Das Schwanenhaus - Martin Walser - E-Book

Das Schwanenhaus E-Book

Martin Walser

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Erzählt wird der Kampf um etwas Wunderschönes, und wie die Kämpfer ausgerüstet sind. Das Schöne ist ein Haus, ein inniges Gehäuse am See, von Wänden und Fenstern leuchten Sehnsuchtsmotive. Die Kämpfer sind Händler. Das Haus steht leer. Die Besitzerin hat es verspielt. Der schöne Gegenstand wird Objekt des Konkurrenzkampfes. Wer wird es kriegen? Am meisten Aussicht hat Dr. Gottlieb Zürn. Glaubt er.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 344

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martin Walser

Das Schwanenhaus

Roman

Suhrkamp

Inhalt

Das Schwanenhaus

Das Schwanenhaus

1

Als Gottlieb Zürn aufwachte, hatte er das Gefühl, er stehe auf dem Kopf. Offenbar war sein Kopf im Lauf der Nacht immer schwerer und sein Leib leichter geworden. Solange sein Kopf mit diesem Gewicht im Kissen lag, hatte er keine Aussicht, wieder auf die Füße zu kommen. Ich bin das Gegenteil eines Stehaufmännchens, dachte er. Er öffnete die Augen. Er stand nicht auf dem Kopf. Sobald er die Augen zufallen ließ, hatte er wieder das Gefühl, er stehe auf dem Kopf.

Plötzlich saß er auf dem Bettrand. Die Füße tief unter ihm auf dem Boden. Die Angst, er werde nicht mehr aufstehen, hatte geholfen. Die Gefahr auszufallen, war für einen weiteren Tag gebannt. Gottlieb Zürn fällt aus! Mit diesem aufschreckenden Satz hatte er es wieder einmal geschafft. Die Schule fällt aus, die Vorstellung fällt aus. Gottlieb Zürn fällt nicht aus. So beschwor er sich. Der Ruck, mit dem er sich hochgerissen hatte, wirkte noch nach. Als Annas Schritte sich mit rasch zunehmender Bestimmtheit der Schlafzimmertür näherten, stand er schon. Obwohl er noch keine Sekunde zu spät dran war, hätte er sich geniert, wenn sie ihn noch im Bett oder auf dem Bett sitzend angetroffen hätte. Er wollte nicht, daß sie vor dem Bett stünde und das Gesicht kriegte, das seine Mutter gekriegt hatte, wenn sie, weil er auf ihre Rufe nicht reagiert hatte, plötzlich vor seinem Bett stand, dieses Gesicht, das ausgedrückt hatte, die Familie werde jetzt also in einer Art selbstverschuldeter Lähmung untergehen.

Er bewegte sich, sobald Anna die Tür geöffnet hatte, so leicht wie ein anderer. Aber Anna war gar nicht gekommen, ihn zu holen. Ihr Gesicht zeigte, daß sie schon länger etwas suchte und nicht mehr fähig war, ruhig von Stelle zu Stelle zu schauen, ob es da liege. Den Kopf riß sie immer ein bißchen zu spät in die Richtung, in die sie schon stürmte. Sie schleuderte Wäschestücke durch die Luft, rannte hinaus, den Autoschlüssel suche sie, der Ersatzschlüssel sei auch nicht am Platz. Regina habe sich in der vergangenen Nacht wieder mehrere Male übergeben. Und wieder bis zu 40 Fieber gehabt. Dr. Freisleben sei verständigt. Sie müsse ihm Reginas Urin bringen. Einen Rückfall halte er nach den Antibiotika, die Regina von Dr. Sixt bekommen habe, für unwahrscheinlich. Er werde sich mit Dr. Sixt wieder in Verbindung setzen.

Als Anna weggefahren war, ging er zu Regina hinüber. Ihre Gesichtshaut sah grau aus, fast violett. Um den Mund eine fahle ovale Zone. Der Mund zuckte und bebte. Sie würde, wenn er sich beeindruckt zeigte, nicht anders können, als ihre Krankheit mit seiner Beeindrucktheit zu multiplizieren. Also beherrschte er sich. Da er so wenig Wirkung zeigte, fühlte sie sich veranlaßt, deutlich zu stöhnen. Sobald er sie streichelte, wurde ihr Ton passiver, das reine Leid. Alles, was sie in der vergangenen Nacht ohne sein Dabeisein hinter sich gebracht hatte, sollte er jetzt zur Kenntnis nehmen und anerkennen. Er streichelte sie heftiger. Das löste das ersehnte leise Weinen aus. Dieses Weinen hatte fast eine erzählerische Melodie. Drunten klingelte das Telephon. Ihre Augen kippten, sie sah ergeben zur Decke, er durfte gehen. Sicher einer, der sich verwählt hatte. Morgens um acht rief ihn niemand an. Am Samstag vielleicht, wenn die Inserate erschienen waren, aber nicht am Mittwoch, wenn sie noch gar nicht aufgegeben waren. Um zehn, Annahmeschluß!

Rosa, was ist, rief er. Nichts Besonderes, sagte sie. Am Freitag komm’ ich. Ihre Stimme klang, als strenge sie sich an, die Stimme hell klingen zu lassen. Sie wollte ihn nicht erschrecken. Aber, dachte er juristisch, sie nimmt es billigend in Kauf, daß er bemerke, wie wenig wirklich hell ihre Stimme heute klingt. Sie sei gerade von einem Fest zurückgekommen, jetzt lege sie sich hin, später müsse sie in die Hochschule, eine Klausur, deshalb habe sie gedacht, sie könne ihre Alten auch einmal in aller Herrgottsfrühe anrufen.

Ob ihr etwas fehle.

Was ihr denn fehlen solle. Das klang fast schon ärgerlich oder tragisch oder patzig oder vorwurfsvoll oder höhnisch oder . . .

Sie freuten sich also auf Freitag, ach so, da sei er ja in Stuttgart, am Freitag und am Samstag, aber am Samstagabend sei er zurück. Als er auflegte, hörte er das Kipptor rucken und ächzen. Anna schleppte zwei Netze und einen Korb Eingekauftes herein. Er wollte ihr verstauen helfen. Sie verbot es, wie erwartet, mit dem Hinweis, dann finde sie nachher nichts mehr. Daß Rosa um diese Tageszeit angerufen hatte, alarmierte sie auch. Seine Schuld. Er hatte den Anruf als etwas Beunruhigendes geschildert. Regina rief so kläglich als möglich nach ihrer Mutter. Anna rannte hinauf. Er ging hinaus. Armin bedeutete er, liegen zu bleiben, kein Spiel heute. Else lag fast rücklings auf der Tischtennisplatte und reckte und streckte sich und fuhr immer wieder blitzschnell zusammen, als wolle sie sehen, ob sie das Morgensonnengold jetzt zwischen ihren Pfoten habe. Er griff ihr im Vorbeigehen an den flaumigen Bauch, sie nahm seine Hand sofort gefangen und ließ sie, den Regeln gemäß, sofort wieder frei.

Er sah, daß die Feriengäste noch nicht am Ufer waren, auch der öffentliche Uferweg lag noch verlassen, also ging er hinunter und schwamm seine mittlere Strecke. Das Wasser wäre warm genug gewesen für die Langstrecke, aber ihm fehlte die Ruhe für 40 oder 50 Minuten gleichmäßiger Schwimmbewegung. Bevor er nicht, mit dem Alleinauftrag in der Tasche, das Tor der Leistle-Villa in Stuttgart hinter sich zumachen würde, konnte er Ruhe nur unter Einsatz seiner ganzen Willenskraft fingieren.

Auf dem Tisch in der Terrassennische stand noch das Früh-Stücksgeschirr von Julia. Magda hatte keine Spuren hinterlassen. Kaum saß er, hörte er Frau Schneider rufen: Ellen, sag em Babba, er soll au bidde mei Sonnebrill mitbrenge. Er sprang auf und war im Haus, bevor die Stuttgarter Familie, die zur Zeit die obere Ferienwohnung bewohnte, um die ausschwingenden Wacholderzweige vor der Hausecke bog. So weit, mit Fremden sprechen zu können, war er noch nicht. Als die drunten bei den Liegestühlen waren, also nicht in die Terrassennische sehen konnten, ging er wieder hinaus.

Wenn er bloß die Zeit bis zum Samstag raffen könnte. Er hätte jedesmal Tage und Wochen seines Lebens einfach verschenkt, um der entscheidenden Stunde nicht so lange entgegensehen zu müssen. Hatte sein Leben bisher nicht hauptsächlich aus solchem Zuwarten bestanden? Sein Leben war fast zu spannend. Wahrscheinlich war deshalb, seit er als Makler selbständig war, das Bedürfnis, in die Spielbank zu gehen, erloschen. Als er noch Dr. Enderles Angestellter gewesen war, hatte es ausgesehen, als könnte die Roulette-Sucht gefährlich werden. Anna hatte nicht die geringste Neigung zum Spielen, aber sie war, als er noch Jahreskarten hatte für die Banken in Lindau und Konstanz, immer mitgegangen. Er begriff jetzt nicht mehr, warum er sich nicht geniert hatte vor ihr. Immer wieder die gleichen Versprechungen, Ausflüchte, Rechtfertigungen, Zerknirschungen, Zusammenbrüche.

Anna kam herunter. Regina sei endlich eingeschlafen. Wo war der Autoschlüssel, fragte er. Anna antwortete, sie habe Regina um elf ein Gelonida gegeben, um zwei ein Gelonida, um drei ein Valium, um sechs ein Gelonida. Das Wichtigste sei, daß Regina zur Ruhe komme. Ob man nicht doch ganz zu Dr. Sixt zurück solle. Daß Dr. Cornelius sich nicht mehr für Regina interessiere, seit Regina durch Annas Übertritt in die AOK kein Privatpatient mehr sei, sei schon allerhand. Sie sprang auf vom Frühstück, rief Dr. Sixt an und zwang den, sich anzuhören, wie sich Regina nach neun Antibiotikawochen befinde. Man hörte an Annas Reaktionen, daß Dr. Sixt das Gespräch viel knapper haben wollte. Als sie auflegte, war sie ruhiger. Dr. Sixt hatte versprochen, Regina heute noch anzuschauen. Der hat sich auch drücken wollen, sagte sie.

Sie räumte das Frühstücksgeschirr ab. Gottlieb wollte ihr helfen, spürte aber sofort, daß er, wenn er Geschirr abtrüge, bloß so tue, als wolle er ihr helfen; er wollte eigentlich gar nicht; aber sie müßte dann eben doch einmal weniger hin und her zwischen Küche und Terrasse; also, greif zu jetzt. Da hatte sie schon alles draußen. Wenn er sich jetzt zur Strafe einen Fetzen Haut von der Fingerkuppe schnitt – er sah auf dem Weg ins Büro eine Schere liegen -, hatte sie auch nichts davon. Aber schülerhafte Lösungen lagen ihm.

Er ließ sich in seinen nach allen Richtungen nachgiebigen, ihn sanft schalenden Schreibtischsessel fallen und entfaltete die Zeitung. Was in der Welt passiert, ist zum Glück wichtiger. Und war doch gleich durchgerutscht durch alle Nachrichten und Berichte bis zu den Inseraten. Die las er am liebsten. Rundfunk- und Fernsehprogramme und Inserate waren seine Lieblingslektüre. Auch in alten Zeitungen. Er wollte die Programme nicht sehen und das Inserierte nicht kaufen. Er las gern diese Art Mitteilung. Und heute . . . wäre nicht Anna so völlig auf Regina konzentriert, wäre er sofort hinübergerannt, ihr das vorzulesen: 283. Freiwillige Versteigerung. Infolge Auflösung versteigere ich im Auftrage den RESTHAUSHALT Bansin am Dienstag, den 2. September in Villa Bansin, Mitten, ab 9 Uhr: 1 antik eingel. Schrank, 1 dkl. und altbem. Bauernschrank, 1 Louis-Seize-Kommode, Barock-, Louis-Seize- und Biederm.-Stühle sowie kl. Tischchen, 1 alpenld. dkl. Bauerntruhe, gr. rd. Ausp-Tisch m. 6 Lehnstühlen, geschw. Füße, 4 rd. und 3 Igl. Tische i. Chippendalestil, 42 Pos. Silber u. versilb. Gegenstände wie ov. Platten, Schalen, Leuchter, Bestecke, vorz-Jugendstil, alte Teppiche wie Buchara, Schirwan, Ferraghan, teilw. beseh., 1 Ölgemälde (David Teniers 1610-1690) unsign., sowie a. Ölgemälde, Stiche, Bibliothek, Porzellan (Berlin), Kupfer, Tischlampen (Jugendstil), grauer Nerz-Mantel und vieles nicht Erwähnte. Besichtigung am Montag, 1. Sept., von 14 bis 18 Uhr. Jürgen Kant, sachverst. Schätzer und Auktionator, Kempten.

Er würde Anna das beim Mittagessen vorlesen. Er mußte sein eigenes Samstag-Inserat tippen. Als er es durchgelesen hatte, zerriß er es. Als er wieder tippte, merkte er, daß er das Inserat gar nicht ändern konnte. Die Kollegen Konkurrenten würden grinsen, wenn er die zwei Eigentumswohnungen und die im künftigen Autobahngelände liegende Hof-Mühle mit Brennrecht und eigener Stromversorgung wieder anpries. Sollten sie. Eine Woche später würde da stehen: Einmalige Gelegenheit oder: Die Traumvilla oder Jugendstil-Juwel am Bodensee, 19 Zimmer, jedes Zimmer mit anderer Decke. Meisterwerke der Jugendstil-Stukkatur, Halle (100 qm) mit tropischem Holz getäfert, Hallenfenster (Jugendstil, Buntglas) über zwei Stockwerke, wilhelminische Bauqualität, ursprüngl. Sitz des Direktors der Deutschen Bank, eigener Hafen, 30 Bootsliegeplätze, 1,8 ha Park, eigener Tennisplatz, Uferbreite 65 m, nur für seriöse Interessenten. Alleinauftrag Dr. Gottlieb Zürn (Dr. Enderle-Immobilien).

Vorausgesetzt, Frau Dr. Leistle war zu gewinnen. Mit der Schwester wäre er fertig geworden. Frau Bansin mußte man nur reden lassen. Ein paar Monate lang hatte er sie einmal pro Woche ausgeführt. Sie war glücklich, für zwei Stunden aus dem Hochhaus, in das die Verwandtschaft sie gesteckt hatte, herauszukommen. Jedesmal hatte sie ihm die Version ihres Schicksals vorgetragen, die ihr gerade noch greifbar war. Einiges blieb sich gleich. Das mochte das Wichtigste sein. Daß sie in der DDR 700 Arbeiter verloren hatte, vergaß sie nie. Sie sagte: Man hat uns in der Ostzone 700 Arbeiter genommen. Dann folgte immer der Satz: Davon haben wir uns nicht mehr erholt. Zum Glück habe sie 1934 den Einfall gehabt: wir kaufen uns etwas am Bodensee! Sonst hätten sie nach 45 überhaupt nichts mehr gehabt. Natürlich sei für sie, die von ihrem Vater her aus der württembergischen Künstlerfamilie Dannecker stamme, nur ein Besitz mit Niveau in Frage gekommen. Die Bankpräsidenten-Villa habe sie gekannt, bevor sie je am Bodensee gewesen sei. In Dresden habe man von dieser Villa gesprochen, weil der Bankpräsident Künstler aus Dresden- Hellerau und Darmstadt an den Bodensee gerufen habe, damit sie sein Haus schmückten. Das werde ihr jetzt weggenommen. Von den Banausen. Banausen, das gebrauchte sie immer mit einer Bestimmtheit, als handle es sich dabei um einen Volksstamm von unverwechselbarer Eigenart. Daß ihr Eberhärdle das nicht verhindert habe, nicht nur nicht verhindert, daß er das herbeigeführt, verschuldet habe! Gut, man habe ihnen 700 Arbeiter genommen in der Ostzone, aber das ist anderen auch so gegangen, man kann doch wieder anfangen, das ist ihre Meinung, man kann immer anfangen. Bitte, er, Dr. Zürn, gebe das beste Beispiel. Sei er nicht mit ihrem Eberhärdle in dieselbe Schule, in dieselbe Klasse sogar, gegangen, und jetzt, wo sei ihr Eberhärdle und wo Dr. Zürn? Habe ihr Eberhärdle nicht immer glänzende Zeugnisse heimgebracht? Viel besser könnten die von Dr. Zürn auch nicht gewesen sein. Und jetzt, was sei ihr Eberhärdle? Sektenprediger! Sektenschriften senkrecht in die Luft haltend, stehe er in Lindau, Wangen und Ravensburg an Straßenecken und lächle. Wenn er wenigstens eine andere Gegend aufgesucht hätte für sein blamables Auftreten. Wenn er noch ein bißchen Anstand hätte, wär’ er zur Fremdenlegion, jawohl! Ach, Herr Dr. Zürn, Ihre Mutter hat es besser getroffen als ich. Sie hat, solang sie lebte, erleben dürfen, wie der Direktor Enderle ihren Buben zum Teilhaber und Nachfolger gemacht hat. So ein kultivierter Mensch wie der Direktor Enderle, befreundet sogar mit dem Karl Erb. Sie sage ihm frank und frei, die Tatsache, daß der Direktor Enderle ihn akzeptiert habe, was habe sie jetzt sagen wollen . . . ach so, ja, der Direktor sei ja, trotz seines schwäbischen Namens, Rheinländer gewesen, wahrscheinlich habe er überhaupt den Bodensee für das Rheinland entdeckt, aber glücklich sei der Direktor Dr. Enderle auch nicht gewesen, ein Makler, wie es keinen mehr gebe, ein Herr, ein Bonvivant eben, und kein Banause, sie habe immer gehofft, ihr Eberhärdle, ob Dr. Zürn dem schon einmal begegnet sei, was er dazu sage, Zeugen Jehovas, vielleicht gibt es ja wirklich ein Leben nach dem Tod, wir müssen doch alle allzu schnell fort von hier, könne es nicht sein, daß ihr Eberhärdle doch den Haupttreffer ziehe, weil nämlich sie und Dr. Zürn, ja sogar der Direktor Enderle habe letzten Endes doch dem Geld nachgejagt, während ihr Eberhärdle an der Ecke stehe und mit religiösen Drucksachen winke, also so eine Schande, dabei hätten Eberhärdle und seine Frau, die übrigens ihn und die Kinder sitzengelassen habe und abgehauen sei mit einem Berliner Spekulanten oder Berlin-Spekulanten, der hat auf jeden Fall vierzig Häuser in Berlin und lebt in der Karibik, besser kann es einer überhaupt nicht machen, weg von den Banausen hier, die Schwiegertochter habe schneller gemerkt als sie, was mit dem Eberhärdle los sei, aber beide haben ihr Lehren erteilen wollen, weil sie in ihrer Verzweiflung manchmal in die Spielbank mußte, ja-jaa, wenn sich das eine Dame nicht mehr leisten darf, dann, Herr Dr. Zürn, haben die Banausen gesiegt, dann verzichtet sie, Frau Beatrice Bansin . . . Mit Bansins wäre er zurechtgekommen, obwohl Frau Bansin seinen Schulkameraden Eberhard enterbte, soweit sie konnte, und für geschäftsunfähig erklären ließ. Der vollkommen gutmütige Eberhard hätte seinem Schulkameraden den Alleinauftrag sofort gegeben. Seine Mutter auch. Aber als sie unterschreiben wollte, war sie auch entmündigt. Aus der Tiefe einer unüberschaubaren Verwandtschaft war die Entscheidung gekommen: geschäftsunfähig, ab ins Altersheim nach Maierhöfen. Man hatte es jetzt mit Frau Dr. Leistle zu tun, der jüngsten Schwester. Aber inzwischen hatte er einen solchen Vorsprung vor den Konkurrenten, daß nicht einzusehen war, warum Frau Dr. Leistle jetzt noch einen anderen vorziehen sollte. Er hatte Pläne kopiert, ein Exposé entworfen, Fotos gemacht. Keiner der Kollegen Konkurrenten konnte mit einem funkelnden Inserat und einem so gut wie druckfertigen vierseitigen Prospekt-Entwurf plus Insertions-Plan aufwarten.

Wenn er diesen Auftrag kriegt, Anna, dann hat sich auch noch die Spielsucht rentiert. Frau Bansin erinnerte sich noch gut und gern an den Anfänger, an dem vorbei sie ihre Chipstürme schob und holte und schob.

Das Telephon schreckte ihn auf. Es war Frau Reinhold. Ja, sagte er so hell und hoch als möglich. Er mußte sich, um dieses ansteigende Jaa zu produzieren, ganz schnell aufrichten. Er wußte, daß seine Stimme, wenn er nur nach dem Hörer griff und seinen Namen sagte, auf die Leute, die ihn anriefen, einen Eindruck machte, der ihm nicht recht sein konnte. Frau Reinhold rief ins Telephon – und bewies ihm, daß ihm der helle Ton gelungen war – : Ihnen scheint es ja gut zu gehen, Herr Dr. Zürn. Ja, rief er im selben Ton, es geht mir einfach ein bißchen zu gut, ich geb’s zu. Sie gratuliere. Und sie könne da mitreden, der wichtigste Teil des Wohlbefindens sei nämlich, daß man es sich selber zu verdanken habe. Ach, wissen Sie was, Herr Zürn, ich wollte Ihnen eigentlich nur einen Tip geben, aber das kommt mir jetzt schofel vor, fernmündlich miteinander verkehren, entsetzlich! Sie sehe morgen abend Leute bei sich, wenn er Lust habe, sie würde sich freuen, dann könne sie ihm das persönlich sagen. Es betreffe die Villa Bansin. Für ihn könne ihr Tip unter Umständen interessant sein.

Er rannte zu Anna hinüber und rief, jetzt habe er den Alleinauftrag für das Schwanenhaus praktisch in der Tasche. Allerdings müsse er deshalb morgen abend zu den Reinholds. Daß Frau Reinhold ihn deutlich ohne Anna eingeladen hatte, versuchte er zu vertuschen; er hatte das Gefühl, als habe er dadurch darauf hingewiesen. Anna blieb arglos. Sie achtete Frau Reinhold. Voller Bewunderung meldete sie jeden Erfolg, den die drei Reinhold-Kinder in der Schule oder auf Sportplätzen errangen. Die älteste Reinhold-Tochter war Klassenbeste in Magdas Klasse. Wenn Frau Reinhold in der Zeitung als Sängerin gerühmt wurde, las Anna die Lobeshymnen auf die schöne und schön singende Frau Reinhold mit Anteilnahme vor. Für Frau Reinhold gab es Anna wahrscheinlich gar nicht. Daß Anna von Frau Reinhold trotzdem immer mit Bewunderung sprach, hieß für Gottlieb, daß Anna Frau Reinhold überlegen sei; allerdings auf eine Weise, die außer ihm nie jemand wahrnehmen würde. Anna machte nur eine Einschränkung: ihr gefiel nicht, wie Frau Reinhold mit ihrem Mann umging. Der kann einem leid tun, sagte sie. Frau Reinhold trat fast immer ohne ihren Mann auf. Öfter als in Wirklichkeit sah man ihn in der Zeitung, abgebildet mit Bonner oder Stuttgarter Staatssekretären oder NASA-Leuten aus Houston oder Geschäftspartnern aus Norwalk, Connecticut, denen er zeigte, was er in seinem Werk, das zum Teil den Connecticut-Amerikanern gehörte, gerade wieder entwickelt hatte für den nächsten Satelliten. Gottlieb Zürn war, als Reinholds hierher und in das durch ihn vermittelte Haus gezogen waren, eine Zeitlang Frau Reinholds Tennispartner gewesen. Sie hatte jahrelang nur Männer als Partner akzeptiert. Erst seit sie mit einem jungen Soziologen der Universität Konstanz befreundet war, spielte sie auch mit weiblichen Partnern. Da man diesen Soziologen im Haus Reinhold ein- und aus gehen sah, ohne daß man wußte, was man dazu sagen sollte, sagte man: Frau Reinhold emanzipiert sich. Das Haus, das über der Stadt lag und nach Osten, Süden und Westen einen freien Blick über den See hin bot, hatte sie allein gekauft.

Von Dr. Terbohm, der sich scheiden lassen wollte, hatte Gottlieb den Alleinauftrag erhalten, weil er dem Doktor vorschlug, das Haus schon anzubieten, bevor die beabsichtigte Scheidung perfekt sei, dann wisse Dr. Terbohm, was er zu erwarten und seiner Frau zu bieten habe. Gottlieb hatte so verhandelt, weil er gehört hatte, wie furchtbar sparsam die Frau des Arztes sei. Magda, die mit einem der Terbohm-Söhne in die Schule ging, hatte immer neue Sparsamkeitsexzesse gemeldet, die die Terbohm-Kinder unter dem Einfluß ihrer Mutter vollbrachten. Bei einem Schulausflug ins Burgundische hatte der Sohn im letzten Bistro Weinreste in einer Flasche gesammelt und mitgenommen für seine Mutter, als Kochwein. Wenn die Terbohm-Kinder zwischen den Mahlzeiten etwas wollten, mußten sie das Butterbrot oder die Orange der Mutter bar bezahlen. Das Geld dafür mußten sie sich durch Zeitungsaustragen, Autowaschen oder Ferienjobs verdienen. Magda hatte voller Mitleid und Bewunderung von dieser Familie erzählt. Gottlieb Zürn konnte dem Arzt Ratschläge geben, die genau paßten. Der hatte erwähnt, seine Frau habe immer noch Angst, sie werde einmal verhungern. Sie sei die Tochter eines Jenaer Philosophieprofessors, der seine Familie zur Verachtung alles Vergänglichen habe erziehen wollen. So war Gottlieb Zürn Frau Reinholds erster Bekannter geworden. Das Haus hatte sich bewährt, war nach zehn Jahren mehr als das Doppelte wert, also gehörten Reinholds zu den Leuten, denen er ruhig ins Gesicht sehen konnte. Wenn er bloß die Reinhold-Ehe besser beurteilen könnte. Betrog die ihren Mann ununterbrochen oder überhaupt nicht? Der riesige junge Wissenschaftler mit all seinem Bart und Haar wirkte neben ihr wie eine Märchenfigur, die auf die Rückverwandlung zum Prinzen wartet. Ihr Mann sah hilflos und fein aus neben ihr.

Gottliebs Kollege und Konkurrent Paul Schatz hatte einmal auf dem Tennisplatz, als sie Frau Reinhold beim Spielen zuschauten, zu Gottlieb herübergesagt: Man könnte zwei Wagner-Sängerinnen machen aus ihr. Wie alles, was Paul Schatz sagte, war das sehr einprägsam und stimmte überhaupt nicht. Aber irgendwie stimmte es doch. Wahrscheinlich stimmte es ganz genau. Die Beziehung zu Frau Dr. Leistle kam sicher durch Herrn Dr. Reinhold. Leistles gehörte ein Chemiewerk zwischen Göppingen und Plochingen. Vielleicht hatte Dr. Reinhold, bevor er nach Amerika gegangen war, bei Leistle gearbeitet. Vielleicht war er sogar verwandt mit Frau Dr. Leistle. Dann hätte Gottlieb schon zwei Drähte zum Objekt. Nein, drei: Schulkamerad Eberhard, dessen Mutter, Gottliebs Spielbank-Genossin, und, über Lissi Reinhold, Dr. Reinhold. Diesmal hatte Paul Schatz keine Chance. Und wenn Schatz keine Chance hatte, wer konnte ihm dann gefährlich werden? Kaltammer! Kaltammer war nicht halb so gefährlich wie Schatz. Gottlieb Zürn war, nachdem er Anna das Wichtigste mitgeteilt hatte, gleich wieder ins Büro gerannt. Er war aufgeregt. Er wollte rauchen. Aber ohne Alkohol rauchte er nicht mehr. Und Alkohol trank er nie vor dem Abendessen. Er mußte sich durch solche Willensleistungen beeindrucken. Für ihn war es schon etwas wie ein Sieg, wenn er irgendwo auf Paul Schatz traf und den hemmungslos rauchen sah. Der trank an einem Abend eine Flasche Schnaps. Gottlieb Zürn trank nur leichten Wein. Wenn er seine Willensleistungen an sich vorbeiparadieren ließ und sein mehr und mehr von Disziplin bestimmtes Leben mit dem wilden, auf jeden Fall weniger gesunden Leben seines Kollegen Konkurrenten verglich, kam ihm der deprimierende Gedanke, daß Paul Schatz dieses unordentliche oder wilde oder ungesunde Leben vielleicht überhaupt nichts ausmache. Da Schatz oft über seine Eltern redete, wußte jeder, daß die fast neunzig waren und an der österreichisch-ungarischen Grenze lebten, weil sie ihrer Heimat Siebenbürgen so nah als möglich bleiben wollten und das Leben mit Essen und Trinken und Lachen genossen wie ein bukolisches Paar. Schatz selber war zum vierten Mal verheiratet. Man hörte nie, daß er an irgend etwas zu leiden habe. Von sich hatte Gottlieb im Augenblick das Gefühl, er stürze, wenn er sich nicht mit Anstrengung aufrecht halte, geradezu sofort und senkrecht ab. Er spürte, wenn er an sich dachte, nichts als Gewicht, Schwere, Niedertracht. Unsinn, dachte er, Unsinn. Und sprang auf.

Er rief Anna zu, er fahre in die Stadt, das Inserat aufzugeben, auch müsse er endlich zum Friseur. In zwei Stunden sei er zurück. Anna bat ihn, leise zu sein, Regina schlafe. Er holte sein Rad durch die Halle aus der Garage, weil man das Aufkippen des Garagentors in jedem Zimmer hörte.

Langsam fuhr er am See entlang. Er wollte nichts von sich wissen. Das waren immer die angenehmsten Augenblicke. Der Vormittag dehnte sich in der Hitze. Der Wind zählte die Blätter ohne Hast. Der See, ein Feld aus gleißenden Furchen. Alles grün und grüngold und gleißend und blendend. Und alles rauscht. Und es scheint auf nichts anzukommen. Unwillkürlich betätigte er die Fahrradklingel. Das im Erklingen sofort wieder verschwimmende Klingelgeräusch weckte eine Legion von Jahren. Die gewaltigen Baumarme, unter denen er gerade durchfuhr, riefen ein Bild aus dem ersten Katechismus herbei: Absalom reitet auf der Flucht vor seinem Vater, gegen den er sich empört hatte, unter solchen Bäumen durch, die hochfliegenden roten Haare wickeln sich um die gewaltigen Äste, das Pferd galoppiert weiter, Absalom hängt an seinen Haaren und . . . Gottlieb Zürn wäre beinah vom Rad gefallen, weil der Asphalt unter diesen Bäumen von den Baumwurzeln zu harten Wellen gewölbt war.

Als er Frau Sonntag das Inserat aushändigte, genierte er sich. Nicht viel los zur Zeit, wollte er sagen, aber er brachte es nicht heraus. Die hatte vielleicht gerade das Inserat von Paul Schatz oder das von J. F. Kaltammer entgegengenommen, Inserate, in denen es oft von Schlössern und Villen wimmelte.

Paul Schatz belegte jahraus, jahrein das obere Drittel der ersten Immobilienseite. Eine etwas ins Breite gezogene, schwarz gerahmte Bildschirmform, innerhalb derer sich die Einzelanzeigen als schlankere Bildschirmformen abhoben. Im oberen Rand des Gesamtbildschirms erschien immer in ganzer Breite, weiß in schwarz, die Überschrift IMMOBILIEN-SCHATZ. Dazu, auch weiß in schwarz, seine schräge, blitzhaft starke Unterschrift. Neben der Unterschrift, eine altertümliche Siegelform. Auf dem Siegel, kreisförmig, in ehrwürdiger Reichsmarkschrift: Der ehrliche Makler. Und unter den edlen weißen Blitzen der Schatzunterschrift, ganz klein und ruhig: Ich stehe hinter jedem Angebot mit meinem Namen. Das war Schatz. Und das volle rechte Drittel seiner Inseratfläche füllte er mit allgemeinen Aufklärungen. Er spielte sich als Volksaufklärer auf. Dafür bezahlte er jeden Samstag teure Inseratfläche. Der entblödete sich nicht, dem Publikum Gewährleistungs-Entscheidungen des Bundesgerichtshofes mit Aktenzeichen mitzuteilen. Aber das Publikum fiel darauf herein. Wenn Herr Schatz das Aktenzeichen V ZR 22/73 abdruckte und dazu das Datum 29. März 1974, und dann noch mitteilte, daß seit diesem Tag die Vereinbarungen der im Immobiliengeschäft handelnden Parteien, soweit sie die Sachmängelhaftung des Bauträgers beträfen, zugunsten des Käufers ausgelegt würden, glaubte er offenbar selber, er habe der Allgemeinheit wieder wahrhaft gedient. Überschrift letzten Samstag: Der gute Makler bietet einen ganzen Strauß von Leistungen. Gottlieb Züm ärgerte sich jeden Samstag darüber, daß ihm aus dem Schatz-Inserat Sätze im Kopf blieben. Jeden Samstag las er zwanghaft das Schatz-Inserat. Gegen seinen Willen las er es sogar mehr als einmal.

Da er vor Frau Sonntag nicht auch noch aussprechen wollte, daß wenig los sei in seinem Geschäft, sagte er – und versuchte, es ein bißchen spöttisch zu intonieren Diese Anzeige präsentiert nur den kleinsten Teil meines Gesamtangebots. Das war die Zeile, die jedesmal, weiß in schwarz, im unteren Rahmen des Schatz-Inserats stand. Gottlieb ärgerte sich sofort über sich. Wenn er den zitierte, kapitulierte er vor dem. Andererseits konnte sich Frau Sonntag sicher nicht vorstellen, daß er vor einem Paul Schatz in einem anderen Stande als dem der Kapitulation verharren könne. Zwei Eigentumswohnungen in einem Wohnblock in Immenstaad und die verfallende Alt-Mühle mit Brennrecht und eigener Stromerzeugung – Konkurrenz konnte man das nicht nennen. Nächste Woche, Frau Sonntag . . . Sie wohnte nur ein paar Minuten von ihm weg, deshalb war es ihm peinlich, wenn sie Zeugin seiner Erfolglosigkeit wurde. Nächste Woche . . . Nein, laß es. Sie hatte das Inserat schon überflogen und fletschte wie immer ihre Zähne – bei ihr war das Lachen. Außer ihr war im Augenblick nichts in der Sonne in diesem Raum. Die im Nu entblößten Zähne blieben entblößt. Man sah ein bißchen Lippenkehrseite. Ein zweites Rot. Zwischen ihrem Hals und der Bluse oder ihrem Halsansatz und der Bluse oder ihrem Brustansatz und der Bluse, zwischen ihr und der Bluse war ein Raum, der war voll Licht. Gottlieb konnte nicht wegschauen. Es war, als sei er verloren. Schaute sie ihn an oder sein mageres Inserat? Schauten schon mehr Leute zu, wie er wie ein Elfjähriger etwas von einer Frau sehen wollte, was er nicht sehen durfte. Aber er mußte das sehen. Welch ein Licht, dieses Sommerlicht zwischen ihr und ihrer weißen Bluse. Sie stand nackt in diesem Licht, das zwischen ihr und ihrer Kleidung floß. Er zog seinen Blick ein, kramte in seiner Tasche. Auf Wiedersehen, Frau Sonntag. Auf Wiedersehen, Herr Dr. Zürn. Daß sie eine quieksende Stimme hatte, tröstete ihn nicht.

Er war nicht froh, als er wieder im Freien war. Er hatte mehr sehen wollen als den Anfang ihrer Brust. Möglichst viel hatte er möglichst lang sehen wollen. Und er war gleich fünfzig. Wenn er bloß schon unter dem Umhang des Friseurs säße. Unter dem Umhang des Friseurs war er nicht gleich fünfzig, sondern elf oder zwölf oder vierzehn. Er fand, daß das durch das Geburtsjahr bestimmte Alter mit dem wirklichen Alter einer Person fast nie übereinstimmte. Er wußte noch sehr genau, daß er sich, als er zwanzig war, überhaupt nicht als Zwanzigjähriger gefühlt hatte. Damals hatte er geglaubt, er sei viel älter. Und jetzt, da er gleich fünfzig war, fühlte er sich oft wie vierzehn oder fünfzehn. Durch Selbstbeobachtung und Beobachtung anderer war er zu der unbeweisbaren Ansicht gekommen, irgendwann erreiche jeder sein wesentliches Alter, das er dann bis zu seinem Tode beibehalte. Etwa seit er dem Jahrgang nach vierzig war, kam er sich immer häufiger vor wie einer, der noch nicht fünfzehn ist. Wenn er jemanden kennenlernte, fand er bald genug Anlaß, dessen wirkliches Alter unabhängig vom Geburtsjahrgang zu bestimmen. Seit er diese Altersbestimmungen betrieb – natürlich konnte er, wegen der völligen Unbeweisbarkeit seiner Feststellungen, mit keinem darüber sprechen -, sah er, daß die meisten Menschen viel jünger waren, als sie nach ihrem Geburtsjahrgang glauben mußten.

Er hatte schon sein Rad umgedreht, um es auf dem Trottoir bis zur Christophstraße zu schieben, als er sah, wie von der Christophstraße Frau Ruß auf die Hofstatt einbog. Er verließ das Trottoir, schwang sich auf das Rad und fuhr wie ein Auto um den Brunnen herum und bog wie ein Auto auf der anderen Seite des Brunnens in die Christophstraße ein. Seit Jahren wich er Frau Ruß aus. Gelang es ihm nicht, so hatte er eine Szene oder zumindest ein Schimpfwort zu gewärtigen. Er hatte ihr einen Bungalow vermittelt, im guten Glauben, der Erwerber komme in den Genuß der 7b-Abschreibung. Der Verkäufer hatte das ihm gegenüber behauptet. Nachträglich hatte sich herausgestellt, daß der Gesetzgeber zur Dämpfung der Konjunktur vom 1. Mai bis 1. November 1973 den Paragraphen 7b außer Kraft gesetzt hatte, und genau in dem Zeitraum war die Baugenehmigung für dieses Haus erteilt worden. Gottlieb hatte sich nicht auf den Verkäufer, Herrn Rilke, der gerade mit seinem Kunstgewerbeladen Die Truhe bankrott gemacht hatte, hinausreden wollen. Es war sein Fehler. Die ausgesetzte 7b-Abschreibung, mein Gott, sowas mußte man einfach parat haben. Herr Dr. Ruß, der als Zahnarzt an Abschreibungsmöglichkeiten interessiert sein mußte, grüßte ihn zwar nicht mehr, aber er pöbelte ihn nicht an. Frau Ruß dagegen schien ihn ihr und sein Leben lang laut über Straßen und Plätze weg mit Guten Tag Herr Immobilienschwindler verfolgen zu wollen. Oder würde sie nach acht Jahren, wenn die 40% der 7b-Abschreibung aufgezehrt waren, die Verfolgung einstellen? Besonders peinlich war es, daß Frau Ruß eine kleine, fast zwergenhafte Frau war, die an einem etwas zu großen Stock ging. Jeder mußte ihn für einen grauenhaften Kerl halten. Eine so kleine und wackere Frau übers Ohr zu hauen! Immer wenn er Frau Ruß sah, hätte er die Stadt, die ganze Gegend am liebsten für immer verlassen. Falls er den Alleinauftrag fürs Schwanenhaus bekam, konnte er Frau Ruß eine Entschädigung anbieten für die wegen der entgangenen 60 000 Mark Abschreibung angefallenen Steuern. Nein, nie! Anbrüllen sollte er diese Stockhexe. Jedesmal, wenn er sie sah und von Angst und Hitze befallen wurde, betete er in Gedanken das Hamburger OLG-Urteil vom 25. 6. 75 herunter: Ein Makler ist grundsätzlich nicht verpflichtet, ihm von seinem Auftraggeber gemachte Angaben nachzuprüfen. Er haftet daher für sie auch dann nicht, wenn er die Haftung für Fahrlässigkeit nicht durch Hinzufügung von »unverbindlich« in seinem Angebot ausgeschlossen hat. . . Den Text sollte Paul Schatz einmal veröffentlichen in seinem Samstagsinserat!

Gottlieb Zürn gelang es heute, Frau Ruß ungesehen zu entkommen. Als er schon auf die Tür seines Friseurs zuging, fiel ihm ein, daß er morgen zu Frau Reinhold mußte. Und frisch vom Friseur, sah er aus wie aus dem Wachsfigurenkabinett. Er radelte auf der Promenade zurück. Zu Dr. Enderles Zeiten waren am späten Mittwochvormittag immer drei oder vier Kollegen im Garten des Faulen Pelzes gesessen. Jetzt saß da meistens nur noch, wenn er überhaupt im Land war, Rudi W. Eitel. Er saß auch heute da. Unverkennbar starr. Nach hinten gelehnt. Einen Arm über der Stuhllehne. Den Kopf zurückgeworfen. Den Blick weit über die Promenierenden hinausgerichtet. Und mit ihm am Tisch, die Ellbogen tief in der Tischfläche, der Schaden-Maier, der seinen Architektenberuf nur noch als Schätzer und Gutachter ausübte und – gegen seinen Willen, wie er sagte – zum Spezialisten für die Fehler seiner Kollegen geworden war. Rudi W. Eitel fiel schon durch seine Kleidung auf. Heute leuchtete er rotbraun. Dazu ein violettes Hemd. Dazu eine maisgelbe Fliege mit schwarzem Gekröse; mindestens aus Mexiko. Dazu rotbraune Schuhe. Dazu Socken, maisgelb. Dazu ein breiter brauner Hut. Und umgehängt, eine Kamera. Gottlieb Zürn hatte den Eindruck, Rudi W. Eitels Bärtchen sei seit dem letzten Mal über Wilhelm II. hinaus in Richtung Salvador Dali entwickelt worden.

Sobald er den lächerlich weit hinausstarrenden Eitel und den tief in die Tischfläche hängenden Schaden-Maier gesehen hatte, wußte er, daß es sich nicht lohne, wegen Rudi W. Eitel und Schaden-Maier das Rad abzustellen, Platz zu nehmen, Zeit zu versäumen. Da hätte schon Jarl F. Kaltammer oder Paul Schatz sitzen müssen. Aber kurz stehenbleiben mußte er. Schaden-Maier meldete zu Eitels Kopf hinauf: Dr. Gottlieb Zürn bittet um Audienz, Signor. Soll antanzen, sagte Eitel, ohne seine Haltung zu lockern. Hast du gehört, Gottlieble, du darfst antanzen, rief der Schaden-Maier und rief gleich noch dem Fräulein zu, Gottlieb trinke auch den Bermatinger. Am hellen Vormittag, sagte Gottlieb. Ja, wo bleibt er denn, rief Eitel zu Schaden-Maier hin. Um Eitel nicht noch mehr Anlaß zu aufsehenerregenden Rufen zu geben, stellte Gottlieb das Rad an das niedere Mäuerchen und ging zu denen hin. Rudi W. Eitels Haltung lockerte sich nicht. Er reichte die Hand, als sollte Gottlieb sie küssen. Sein linkes Auge schaute ein wenig aus der Bahn. Kam der Ausdruck von Schnödigkeit und Surrealismus daher?

Gottlieb, sagte er gewissermaßen schnarrend, immer noch bei der Grund- und Bodentruppe, wa! Meister Schatz hat ja wieder einen schönen Hammer gefietschert im Blatt am Samstag. Jemand, der, wie ich, direkt aus La Jolla kommt, möchte da am liebsten die Birne schütteln. Aber schüttel ich die Birne? No. Schüttel ich nicht. Woisch, was ich schüttel? Rudi Weitel schüttelt das Bäumchen und herab fallen goldene Pfläumchen. So, ’etz woisch, was Rudi Weitel schüttelt, okay?! Und woisch, wo das Bäumchen schtoht? Z’California! Mei Real Estate Inc isch ein Hit, vaschtohsch. Soviel ka i ja gar it fresse, wie i kotza mecht, wenn i dem sein Volkshochschul-Special lies! Unverbaubarer Seeblick, wa! Immer noch, ein Läben lang, unverbaubarer Seeblick. Classified Ad, wa! Woisch, was ich in meine Classified Ads fietschere, ha?! CAMEL RACING AT THE DESERT FESTIVAL! DESERT GOLF CLASSIC! RETURN OF FLYING FISH! LAGUNA BEACH ART FESTIVAL! So wird die Immobilie in Southern California gewürzt. Ja, was glaubsch du denn, wen Franki Boy anruft, wenn er von Hollywood nach Palm Springs moven will? Seinen german friend Rudi! Aber jaa! Wer woiß denn actually die real safe places in Southern California, no store burglary, no shoplifting, no till-tap! Who has become known for his smashing preventive measures? Rudi Dabbelju Itell! Bezüglich your security arrangements, please feel free to call Rudi W. Eitel, your real estate agent. Unverbaubarer Seeblick, wa! Rudi Weitel hat in seinem Inserat andere Zückerlen. San Marino’s voting about 7:1 Republican. The John Birch Society maintains an office in San Marino. Das ist die absolute CSU-Mehrheit for ever! Koin Neger weit und breit, aber, weil’s einen Fortschritt gibt: Juden und Schwule schon, if they can afford to pay the dues. Und natürlich, jede Menge Mexikaner zum Schaffen: das mag die Immobilie! Aber unverbaubarer Seeblick? Sein erfolgreichstes Inserat war eins für ein La Jolla Showcase House, six bedrooms, seven baths, immaculate condition, aber jetzt kommt’s: das Quartier, wo’s liegt, hat eine höhere Scheidungsrate als Hollywood, und das steht drin in seinem Inserat! Er werde seine Agencia Immobiliaria in Las Palmas schließen, weil dort ja auch schon die Piffer das Sagen hätten. Dieser Kontinent hat die Motten. Darum sei er jetzt Mitglied der Broker’s Guild of Southern California! Aufnahmegebühr Dollar vierhundert. So ’etz bisch du dra, okay?! See your realtor!

Rudi W. Eitel konnte nur laut sprechen. Und dazu machte er scharf, jäh, blitzschnell Bewegungen. Er säbelte jeden Satz durch die Luft. Wenn er nicht sprach, erstarrte er sofort wieder. Man hatte nicht den Eindruck, er höre, was ein anderer sagte. Anfang Februar hatte ihn Gottlieb zum letzten Mal getroffen. Da war Rudi W. Eitel gerade von den Kanaren gekommen, hatte soviel Spanisch eingeflochten wie jetzt Amerikanisch und hatte gesagt, er möchte nur noch in Ländern leben, in denen es spanisch zugehe. Rudi W. Eitel war aus Biberach. Rudi war, seit er ihn kannte, gleich alt geblieben. In Gottliebs Einteilung war der neunzehn. Der Schaden-Maier war deutlich jünger. Mehr als sechzehn war der nicht und würde der, falls nicht Katastrophen es erzwängen, nie werden. Rudi W. Eitel rief ein-, zweimal im Jahr an. Meistens aus dem Ausland. Er sagte dann, er wolle nur wissen, wie das Wetter am Bodensee sei. Dann drehte er gleich auf volle Touren: Sein Real Estate-Schuppen habe eingeschlagen wie d’Sau. Er gehöre zu dem Kreis von Maklern, der aus Washington angeschrieben worden sei, dem Expräsidenten Ford, der sich in Südcalifornien niederlassen wolle, Angebote zu machen. Aber wenn man Eitel dann im Faulen Pelz oder im Rex traf und die Bedienung kam zum Kassieren, erstarrte er sofort bis zur vollkommenen Abwesenheit und rührte sich erst wieder, wenn man für ihn mitbezahlt hatte.

Plötzlich sagte er: Was fietschersch’n du grad?

Und bevor Gottlieb sagen konnte: Etwas Sagenhaftes . . . das Schwanenhaus in . . ., rief Rudi: Komm, sim’r luschtig, lasset uns bäten.

Das war ein Spiel, das sie öfter gespielt hatten in den vergangenen Jahren: die Aufführung des jeweils letzten Schatz-Inserats mit verteilten Stimmen.

Rudi rief: Der gute Makler bietet einen ganzen Strauß von Leistungen. Der Schaden-Maier richtete sich nicht auf, hob aber das runde weiße Trauergesicht und sagte so gestelzt als möglich: Wie sehen diese Leistungen nun aus? Rudi W. Eitel darauf, mit dem zierlich schwingenden Amateurcharme: Der Makler legt Ihnen die bunte Palette seines Angebots vor. Es genügte der Schatzsche Wichtigkeits- und Ernstanflug, und alle drei explodierten vor Lachen. Rudi W. Eitel rief, er würde es ja verstehen, wenn der Doktor juris Gottfried Zürn dem Publikum mit Seriositätsfetzen die Augen wischte – Ad majorem professionis gloriam, fügte der Schaden-Maier rasch ein –, aber doch nicht der Selbstausbilder Meister Paul, und eben das sei das einzige erlangbare Motiv: sein Nichtabitur! Nur seines Nichtabiturs wegen ernenne sich unser Tamerlan aus Temesvar andauernd zum Moses und schwenke Tabortäfelchen. Was soll’s, Kameraden, we agree, er lächert uns, okay? Der Schaden-Maier: Tamerlan stimmt nicht, Hindenburg stimmt, der Hindenburg aus Budweis ist er, heißt ja auch Paul Gottlieb sagte: Ganz genau genommen ist er ein Hindenburg, der sich für einen Bismarck hält. Stimmt, schrie Rudi, stimmt, der ehrliche Makler!Fräulein, zahlen, rief Gottlieb. Zahlen kann er, aber nicht gehen, rief Rudi W. Eitel. Oder ob Gottlieb auch ein solcher Piffer geworden sei wie Meister Paul und das Opportunismusgenie Jarl F. Kaltammer, der, frei nach Kennedy, in JFK-Immobilien umfunktioniert habe . . . Gottlieb sah, daß er nicht sofort wegkomme. Er hatte ja den Friseur ausfallen lassen. Er fing – um die Zeit nicht nur zu verlieren – vom Schwanenhaus an. Was würde Maier, ganz grob, für soundsoein Haus veranschlagen. Der Schaden-Maier ließ sich nichts erzählen über das Schwanenhaus. Herrgottnei, wenn er das nicht kennte, dann wäre er wohl den Butter auf'm Brot nicht wert. Also, das Schwanenhaus . . . Helmut, kneif die Gosche zu, rief Eitel. Tu jetzt bloß nicht deiner Schätzer-Allwissenheit zuliebe so, als ob du je was von einem Schwanenhaus gehört hettsch, Mensch! Ich schlag dich zusammen, wenn in unserem intimen Kreis jetzt auch hochgestapelt wird. Wir sind einander nah und verkehren miteinander demgemäß nur mit heruntergelassenen Hosen! s’ Gottlieble veranstaltet doch Scherze, so ein Schwanenhaus gibt’s nicht, und gäb’s es, wer hätt’s dann nicht? Unser Gottlieble. Weil’s nämlich der Bombenkollege Schatz hätte. Kaltammer hätt’s, rief der Schaden-Maier mit einer Stimme, die Gottlieb an Kinder erinnerte, die Soldaten nachmachen. Ob sie das denn vergessen hätten, daß der Kollege Kaltammer nicht immer mit Fischblick und starrem Oberkörper eine hassenswerte Partnerin auf Tanzwettbewerben getriezt habe, weil er schließlich – und’s sei auch kaum ein Jahrzehntchen her – nicht nur für die Abschaffung der Gesellschaftstänze, sondern der ganzen Gesellschaft gegiftet habe! Ob sie denn die Flugblättlein verdrängt hätten, die er sich mit Unibuben in Konstanz eronaniert habe, sagend, daß Makler Vampire seien und Architekten und Makler nichts als Erfüllungsgehilfen bei der Optimierung der Grundrente des Monopolkapitalisten?! Die ihrerseits, die Grundrente, habe als das eigentliche Geheimnis der Versteinerung des als Ware gehandelten Wohnungsbaus herhalten müssen! Und drum hat doch die Ideologie des Grundeigentums schuld sein müssen an einer Wirtschaftsweise, die auf Fertigung immobiler Werte und deren Individualisierung nach Parzellen ausgerichtet sei. Deshalb war zu fordern die Aufhebung des Privateigentums am Produktionsmittel Boden. Laut Marx plus Kaltammer habe Grundeigentum mit dem wirklichen Produktionsprozeß sowieso nichts zu schaffen. Also müsse zur Seligmachung der Menschheit nur noch ein Feuer angezündet werden: das, in dem die Grundbücher verbrannt werden . . .

Der Schaden-Maier konnte sich, wenn er auf Kaltammer zu sprechen kam – und nicht auf den zu sprechen zu kommen, war ihm unmöglich -, nicht mehr fassen. Beide hatten miteinander studiert und dann zusammen ein Büro gehabt. Kaltammer habe, laut Schaden-Maier, nur Ideen entwickelt, die ohne Ludwig XIV. nicht zu verwirklichen gewesen seien. Eben der reine Entwurfsmann, schon auf der Uni, Baustoffkunde I und II, weil unter dem seiner Würde, geschwänzt. Ihr kennt die Geschichte von Frank Lloyd Wright, dem ein Bauherr telegraphiert, Dach undicht, Regen hat schon einen Sessel, Louis-Seize, beschädigt, und Wright telegraphiert zurück: Move it. Das ist Kaltammer, dieselbe Ästhetenarroganz. Was ihn, Maier, nur wundere, sei, daß der sich nicht geniere! Vor ein paar Jährchen sind Architekten Erfüllungsgehilfen des Monopolkapitals und Makler Vampire, und jetzt ist er der geflutschteste Bursche im Geschäft, schmeißt den idealen Firmenverbund aus Makeln, Baubetreuen, Verkauf und Verwaltung. Gottlieb sagte, vielleicht geniere sich Kaltammer, das wisse man doch nicht. Richtig, rief Rudi W. Eitel, denken wir groß von Jarl F. Kaltammer, der Gesellschaftstanz ist seine Buße! Ja, schaut ihn doch an, wenn er den Pasodoble reißt, den Tango schändet, die blonde Spindel