Das Schneckenhaus - Mustafa Khalifa - E-Book

Das Schneckenhaus E-Book

Mustafa Khalifa

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Beschreibung

Jemand mußte ihn verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Abends verhaftet. Der junge syrische Absolvent der Pariser Filmhochschule kommt nach sechs Jahren in Frankreich am Flughafen von Damaskus an und wird bei der Einreise festgenommen und in eine Abteilung des Geheimdiensts gebracht, wo er sofort gefoltert wird. Das geschieht Anfang der 1980er Jahre und sollte die erste Station einer dreizehnjährigen Reise durch die Hölle werden. Man wirft dem jungen Mann vor, der verbotenen Muslimbrüderschaft anzugehören, obwohl er getaufter Christ ist und Atheist dazu. Es gibt weder eine Anklage noch eine Gerichtsverhandlung. In dem schlimmsten aller Gefängnisse, dem Wüstengefängnis bei der Oasenstadt Palmyra (arabisch Tadmur), gerät er zwischen die Fronten der dort inhaftierten Muslimbrüder, die ihn als Ungläubigen töten wollen, und den Wärtern, die ihn schlagen und foltern. Er überlebt, indem er sich in sich selbst wie in ein Schneckenhaus zurückzieht und durch ein Loch in der Wand die Vorgänge im Gefängnishof beobachtet. Er führt ein Gedankentagebuch, das er nach seiner Freilassung zu Papier bringt, um den Terror zu dokumentieren und die Erinnerung an die Gefangenen und Ermordeten wachzuhalten. »Ein schmerzhafter Roman, der nach Leben schreit, ein gewaltsamer Roman, der um Gnade bittet ... Khalifas Werk zeigt, daß Kunst ein Zeugnis für Menschlichkeit sein kann. Für mich ist Das Schneckenhaus ein einzigartiger Roman, eine grandiose schöpferische Leistung, wie ein perfekt inszenierter Film auf Papier. Voller Schmerz zwar, doch wird der Leser jedem Schritt des Erzählers bis zum Schluß gebannt folgen.« Rafik Schami

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Seitenzahl: 395

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Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2019

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Die arabische Ausgabe Al-Qawqa‘a: Yawmiyyāt Mutalas.s.is erschien 2008.

© 2008 by Moustafa Khalifé.

First published in Arabic by Dar al adab, Beirut

Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde von der Kunststiftung NRW gefördert.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Lektorat: Stefan Weidle

Korrektorat: CulturBooks

eBook-Herstellung: Kim Lüftner, Catharina Hangen

Dank an Günter Jürgensmeier

Über das Buch

Jemand mußte ihn verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Abends verhaftet. Der junge syrische Absolvent der Pariser Filmhochschule kommt nach sechs Jahren in Frankreich am Flughafen von Damaskus an und wird bei der Einreise festgenommen und in eine Abteilung des Geheimdiensts gebracht, wo er sofort gefoltert wird.

Man wirft ihm vor, der verbotenen Muslimbruderschaft anzugehören, obwohl er getaufter Christ ist und Atheist dazu. Es gibt weder eine Anklage noch eine Gerichtsverhandlung. In dem schlimmsten aller Gefängnisse, dem Wüstengefängnis bei der Oasenstadt Palmyra (arabisch Tadmur), gerät er zwischen die Fronten der dort inhaftierten Muslimbrüder, die ihn als Ungläubigen töten wollen, und den Wärtern, die ihn schlagen und foltern. Er führt ein Gedankentagebuch, das er nach seiner Freilassung zu Papier bringt, um den Terror zu dokumentieren und die Erinnerung an die Gefangenen und Ermordeten wachzuhalten.

Über den Autor

Mustafa Khalifa hat aus eigenen Erfahrungen heraus geschrieben, er war von 1982 bis 1994 ohne Anklage oder Prozeß in diversen syrischen Gefängnissen inhaftiert, die meiste Zeit in Tadmur. Sein Roman ist als Tagebuch erzählt, allerdings ohne Jahreszahlen und ohne Ortsnamen. Ein Bericht aus der Hölle, kühl und distanziert, so schmerzhaft wie notwendig. Der Text erschien auf arabisch zuerst im Internet. Er spielte eine wesentliche Rolle beim Beginn der syrischen Revolution. 2007 wurde er auf französisch publiziert, ein Jahr später auf arabisch. Khalifa wurde 1948 in Dscharabulus, Syrien, geboren und wuchs in Aleppo auf. Schon früh engagierte er sich politisch und wurde deshalb zweimal verhaftet. 2006 konnte er in die Vereinigten Arabischen Emirate ausreisen; von dort gelangte er nach Frankreich. Sein Roman erschien bereits auf französisch, englisch, spanisch, italienisch und norwegisch.

Über die Übersetzerin

Mustafa Khalifa

Das Schneckenhaus

Tagebuch eines Voyeurs

Aus dem Arabischen und mit einem

Für Ruzam und Ruham und alle Kinder und jungen Menschen weltweit, in der Hoffnung, sie mögen ein besseres Leben haben als wir.

Für die politischen Gefangenen aller Zeiten und Länder; vielleicht gibt ihnen die Veröffentlichung

Suzanne und ich saßen in einem Café am Pariser Flughafen Orly und warteten auf den Abflug. Nach sechs Jahren würde ich in mein Land zurückkehren.

Sogar in dieser letzten Viertelstunde wurde Suzanne nicht müde, mich zum Bleiben zu überreden. Immer wieder führte sie Argumente an, die ich schon kannte, seit ich ihr vor ein paar Monaten von meinem Entschluß erzählt hatte, in die Heimat zurückzukehren und dort zu arbeiten.

Ich komme aus einer arabischen Familie christlich-katholischen Glaubens. Die eine Hälfte der Familie lebt in Paris, weshalb mir in diesem Land alle Türen für das Studium offen gestanden hatten. Das Studium war mir leichtgefallen, unter anderem weil ich des Französischen schon vor meiner Ankunft in Paris mächtig gewesen war. Ich hatte Regie studiert und war ein ausgezeichneter Student gewesen. Und nun wollte ich nach meinem Abschluß in mein Land und meine Stadt zurückkehren.

Auch Suzanne stammte aus einer arabischen Familie, doch ihre Familie war ausgewandert und lebte in Frankreich. In den letzten beiden Studienjahren waren wir ein Paar gewesen und hätten sogar mit dem Segen beider Familien heiraten können, sofern ich nicht darauf bestanden hätte, nach Hause zurückzukehren, und sie, in Frankreich zu bleiben.

Bei unserem letzten Gespräch im Flughafen sagte ich resolut:

»Suzanne, ich liebe mein Land, meine Stadt. Ich liebe die Straßen und Gassen dort. Das ist keine banale Romantik, sondern ein tief empfundenes Gefühl. Ich erinnere mich noch immer an die Slogans auf den Mauern der alten Häuser in unserem Stadtviertel. Ich liebe sie, ich sehne mich nach ihnen. Außerdem möchte ich ein außergewöhnlicher Regisseur sein, ich habe viele Projekte und Pläne im Kopf. Ich habe große Ambitionen. In Frankreich würde ich ein Fremder bleiben, ich würde wie jeder andere Flüchtling hier jobben, und sie würden mir nur ein paar Brotkrumen hinwerfen. Nein, das möchte ich nicht. In meinem Land habe ich Rechte, dort bin ich niemandem zu Dank verpflichtet. Mit ein wenig Mühe kann ich es dort zu etwas bringen. Abgesehen davon, daß mein Land mich und meinesgleichen braucht. Deshalb ist mein Entschluß zurückzukehren endgültig, und jeder Versuch, mich umzustimmen, ist zum Scheitern verurteilt.«

Ein paar Minuten herrschte Schweigen. Wir vernahmen den Aufruf, es war Zeit für den Abflug. Wir standen auf und kippten den Rest unseres Bieres hinunter. Ich sah sie mitfühlend an, Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie warf sich mir an die Brust. Ich küßte sie flüchtig. Solche Situationen kann ich nicht ertragen.

»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte ich.

»Ich dir auch. Und paß auf dich auf!«

Ich bestieg das Flugzeug.

Mein Voyeurismus war nicht sexueller Natur, auch wenn er nicht ganz frei davon war.

Ich habe den größten Teil dieses Tagebuchs im Wüstengefängnis geschrieben, wobei das Wort »schreiben« nicht ganz korrekt ist. Im Wüstengefängnis gibt es keine Stifte und kein Schreibpapier. In jenem riesigen Gefängnis, das über sieben Höfe verfügt und dazu über Hof 0 sowie über siebenunddreißig Gemeinschaftszellen und etliche neue Zellen, die noch keine Nummern haben, über verschiedene Zimmer und alte französische Zellen in Hof 5, in diesem Gefängnis in der Wüste, zwischen dessen Mauern zeitweise mehr als zehntausend Gefangene einsaßen und in dem die höchste Anzahl an Akademikern in diesem Land untergebracht war, in diesem Gefängnis sahen die Gefangenen – manche von ihnen verbrachten mehr als zwanzig Jahre dort – niemals ein Blatt Papier oder einen Stift.

Das Schreiben im Kopf ist eine Methode, die die Islamisten entwickelt haben. Einer von ihnen hatte mehr als zehntausend Namen im Kopf. Es waren die Namen derer, die im Wüstengefängnis inhaftiert gewesen waren, und die Namen ihrer Familien, ihrer Herkunftsstädte oder -dörfer, das Datum ihrer Verhaftung, ihre Urteile, ihre Schicksale …

Als ich beschloß, dieses Tagebuch zu schreiben, hatte ich mich schon darin üben können, den Kopf in ein Tonband zu verwandeln, mit dem ich alles aufzeichnete, was ich sah, und einiges von dem, was ich hörte.

Und nun schreibe ich einen Teil dessen nieder, was das Tonband enthält.

Bin ich immer noch derselbe, der ich vor dreizehn Jahren war? Ja … und nein … Ein kleines Ja, ein großes Nein.

Ja, weil ich transkribiere und einen Teil dieses Kopftagebuches wirklich schreibe.

Und nein, weil ich nicht alles schreiben und sagen kann. Das würde einer Beichte gleichkommen, und für die Beichte gibt es Bedingungen. Geeignete Umstände und ein Gegenüber.

20. April

Ich blieb kurz auf der Gangway stehen und betrachtete das Flughafengebäude. Dann sah ich zu den weit entfernten Lichtern hinüber, den Lichtern der Stadt. Ein wundervoller Augenblick.

Ich ging hinunter, holte meinen Koffer, den Reisepaß in der Hand. Ein Gefühl der Erleichterung. Das Gefühl von jemandem, der nach langer Abwesenheit nach Hause zurückkehrt, an vertraute Orte.

Der Beamte forderte mich auf zu warten. Er schaute den Reisepaß an, blickte wieder auf seine Papiere, dann bat er mich erneut zu warten. Also wartete ich.

Zwei Männer von der Sicherheit nahmen den Paß entgegen, und mit übertriebener Höflichkeit forderten sie mich auf, sie zu begleiten.

Ich und mein Koffer – den ich niemals wiedersehen würde – und eine Fahrt im Auto des Geheimdienstes auf der langen Flughafenstraße. Ich sah die Lichter beidseits der Straße, ich sah, wie die Lichter meiner Stadt näherkamen, ich wandte mich an den Geheimdienstler, der neben mir saß und fragte ihn:

»Ist etwas nicht in Ordnung? Warum dieser ganze Aufwand?«

Er sagte kein einziges Wort, sondern legte nur den Zeigefinger an die Lippen, als Zeichen, daß ich zu schweigen habe. Also schwieg ich.

Die Fahrt vom Flughafen zu jenem düsteren Gebäude mitten in der Stadt war eine Reise durch Raum und Zeit.

Seit jenem Augenblick sind dreizehn Jahre vergangen.

Später sollte ich erfahren, daß einer, der mit uns in Paris studiert hatte, einen Bericht geschrieben und an die Sicherheitsbehörde, für die er arbeitete, weitergeleitet hatte. Darin hatte er behauptet, ich hätte mich abwertend über das Regime geäußert und das Recht des Staatspräsidenten verletzt. Das wurde als allergrößtes Verbrechen überhaupt betrachtet, wie Landesverrat oder schlimmer. Das war drei Jahre vor meiner Rückkehr aus Paris passiert.

Dieser Bericht brachte mich nun zu diesem Gebäude inmitten der Hauptstadt. Es lag ganz in der Nähe unseres Hauses, und ich kannte es gut, denn ich war oft daran vorbeigegangen. Mich hatte damals die Unnahbarkeit angezogen, die strenge Bewachung.

Die beiden Geheimdienstler eskortierten mich. Ihr Griff um meine Arme wurde fester, als wir durch die Tür in den langen Gang traten. Am Ende des Ganges stand ein Mann. Als er uns sah, rief er:

»Hallo, Musa! Was haben wir denn da für einen? Einen Grünen oder einen Roten?«*

»Alles die gleiche Scheiße.«

Von diesem Flur ging es zu einem anderen Flur, eine Treppe, ein Korridor, ein Zimmer auf der rechten Seite … Türklopfen, eine Stimme von drinnen: Herein.

Mein Begleiter öffnete sachte die Tür, dann stampfte er kräftig mit den Füßen auf den Boden:

»Zu Diensten … Der hier wird gesucht, den haben wir vom Flughafen mitgebracht.«

Ein besonderer Geruch stieg mir in die Nase, wie es ihn nur in den Büros der Geheimdienstoffiziere gibt. Es ist eine Mischung aus unterschiedlichen Duftwässern, Luxuszigaretten, menschlichem Schweiß, Fußgeruch.

Das alles wiederum vermischt mit dem Geruch von Folter. Menschlichen Leids. Dem Geruch von Gewalt.

Sobald der Geruch in die Nase steigt, spürt der Mensch das Entsetzen und die Angst. Und genau das spürte ich, obwohl ich überzeugt war, daß es sich um ein Mißverständnis handelte.

Ein Hüne wandte sich an uns, weißhaarig, mit einem roten Gesicht. Zu seinen Füßen hockte ein Mann mit verbundenen Augen. Der Hüne sagte:

»Bring ihn zu Abu Ramzat!«

Die beiden Begleiter schleppten mich brutal durch Korridore, über Treppen. Wie klein das Gebäude doch von außen wirkte, dabei war es riesig. Menschliche Schreie drangen an mein Ohr, Hilferufe. Je weiter wir gingen, desto lauter und deutlicher wurden sie. Wir stiegen hinunter, in den Keller, wie ich glaubte, einer meiner Begleiter öffnete die Tür, ich sah den Ursprung der Schreie. Am Boden lag ein Mensch, in einen Autoreifen gezwängt, die Beine in die Höhe gestreckt, und wurde mit einem Kabel geschlagen.

Ich spürte das Ding zwischen meinen Beinen erzittern.

Ich war erschüttert über den Anblick. Das schwarze Kabel stieg in die Höhe und ging dann auf die Füße des in den schwarzen Autoreifen eingezwängten Mannes nieder, um dann wieder hochzusausen, wobei Blut und Stücke menschlichen Fleisches herumflogen. Ein Gebrüll ließ mich erstarren. Unwillkürlich drehte ich mich um, in einer Ecke des Raums stand ein Mann mit stark gerötetem Gesicht und Schaum in den Mundwinkeln.

»Verbind ihm die Augen, du Trottel!«

Einer meiner beiden Begleiter sprang einen Schritt vor, einen zurück und legte mir etwas über die Augen und band es mit einem Gummi am Hinterkopf fest. Ich sah nichts mehr.

»Stellt ihn an die Wand!«

Ein Stoß in den Rücken, ein Schlag gegen meinen Hals. Die Hände nach hinten gebunden, zwang man mich, vorwärtszugehen. Mein Kopf stieß gegen die Mauer, ich blieb stehen.

»Heb die Hände hoch, du Bastard!«

Ich hob sie.

»Heb dein rechtes Bein und bleib auf dem linken stehen, du verdammter Sohn einer Hure.«

Ich hob mein Bein und blieb stehen.

Hinter mir ging es weiter. Ich hörte das Geräusch des Kabels, das Klatschen gegen die Füße, die schmerzerfüllten Schreie des Mannes, das Keuchen des Folterers. Fast konnte ich sogar die Stücke rohen Fleisches hören, die ich kurz vorher durch die Luft hatte fliegen sehen … Lärm, Geschrei …

Das Geräusch ist der Herr des Blinden.

Der bequeme Stuhl am Flughafen Orly, Suzanne, Kaltgetränke, Bier, der weiche Flugzeugsitz, die schöne sanfte Stewardeß, der Saft, der Tee!

Mein linkes Bein, das das Gewicht meines ganzen Körpers trug, ermüdete. Wenn ich doch nur die Beine wechseln könnte! Würde der Mann mit dem rot angelaufenen Gesicht es bemerken? Und was würde er in diesem Fall tun?

Ich verlor das Gefühl in meinem linken Bein. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich riskierte es. Ich wechselte das Standbein! Nichts geschah, niemand hatte es bemerkt. Ein Gefühl des Triumphs! Nach langen Jahren des Gefängnisaufenthalts würde ich entdecken, daß in dem unendlichen Ringen zwischen Gefangenem und Kerkermeister alle Siege des Gefangenen dieser Art sind.

Die Zeit war schwer, bleischwer. Ich konnte es kaum glauben. Was geschah hier? Warum war ich hier? Unzählige Fragen. Ich versuchte mich mit der Hand gegen die Mauer zu stützen, ich berührte sie mit den Fingerspitzen … Plötzlich schrie der in dem schwarzen Autoreifen eingeklemmte Mann:

»Genug, Sīdi, aufhören … Um Gottes willen! Ich halte es nicht mehr aus! Ich sage alles!«

Triumphierend befahl der Rotgesichtige ganz ruhig:

»Schluß, Ibrahim, es reicht … Hol ihn aus dem Reifen und bring ihn zum Major.«

Ich hörte ihn mit dem Major telefonieren. War ich jetzt an der Reihe?

Der Hörer wurde aufgelegt. Dann brüllte das Rotgesicht:

»He Ayyub … Ayyub!«

»Zu Befehl, Sīdi!«

»Komm her und nimm dir diesen Kunden vor.«

Ich spürte Ayyub hinter mir.

»Steck ihn in den Reifen! Los, beeil dich!«

Mehr als fünf Männer schienen an mir zu zerren und mich auf den Boden zu werfen. Bis heute, dreizehn Jahre später, kann ich nicht verstehen oder mir vorstellen, wie Ayyub es geschafft hat, mich in diesen Autoreifen zu zwängen und mir Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Meine Beine waren in die Höhe gestreckt, und so sehr ich mich auch abmühte, ich konnte mich nicht daraus befreien!

»Kabel oder Rohrstock?«

»Rohrstock, der Herr Professor scheint zart besaitet zu sein!«

Ein Feuerspieß stach mir in die Fußsohlen. Ich schrie auf. Und noch bevor der Schrei abgeebbt war, hatte das Rohr schon ein zweites Mal zugeschlagen … Schlag auf Schlag, Schrei auf Schrei. Trotzdem hörte ich die Stimme des Rotgesichtigen:

»Sag mir Bescheid, wenn er gar ist, Ayyub!«

Ich wußte nicht, warum sie mich schlugen! Ich wußte nicht, was sie von mir wollten. Ich nahm meinen Mut zusammen und schrie:

»Was wollen Sie von mir?«

»Friß Scheiße, du alte Schwuchtel!«

Das war Ayyubs Stimme, dessen Gesicht ich niemals gesehen habe. Ich begann die Schläge zu zählen und schrie vor Schmerz. Lange Zeit später erzählten mir die erfahrenen Gefangenen: Das Zählen der Schläge ist das erste Anzeichen von Schwäche. Es deutet darauf hin, daß der Mudschahid oder der Politische zusammenbrechen wird! Damals dachte ich mir: Ich bin aber doch weder das eine noch das andere. Sie meinten auch, in solchen Fällen sei es das Beste, sich auf sich selbst zu konzentrieren, auf etwas, was man liebt, und zu versuchen, die Füße zu vergessen.

Bei vierzig angekommen, verzählte ich mich. Mir kam das Gefühl für meinen Körper abhanden. Meine Schreie wurden leiser, ich verlor das Gleichgewicht, mir wurde schwindelig. Trotz der Augenbinde schwebten Wolken vor meinen Augen. War ich dabei, ohnmächtig zu werden? Wolken, Schwindel … der Flughafen von Orly … Saft, Bier … das Flugzeug, die freundliche Stewardeß.

Ein vages Gefühl, daß es vorbei war. Ich versuchte die Situation zu begreifen. Ja, sogar die Schläge hatten aufgehört! Taubheit, Erstarrung …

Minuten, die lang sein konnten oder kurz, ich wußte es nicht! Ich kam zu mir.

Wieder die Stimme des Mannes mit dem geröteten Gesicht:

»Was ist los, Ayyub? Ist er wach oder nicht?«

»Er ist wach, Sīdi, aber er hat sich in die Hose gemacht!«

»Verdammter Dreck, der Herr Professor ist offenbar ein richtiger Schlappschwanz.«

Ich spürte einen Stoß gegen meine Hüfte. Die Stimme des Verhörers:

»Was ist los? Bist du kein Mann, du Hurensohn? Schämst du dich nicht, in die Hose zu machen? Wie heißt du, du Stück Scheiße?«

Ich nannte ihm meinen Namen.

»Hör mal zu, du Hundesohn, wir haben noch gar nicht angefangen mit dir, und schon pißt du dich ein? Das ist alles noch Spaß, wir haben noch gar nicht ernst gemacht. Am besten ist, du machst es uns nicht schwerer als nötig. Du wirst sowieso reden … da führt kein Weg dran vorbei! Hier reden alle. Du wirst alles sagen, angefangen vom Türklopfen bis ›Gott sei mit euch‹! Und? Bist du bereit zu reden?«

»Ich sage Ihnen alles, was Sie wollen, Sīdi … Aber was soll ich sagen?«

»Also gut, dann laß mal hören! Wie heißen die Mitglieder deiner Familie?«

Ich begann, die Namen meiner Familie aufzuzählen, zuerst den Namen meines Vaters, dann den meiner Mutter, doch er unterbrach mich und schrie außer sich:

»Du verdammter Esel, willst du mich für dumm verkaufen, oder was? Ich will die Namen deiner Familie! Scheiß auf dich und deine Familie, sag mir die Namen deiner Familie in der Organisation, du verdammter Hurensohn.«

»Welche Organisation, Sīdi? Welche Organisation?«

»Ayyub, dieser Dickschädel stellt sich dumm! Der will uns allen das Leben schwer machen, uns und sich!«

»Bei Gott, beim Leben des Herrn, ich weiß nicht, wonach Sie fragen! Von welcher Organisation reden Sie?«

Das Geräusch von Schritten. Offenbar näherte sich jemand. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht. Ganz langsam sagte er:

»Die Organisation der Schwuchteln wie du eine bist. Die Organisation der Muslimbrüder … Kennst du deine Organisation etwa nicht?«

Ich bemerkte, daß er aus dem Mund stank.

Ich wußte nicht, ob ich mich freuen sollte, weil die Verwechslung jetzt offensichtlich war, oder mein Pech verfluchen, daß es überhaupt zu diesem Mißverständnis hatte kommen können? Oder sollte ich den Zufall verfluchen, der mich geradewegs in die Arme von Abu Ramzat geführt hatte? Wenn sie mich doch bloß durchsuchen und meine Sachen beschlagnahmen würden, wie sie es mit allen machten, dann würde bestimmt irgend jemand feststellen, wer ich war und welches Verbrechen ich angeblich begangen hatte. Aber ich war zu einer Zeit vom Geheimdienst mitgenommen worden, als täglich Hunderte Muslimbrüder verhaftet wurden, und ich wurde mit ihnen zusammengepfercht. Und obwohl die Offiziere und Soldaten vierundzwanzig Stunden am Tag Dienst taten, gab es innerhalb der Abteilung ein solch gewaltiges Chaos, daß es unmöglich war, diese Verwechslung aufzuklären. Und zu alldem kam noch mein Name, der keinen Hinweis darauf zuließ, daß ich kein Muslim war.

Trotzdem schrie ich:

»Aber ich bin Christ, Sīdi … ich bin Christ!«

»Was sagst du, du Hurensohn? Du bist Christ? Verdammte Scheiße … Warum hast du das nicht vorher gesagt? Warum haben sie dich dann hergebracht? Du hast bestimmt ein ganz großes Ding gedreht! Ein Christ, sagt er?!«

»Sie haben mich ja gar nicht danach gefragt, Sīdi. Aber nicht nur das, ich bin nicht nur Christ, ich bin sogar Atheist … ich glaube nicht an Gott!«

Bis jetzt habe ich keine Erklärung für diesen Unsinn. Warum hatte ich diesem Ermittler gegenüber erklärt, ich sei Atheist? Ich weiß es nicht.

»Und Atheist sogar?!« sagte er nachdenklich.

»Ja, wirklich. Bei Gott! Sehen Sie doch in meinem Reisepaß nach!«

Der Rotgesichtige schwieg eine Weile, die mir sehr lang vorkam. Ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Dann sagte er deutlich:

»Atheist, sagt der! Also so was! Aber wir sind doch ein islamischer Staat! Ayyub … mach weiter!«

Und damit setzte Ayyubs Rohrstock seine Arbeit fort.

Anfangs hatte ich diese Leute immer mit »Bruder« angesprochen, wenn ich auf eine Frage antwortete. Aber Ayyub hatte auf mich eingeschlagen und gebrüllt:

»Du Bastard! Ich soll dein Bruder sein?! Scheiß auf deinen Bruder!«

Ich begriff und sprach ihn mit Ustāz an, eigentlich »Professor«, aber im modernen Sprachgebrauch eine höfliche Anrede unter gebildeten Menschen. Ein weiterer Schlag:

»Ustāz? So heißt das vielleicht bei euch zu Hause! Zwischen den Beinen deiner Mutter.«

Von jenem Augenblick an hatten sie mich gelehrt, Sīdi zu ­sagen.

Diese Anrede, die eigentlich »mein Herr« bedeutet, wird hier nicht wie unter achtbaren Männern verwendet, sondern sie ist Ausdruck aller nur erdenklichen Arten von Erniedrigung und Knechtschaft.

21. April

Langsam öffnete ich die Augen. Ich hatte das Gefühl, an dem Gestank um mich herum zu ersticken. Ein Gewusel von Füßen und Beinen, ich lag dazwischen auf dem Boden. Der Gestank schmutziger Füße, der Geruch von Blut, von eiternden Wunden, der Gestank eines Fußbodens, der schon seit ewigen Zeiten nicht geputzt worden war. Schwerer Atem von Menschen, die dichtgedrängt nebeneinanderstanden. Bald darauf fand ich heraus, daß wir sechsundachtzig Männer waren. Ich konnte die Decke des Raumes erkennen und schätzte ihn auf über fünfundzwanzig Quadratmeter!

Das Flüstern der Männer verursachte ein ununterbrochenes, über allen schwebendes Summen. Ich wollte aufstehen, um etwas zu Luft zu bekommen. Mein ganzer Körper schmerzte. Mühsam raffte ich mich auf, und als ich versuchte, mich auf die Füße zu stellen, schrie ich vor Schmerz.

Die Männer neben mir wurden auf mich aufmerksam, Hände streckten sich aus, packten mich unter den Achseln und zogen mich hoch. Mit ihrer Hilfe konnte ich stehen. Neben mir sagte jemand:

»Du mußt Geduld haben, Bruder. Das ist eine mißliche Lage, aber es geht vorbei.«

Ein anderer sagte:

»Wer mit Gott ist, mit dem ist Gott. Verzage nicht, Bruder.«

Durch die Bewegung klangen die Schmerzen ein wenig ab. Ich sah mich um: Männer, Jugendliche, es gab sogar zwölf- und dreizehnjährige Kinder, Alte, Greise!

Ich wandte mich an den Mann, der kurz zuvor versucht hatte, mir Mut zuzusprechen, und fragte ihn:

»Wer sind diese Männer? Warum sind wir hier? Und warum stehen alle?«

Der Mann schaute mich verwundert, fast ein bißchen dümmlich an, als wollte er sagen: Wie soll ich erklären, was doch offenkundig ist? Er fragte zurück:

»Weißt du nicht, was hier im Land los ist?«

Als ich in Frankreich war, hatte ich Meldungen über politische Unruhen im Land mitbekommen. Eine Partei, die sich Muslimbrüder nenne, habe hier und dort mehrere Anschläge verübt. Ich hatte diesen Nachrichten jedoch keine Beachtung geschenkt, sie blieben für mich rätselhaft, ich kannte keine Einzelheiten. Außerdem hatten mich Nachrichten oder die organisierte politische Arbeit noch nie interessiert, auch wenn ich in der Oberstufe und auch später noch Kontakt zu einigen Marxisten hatte, deren Ideen mich faszinierten. Besonders die Ideen meines Onkels, der anscheinend einen hohen Führungsposten in der Kommunistischen Partei bekleidete.

»Nein, wirklich, ich weiß es nicht. Was ist denn geschehen?«

»Lebst du nicht hier im Land?«

Um alle weiteren Fragen zu unterbinden, platzte ich heraus:

»Nein, ich habe in Frankreich gelebt. Ich bin heute erst zurückgekommen, also«, ich sah auf die Uhr, »vor vierzehn Stunden.«

»Was!? Du hast eine Uhr? Versteck sie, Bruder, tu sie weg! Siehst du all diese Leute hier? Das sind alles wahre Gläubige und Verteidiger des Islam in diesem Land. Das ist eine Prüfung, Bruder, eine Prüfung Gottes – groß ist Er und erhaben.«

Ich unterbrach ihn. Das Gefühl, mich in einer höchst kuriosen Lage zu befinden und ungerecht behandelt zu werden, ließ meinen Zorn aufwallen.

»Schön und gut, aber was habe ich damit zu tun?« rief ich aufgebracht. »Ich bin doch Christ, ich bin doch gar kein Muslim. Und ich bin sogar Atheist und kein Gläubiger!«

Das war nun das zweite Mal, daß ich erklärte, Atheist zu sein – und es war wieder eine Torheit. Beim ersten Mal hatte ich es mit einer Vielzahl von Stockhieben von Ayyub bezahlt, auf Befehl von Abu Ramzat, der die Muslime abschlachtete, weil wir in einem islamischen Staat leben! Beim zweiten Mal jedoch sollte ich es mit einer jahrelangen totalen Isolation bezahlen, in der man mich schlimmer behandeln würde als eine Kakerlake.

Ich beobachtete, wie mein Gesprächspartner fast einen Sprung zurück tat, doch weil wir so eng zusammengezwängt standen, bewegte sich nur sein Oberkörper.

»Ich nehme Zuflucht zu Gott vor dem verfluchten Teufel«, sagte er unwillkürlich. Und setzte mit lauterer Stimme hinzu: »He, Leute, hier ist ein ungläubiger Christ! Wir haben einen Spion unter uns.«

Etliche Blicke richteten sich auf mich, gleichzeitig hörte ich von hinten jemanden im Befehlston sagen:

»Wer hat da laut gesprochen? Ruhe … Ruhe, Leute! Los, es ist Zeit zum Wechseln.«

Ich verstand nicht. In einem entfernten Teil des Raums lagen Männer auf dem Boden. Sie waren auf absonderliche Weise ordentlich dort aufgereiht. Wie selbstgedrehte Zigaretten in einer Schachtel. Zwischen jenen, die dort lagen, und uns Stehenden gab es eine dritte Gruppe, die auf dem Boden hockte.

Nach den Worten des Hünen – später erfuhr ich, daß er der Chef hier in der Zelle war – kam Bewegung in die drei Gruppen. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich die Liegenden hingestellt und unseren Platz eingenommen. Wir Stehenden jedoch hockten uns hin, und die dritte Gruppe ging zum Schlafplatz.

»Reiht euch auf, los, legt euch hin wie Schwerter!«

Mir wurde klar, daß das bedeutete, auf der Seite zu liegen.

Der erste legte sich so auf die Seite, daß er mit dem Rücken die Wand berührte, der zweite legte sich vor ihn, Bauch an Bauch, aber jeweils den Kopf bei den Füßen des anderen.

Der dritte berührte mit seinem Rücken den Rücken des zweiten, der vierte lag wieder Bauch an Bauch mit dem dritten, und jeweils Kopf an Fuß. So immer weiter bis zur gegenüberliegenden Wand. Dann waren noch sechs oder sieben Männer übrig, für die es keinen Platz mehr gab. Da rief der Zellenchef:

»Los, Schieber, jetzt bist du dran!«

Der zweite große Mann, der aussah wie ein Ringer, stand gemächlich auf. Er ging zu dem ersten Mann, der an der Wand lag, und setzte ganz ruhig seine Füße zwischen die Wand und den Liegenden. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand und begann den vor ihm Liegenden mit den Fußsohlen zu schieben und zu schieben, so daß die Liegenden zusammengedrückt wurden und eine Lücke entstand, in die ein weiterer Mann paßte. Dann rief er einen der Übriggebliebenen: Los, leg dich hierhin!

Der Mann legte sich auf die Seite zwischen die Füße des Schiebers und den ersten Mann. Dann begann der Schieber gegen den neuen Mann zu drücken, und ein weiteres Mal schaffte er es, eine Zwischenraum für einen weiteren Mann entstehen zu lassen … »Los, leg dich hierhin!« Dann drückte er wieder gegen den neuen Mann, und schließlich waren alle, die vorher keinen Platz gefunden hatten, untergebracht. Der Schieber kehrte genauso gemächlich an seinen Platz zurück und schüttelte sich währenddessen die Hände aus.

Ich beobachtete die nun auf dem Boden liegenden Männer, manche fielen augenblicklich in Schlaf!

Drei Tage verbrachte ich in jenem Raum. Ich erfuhr, daß einige von ihnen Monate dort blieben, manchmal waren es sogar noch mehr Gefangene als zu meiner Zeit.

Kurz nachdem wir uns hingehockt hatten, verspürte ich ein Bedürfnis. Ich wandte mich an meinen Nachbarn:

»Wo kann man seine Notdurft verrichten?«

Er wandte den Kopf ab und antwortete nicht. Ich fragte einen anderen, er antwortete gleichfalls nicht. Ich erinnerte mich daran, daß ich Christ war, ein Ungläubiger, ein Spitzel. Diese Anschuldigungen würden mich immer verfolgen.

Ich hockte ganz in der Nähe des Zellenchefs. Ich fragte ihn, und er zeigte auf die Toilette. Es gibt also eine Toilette in dem Raum! Ich mußte länger als eine Stunde warten. Eine einzige Toilette, ein einziger Wasserhahn und sechsundachtzig Männer.

Ich kehrte an meinen Platz zurück. Oben bewegte sich etwas. Ich schaute hoch. Das Abwasserrohr, das das Abwasser des ganzen Gebäudes aufzunehmen schien, lief von vorne bis hinten durch den Raum. Zwischen Rohr und Zimmerdecke gab es etwa einen halben Meter Abstand. Auf diesem Rohr schliefen zwei ungefähr fünfzehnjährige Jungen. Sie umarmten das Rohr mit den Armen und dem Oberkörper, die Beine hingen nach unten, während der Kopf auf dem Rauschen des in dem Rohr fließenden Wassers ruhte.

»Ich habe noch nie so gut geschlafen«, sagte einer von ihnen am nächsten Tag.

22. April

Ich wachte auf!

Nach acht Stunden Hocken waren wir an der Reihe gewesen, uns hinzulegen. Einige Männer mit Erfahrung, die auf dem Boden gehockt hatten, hatten sich gegenseitig daran erinnert, auf die Toilette zu gehen, bevor sie sich hinlegten. Denn wenn man einmal liegt und der Schieber seine Arbeit verrichtet hat, wird der eigene Platz weg sein, egal aus welchem Grund auch immer man aufgestanden ist.

Ich legte mich hin, Rücken an Rücken mit einem Mann, Bauch an Bauch mit einem anderen. Ich mußte an meine Freundin denken, die die französische Stellung liebt.

Hinter meinem Kopf zwei Füße, vor meinem Kopf zwei Füße. Wie sollte man bei diesem Gestank schlafen?!

Trotzdem schlief ich ganz tief. Und nun war ich erwacht. Ich war hellwach. Mein ganzer Körper war zusammengequetscht. Aber der Druck ganz unten am Bauch war so stark, daß es fast schmerzte. Offenbar hat mein Vordermann eine volle Blase, so daß sein Glied steif geworden ist. Dann ist es ganz normal, daß es sich in meinen Bauch bohrt. Unter solchen Umständen wäre es unerhört, eine andere Möglichkeit in Erwägung zu ziehen!

Ich versuchte vergeblich, ihn wegzudrücken. Aber mit jeder Bewegung bohrte sich sein Glied tiefer in meinen Bauch. Ich hörte sein Schnarchen. Ich überlegte, meine Hand nach unten auszustrecken, auch wenn das sehr schwierig sein würde, aber ich hatte Angst, daß er genau in diesem Moment aufwachte. Was würde er sagen, wenn ich dann sein Glied in der Hand hielte?

Mühsam wand ich mich aus der Reihe der Liegenden und ging zur Toilette.

Drei Nächte … Dreimal täglich wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen, und jedes Mal wurde das Essen in Kesseln, wie sie es nannten, hereingebracht. Morgens für jeden einen Fladen Brot mit einem Stück Halva. Beides wurde vom Zellenchef verteilt. Und fünf Kessel mit einer schwarzen Flüssigkeit. Das sollte Tee sein. Abends das gleiche. Der Kessel wurde von einem zum anderen weitergereicht. Einer nahm ihn, trank und gab ihn an seinen Nebenmann weiter. Mittags waren die Kessel voller Burgul, dazu ein Kessel Tomatensauce, in der etwas Gemüse schwamm.

Niemals werde ich vergessen, wie sich die Männer um die Fleischstückchen rissen, als es ein einziges Mal Fleisch gab. Sogar bei den Morgen- und Abendmahlzeiten würde sich ohne den Zellenchef die Zelle in einen Dschungel verwandeln, dachte ich bei mir.

In diesen Stunden, die mir vorkamen wie eine Ewigkeit, hatte ich das Gefühl, in Zeit und Raum zu schweben. Mein Wunsch, daß das alles nichts als ein blöder Fehler sei, der sich nur allzu bald aufklären würde, entwickelte sich zur festen Überzeugung.

Mein künstlerisches Empfinden hockte in einer weit entfernten Ecke des Raums und beobachtete alles unbeteiligt. Dieses Empfinden, das außerhalb der Sphäre des Schmerzes und der Angst verharrte, war aufmerksam und neutral, so stark meine psychischen und physischen Schmerzen auch sein mochten. Es sah und registrierte alles.

Ich mußte an den Ausspruch eines meiner angesehenen Dozenten denken: Ein guter Regisseur kann aus dem belanglosesten Ereignis einen guten Film machen. Das Ereignis ist nur das Skelett, und die Aufgabe des Regisseurs besteht darin, es mit Fleisch zu umhüllen und ihm Kleider anzulegen.

Dieser Kunstsinn beobachtete, wie die Männer sich um das Fleisch rissen, und nahm den schreienden Widerspruch wahr zwischen der ekelerregenden – oder zumindest abstoßenden – Umgebung und dem konkreten Verhalten derjenigen, die nach den Fleischstücken grabschten.

Warum nur hatten diese Männer ihr Gefühl für Anstand und Takt verloren? Für Würde und Selbstachtung? War es der Überlebenskampf? Vielleicht.

Drei Tage und Nächte lang aß ich nichts als ein halbes Brot und ein Stück Halva.

23. April

Ich wachte auf! Es war der zweite Liegedurchlauf. Auf dem Boden schlafen war etwas angenehmer. Ich erwachte noch vor Ablauf der acht Stunden. Ich hatte jedoch keine Lust aufzustehen. Ich träumte, ich sei ausgeschlafen, leiste mir aber den Luxus, einfach noch liegenzubleiben und mich auszuruhen.

Ich wünschte mir, mich ein wenig ausstrecken zu können! Ich wünschte mir eine Tasse Kaffee und eine Zigarette.

Ich lag in der Nähe des Zellenchefs und hörte ihn mit dem Schieber sprechen. Der Wärter öffnete den Spion im oberen Teil der Tür. Der Zellenchef sprang auf und redete lange mit ihm. Dann kehrte er zurück und flüsterte dem Schieber zu:

»Es werden große Kontingente aus den Provinzen gebracht … Und die hier werden heute oder morgen ins Wüstengefängnis verlegt.«

»Gütiger Gott! Wollen sie die alle ins Gefängnis stecken?« fragte der Schieber ungläubig. »Dann gibt es ja niemanden mehr draußen.«

»Halt den Mund! Paß bloß auf, daß dich keiner hört. Damit haben wir nichts zu tun.«

Der Zellenchef und der Schieber waren wegen Schmuggels verhaftet worden.

Beim abendlichen Positionswechsel, als wir Stehenden uns hinhockten, versuchte ich mich in die Nähe des Zellenchefs zu plazieren. Ich wartete bis kurz vor der dritten Mahlzeit, dann sagte ich betont freundlich zu ihm:

»Entschuldigen Sie bitte, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«

»Sie? Was ist los? Wieso siezt du mich? Was willst du?«

»Hören Sie, da ist ganz bestimmt etwas schiefgelaufen.«

»Schiefgelaufen … Herr Professor? Was soll denn da schiefgelaufen sein?«

»Hören Sie zu: Ich bin kein Muslim, und deswegen kann ich gar kein Muslimbruder sein. Ich bin Christ. Warum hat man mich hier eingesperrt? Warum hat man mich überhaupt hierhergebracht? Ich habe keine Ahnung!«

»Hier herrscht ein einziges Chaos … und jeder ist sich selbst der Nächste!«

»Können Sie das nicht dem Gefängnisdirektor sagen? Oder irgendeinem Verantwortlichen?«

»Wo soll ich denn den Gefängnisdirektor treffen? Warte, gleich kommt der Wärter, dem werde ich’s stecken.«

Ich hörte das Kratzen der Schlüssel im Schloß. Der Zellenchef stand auf, ich packte ihn am Arm:

»Bitte, vergessen Sie es nicht!«

Er nickte. Die Tür ging auf. »Los, macht schon, bringt das Essen rein.« Das Essen wurde gebracht, dann sagte der Zellenchef zum Wärter:

»Sīdi … wir haben da einen … der sagt …«

Der Wärter ließ ihn nicht ausreden:

»Der kann sagen, was er will. Ich weiß von nichts. Ich schick dir den Schichtleiter.«

Nach einer knappen halben Stunde war erneut ein Geräusch an der Tür zu hören. Ein gutaussehender Mann tauchte auf, der im schweren Dialekt aus den Bergen fragte:

»Was ist los, Zellenchef?«

Der Zellenchef zog mich an der Schulter. Ich stand auf, er sagte:

»Sag’s ihm, los! Sag es dem Herrn Abu Rami!«

Stammelnd und stotternd erklärte ich ihm die Angelegenheit, und er antwortete im gleichen schwerfälligen Dialekt:

»Und? Was soll ich für dich tun? Ein Christ, sagst du? Na und? Vielleicht hast du den Muslimbrüdern ja geholfen?! Vielleicht hast du ihnen zum Beispiel Waffen geschickt?! Dann bist du ja noch verfickter als die.«

Dann wandte er sich an den Wärter und befahl:

»Zumachen! Los, mach die Tür zu!«

Doch bevor der Wärter die Tür schloß, wandte sich Abu Rami noch an die Männer in der Zelle und brüllte:

»Ihr Hundesöhne, ihr Zuhälter … ihr seid keine Muslimbrüder, ihr seid Teufelsbrüder. Zeigt mal, was ihr draufhabt! Da ist ein Christ unter euch. Kümmert euch mal um den! Führt ihn auf den rechten Weg! Aber nein, ihr könnt nur Leute umbringen und dieses Land ruinieren!«

Mit voller Wucht schlug er die Eisentür zu. Doch es dauerte nicht lange, da öffnete er sie noch einmal, ein breites Grinsen im Gesicht. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet.

»Ihr Hundesöhne … ihr Zuhälter«, setzte er hinzu, »wenn ihr es schafft, ihn zum Muslim zu machen, dann vergeßt nicht, ihn auch bei den Muslimbrüdern aufzunehmen, damit er auch was hat von seiner Haft.«

Dann knallte er die Tür wieder zu.

Zum dritten Mal liegen.

Mein Hintermann hatte einen dicken breiten Hintern, der viel Platz einnahm, aber gleichzeitig weich war. Das war jedenfalls angenehmer als Leute mit spitzen Knochen, die sich beim Gegeneinanderdrücken erbarmungslos in den Körper bohrten. Mein Vordermann war ein junger Mann in den Zwanzigern, der keine Anzeichen von Frömmigkeit zeigte.

Nach dem Gespräch mit Abu Rami wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Ich hatte große Hoffnungen gehegt, daß jemand den Fehler entdecken und sich sogleich darum kümmern würde, ihn zu berichtigen, aber nach diesen Worten über das Chaos und die Verlegung ins Wüstengefängnis war ich angesichts meines ungewissen Schicksals von Angst und Verzweiflung überwältigt worden.

Zwei oder drei Stunden, ich weiß nicht genau … schließlich nickte ich ein. Müdigkeit, Erschöpfung, Schlaf … dann wachte ich langsam wieder auf. Irgend etwas störte. Ich kam immer mehr zu Bewußtsein und hatte das Gefühl, meine Füße seien zusammengebunden. Sie waren von Ayyubs Stock noch ganz geschwollen. Schließlich war ich wach, Wärme und Feuchtigkeit stiegen von meinem Fuß auf, ich spürte einen leichten Schmerz. Eine Bewegung … ich zuckte zusammen … ich war hellwach … ich hob den Kopf und schaute auf meine Füße:

Der junge Mann, der vor mir lag, hatte mit beiden Händen meine Füße gepackt und meinen großen Zeh in den Mund gesteckt. Er lutschte daran. Ich trat zu, trat noch einmal, seine Hände erschlafften, er zog den Kopf zurück. Ich trat wieder zu, er wachte endgültig auf und schaute mich wütend und mißbilligend an.

»Warum hast du mich geweckt?« fragte er vorwurfsvoll.

»Was heißt denn hier: Warum hast du mich geweckt? Weißt du nicht, was du tust?«

»Verflucht nochmal! Du hast meinen schönsten Traum zerstört!«

»Wovon hast du denn geträumt?«

»Was? Ich war mit Maysun zusammen, und genau in dem Moment, in dem wir uns berührten und wir angefangen haben zu … genau da hast du mich geweckt!«

»Und wer ist diese Maysun?«

»Maysun? Maysun ist meine Verlobte.«

»Oh, Entschuldigung, nimm’s mir nicht übel … schlaf weiter! Aber verwechsele nicht noch mal meine Zehen mit Maysuns Lippen.«

Ich konnte nicht mehr einschlafen … Fragen über Fragen. In was für eine Welt war ich da geraten? War das nur der Anfang? Wohin sollte das führen? Könnte sich ein Schriftsteller, ein Drehbuchschreiber oder ein Regisseur das alles ausdenken? Fragen über Fragen …!

Ganze dreizehn Jahre lang rutschte mir jedes Mal, wenn ich das Kratzen der Schlüssel in der Eisentüre hörte, das Herz in die Hose. Ich würde mich niemals daran gewöhnen.

Schlüsselgeklapper zu ungewöhnlicher Zeit. Der Zellenchef sprang augenblicklich auf, als sich die Tür öffnete. Da stand Abu Rami, neben ihm ein großer etwa fünfzigjähriger Mann mit weißer Brille, hinter ihnen ungefähr zwanzig Männer. Der mit der Brille fragte:

»Wo ist der Zellenchef?«

»Zu Befehl, Sīdi.«

»Bring mir alle nach draußen, langsam und ordentlich aufgereiht, immer zwei zusammen. Nur du und der andere Schmuggler bleiben hier. Wo ist der andere?«

»Hier bin ich, Sīdi.«

»Du bleibst auch hier. Los!«

Wir gingen hinaus. Jeweils zu zweit. Es war der 24. April, frühmorgens.

24. April

Die Hände mit eisernen Fesseln nach hinten gebunden und ein Fuß mit einer Eisenkette an den Fuß eines anderen. Das Gehen fällt schwer, wir straucheln, Flure, Treppen. Unsere Namen werden auf Listen notiert.

Der Bebrillte läßt uns ein paar Minuten allein. Er bringt die Namenslisten weg, dann kommt er zurück. Er muß ein wichtiger Mann sein, warum also sollte ich ihm meinen Fall nicht schildern? Er kommt zu mir, ich beeile mich, ihn anzusprechen:

»Sīdi, ein Wort nur.«

»Friß Scheiße, du Bastard!«

Ein donnernder Schlag. Ich sehe Sterne. Es ist ein frühlingshafter Morgen. Ich schwanke. Ich schweige.

Sie bringen uns nach draußen vor das Gebäude, wo vier Transporter mit Metallkäfigen stehen. Bei den Gefangenen heißen sie »Fleischtransporter«. Vielleicht weil sie wie die Lieferwagen aussehen, mit denen die geschlachteten Schafe von den Schlachthöfen zu den Metzgern gebracht werden. Oder weil die Gefangenen wie Schlachtvieh hineingezwängt werden. Eine Metalleiter mit drei Stufen, wegen der gefesselten Füße und der zusammengebundenen Hände kommen wir nur mit Mühe hinauf. Wir müssen uns auf die Ladefläche des Transporters setzen, der Wagen ist voll, die Tür wird mit einem riesigen Schloß verschlossen. Zwei Sicherheitskräfte hocken sich vor die Tür. Warten, warten, dann setzen sich die Transporter gemeinsam in Bewegung.

Wir verließen die Stadt, die Autos legten an Geschwindigkeit zu. Wir ließen die Dunkelheit hinter uns, und ganz allmählich wurden die ersten Silberstreifen der Morgendämmerung sichtbar.

Ist es eine Reise aus der Dunkelheit ins Licht? Ich hoffe es.

»Wie lange brauchen wir, bis wir da sind?« hörte ich jemanden fragen.

»Vier oder fünf Stunden, so Gott will.«

»Das halte ich nicht aus, Mann! Sie haben mich geweckt, und dann mußte ich sofort raus … Und jetzt habe ich ein ganz dringendes Bedürfnis. Was soll ich machen? Meine Blase platzt gleich.«

»Wenn du es nicht mehr aushältst, dann zieh ich dir den Reißverschluß auf, und du kannst hier in den Wagen machen.«

»Was? Hier vor allen Leuten?«

»Ja, klar, da ist doch nichts dabei. Und Frauen gibt es hier Gott sei Dank auch nicht.«

Dann rief er laut:

»He, Leute, hört mal zu!«

Die Blicke richteten sich auf ihn. Er erklärte ihnen das Problem. Manche murrten, andere schwiegen, einige waren einverstanden. Dann wandte er dem Mann mit dem Bedürfnis den Rücken zu und öffnete ihm mit den gefesselten Händen den Reißverschluß, holte ihm sein Ding raus und rückte ein Stück von ihm ab.

»Los, erleichtere dich, Bruder!«

Bis wir beim Wüstengefängnis ankamen, wiederholte sich diese Prozedur noch vier Mal. Fünf Männer übergaben sich über der Urinpfütze. Die ganze Kotze hat die gleiche Farbe.

Mein Nachbar aber, dessen Fuß mit meinem verbunden war, litt offenbar unter Darmfäulnis. Er umhüllte mich mit einem Schleier der Winde aus seinem Bauch.

Um acht Uhr morgens erreichten wir das Wüstengefängnis. Auf dem Weg sah ich immer wieder auf die Uhr, und mehr als einer von ihnen gab mir den Rat, sie zu verbergen. Aber wo? Also ließ ich sie am Handgelenk.

Vor dem Gefängnis standen Dutzende Männer der Militärpolizei. Eine kleine Tür, der Blick prallte gegen ein Steinrelief darüber, auf dem in schwarzen erhabenen Buchstaben geschrieben stand:

»Für euch liegt Leben in der Wiedervergeltung, ihr Ein­sichts­vollen!«**

Die Geheimdienstler öffneten die Tür. Es waren dieselben, die uns vorher so rüde behandelt hatten. Jetzt ließen sie uns vorsichtig aussteigen, als hätten sie Mitleid mit uns. Einer von ihnen sagte sogar: »Möge Gott euch beistehen.« Sie flüsterten leise miteinander und vermieden es, den Militärpolizisten, die sich im Halbkreis um uns aufgestellt hatten, in die Augen zu sehen. Ich bemerkte, daß sie alle etwa in der gleichen Haltung dastanden, die Beine etwas gespreizt, die Brust nach hinten gedrückt, die linke Hand in die Hüfte gestemmt, in der Rechten entweder einen dicken Knüppel oder ein aus Stromdrähten zusammengedrehtes Kabel oder etwas aus schwarzem Gummi, das aussah wie ein Gürtel. Später sollte ich erfahren, daß es der Keilriemen eines Panzers war. Sie schauten uns und die Geheimdienstler von oben herab an, ihr Blick verriet sowohl Geringschätzung gegenüber den Geheimdienstlern als auch eine verdeckte Drohung uns gegenüber. Sie schienen kurz davor zu sein, die Geduld zu verlieren, weil die Übergabeformalitäten so lange dauerten. Sie verlagerten ihr Gewicht abwechselnd von einem Bein auf das andere und schüttelten ungeduldig und zornig die rechte Hand. Alle trugen schicke Militäruniformen. Der höchste Dienstgrad war ein Haupt­feldwebel, er war es auch, der die Übergabelisten unterzeichnete.

Irgendwo hatte ich gelesen, daß sich die Männer eines afrikanischen Stammes, als sie zum ersten Mal einen weißen Europäer sahen, erstaunt angeschaut und gefragt hätten: Warum hat sich dieser Mann die Haut vom Gesicht gezogen?

Ich stellte mir vor, daß diese Angehörigen der Militärpolizei, die ich hier vor mir sah, Gesichter mit abgezogener Haut hatten. Welche Kraft hatte diese Gesichter gehäutet? Wie war das passiert? Und warum? Wo? Ich wußte es nicht, aber ich sah, daß diese Gesichter nicht denen anderer Menschen glichen, den Gesichtern unserer Familie und Freunde. Sie hatten etwas Unmenschliches, unsichtbar zwar, aber es war ganz bestimmt da.

»Vielen Dank, ihr könnt gehen. Eure Aufgabe ist damit beendet«, sagte der Hauptfeldwebel zu dem Mann mit der Brille. Sie hatten unsere Fesseln gelöst, und die Gefangenen hatten sich instinktiv aneinandergepreßt. Die Männer vom Geheimdienst gingen fort.

Der Kreis wurde enger. Absolute Stille!

»Los, stellt sie zu zweit auf und bringt sie rein!«

Sie ließen uns jeweils zu zweit durch diese kleine Tür gehen, über der der Spruch Für euch liegt Leben in der Wiedervergeltung, ihr Einsichtsvollen! geschrieben stand. In einer langen Schlange kamen wir auf einen Hof, in dessen Mitte wie an den Rändern ein paar Bäume standen und wilde Blumen wuchsen. Auf allen Seiten des Hofes lagen Räume, die auf den Hof sahen. Die Schlange blieb vor einem anderen Feldwebel stehen, der an einem anderen Tisch saß, mit anderen Namenslisten. Mehr als hundert Angehörige der Militärpolizei standen um uns herum. Die Gefangenen vermieden es, ihnen direkt in die Augen zu schauen. Wir hielten die Köpfe ein wenig gesenkt, die Schultern hingen herunter, eine unterwürfige Haltung, eine ergebene, eine demütige Haltung. Wie kam es, daß alle Gefangenen in der gleichen Haltung dastanden, als hätten sie sie eingeübt? Ich weiß es nicht. Jeder von uns schien sich in sich selbst verkriechen zu wollen.

Mich juckte es am Hinterkopf, und wie jeder Mensch, den es juckt, streckte ich unwillkürlich die Hand aus, um mich zu kratzen. Da ertönte eine donnernde Stimme:

»He, Leute, guckt euch mal diesen Hundesohn an! Der kratzt sich auch noch am Kopf!«

»Waaaas? Der kratzt sich am Kopf?«

Hände zogen mich aus der Schlange. Ich kassierte Schläge und Tritte, ein Tritt schleuderte mich fort, ein Schlag hielt mich auf, Feuer am Hals, im Gesicht. Ich hätte gerne ein bißchen geweint. Schließlich rief mich der Feldwebel auf, um mich zu registrieren. Außer mir war keiner mehr da. Mein Name wurde aufgenommen, und so wurde ich ein offizieller Insasse dieses Gefängnisses.

Sie führten uns weiter. Zwischen zwei Räumen lag eine kleine Eisentür, noch kleiner als die erste. Warum werden die Türen immer kleiner, je weiter wir gehen? Durch diese Tür gelangten wir zu einem großen Platz: Das war Hof 1. Er hatte wie alle Wege und Höfe hier einen harten Asphaltboden. Um den Hof herum lagen einstöckige Gebäude, auf denen Nummern standen: Zelle 3, Zelle 4 … Zelle 7.

Die Türen werden kleiner, aber auf Hof 1 öffnete eine Hölle ihre größten Türen. Und wir sind das Brennmaterial.

Ganz ruhig stellten sie uns ordentlich nebeneinander, mit jeweils zwei oder drei Metern Abstand zwischen uns. Der Feldwebel brüllte:

»Los … jeder zieht jetzt seine Klamotten aus und legt sie rechts neben sich auf den Boden. Ihr dürft nur die Unterhosen anbehalten.«

Nachdem sich alle ausgezogen hatten und nun wartend dastanden, fiel mir auf, daß ich der einzige mit einem Slip war. Ich fühlte mich sehr fremd!

Zuerst sprach der Feldwebel mit ruhiger Stimme, doch dann wurde sie schärfer und strenger. Und je lauter seine Stimme wurde, desto angespannter und nervöser wurde das Gebaren der Militärpolizisten. Angst und Entsetzen machten sich bei den Gefangenen breit, die Blicke senkten sich, die Schultern fielen weiter und weiter herab!

Zwei Militärpolizisten mit Peitschen in der Hand kamen auf mich zu.

»Runter mit der Unterhose, du Hundesohn, und mach zwei Sicherheitsbeugen!«

Ich zog die Hose bis zu den Knien herunter und schaute sie fragend an.

»Mach zwei Sicherheitsbeugen, du Mistkerl.«

»Was soll ich machen, Sīdi? Was heißt das, zwei Sicherheitsbeugen?«

»Du sollst dich zweimal nach vorn beugen und wieder hochkommen! Du bist wirklich ein Vollidiot!«

Die Sicherheitsbeugen dienen dazu festzustellen, ob die Gefangenen etwas Verbotenes im After versteckt haben.

Einer der Polizisten schaute den anderen lächelnd an, dann sagte er mit gedämpfter Stimme:

»Gottverdammt, guck mal, was der für’nen Kleinen hat!«

Ich schaute an mir hinunter. Ja, er war wirklich sehr klein! Selbst er hatte die Panik und das Entsetzen gespürt und sich in seinem Hodensack versteckt. Ich aber konnte mich nicht verstecken.

Hinter mir war eine Zelle, auf deren Tür Zelle 5-6 stand. Unten neben der Tür ragte ein Abflußrohr heraus, aus dem eine schwarze schmutzige Flüssigkeit floß.