Mitteleuropas zu beschäftigen. Nicht alle diese Vordenker, ob sie nun aus der Sozialdemokratie stammten oder dem Kreis um Thronfolger Franz Ferdinand angehörten, blieben machtlose Intellektuelle, Ex-Politiker oder Emigranten. Zwei von ihnen wurden sogar zu Staatsgründern: Tomáš Garrigue Masaryk und Karl Renner. Aber auch andere spielten nach dem Zerfall der Doppelmonarchie in der Zwischenkriegszeit eine wichtige politische Rolle, wie etwa Otto Bauer oder Milan Hodža. Ganz ohne Sarkasmus nannte der Begründer der österreichischen Sozialdemokratie, Viktor Adler, die Habsburgermonarchie eben auch eine „Experimentierkammer der Weltgeschichte“.3

Der Zusammenbruch

Historisch unbestreitbar umfasste Mitteleuropa bis zum November 1918 zwei Kaiserreiche: das deutsche der Hohenzollern und das multiethnische der Habsburger. Beide Monarchien überlebten die Niederlage im Ersten Weltkrieg nicht. Während in Deutschland die Staats- und Regierungsform wechselte, zerfiel Österreich-Ungarn in die sogenannten Nachfolgestaaten. Für die vor allem durch die Sozialdemokratie repräsentierten fortschrittlichen Kräfte beider europäischer Großstaaten und die mittlerweile die nationale Selbstbestimmung fordernden Völker der Donaumonarchie bedeuteten die Revolutionen im Herbst 1918 den Aufbruch in eine neue, bessere Zeit, für die konservativen, monarchistischen und weitgehend unpolitischen Bevölkerungsteile hingegen das Ende der Alten Welt.

Das Habsburgerreich hatte, der Unterstützung Deutschlands gewiss, mit seinem Feldzug gegen Serbien im Sommer 1914 den Ersten Weltkrieg entfesselt. Im Herbst 1918 stand zwar das k. u. k. Heer noch tief im „Feindesland“, aber die Überlegenheit der Gegner an allen Fronten machte die Niederlage der Mittelmächte unausweichlich. Nach den schweren Verlusten in den Schlachten gegen Russland, Serbien und Italien hatten sowohl die Armee als auch die Heimat besonders im letzten Kriegsjahr als Folge der alliierten Blockade unter Hunger und größten Versorgungsproblemen zu leiden. Zu allem Übel kam noch die Spanische Grippe hinzu, die weltweit Millionen Opfer forderte. Österreich-Ungarn hatte seit Jahrzehnten mit dem Konflikt seiner Nationalitäten leben gelernt; nicht einmal jene Völker, die sich unterdrückt fühlten, erwogen in Friedenszeiten, der Donaumonarchie die Treue aufzukündigen. Im Krieg bewährten sich alle Nationalitäten im Verband der bewaffneten Macht – trotz der verfehlten Planungen des Generalstabs. Desertionen blieben fast bis zum Ende der Kampfhandlungen die Ausnahme.4

Im Oktober 1918 war jedoch der Sieg der mittlerweile aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Italien bestehenden Entente nicht mehr abzuwenden. Die Nationalstaatsidee verdrängte das Zugehörigkeitsgefühl gegenüber der Monarchie. Das jahrhundertealte Habsburgerreich löste sich auf, die Soldaten gingen heim, die Völker verließen die Donaumonarchie. Kaiser Karl unternahm einen letzten Versuch, seine Herrschaft zu retten. In einem Manifest vom 16. Oktober forderte er die Völker Österreichs – aber nicht jene Ungarns – auf, sich an einer föderalen Umgestaltung zu beteiligen.5 Doch eine Union unter habsburgischer Führung hatte keine Zukunft mehr. Die Monarchie hatte sich aufgrund vieler Sünden der Vergangenheit überlebt, das alte System seine Autorität verloren.6 Binnen weniger Tage gründeten die Nationalitäten ihre eigenen Staaten – ohne auf nennenswerten Widerstand der macht- und ratlosen habsburgischen Staatsmacht zu stoßen.7

Die Gründung der Tschechoslowakei

Die Tschechen, die drittgrößte Nationalität der Donaumonarchie, hatten zwar seit Jahrzehnten ihre benachteiligte Stellung innerhalb der Doppelmonarchie heftig beklagt, trotz aller Kritik und Opposition aber nicht an einen eigenen, völlig unabhängigen Staat gedacht. Wirtschaftlich und im Hinblick auf die Bildung der Bevölkerung auf hohem Niveau forderten sie als gesellschaftlich voll entwickelte Nation die Verwirklichung des historischen Böhmischen Staatsrechts und befanden sich dadurch mit den Deutschen in den Ländern der Wenzelskrone in Konflikt, die für autonome Kreise und die Beibehaltung des habsburgischen Zentralismus eintraten.8 Nach Ausbruch des Krieges ging ein Teil der prononciert antihabsburgischen Politiker ins Exil, allen voran der Philosophieprofessor und Reichsratsabgeordnete Tomáš G. Masaryk und sein engster Mitarbeiter, der Soziologe Edvard Beneš. Im Ausland trieben sie sodann mit verschiedenen slowakischen Persönlichkeiten vehement das Projekt eines eigenen Staates voran, obwohl sie innerhalb der Bevölkerung bislang noch auf keine größere Anhängerschaft verweisen konnten. Ihr propagandistisches Wirken sowie die Bildung der aus Deserteuren und Kriegsgefangenen gebildeten „Tschechoslowakischen Legion“ trugen maßgeblich dazu bei, dass die Alliierten die Tschechen als kriegführenden Partner akzeptierten. Noch am Tag vor der Veröffentlichung von Kaiser Karls Völkermanifest hatte Frankreich eine provisorische tschechoslowakische Regierung anerkannt und ihr Unterstützung bei der Staatenbildung zugesagt. Masaryk wiederum veröffentlichte als Antwort auf Karls Manifest drei Tage später eine Erklärung der formellen Unabhängigkeit der tschechoslowakischen Nation.9

Die tschechischen Aktivitäten im westlichen Exil fanden ihr Pendant schließlich auch in der Heimat, in dem im Sommer 1918 von allen tschechischen Parteien gegründeten Nationalausschuss, dem auch einige Slowaken angehörten. Am 21. Oktober machte dieser deutlich, „dass es für uns keine andere Lösung der böhmischen Frage gibt, als die absolut staatliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit des tschecho-slowakischen Vaterlandes.“10 Das Ersuchen des Ballhausplatzes gegenüber US-Präsident Woodrow Wilson um Verhandlungen für einen Waffenstillstand und um einen Sonderfrieden wirkte auf die Tschechen endlich wie ein Fanal. Bereits im Besitz der böhmischen Verwaltung, proklamierte der Nationalausschuss schon tags darauf, am 28. Oktober, den selbständigen tschechoslowakischen Staat. An das Volk sandte er die Botschaft: „Dein uralter Traum ist Wirklichkeit geworden. Der tschechoslowakische Staat trat am heutigen Tage in die Reihe der selbständigen Kulturstaaten der Welt.“11

Die Tschechen feierten ihre Staatsgründung und trachteten danach, so rasch als möglich alles Habsburgische abzuschütteln. Ihr Parlament, die „Revolutionäre Nationalversammlung“, verkündete am 14. November die Republik und wählte unter „nicht enden wollenden Ovationen“ Masaryk zum Staatspräsidenten.12 Der lange Zeit prominenteste tschechische Oppositionelle, der begnadigte „Hochverräter“ Karel Kramář, bildete eine Regierung – mit Beneš als Außen-, den beiden „Männern des 28. Oktober“, Alois Rašín als Finanz- und Antonín Švehla als Innen-, sowie mit der slowakischen Leitfigur, dem Militär Milan Rastislav Štefánik, als Kriegsminister.

Prag verschrieb sich einer Grenzziehung, die auf historischen, strategischen und verkehrspolitischen Motiven beruhte. Die Tschechen betrachteten daher auch die deutschbesiedelten Gebiete als unverzichtbare Teile des neuen Staates. Im Zuge der Ausrufung der Republik erklärte Ministerpräsident Kramář, „dass das deutsche Volk innerhalb der Grenzen unseres Staates nicht den geringsten Grund hat, für seine nationale Entwicklung Befürchtungen zu hegen. (…) Unser Staat wird allerdings ein tschechischer Staat sein“.13 Doch auch die über drei Millionen Deutschen der böhmischen Länder sollten auf das nationale Selbstbestimmungsrecht pochen.

Die Slowaken, deren Gebiet bislang Teil der ungarischen Reichshälfte und keine geografische, politische oder administrative Einheit gewesen war, hatten sich unter der Voraussetzung des Erhalts einer Autonomie mit den Tschechen auf einen gemeinsamen Staat geeinigt. Masaryk hatte bereits am 30. Juni 1918 im amerikanischen Pittsburgh gemeinsam mit slowakischen Exilpolitikern diese Vereinigung der beiden Völker vereinbart, und so erhielt der am 28. Oktober in Prag ausgerufene neue Staat tags darauf im slowakischen Martin feierlich seine Zustimmung. Andrej Hlinka, ein prominenter katholischer Pfarrer und politischer Führer, erklärte die „eintausendjährige Ehe“ mit den Ungarn für aufgelöst. Die Slowaken bekamen zwar für ihr Land einen eigenen Minister, ein wirklich autonomer Status sollte ihnen jedoch in weiterer Folge durch die Verfassung vorenthalten werden, was dem inneren Zusammenhalt der Ersten Republik naturgemäß beträchtlich schadete.14

Die Wiedergeburt Polens

Polen hatte im 18. Jahrhundert seine Eigenstaatlichkeit verloren und war fortan auf Preußen-Deutschland, Russland und die Habsburgermonarchie aufgeteilt. Im Ersten Weltkrieg versuchten dann beide Kriegsparteien, die Entente wie die Mittelmächte, die Polen mit Versprechungen und Konzessionen für ihre Sache zu gewinnen. Das ehemals zaristische Kongresspolen wurde von den Mittelmächten erobert, in zwei Gouvernements aufgeteilt und dabei in Warschau von den Deutschen, in Lublin österreichisch-ungarisch verwaltet. Die Kriegsentwicklung machte die Schaffung eines selbständigen polnischen Staates schlussendlich unabdingbar. Am 5. November 1916 erfolgte dessen Proklamation als konstitutionelle Erbmonarchie. In weiterer Folge verfügte das von Berlin und Wien als Satellit betrachtete Königreich zwar über einen Regentschaftsrat und eine Regierung, jedoch keineswegs über festgelegte Grenzen. Hatte das Zarenreich noch jegliche polnische Emanzipation unterdrückt, konnten die Westmächte nach der Russischen Revolution auch in dieser Frage endlich eine aktivere Politik betreiben. 1917 kam es zur Schaffung einer polnischen Armee unter französischem Kommando und Monate später zur Anerkennung des Polnischen Nationalkomitees in Paris unter Roman Dmowski, dem Antipoden des in Kongresspolen politisch wie militärisch äußerst aktiven Józef Piłsudski. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Forderung nach der Errichtung eines polnischen Staates im auf die nationale Selbstbestimmung ausgerichteten Vierzehn-Punkte-Programm des US-Präsidenten Wilson vom 8. Januar 1918.15

Die österreichischen Polen hatten im Gegensatz zu ihren Landsleuten in Preußen und Russland eine vergleichsweise privilegierte Stellung inne und verhielten sich daher auch gegenüber Staat und Herrscherhaus loyal. Die bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk vereinbarte Abtretung des kongresspolnischen Cholmer Gebiets an die Ukraine entfremdete die bislang so habsburgtreuen Polen jedoch von der Donaumonarchie. Im letzten halben Jahr des Krieges folgte denn auch die überwiegende Mehrheit der Polen dem alten Traum von der Wiederherstellung der polnischen Republik, die monarchische Staatsform wurde nicht mehr ernsthaft erwogen. Noch vor Karls Völkermanifest verkündete der Regentschaftsrat in Warschau am 7. Oktober die „Schaffung eines unabhängigen Staates, der alle polnischen Gebiete umfasst, mit Zugang zum Meere“.16 Im Zuge der Auflösungserscheinungen der Doppelmonarchie schloss sich Galizien an den neuen polnischen Staat an. Dessen ungewisse Zukunft zeigte sich freilich auch in der Bildung einer „Vorläufigen Volksregierung“ unter dem austro-polnischen Sozialistenführer Ignacy Daszyński am 7. November in Lublin.

Somit gab es gleich drei polnische Regierungen: in Paris, Warschau und eben in Lublin. Aufgrund ihrer parteipolitisch und ideologisch entgegengesetzten Herkunft verfolgten diese auch völlig verschiedene Programme. Der aus deutscher Festungshaft in Warschau eintreffende Piłsudski wurde schließlich zur führenden Persönlichkeit Polens auserkoren. Er erhielt den Titel „Vorläufiger Staatschef“. Der Tag seiner Berufung zum Oberbefehlshaber, der 11. November, sollte zu guter Letzt zum Gründungstag des selbständigen polnischen Staates erklärt werden. Elf Tage später verfügte die Republik über einen Staatschef und eine Regierung, deren Kompetenzen festgelegt waren. Die Staatsbildung konnte als abgeschlossen betrachtet werden. Die Grenzen der Zweiten Republik waren jedoch immer noch ungeklärt.17

Das deutsche Militär räumte Kongresspolen, und zum neuen Staat gehörten auch das ehemals habsburgische Westgali­zien und Gebiete des alten zaristischen Westgouvernements. In Ostgalizien, das ebenfalls Teil der österreichischen Reichshälfte gewesen war, kam es dagegen zum Konflikt mit den Ukrainern, im Teschener Schlesien mit den Tschechen, im Gebiet um Wilna (Vilnius) mit Litauen und in Posen und Westpreußen mit Deutschland. In Ostgalizien wurde zwischen ukrainischen Truppen und polnischen Legionären erbittert gekämpft, vor allem um dessen Hauptstadt Lemberg. Posen gelangte durch einen Aufstand noch vor der Friedenskonferenz von deutscher in polnische Hand. Die Alliierten waren Piłsudski bislang wegen dessen sozialistischer Vergangenheit und seiner Zusammenarbeit mit den Mittelmächten zu Beginn des Krieges äußerst skeptisch gegenübergestanden. Als es aber doch zur Koopera­tion zwischen Piłsudski und dem in Paris agitierenden Dmowski sowie darüber hinaus zur klaren Distanz gegenüber links- und rechtsextremen Kräften kam, erkannten schlussendlich die Siegermächte den neuen Staat auch formal an.18

Umsturz in Ungarn

Ebenso wie die Polen galten auch die Ungarn als historische Nation. Trotz des Ausgleichs von 1867, der das Habsburgerreich in eine Doppelmonarchie umgestaltet hatte, waren sie in zunehmendem Maße bemüht gewesen, bei gleichzeitiger Unterdrückung der anderen Völkerschaften ihre Eigenstaatlichkeit voranzutreiben. Eine vollständige Sezession des multiethnischen Königreichs des Heiligen Stephan drohte phasenweise schon vor Kriegsausbruch 1914. Als die Budapester Regierung nach dem Zusammenbruch der Balkanfront die magyarischen Soldaten von der italienischen Front zum Schutz der eigenen Grenzen heimbeorderte, sandte sie damit ein entscheidendes Signal zur Auflösung nicht nur der k. u. k. Armee, sondern des gesamten Doppelstaates aus. Auf Karls Völkermanifest reagierte Ministerpräsident Sándor Wekerle prompt in einer stürmischen Sitzung des Reichstags mit einem historischen Schritt: „Wenn wir einem föderalistischen Österreich gegenüberstehen, so ergibt sich die unumgängliche Notwendigkeit, dass wir uns auf den Standpunkt der Personalunion stellen.“19 Der Dualismus gehörte somit der Vergangenheit an. Übrig blieb von der Doppelmonarchie lediglich der gemeinsame Herrscher in der Person Karls als Kaiser von Österreich und König von Ungarn. Wekerle trat jedoch am 23. Oktober zurück und löste damit in Budapest eine schwere Regierungskrise aus.

Die Gründung eines republikanischen Nationalrats unter dem radikalen Aristokraten Mihály Graf Károlyi entwickelte sich binnen weniger Tage zu einer Massenbewegung. Großdemonstrationen und wilde Ausschreitungen zwischen der alten königlichen Macht und den Anhängern des Nationalrats führten schließlich in Budapest in der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober zum Umsturz. Der Monarch musste nachgeben und Károlyi zum Ministerpräsidenten ernennen.20 „Die Revolution des Volkes hat gesiegt“, hieß es im Aufruf der neuen Regierung. „Die vollständige staatliche Unabhängigkeit Ungarns ist gesichert (…). Wir sind frei.“21 So empfand es auch die euphorische Bevölkerung der Hauptstadt. Károlyi wurde vom Eid auf den König entbunden und erklärte Ungarn mit 1. November zum neutralen Staat. Eine verfassungsgebende Nationalversammlung sollte über die künftige Staatsform entscheiden.

Fünfzehn Tage später erklärte Budapest den Thronverlust der Habsburger und proklamierte die Republik Ungarn. Zuvor hatte Karl bereits auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften verzichtet und – im Voraus – die künftige Staatsform anerkannt. „Wir wollen in jeder Hinsicht mit der Vergangenheit brechen, wir wollen die Institutionen der Gewalt, des Militarismus für immer unmöglich machen und alles daran setzen, um eine wirtschaftliche Verschmelzung aller Völker herbeizuführen“, verkündete Károlyi im Parlament unter stürmischem Beifall. „Die Regierung hat beschlossen, an alle Völker der Welt heute, am Tage der Verkündigung der freien und unabhängigen ungarischen Republik ein Radiotelegramm zu richten, damit urbi et orbi unser fester Entschluss verkündet werde, für die Freiheit, für die Demokratie und für die Unabhängigkeit zu arbeiten.“22

Trotz des Waffenstillstands mit den Siegermächten marschierten seit Mitte November gegnerische Truppen in die junge Republik ein: Franzosen, Serben, Tschechen, Slowaken und Rumänen. Sie standen unter französischem Kommando, und deshalb war die neue Regierung des bekannten Pazifisten Károlyi davon überzeugt, mit der Entente einen ehrenvollen Frieden aushandeln zu können. In der Erwartung, dass es sich lediglich um eine temporäre Besetzung handeln würde, leistete Ungarn den Invasoren keinen bewaffneten Widerstand.

Das südslawische Königreich

Neben der böhmischen war die südslawische die zweite existenzielle Frage der Donaumonarchie gewesen. Während Slowenen nur in Österreich, Kroaten in der westlichen und in der östlichen Reichshälfte beheimatet waren, lebten Serben sowohl im Habsburgerreich als auch im souveränen Königreich Serbien. Bosnien und die Herzegowina waren nach dem Berliner Kongress 1878 von der Donaumonarchie okkupiert und dreißig Jahre danach annektiert worden. Das Vorhaben der serbischen Monarchie, zu guter Letzt alle Südslawen zu vereinen und – dem entgegengesetzt – das Bestreben Österreich-Ungarns, den Nationalismus der Balkanvölker einzudämmen, führten besonders ab der Jahrhundertwende zu zahlreichen Spannungen und Konflikten, die sich endlich nach der Mordtat von Sarajevo im Feldzug der Doppelmonarchie gegen Belgrad entluden. Nach erbittertem Widerstand wurden Serbien und Montenegro im Verlauf des Krieges schlussendlich besetzt und militärisch mit aller Härte verwaltet.

Doch deren politische Verantwortliche gaben sich keineswegs geschlagen. Im „Pakt von Korfu“ deklarierten am 20. Juli 1917 die serbische Exilregierung und Emigranten aus Österreich-Ungarn bereits die künftige Bildung eines „Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen“ – und zwar „innerhalb der Grenzen geschlossener Siedlungsgebiete auf Grund des Selbstbestimmungsrechts“.23 Das Blatt wendete sich für Serbien und seine Alliierten aber erst mit dem Zusammenbruch des mit Österreich-Ungarn und Deutschland verbündeten Bulgarien und dem darauf folgenden Vordringen der Entente-Truppen am Balkan.

Die Mehrheit der Kroaten und Slowenen zeigte sich in den ersten Kriegsjahren durchwegs kaisertreu. Erst 1917 wurden wieder Stimmen für eine Vereinigung aller Südslawen innerhalb der Donaumonarchie laut. Die drohende Niederlage, Hunger, Kriegsmüdigkeit und die Propaganda für das nationale Selbstbestimmungsrecht befeuerten dann die Emanzipation in den südöstlichen Kronländern der Donaumonarchie, die zudem von der Staatsautorität gar nicht behindert wurde. In Zagreb, dem alten Agram, bildete sich am 6. Oktober 1918 ein Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben. Das Manifest Kaiser Karls beantwortete dieser mit der Forderung nach einem „einheitlichen selbständigen südslawischen Nationalstaat auf allen Territorien, wo Slowenen, Kroaten und Serben wohnen, ohne Rücksicht auf staatliche und provinzielle Grenzen“. Im Zuge der Auflösung der k. u. k. Armee nahmen die Desertionen der Kroaten erheblich zu, alte Loyalitäten zerbrachen. Beflügelt durch die Verlautbarungen Präsident Wilsons erklärte der Nationalrat, „dass die Lösung unserer nationalen Frage im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu erfolgen hat“. Er betrachtete „demnach die internationale Friedenskonferenz als einzig kompetentes Forum, welches berufen ist, diese Frage endgültig zu lösen“.24

Am 29. Oktober proklamierte der Nationalrat in Zagreb unter großem Jubel der Bevölkerung die Loslösung des Königreichs Kroatien und Slawonien von Ungarn. Die vor allem slowenisch besiedelten Gebiete, wo in Laibach (Ljubljana) tags zuvor eine eigene Landesregierung gebildet worden war, kamen aus der österreichischen Reichshälfte hinzu. „Der Staat der Slowenen, Kroaten und Serben wurde nicht nur ein von Fremdherrschaft befreiter und einiger Staat“, so erklärte der Nationalrat in Zagreb in einem Aufruf an die Soldaten, „sondern es wird in ihm auch das Volk von hundertjährigem Unrecht und Ungleichheit befreit werden.“25 Dennoch vermochten sich viele Slowenen und Kroaten noch immer nicht für einen Anschluss an das Königreich Serbien zu begeistern. Sie zogen eine dreiteilige, föderalistische und republikanische Lösung einem monarchischen, zentralistischen, orthodox dominierten Großserbien vor.

Durch den Abzug der k .u. k. Besatzungsmacht konnte der serbische Prinzregent Alexander am 6. November wieder feierlich in Belgrad einziehen. Der Vormarsch italienischer Truppen auf Laibach beschleunigte unbeabsichtigt den Vereinigungsprozess, da Kroaten und Slowenen über keine ausreichenden Streitkräfte verfügten und deshalb auf serbische Waffenhilfe angewiesen waren. Das lange auf einen echten Bundesstaat setzende Zagreb gab schließlich nach. Serbien, Montenegro und der auf dem Boden der Habsburgermonarchie entstandene Staat der Slowenen, Kroaten und Serben schlossen sich am 1. Dezember zum einheitlichen „Königreich SHS“ zusammen, wie Jugoslawien mit den drei Initialen offiziell bis 1929 hieß. Von Beginn des neuen Königreichs an stand freilich der Gegensatz zwischen Serben und Kroaten im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung, denn in Zagreb agitierte besonders die Bauernpartei für eine selbständige kroatische Republik.26 Davon abgesehen gab es ungelöste Grenzfragen – so auch mit dem Nachbarn im Nordwesten. Zwischen Klagenfurt und Laibach entbrannte der bewaffnete Konflikt um Südkärnten.27

Deutschösterreich

Die Deutschen des kaiserlichen Österreich verspürten ursprünglich von allen Völkern der Monarchie am wenigsten den Drang, die alten Bande zu lösen. Als sich am 21. Oktober aufgrund des Völkermanifests alle deutschen Reichsratsabgeordneten im niederösterreichischen Landhaus versammelten, trat die überwiegende Mehrheit dieses ersten Nationalrats noch für einen Staatenbund ein. Der Gründervater der österreichischen Sozialdemokratie, Viktor Adler, sprach dabei von einem „deutschen Volksstaat“, der „sich mit den Nachbarvölkern zu einem freien Völkerbund vereinen“ sollte, „wenn die Völker dies wollen“.28 Als der Separatismus der Nationalitäten jedoch unübersehbare Fakten schuf, ging auch die Provisorische Nationalversammlung in ihrer zweiten Sitzung am 30. Oktober in Wien daran, endgültig die politische Macht zu übernehmen und einen eigenen Staat zu schaffen, der alle deutschsprachigen Gebiete der westlichen Reichshälfte der Doppelmonarchie umfassen sollte: Deutschösterreich. Dieses neue, amorphe Staatswesen verfügte sodann über ein überaus starkes Parlament, einen schlussendlich Staatsrat genannten Vollzugsausschuss und eine Konzentrationsregierung unter der Leitung des Sozialdemokraten Karl Renner, einem in Südmähren geborenen Wahlniederösterreicher, der Intellektueller und Pragmatiker zugleich war.29

Seine Partei schwenkte aufgrund der revolutionären Ereignisse in Deutschland schlussendlich ganz auf die Linie eines Anschlusses an den vom Wilhelminischen Reich zur demokratischen Republik transformierten Nachbarn. Weniger klar war die Zielsetzung der zweiten Massenbewegung in Österreich. Die Christlichsozialen in Wien zeigten sich bis zuletzt kaisertreu und bevorzugten wohl einen Weiterbestand der Donaumonarchie, ihre Parteifreunde in der Provinz entzogen dem alten System dagegen zunehmend die Unterstützung.30

Maßgeblichen Anteil daran hatten auch die unmittelbar vorausgegangenen Ereignisse in Italien. Durch die chaotische Abwicklung des Waffenstillstands mit den Alliierten vom 4. November gerieten nach 51 Monaten und sechs Tagen Krieg hunderttausende Soldaten der k. u. k. Armee in Kriegsgefangenschaft. Die Monarchie vermochte diese militärische Niederlage nicht zu überleben. Kaiser Karl war als Oberhaupt eines Staates, den es praktisch gar nicht mehr gab, untragbar geworden.31 Am Tag nach dessen Verzicht auf die Regierungsgeschäfte, am 12. November, beschloss die Provisorische Nationalversammlung in Wien in einer feierlichen Sitzung auch für Österreich das Ende der Alten Welt: „Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. (…) Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.“32

In Berufung auf das nationale Selbstbestimmungsrecht sollten nicht bloß die Gebiete der heutigen Bundesländer zu diesem Staat gehören, sondern auch die Untersteiermark und Südtirol umfassen. Schon allein aufgrund der Herkunft vieler Politiker war es für Wien selbstverständlich, auch auf die überwiegend von Deutschen besiedelten nördlichen und südlichen Randgebiete Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens sowie auf Brünn (Brno), Iglau (Jihlava) und Olmütz  (Olomouc) Anspruch zu erheben.33 Für all diese strittigen Gebiete forderte die deutschösterreichische Republik die Entscheidung durch Volksabstimmungen.

Dies ließ sich mit den Vorstellungen Prags jedoch keinesfalls vereinen. Von Ende November bis zum Jahresende 1918 besetzten die Tschechen kurzerhand alle deutschen Gebiete der Länder der Wenzelskrone. Zudem setzte die Tschechoslowakei das unter Hunger und Versorgungsknappheit leidende Wien mit Kohle- und Lebensmittellieferungen unter Druck und wusste darüber hinaus die Siegermächte auf ihrer Seite. Als am 4. März 1919 in Wien die verfassungsgebende Nationalversammlung Deutschösterreichs zusammentrat, kam es in einer Reihe von deutschen Städten in den böhmischen Ländern zu Demonstrationen für das nationale Selbstbestimmungsrecht, bei denen Militär und Polizei des tschechoslowakischen Staates 52 Menschen erschossen und 84 verletzten.34

Die in ihren urbanen Gebieten deutsch besiedelte Untersteiermark mit dem Zentrum Marburg (Maribor) befand sich bereits fest in slowenischer Hand. In Kärnten setzte sich jedoch die deutschsprachige Bevölkerung mit Waffengewalt gegen die von den Südslawen beabsichtigte Teilung des Landes zur Wehr. Der südliche Teil Tirols bis zum Brenner war wiederum italienisch besetzt, und Rom dachte schon aus militärstrategischen Motiven keinen Moment daran, dieses Gebiet, dass ihm von der Entente für den Kriegseintritt 1915 versprochen worden war, wieder abzugeben. Otto Bauer ventilierte in weiterer Folge den Plan einer Neutralisierung ganz Tirols: „Dieses Gebiet müsste“, so der sozialdemokratische Staatssekretär des Äußern, „in die Neutralität der Schweiz einbezogen werden.“35

Nicht nur, dass das neue Österreich in diesen Tagen von seinen Politikern nicht als eigene Nation empfunden wurde, fehlte es auch am Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den westlichen und östlichen Landesteilen der Ersten Republik. Für Salzburg, Tirol und Vorarlberg war Wien ein „Wasserkopf“, die Politik der Hauptstadt im Wesentlichen marxistisch und jüdisch dominiert. Die katholisch-konservativ geprägten Länder zeigten wenig Interesse am gemeinsamen Staat und gingen immer wieder ihre eigenen Wege. Neben dem Wunsch nach einem Anschluss an das Deutsche Reich erwog man in Vorarlberg auch die Idee einer Angliederung an die Schweiz. In Tirol dachte man wiederum an die Gründung einer selbständigen Republik, um die Landeseinheit zu retten. Deshalb hielt Innsbruck auch die dezidierte Politik eines Anschlusses Österreichs an Deutschland, wie sie von Otto Bauer betrieben wurde, aufgrund der zu erwartenden negativen Wirkung auf die Alliierten für schädlich.36

Anschluss oder Donaukonföderation

Dies war auch die Meinung der Christlichsozialen in Wien. Frankreich würde eine Vergrößerung des Deutschen Reichs um Österreich nicht zulassen und angesichts eines solchen Vorhabens auf der Friedenskonferenz gegenüber den Besiegten besondere Härte zeigen. In Paris, teilweise auch in London, wurde dagegen bereits das Projekt einer „mitteleuropäischen Union“ entworfen. Diese „antideutsche Barriere“ sollte den Anschluss verhindern und aus den Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie zusammengesetzt sein – allerdings ohne die Habsburger-Dynastie als Herrscherhaus. Vor seinem Gesinnungswandel zum Anschlussbefürworter hatte etwa Renner einen ähnlichen Plan verfolgt.37

„Zu solchen Verhandlungen sind aber die anderen Nationalstaaten nicht bereit“, stellte Otto Bauer in einem Kommuniqué fest. „Unsere slawischen Nachbarstaaten haben nicht den Wunsch geäußert, mit uns über die Bildung einer solchen Union zu verhandeln.“ Der Außenstaatssekretär nahm lediglich ausgesprochen antideutsche Föderationspläne der Nachfolgestaaten wahr, die für Wien natürlich nicht in Frage kommen konnten.38 Und er sah noch andere Hindernisse: „Die Einheit des Wirtschaftsgebietes Deutschösterreichs mit anderen Nationen der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie wäre also nur dann gesichert, wenn sich alle diese Nationen entschlössen, sich zu einem Bundesstaat mit gemeinsamem Zentralparlament, gemeinsamer Gesetzgebung und gemeinsamer Zentralregierung zusammenzuschließen“, erklärte Bauer in einer grundlegenden Denkschrift. „Nun unterliegt es aber keinem Zweifel, dass weder die Tschechen noch die Südslawen, weder die Polen noch die Ungarn einer solchen Einschränkung ihrer nationalen Souveränität zuzustimmen geneigt sind. Eine solche Föderation, die allein die Lebens- und Entwicklungsmöglichkeit Deutschösterreichs sichern würde, würde unzweifelhaft an der Abneigung und dem Widerstande der anderen Nationen scheitern. Deutschösterreich kann also seine Hoffnung auf eine solche Föderation nicht setzen; da es aber für sich allein nicht bestehen kann, ist es gezwungen, den engen föderativen Anschluss, den es braucht, anderswo zu suchen. Es kann ihn nirgends finden als im Deutschen Reiche.“39

Die Idee einer Donauföderation sollte bis zum Ende der Zwischenkriegszeit immer wieder in Europa auftauchen. Die Donaukonföderation, wie dieses Vorhaben ebenfalls genannt wurde, galt freilich stets als französisch inspiriert und wurde schon deshalb von allen, die eine Pariser Hegemonie in Mitteleuropa ablehnten, ohne wohlwollende Erörterung sogleich verworfen. Ihr Gegenmodell war das Vorhaben eines Anschlusses des als allein nicht lebensfähig geltenden (Deutsch-)Österreich an Deutschland. Abgesehen von den wirtschaftlichen Argumenten stand bei den österreichischen Großdeutschen der nationale Aspekt im Vordergrund, während sich die Sozialdemokraten der Ersten Republik durch den Anschluss den Sieg der Arbeiterbewegung in Mitteleuropa erhofften. Aber auch sie fühlten sich der deutschen Kultur in besonderem Maße zugehörig.

Letzteres traf durchaus auch auf die Christlichsozialen zu. Aber bestimmte Kreise innerhalb der konservativen Massenpartei, vor allem in Wien, hofften nicht bloß auf eine Restauration der habsburgischen Herrschaft, sondern vermochten sich weder mit einer Degradierung der Donaumetropole zur deutschen Provinzstadt anzufreunden noch sich für den Gedanken zu erwärmen, als Katholiken in einem protestantisch dominierten Staat aufzugehen. Die Aussicht auf einen katholischen Zuwachs für Deutschland führte umgekehrt neben anderen politischen Erwägungen auch zu einer gewissen Reserve in Berlin, den Anschluss wirklich mit Energie voranzutreiben.

Revolution in Deutschland

Die größte aller Revolutionen hat wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazugehörte, gestürzt. (…) wer gestern in den Nachmittagsstunden Berlin gesehen hat, trägt Eindrücke und Bilder in sich, die unauslöschbar sind. (…) ein Schauspiel für Nervenschwache war es mitunter nicht.40

Bereits vor dem Zusammenbruch der k. u. k. Armee am Balkan war der politischen und militärischen Führung in Deutschland klar geworden, dass auch die stärkste Heeresmacht in Europa aufgrund des gegnerischen Übergewichts den Krieg nicht mehr gewinnen konnte. Am 9. November 1918 rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Balkon des Berliner Reichstags die Deutsche Republik aus.41