Das Schmerz-Buch - Prof. Dr. med. Matthias Karst - E-Book

Das Schmerz-Buch E-Book

Prof. Dr. med. Matthias Karst

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Beschreibung

Schmerzen verstehen und überwinden Die Schmerzforschung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Ärzte wissen das, vielen Betroffenen ist aber nicht klar, was eine gute Schmerztherapie für sie tun kann. Der Arzt und Wissenschaftler Professor Matthias Karst beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit allen Formen von Schmerzen. In diesem Ratgeber macht er modernste Forschungsansätze für den Laien zugänglich. Heute werden chronische Schmerzen als eigenständige Erkrankung gesehen. Sie geht mit tiefgreifenden Veränderungen im Nervensystem einher und haben Auswirkungen auf • körperliche, • seelische und • zwischenmenschliche Bereiche. Entsprechend wichtig ist es, alle drei Ebenen zu beleuchten, um die Ursachen der Schmerzen und Wege aus dem Schmerz zu finden. Diese fachübergreifende Behandlung durch spezialisierte Ärzte und Therapeuten – Multimodale Schmerztherapie genannt – hilft Patienten mit chronischen Schmerzen, ihr Leiden zu lindern und ihre Lebensqualität zu steigern.

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Seitenzahl: 156

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So hilft Ihnen dieses Buch: Wichtige Punkte bei der Behandlung chronischer Schmerzen

Aufsuchen eines Schmerztherapeuten → Seite 46

Schmerzklinik/Schmerztagesklinik → Seite 47

Der erste Schritt: die Diagnose → Seite 48

Skalen zur Erfassung der Schmerzintensität → Seite 50

Fragebögen und Skalen zur Erfassung der Funktionalität → Seite 51

Realistische Ziele stecken → Seite 52

Die Auswahl des geeigneten Schmerzmittels → Seite 55

Nichtmedikamentöse Verfahren → Seite 95

Physikalische Therapieverfahren → Seite 96

Psychologische Verfahren → Seite 103

Komplementäre und alternative Verfahren → Seite 111

Vorteile der Multimodalen Therapie → Seite 119

Ein warmherziger Umgang ist wichtig → Seite 137

ABC des Selbstmanagements → Seite 139

    4VORWORT

    7WAS IST SCHMERZ?

    8Schmerzempfindung

    8 Schmerzunempfindlichkeit - Segen oder Fluch?

  11Vom Reiz zum Schmerz

  14Schmerz ist nicht gleich Schmerz

  15Behandlung von akuten Schmerzen

  19WAS IST CHRONISCHER SCHMERZ?

  21Wie Patienten chronische Schmerzen beschreiben

  24Welche Faktoren begünstigen chronische Schmerzen?

  24Biologische Faktoren

  28Psychosoziale Faktoren

  33Bunte Flaggen weisen den Weg

  37Kulturelle Faktoren

  40Das Schmerzgedächtnis

  45DIE THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN

  46Wer hilft bei chronischen Schmerzen?

  47Stationäre und teilstationäre Behandlung

  48Der erste Schritt: die Diagnose

  50Fragebögen und Skalen

  52Realistische Ziele stecken

  54Die medikamentöse Therapie

  55Die Auswahl des geeigneten Schmerzmittels

  57Substanzen bei Gewebe- und Entzündungsschmerzen

  78Substanzen bei Nervenschmerzen

  84Arzneimittel gegen Schmerzen (Übersicht)

  95Nichtmedikamentöse Verfahren

  96Physikalische Therapieverfahren

  103Psychologische Verfahren

  111Komplementäre und alternative Verfahren

  119Multimodale Therapie

  127DAS KÖNNEN SIE SELBST TUN

  128Der „Knigge” für Schmerzpatienten: Vom Umgang mit chronischen Schmerzen

  129Verabschieden Sie sich von Durchhaltestrategien

  130Entziehen Sie Ihren Schmerzen Aufmerksamkeit

  131Vermeiden Sie Vermeidungsverhalten

  134Arbeiten Sie an Ihrer Einstellung

  137Suchen Sie sich einen warmherzigen Arzt

  139Das ABC des Selbstmanagements

  147Anhang

  147Lexikon medizinischer Fachbegriffe

  150Hilfreiche Adressen

  151Zum Weiterlesen

VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser,

Schmerzen können nur von der jeweils betroffenen Person verspürt werden. Es gib keinen Apparat, in den man jemanden hineinstecken kann und der dann misst, wie stark der Schmerz ist, und womöglich noch die Schmerzursachen benennt. Schmerztherapeuten können den Schmerz nicht „sehen”, aber sie können die mit den Schmerzen verbundene Unruhe miterleben und aushalten und gemeinsam mit dem Betroffenen eine Lösung suchen.

Dabei ist der Schmerz die tiefste Grunderfahrung unseres Lebens überhaupt. Schmerzen sichern nicht nur unsere biologische Existenz, indem sie auf potenziell lebensbedrohliche Gefahren aufmerksam machen, sondern ermöglichen uns, dass wir uns in der Abgrenzung zu anderen Menschen als eigenständige Personen wahrnehmen. Als solche verfolgen wir unsere Ziele und Wünsche, müssen es aber (schmerzlich) aushalten, dass das „Du” nicht das macht, was das „Ich” will. Ein Leben außerhalb der menschlichen Gemeinschaft ist aber auch nicht möglich: „Es gibt kein Ich ohne das Du”, wie der Psychoanalytiker Johannes Picht schreibt. Diese schmerzliche Differenz erzeugt und „schärft” erst unsere subjektive Identität.

„Ich weiß, dass individuelle Lösungen gefunden werden können.”

Heute verstehen wir chronische Schmerzen als eigenständige Erkrankung, die mit tief greifenden Veränderungen im Nervensystem einhergeht und mit Auswirkungen auf körperliche, seelische und zwischenmenschliche Bereiche verbunden ist. Entsprechend wichtig ist es, alle drei Ebenen gemeinsam zu beleuchten, um die Ursachen der Schmerzen und Wege aus dem Schmerz zu finden. Das kann nur in einer freundlichen und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Betroffenem und Schmerztherapeuten gelingen. Das dann gemeinsam getragene Konzept führt zum Erfolg, wenn man am Ball bleibt. Das „Schmerzgedächtnis” kann nicht auf Knopfdruck gelöscht, aber überschrieben werden. Hierzu ist körperliche und geistige Aktivität notwendig. Das Nervensystem merkt sich alles, auch wenn wir uns an vieles nicht aktiv erinnern können. Seien Sie ein guter und sympathischer Chef, der seine Mitarbeiter – die Zellen – wertschätzt und ihnen nur so viel abverlangt, wie ihnen zuträglich ist, aber sie auch fördert und fordert, sodass sie sich weiterentwickeln können.

„Heute verstehen wir Schmerzen als eigenständige Erkrankung.”

Als Arzt und Wissenschaftler, der sich seit Jahrzehnten mit allen Formen von Schmerzen beschäftigt, weiß ich, dass individuelle Lösungen gefunden werden können. Möge „Das Schmerz-Buch – Neue Wege wagen” Ihnen dabei eine Hilfe sein.

Hinweis: Im Anhang finden Sie ein kleines Lexikon, in dem wichtige medizinische Fachausdrücke, die in diesem Buch öfter vorkommen, kurz erklärt werden.

IhrProf. Dr. med. Matthias Karst

WAS IST SCHMERZ?

Schmerz ist lästig, quälend, entnervend – unnötig wie ein Kropf ist er deshalb noch lange nicht. Er warnt uns vielmehr davor, unserem Körper Schaden zuzufügen. Dieser Warnschmerz ist ausgesprochen sinnvoll. Doch was ist mit chronischen Schmerzen, die uns mürbe machen und unser ganzes Leben beeinträchtigen? Hier lesen Sie, was genau bei Schmerzen geschieht und warum das Schmerzempfinden individuell verschieden ist.

Schmerzempfindung

„Schmerz ist nicht der Feind, sondern der loyale Gefährte, der den Feind ankündigt.“

Paul Brand, Philip Yancy

Es gibt kaum etwas Schlimmeres als starke Schmerzen. Am liebsten würden wir sie ganz aus unserem Leben verbannen, wenn wir nur könnten. Aber das wäre zu kurz gedacht. Denken Sie nur einmal daran, was passieren würde, wenn wir keinen Schmerz empfinden könnten: Wir würden uns ständig stoßen, verletzen, stechen, verbrennen ... Schmerzen halten uns also davon ab, Dinge zu tun, die unserem Körper schaden, oder sie zeigen uns, dass im Körper etwas nicht in Ordnung ist und wir uns darum kümmern müssen. Sie warnen und beschützen uns vor Schlimmerem. Oder, wie Aristoteles sagt: „Wir können ohne Schmerz nicht lernen.“

Akuter Schmerz als Warnsignal ist wichtig fürs Überleben.

Wer dieses natürliche Schmerzempfinden nicht hat, lebt ausgesprochen gefährlich, wie das folgende Beispiel deutlich macht.

Schmerzunempfindlichkeit – Segen oder Fluch?

Als der pakistanische Junge während seiner Geburtstagsfeier vom Dach des Elternhauses gesprungen war, um seine Freunde zu beeindrucken, stand er äußerlich unversehrt auf und bekam viel Beifall. In der Stadt verdiente er Geld, indem er sich Messer in die Arme stach und über glühende Kohlen lief. In dem Krankenhaus, in dem regelmäßig die Stichwunden genäht und die Brandblasen verbunden wurden, war er berühmt. Was seine Ärzte jedes Mal erstaunte: Niemals klagte ihr junger Patient über Schmerzen. Die Wunden ließen sich immer ohne örtliche Betäubung oder Narkose versorgen. Doch jetzt war er zu weit gegangen. Einen Tag nach seinem 14. Geburtstag verstarb er an inneren Blutungen.

Forscher fanden sechs weitere Kinder, die mit dem Jungen verwandt waren und die ebenfalls keine Schmerzen wahrnehmen konnten. Allen fehlte die Zungenspitze oder Teile der Lippen, die sie sich in den ersten Lebensjahren versehentlich abgebissen hatten. Alle hatten oft Prellungen, Schnittwunden oder Knochenbrüche erlitten. Sie hatten kein Schmerzempfinden. Die älteren Kinder hatten allerdings gelernt, sich beim Fußballspielen, wenn sie zu Fall gebracht worden waren, so zu verhalten, als ob sie Schmerzen hätten, um damit den Strafstoß zu erhalten.

Wie konnte diese gefährliche Schmerzunempfindlichkeit entstehen? Die Kinder wurden umfassend untersucht. Alle Befunde waren normal. Sie konnten zwischen „spitz“ und „stumpf“, zwischen „kalt“ und „warm“ unterscheiden. Ihre Reflexe waren normal, unter dem Mikroskop zeigten sich die Hautnerven völlig unauffällig. Die Kernspintomografie bildete das Gehirn so ab, wie es sein sollte.

Erst die genetische Untersuchung klärte das Phänomen auf: Eine Genveränderung (SCN9A) verhindert, dass ein bestimmter Natrium-Ionenkanal der Schmerzfasern funktioniert. Ein Schmerzreiz führt nun nicht mehr dazu, dass sich elektrische Impulse bilden, die dem Gehirn das Geschehen melden. Schnittwunden und Verbrennungen werden nur als ein unbedeutendes Gefühl wahrgenommen, aber nicht als unangenehm oder schmerzhaft.

Menschen mit angeborener Schmerzunempfindlichkeit leben äußerst gefährlich.

Die Lösung des Rätsels war in doppelter Hinsicht außerordentlich erstaunlich. Wie kann es sein, dass ein so komplexes Phänomen wie Schmerz durch eine einzige Genmutation so stark beeinflusst wird? Und wieso sind die Betroffenen in den übrigen Körperfunktionen nicht beeinträchtigt? Mäuse, denen man diese Genveränderung „eingebaut“ hat, leben nur wenige Tage, weil sie nicht richtig gedeihen.

In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde beschrieben, wie ein Mann – in Shows angekündigt als „das menschliche Nadelkissen“ – sich öffentlich kreuzigen ließ. Dabei fühlte er keinen Schmerz. Da das Berührungsempfinden normal war, dachte man, es fehle an der dazugehörigen Emotion, und nannte das Phänomen „Schmerzasymbolie“, also die Unfähigkeit, Schmerzen zu empfinden, zu erleiden und sprachlich auszudrücken.

Tatsächlich sind Schmerzsignale die notwendige Voraussetzung, auch das dazugehörige Empfinden wahrzunehmen. Ashlyn Blocker, ein Mädchen aus Georgia, das ebenfalls mit dem Gendefekt des Ionenkanals geboren wurde, antwortete auf die Frage „Was bedeutet Schmerz für dich?“ „Ich weiß es nicht“. Als Kleinkind wurden ihr die Hände verbunden, damit sie sich mit den Fingern keine Schäden im Gesicht und an den Augen zufügen konnte, die Wohnung wurde mit weichen Teppichen ausgelegt, spitzkantige Möbel wurden entfernt. Wenn Ashlyn aus der Pause zum Schulunterricht zurückkehrt, prüfen die Lehrkräfte, ob sie irgendwo am Körper Verletzungen aufweist. Sie lebt in einer überfürsorglichen Umgebung. Ihr Arzt sagt: „Schmerz ist ein Geschenk, und sie hat es nicht“. Während sie sich versucht in andere hineinzuversetzen, die Schmerzen verspüren können, ist das bei Ronald Niedermann, dem Bösewicht des Krimiautors Stieg Larsson anders: Seine angeborene Schmerzunempfindlichkeit lässt ihn zum gefühllosen Killer werden.

Ohne Schmerzsignale gibt es kein Schmerzempfinden.

Es gibt ein Kontinuum der Schmerzempfindlichkeit auch bei Menschen, die keine so gravierende Genveränderung haben. Diese Beobachtung erklärt sich durch den Einfluss verschiedener genetischer Faktoren, aber auch durch Umwelteinflüsse. Hunderte Gene steuern den Schmerz: Es kommt auf das Gemisch an und auf die Aktivität der Gene. Auch das SCN9A-Gen scheint in unterschiedlichen Ausprägungen vorzukommen und mit darüber zu entscheiden, ob wir dazu neigen, Schmerzen stärker oder schwächer zu empfinden.

Ionenkanalblocker – Lizenz zur Schmerzlinderung

Ein Wirkstoff wurde entwickelt (XEN402), der passgenau die Funktion dieses Ionenkanals blockiert. In ersten Untersuchungen an Menschen konnte gezeigt werden, dass die Schmerzintensität reduziert werden kann, allerdings nicht vollständig, denn Schmerz ist auch ein komplexes Erlebnis, das das Gehirn produziert. Trotzdem sind die Erwartungen an den Ionenkanalblocker groß: Die Lizenz für diesen Wirkstoff wurde für 376 Millionen Dollar an einen großen Pharmakonzern verkauft, der das Mittel zur Marktreife bringen will. Auch die Natur scheint solche Wirkstoffe bereit zu halten: In dem chinesischen Rotkopf-Hundertfüßer fand sich ein passgenauer Hemmstoff dieses Ionenkanals, der in Mäusen Schmerzen sehr effektiv linderte.

Auf künstlichen Ionenkanalblockern ruhen große Hoffnungen.
Vom Reiz zum Schmerz

Unser Körper verfügt über ein kompliziertes System von Nervenzellen und -leitungen, physikalischen Impulsen und biochemischen Botenstoffen, das durch einen Schmerzreiz aktiviert wird. Mithilfe dieses Systems gelangt die Schmerzbotschaft ins Gehirn, wo sie entschlüsselt und eine Reaktion in Gang gesetzt wird.

Nur zwei Typen von Nervenzellen, die sich in der Ausprägung ihrer Nervenfasern unterscheiden, sind auf Schmerzsignale spezialisiert: die schnell leitenden A-Delta-Fasern (Aδ-Fasern) und die langsam leitenden C-Fasern. Aδ-Fasern sind für die Schmerzerkennung mechanischer Reize (z. B. Nadelstiche) und Kälte zuständig, während die C-Fasern Kälte- und Wärmereize sowie chemische Reize erkennen. Diese auf potenziell schmerzhafte Reize spezialisierten Nerven nennt man Nozizeptoren. Auf dem langen Weg vom Gewebe zum Gehirn benutzt der menschliche Organismus nur zwei Nervenzellen mit ihren Fasern: Der Reiz (z. B. ein Nadelstich), der auf die im Gewebe (z. B. in der Haut) verteilten Nervenendigungen der ersten Nervenzelle (Nozizeptor) einwirkt, führt zu Änderungen innerhalb der Zelle, woraus sich elektrische Signale entwickeln. Diesen Vorgang nennt man Transduktion. Ionenkanäle und andere an der Oberfläche der Nervenendigung liegende Verbindungen zum Zellinneren (Rezeptoren) sind dafür verantwortlich. Das elektrische Signal wandert in der Nervenfaser zum Rückenmark. Die Geschwindigkeit beträgt zwischen einem halben Meter (C-Fasern) und 30 Meter (Aδ-Fasern) pro Sekunde. Im Rückenmark wird das elektrische Signal an einer Ausknospung der Nervenfaser, die als Synapse bezeichnet wird, in ein chemisches Signal umgewandelt. Botenstoffe treiben wie Fähren im synaptischen Spalt zur zweiten Nervenzelle. Dort wird das chemische Signal wieder in ein elektrisches Signal umgewandelt. Man kann von einer wichtigen Umschaltstation sprechen. Und weiter geht die Reise bis zum Gehirn, wo die elektrische Information entschlüsselt wird. Handelt sich um ein starkes Signal, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Gehirn diesen Reiz so verarbeitet, dass wir ihn als unangenehm und schmerzhaft einstufen.

Nun handelt es sich beim schmerzverarbeitenden System keineswegs um eine Einbahnstraße. Vielmehr existiert an den Umschaltstationen eine sehr mächtige Schmerzbremse, eine Nervenbahn, die ausgehend vom Gehirn an den Umschaltstationen endet. Durch Gehirnaktivität wird also entschieden, welche Signale durchgestellt und welche nicht weitergeleitet werden. Die Botenstoffe dieser Schmerzhemmbahn sind übrigens die gleichen, die auch unsere Stimmung mit beeinflussen: Serotonin und Noradrenalin. Die Schmerzhemmbahn wird z. B. dann aktiviert, wenn ein neuer Schmerzreiz auf den Organismus einwirkt. Das erklärt, warum bei akuten Verletzungen oft kaum oder gar keine Schmerzen empfunden werden. Man spricht davon, dass der Betroffene „unter Schock“ steht.

Bei einer akuten Verletzung werden körpereigene schmerzhemmende Stoffe ausgeschüttet.

Diesen Mechanismus nutzt übrigens die Akupunktur aus: Der Nadelstich führt dazu, dass das Schmerzabwehrsystem aktiviert wird. Der neue Reiz (Nadelstich) muss vorrangig wahrgenommen werden. Der Organismus muss herausfinden, was da los ist. Dazu reguliert er über das Schmerzhemmsystem die Aktivität an den Umschaltstationen herunter. Nun ist es für die ständig eintreffenden Signale schwerer, weitergeleitet zu werden. Die Signale, die zuvor zu den Schmerzen führten, werden nicht mehr so intensiv weitergeleitet. Es kommt zu einer Schmerzlinderung – übrigens überall, was auch erklärt, warum Nadeln, die weit entfernt vom Geschehen gestochen werden, zur Schmerzlinderung beitragen.

Vom Reiz zum Schmerz: Über ein kompliziertes System gelangt die Schmerzbotschaft in unser Gehirn.

Schmerz ist nicht gleich Schmerz

Im Wesentlichen unterscheidet man zwei Arten von Schmerz:

• akuter Schmerz

• chronischer Schmerz

Akuter Schmerz tritt plötzlich auf und ist zeitlich begrenzt. Er hat häufig eine Warnfunktion. Sobald die auslösende Ursache geheilt oder beseitigt ist, klingt er von selbst ab.

Chronischer Schmerz besteht länger als 3 bis 6 Monate, tritt als kontinuierliches oder regelmäßig wiederkehrendes Syndrom auf und kann selbst zur Krankheit werden. Er hat seine Signalfunktion verloren.

Ausgelöst durch verschiedene Ereignisse wie Verletzungen, Tumore, Durchblutungsstörungen oder Stress kommt es zu

• Gewebeschmerzen

• Entzündungsschmerzen

• Nervenschmerzen.

Dabei können die verschiedenen Schmerzarten isoliert oder kombiniert auftreten.

Nach dem Ort der Schmerzen unterscheidet man unter anderem

• Kopfschmerzen

• Gesichtsschmerzen

• Nackenschmerzen

• Rückenschmerzen

• Bauchschmerzen

• Extremitätenschmerzen

• Gelenkschmerzen

• Muskelschmerzen

• Knochenschmerzen

Behandlung von akuten Schmerzen

Akute Schmerzen, etwa Schmerzen nach einer Operation, sollten so intensiv wie möglich reduziert werden, natürlich ohne den Betroffenen dadurch zu gefährden. Sprüche, die an die Tapferkeit appellieren – „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „Stellen Sie sich nicht so an“ – sind medizinischer Unsinn. Denn anhaltende Schmerzsignale sind ein Risikofaktor dafür, dass das Schmerzsystem empfindlicher wird und dass in der Folge aus dem akuten ein chronischer Schmerz wird. Je früher die Erregungsleitung unterbrochen wird, umso effektiver kann Schmerz behandelt werden.

Lokale Betäubung Aus diesem Grund ist das „Betäuben“ der Schmerzfasern am Ort der Schmerzentstehung oder in ihrem Verlauf oder an der Umschaltstelle im Rückenmark die effektivste Art, um das Auftreten von Schmerzen zu verhindern. Die Spritze beim Zahnarzt, die örtliche Betäubung vor der Entfernung eines Muttermals sind also sehr sinnvolle Maßnahmen. Die Wirkzeit von örtlichen Betäubungsmitteln, sogenannten Lokalanästhetika, beträgt nur wenige Stunden. Über hauchdünne Kunststoffschläuche, die in die unmittelbare Nähe von Nervenfasern eingebracht werden, kann das örtliche Betäubungsmittel kontinuierlich oder in bestimmten Abständen gespritzt werden. Dadurch kann eine Wirkung auch über viele Stunden oder sogar Tage erreicht werden.

Wird ein akuter Schmerz nicht betäubt, kann er chronisch werden.

Kokain – das erste örtliche Betäubungsmittel

Örtliche Betäubungsmittel wurden aus dem Kokain entwickelt, mit dem Sigmund Freud, der Erfinder der Psychoanalyse, Ende des 19. Jahrhunderts experimentierte. Dabei gewann Freud den Eindruck, dass Kokain so eine Art Universalmittel sei; das Risiko für Sucht oder andere Nebenwirkungen erkannte er jedoch nicht. Zusammen mit seinen Freunden und Kollegen Leopold Königstein und Karl Koller, beides Augenärzte, beobachtete er, dass die Einnahme von Kokain den Mundraum betäubt. Dies brachte sie auf die Idee, Kokain lokal zur Therapie bei schmerzhaften Augenerkrankungen oder zur Anästhesie bei Augenoperationen einzusetzen. Es war insbesondere das Verdienst von Karl Koller, im September 1884 die erste Augenoperation zu veranlassen, die dank der lokalen Kokain-Betäubung des Auges schmerzfrei und ohne das gewohnte Schreien und Stöhnen durchgeführt werden konnte. Bald wurde auch erkannt, dass Kokain Nervenfasern betäuben kann, wenn man es in deren Nähe spritzt. Abgeleitet von Kokain wurden modernere, weniger nebenwirkungsträchtige örtliche Betäubungsmittel entwickelt. Allen gemeinsam ist: Sie blockieren die Natrium-Ionenkanäle, deren Aktivität notwendig ist, um die Schmerzinformation an das Gehirn zu melden.

Schmerzmittel Andere Methoden, akuten Schmerz zu lindern, bestehen im Einsatz von Medikamenten – Opioide (morphinähnliche Wirkstoffe) und Nicht-Opioide (z. B. Paracetamol, Ibuprofen u. a.), die in Tablettenform oder als Infusion verabreicht werden. Da Schmerzen nach Operationen oft sehr stark sind – immerhin werden meist viele Gewebeschichten durchtrennt, der Heilungsprozess geht mit einer Entzündungsreaktion des Körpers einher –, ist die Verwendung von Opioiden in vielen Fällen notwendig. Viele Krankenhäuser nutzen dabei Spritzenpumpen, die die Patienten selbst benutzen können. Jedes Mal, wenn der Patient eine Zunahme seiner Schmerzen verspürt, kann er auf einen Knopf drücken, wodurch das Gerät veranlasst wird, eine bestimmte voreingestellte Menge eines Opioids in das Blutgefäßsystem des Patienten abzugeben. Einprogrammierte Sperren verhindern, dass zu viel von dem Wirkstoff abgerufen werden kann. Diese Methode nennt man patientenkontrollierte Schmerzlinderung. In der Regel kann diese Therapie nach zwei Tagen beendet werden, da postoperative Schmerzen sich meist innerhalb dieser Zeit deutlich abschwächen. Zu Hause bei kleineren Verletzungen, etwa Prellungen oder Verstauchungen, ist es ratsam, sich an die sogenannte PECH-Regel zu halten: Pause, Eis, Kompression, Hochlagern. Durch diese Maßnahmen wird nicht nur der Schmerz reduziert, sondern auch der Heilungsprozess gefördert.

Bei kleineren Verletzungen hat sich die PECH-Regel bewährt: Pause, Eis, Kompression, Hochlagern.

Kälte zur Schmerzlinderung

In der Schlacht bei Preußisch Eylau Anfang Februar 1807 beobachtete der französische Militärarzt Dominique Jean Larrey, dass Amputationen vorgenommen werden konnten, ohne dass die Verletzten Schmerzenslaute von sich gaben. Der Grund: Durch die Minustemperaturen waren die Nerven der Patienten taub und weitgehend schmerzunempfindlich geworden. Kühlung kann also wesentlich zur Schmerzlinderung beitragen. Auch heute wird dieses Prinzip auf dem Fußballplatz (Kältespray) oder bei Kopfschmerzen (kalter Waschlappen, Pfefferminzöl) eingesetzt.

WAS IST CHRONISCHER SCHMERZ?

Wenn sich Ihr Schmerz von der ursprünglichen Erkrankung losgelöst hat und selbst zur Krankheit geworden ist, ist er chronisch geworden. Je länger chronische Schmerzen anhalten, je länger eine effektive Behandlung ausbleibt, desto mehr beeinträchtigen sie Ihren Alltag. Vielleicht bekommen Sie Schlafstörungen, Depressionen und sind nicht mehr so leistungsfähig wie früher. Meistens manifestieren sich chronische Schmerzen als Kopfschmerzen, Schulter- und Nackenschmerzen, Rücken- und Gelenkschmerzen.

„Es geht nicht ohne Schmerz –ohne Schmerz gibt es kein Bewusstsein“

Joseph Beuys

Wie kam Joseph Beuys darauf, so etwas zu sagen? Wusste er überhaupt, worüber er sprach? Kannte er chronischen Schmerz aus eigenem Erleben? Die Kunstwerke, die Joseph Beuys geschaffen hat, reflektieren Leiden. Sein eigenes Leiden? Tatsächlich hat Joseph Beuys Schmerz in allen Formen aushalten müssen, bis hin zu den Schmerzen seiner letzten Lebenszeit.