Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte - Martin Walser - E-Book

Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte E-Book

Martin Walser

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Beschreibung

«Was, bitte, wäre ich lieber als ich? Alles andere als ich.» Das sagt Justus Mall, der früher einmal anders hieß. Oberregierungsrat war er, zuständig für Migration, aber dann kam der Tag, an dem er etwas Unbedachtes machte, und seitdem ist er Philosoph, zuständig für alles und nichts. Doch das ist nicht das einzige Dilemma seines Lebens. Tag und Nacht liegt er im Streit mit den Umständen, zu denen er es als Liebender hat kommen lassen. Ist es vielleicht leichter, keine Frau zu haben als nur eine? Er jedenfalls liebt zwei, und weil das nicht gehen kann, beginnt er, einen Blog zu schreiben – auf der Suche nach einem Menschen, der genau das ist, was ihm fehlt. Was für ein sagenhaftes Paradox: Ein Mann, für den Wirklichkeit ein Gespinst aus erfundenen Fäden ist, hofft, ausgerechnet in einem Weblog so etwas wie Nähe zu finden. Er richtet seine Selbstgespräche an eine unbekannte Geliebte und weiß doch, sie ist nicht mehr als eine Illusion. In früheren Romanen ließ Martin Walser noch Briefe und E-Mails hin und her gehen, in «Gar alles» gibt es das nicht mehr. Hier ruft einer ins Irgendwo, ist zurückgeworfen auf sich selbst, hat für das, was er empfindet, keinen Adressaten mehr. Ein völlig geklärt geschriebener Roman über lauter Ungeklärtes, ein in seiner existenziellen Dringlichkeit ungeheuerliches, überwältigendes Buch.

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Seitenzahl: 98

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Martin Walser

Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«Was, bitte, wäre ich lieber als ich? Alles andere als ich.»

Das sagt Justus Mall, der früher einmal anders hieß. Oberregierungsrat war er, zuständig für Migration, aber dann kam der Tag, an dem er etwas Unbedachtes machte, und seitdem ist er Philosoph, zuständig für alles und nichts. Doch das ist nicht das einzige Dilemma seines Lebens. Tag und Nacht liegt er im Streit mit den Umständen, zu denen er es als Liebender hat kommen lassen. Ist es vielleicht leichter, keine Frau zu haben als nur eine? Er jedenfalls liebt zwei, und weil das nicht gehen kann, beginnt er, einen Blog zu schreiben – auf der Suche nach einem Menschen, der genau das ist, was ihm fehlt.

Was für ein sagenhaftes Paradox: Ein Mann, für den Wirklichkeit ein Gespinst aus erfundenen Fäden ist, hofft, ausgerechnet in einem Weblog so etwas wie Nähe zu finden. Er richtet seine Selbstgespräche an eine unbekannte Geliebte und weiß doch, sie ist nicht mehr als eine Illusion. In früheren Romanen ließ Martin Walser noch Briefe und E-Mails hin und her gehen, in «Gar alles» gibt es das nicht mehr. Hier ruft einer ins Irgendwo, ist zurückgeworfen auf sich selbst, hat für das, was er empfindet, keinen Adressaten mehr. Ein völlig geklärt geschriebener Roman über lauter Ungeklärtes, ein in seiner existenziellen Dringlichkeit ungeheuerliches, überwältigendes Buch.

Vita

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schrifststeller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Frank Ortmann

Coverabbildung Umschlagabbildung: Rachelle Morvant/FOAP/Getty Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00158-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

30. Oktober 2016

Liebe unbekannte Geliebte,

ich bin nicht ich.

Ich ist ein Wort.

Ich bin doch kein Wort.

Ich bin lieber, was ich wäre, wenn ich nicht ich zu sein hätte.

Also was, bitte, wäre ich lieber als ich?

Alles andere als ich.

Liebe Unbekannte, abschreckender kann ich nicht anfangen. Ich will Sie für mich gewinnen, aber nicht durch Überredung, sondern dadurch, dass ich mich Ihnen darstelle. Aber darstellen will ich mich nicht als Wortjongleur, sondern als Mensch, als Person. Ich will mich Ihnen darstellen, bevor ich weiß, wer Sie sind. Also bevor ich mich Ihnen anpassen kann. Es hängt von Ihnen ab, mir zu antworten. Ich werde nicht aufhören, mich mitzuteilen. Ob ich Sie dadurch gewinne oder abschrecke, bedenke ich nicht. Es ist ein Abenteuer wie die Kolumbus-Fahrt. Der unbekannte Erdteil sind Sie.

Ich bin gespannt.

 

Ihr Absender

 

PS

Ich bin

nein noch nicht

eher nie

als schon bald.

2. November 2016

Liebe Unbekannte,

gerade erfahre ich von «meiner» Bank, dass ich nicht kreditwürdig sei, weil ich nicht über ein festes Einkommen verfüge. Obwohl ich Ihnen alles mitteilen möchte, merke ich, dass es nicht leicht ist, Ihnen alles mitzuteilen. Ich muss es üben. Es gibt bis jetzt noch keinen Menschen, dem ich alles sagen konnte. Das ist überhaupt der Grund für dieses Blog-Unternehmen. Ich suche restlose Nähe, vollkommene Nähe, rücksichtslose Nähe.

Also jetzt meine wirtschaftliche beziehungsweise bürgerliche Lage. Auf meiner Visitenkarte steht: Philosoph. Die Visitenkarte, auf der als Beruf Jurist vermerkt war, habe ich versenkt. Nachdem ich mich als Jurist unmöglich gemacht hatte, erlebte ich das Missgeschick auch als eine Erleichterung. Ein älteres Bedürfnis regte sich jetzt. Und was musste nicht alles geschehen, dass sich dieses Bedürfnis entwickeln konnte.

Einige Spürbarkeiten auf diesem Weg: Der Jura-Student in Gießen heiratet (später) die Lehramtsstudentin Gerda Lobschütz, gebürtig aus Limburg an der Lahn. Sie ist eine leidenschaftliche Verfechterin des ebenso prominenten wie damals umstrittenen Philosophen Odo Marquard. Der lehrt in Gießen seinen Beitrag zur Kompensationstheorie. Darüber wird dort Tag und Nacht diskutiert. Man kann nur dafür oder dagegen sein. Der Jurist ahnt, dass es mehr gibt als Jura. Er sitzt natürlich mit Gerda Lobschütz im überfüllten Hörsaal. Und bleibt, als Jurist, der Leser dieses Philosophen, der später einmal halb ironisch hat wissen lassen, dass er am liebsten Privatdozent geworden und geblieben wäre. Aber dann eben die Professur! Erst seit seiner Pensionierung sei er, was er immer hätte bleiben wollen: Privatdozent. Immerhin war er fest angestellt. Also kreditwürdig. Ich bin weder Privatdozent noch Professor. Und doch Philosoph. Das heißt zum Glück alles und nichts.

Ich habe mitgekriegt, dass jeder Philosophieprofessor andauernd publizieren muss, um so seine Konkurrenten zu zwingen, ihn zu lesen, bevor er sie lesen muss. Sie können nicht schreiben, wenn sie nicht alles, was die anderen schreiben, gelesen haben. Einmal setzte ich mich in einem Lokal, in dem sich Philosophen trafen, so, dass ich hören konnte, was sie redeten. Sie erzählten einander tatsächlich Witze. Das beruhigte mich. Der, der am lautesten sprach, sagte, dass Golo Mann ihm von einem ungarischen Kollegen erzählt habe, der habe seiner Frau Plein Pissoir gegeben. Das ist doch wirklich beruhigend.

Gelegentlich, zum Beispiel wenn ich mich angegriffen fühle, erinnere ich die öffentliche Ignoranz daran, dass der junge Nietzsche geschrieben hat, ein Philosoph könne kein Professor sein. Begründung: Er könne nicht jeden Mittwoch vor Studenten auftreten und denen vorlesen, was er eine Woche vorher geschrieben habe. Ein Philosoph müsse in jedem Augenblick bereit sein, dem Genius der Sprache zu folgen.

Daran liegt mir schon. Sich ausdrücken! Mehr kann damit nicht gemeint sein.

Noch zur Person: Die Visitenkarte, auf der ich Philosoph bin, ist meine neue Visitenkarte. Früher stand da als Beruf: Jurist. Den habe ich gelernt. Wie es dazu kam, dass ich dann kein Jurist mehr sein konnte, muss ich Ihnen noch sagen, aber nicht gleich.

Jetzt also Philosoph. Diese jeder Banalisierung fügsame Berufsbezeichnung tut mir gut. Jeder, dem nicht in jedem Augenblick einfällt, welcher Wochentag gerade dran ist, darf sich Philosoph nennen. Also ich auch. Ich weiß tatsächlich nicht immer, ob gerade Mittwoch oder Donnerstag ist.

Was Sie interessieren kann: kein festes Einkommen. Und trotzdem nicht arm. Und trotzdem nicht reich. Ich lebe gut, solang mir etwas einfällt, was nicht jedem einfällt. Ich darf befürchten, dass ich manchmal Angst habe, mir werde nichts mehr einfallen, was ich verkaufen kann. Zwei eher dünne Bücher von mir geben genauere Auskunft über mich als Philosophen: «Die Lüge als Mutter der Wahrheit» und «Der Irrtum als Erkenntnisquelle».

Dass ich zuerst Beamter werden musste, um dann Philosoph zu werden, dass ich, im Hessischen geboren, nach München tendierte und nicht nach Berlin, das sagt mir über mich mehr, als ich wissen will. An Heidegger hat mir immer gefallen, dass er ablehnte, nach Berlin berufen zu werden. Hegel hat sich nach Berlin berufen lassen. Dass konservative Kreise nach seinem Tod posthum ein Verfahren wegen Hochverrats gegen ihn einleiteten, geschieht ihm recht. Aber auch Schiller plante noch kurz vor seinem Tod einen Umzug nach Berlin. Ich also nach München. Und mutlos genug, Beamter zu werden. Dann aber doch die innerste Notwendigkeit: Philosophie.

Jetzt die Fakten: Sie kennen vielleicht den Namen Dolf Paul Alt. Vielleicht haben Sie sogar eine der zahllosen Anthologien, die er produziert hat, gekauft und gelesen. Vielleicht ist er Ihnen schon durch einen seiner ebenso zahllosen Artikel aufgefallen. Von Zürich bis Hamburg kein Blatt, das ihn nicht als Kritiker beschäftigt. Als solcher unterzeichnet er immer nur mit den Initialen DPA. Oder auch l-l-l. Nur die zahllosen Anthologien gibt er als Dolf Paul Alt heraus. Mich begleitet er, seit ich Aufsätze und Bücher veröffentliche. Also seit ich Philosoph bin. Und er hat noch nie etwas, was ich geschrieben habe, gut finden können. So gilt er also im Medienbetrieb als der für mich zuständige Fachmann. Er wirft mir immer vor, dass ich nirgends unterzubringen sei. Keiner der gängigen Einteilungsbegriffe der Philosophie sei brauchbar für mich. Mal bin ich ihm zu soziologisch, mal zu existenzialistisch. Politisch unseriös beziehungsweise nicht ernst zu nehmen. Na ja, neulich sagte einer meinesgleichen: Man kann Kritiker nicht schlechterdings dumm nennen, sie verreißen ja auch Kollegen. So geht das zu bei uns.

Ich spüre, dass ich dabei bin, mich Ihnen aufzudrängen, darum höre ich jetzt auf.

 

Ihr Philosoph

 

PS

In dem einen Buch steht als erster Satz (und daraus wurde dann das Buch): Jede Wahrheit hat das Zeug zur Lüge. Und: Lügen sind Irrtümer, die man absichtlich begeht.

4. November 2016

Liebe Unbekannte,

mein Name ist (jetzt) Justus Mall. Ich schreibe Ihnen in der Hoffnung, dass es Sie gebe. Damit Sie gleich aufhören können, weiterzulesen, teile ich mit: Ich bin verheiratet, habe eine Tochter (oder hatte eine, davon später), und ich habe eine Freundin, die der bürgerliche Sprachgebrauch Geliebte nennt.

Dass ich Tag und Nacht im Streit liege mit den Umständen, zu denen ich es habe kommen lassen, ist der Grund meines Briefes an Sie. Bis jetzt kann ich nirgends mit Verständnis rechnen. Darum dieser Brief ins Irgendwo. Falls es niemanden gibt, der mich versteht, also mein Handeln billigt, dann weiß ich Bescheid. Vielleicht führt mein Brief an Sie, Frau Unbekannt, dazu, dass ich einsehe, wie unverständlich ich bin. Dann weiß ich, dass ich mich nicht ohne Grund einsam fühle: Wenn dir niemand mehr zustimmt, bist du allein. Sie sind in mir als Wunsch-Adresse entstanden, nicht allein zu sein. Dazu muss ich Ihnen alles mitteilen, was es über mich mitzuteilen gibt.

Ich kann allerdings nicht andauernd an Sie schreiben, ohne eine Vorstellung von Ihnen zu haben. Wenigstens einen Namen möchte ich Ihnen geben. Dass ich dann an Anna denken kann oder an Anita oder Asta oder Angela oder Alexandra … Denn noch ist, was ich erwarte, brauche, wünsche, nicht vorstellbar ohne die Illusion, es gebe einen Menschen, der mich nicht verurteilen muss. Die moralischen und sonstigen Sprachvorräte, die gegen mich sprechen, kenne ich.

Sie, liebe Unbekannte, seien, hoffe ich, so lebendig, so unabhängig, so stark, so neugierig, dass Sie sich zutrauen können, mich nicht nur zu ertragen, sondern mit mir das zu genießen, was das Leben sein kann, wenn man es sein lässt, was es sein will.

So viel für heute.

Ihr

 

Justus Mall

 

PS

Pflicht

Täglich

sich

aus der Schwere

hocharbeiten

Scheinbewegungen probieren

bis sie aussehen wie wirkliche.

10. November 2016

Liebe unbekannte Geliebte,

ein bedeutender Mensch, eine Frau, hat mir gestern scheußlich genau erklärt, dass mir Haltung fehle. Ich sage das weiter, weil ich nur auf jemanden rechnen kann, dem es nichts ausmacht, wenn mir Haltung fehlt. Es wäre sinnlos, jetzt rumzukramen mit Wörtern oder Argumenten, um mich zu verteidigen.

Klar ist: Haltung, egal, was es konkret heißen soll, ist verlangbar. Ich könnte erinnern an Himmler, der von seinen SS-Schergen Haltung verlangte bei dem, was sie zu tun hatten. Also, Haltung ist unter allen Umständen verlangbar. Und ich gebe zu, ich weiß nicht einmal, was das ist, Haltung. Ich weiß jetzt nur, dass sie mir fehlt. Kein Wunder, dass ich nicht weiß, was das ist, Haltung. Wenn nicht eine zurechnungsfähige Frau mir erklärt hätte, dass mir Haltung fehle, dann wüsste ich davon nichts.

Wenn Sie, liebe Unbekannte, mich haltungslos nicht ertragen können, kommen wir für einander nicht in Frage.

Ihr

 

Justus Mall

 

PS

Steckbrief

Leibarzt der Verlorenheit

Kenner des Schnees

Freund des Fehlens

Ausbund des Nichts

Licht erreicht mich nicht

mich gürtet der Schmerz

gegen Heil bin ich dicht.

21. November 2016

Liebe Unbekannte,