Das Schwert des Liktors - Gene Wolfe - E-Book

Das Schwert des Liktors E-Book

Gene Wolfe

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Beschreibung

Eine gefährliche Suche

Severian, der junge Henker, ist endlich in Thrax angekommen und nimmt seinen Posten als Liktor, als oberster Vollstrecker des Gesetzes, ein. Er bezieht seine Wohnung im Gefängnis, und mit ihm seine Lebensgefährtin Dorcas, die er auf der langen und abenteuerlichen Reise nach Thrax kennenlernte. Doch sie hält es in der erdrückenden Atmosphäre nicht lange aus und verlässt ihn, und auch Severian macht sich bald erneut auf den Weg, denn nach wie vor ist er im Besitz der Klaue des Schlichters, dessen wahre Besitzer er in den Bergen zu finden hofft. Mystische Kreaturen sollen es sein, die nicht menschlich sind …

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Seitenzahl: 496

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GENE WOLFE

DAS SCHWERT DES LIKTORS

Das Buch der Neuen Sonne

DRITTERBAND

INHALT

Zitat

Karte von Nessus

I. Meister im Haus der Ketten

II. Auf dem Katarakt

III. Vor der Hütte

IV. Im Turm der Vincula

V. Cyriaca

VI. Die Bibliothek der Zitadelle

VII. Attraktionen

VIII. Auf dem Kliff

IX. Der Salamander

X. Blei

XI. Die Hand der Vergangenheit

XII. Dem Strom entlang

XIII. In die Berge

XIV. Das Haus der Witwe

XV. Er ist dir voraus!

XVI. Der Alzabo

XVII. Das Schwert des Liktors

XVIII. Severian und Severian

XIX. Die Geschichte vom Knaben namens Frosch

XX. Der Kreis der Zauberer

XXI. Das magische Duell

XXII. Am Saum des Berges

XXIII. Die verwunschene Stadt

XXIV. Der Leichnam

XXV. Typhon und Piaton

XXVI. Die Augen der Welt

XXVII. Auf hohen Pfaden

XXVIII. Das Mahl des Hetmans

XXIX. Das Boot des Hetmans

XXX. Natrium

XXXI. Die Leute vom See

XXXII. Zur Burg

XXXIII. Ossipago, Barbatus und Famulimus

XXXIV. Masken

XXXV. Das Signal

XXXVI. Der Kampf im Burghof

XXXVII. Terminus Est

XXXVIII. Die Klaue

ANHANG

In der Ferne verschwinden die Wälle aus Menschenhäuptern.

Ich vergehe – scheide nun unbemerkt.

Aber in stimmungsvollen Büchern, in Kinderreimen

Werd' ich von den Toten auferstehn und sagen: die Sonne!

OSIP M

I. Meister im Haus der Ketten

»Es war in meinem Haar, Severian«, sagte Dorcas. »Also stellte ich mich unter den Wasserfall im heißen Raum aus Stein. Und jedes Mal, wenn ich wieder heraustrat, konnte ich hören, dass man über mich redete. Und dich nannte man den schwarzen Schlachter und andere Dinge, die ich nicht wiederholen möchte.«

»Das ist ganz normal«, entgegnete ich. »Du bist bestimmt seit Monaten die erste Fremde, die diesen Ort betreten hat, also ist es nur zu erwarten, dass man über dich redet und dass die wenigen Frauen, die dich kennen, stolz ihre Geschichten erzählen. Was mich angeht, so bin ich daran gewöhnt, und du wirst auf dem Weg hierher gar oft solche Namen gehört haben; ich hab' sie zu Ohren bekommen.«

»Ja«, räumte sie ein und setzte sich auf das Fensterbrett der Laibung. In der Stadt darunter erfüllten die Lichter der dicht gedrängten Läden das Tal des Acis allmählich mit einem narzissengelben Schein, aber Dorcas schien nicht darauf zu achten.

»Nun leuchtet dir ein, warum die Regeln der Zunft mir versagen, ein Weib zu nehmen – auch wenn ich sie deinetwegen missachten werde, wie ich dir oft gesagt habe, wann immer du willst.«

»Du meinst, es wäre besser, wenn ich irgendwo anders lebte und du mich ein- oder zweimal wöchentlich besuchtest oder ich wartete, bis du zu mir kämst.«

»So wird's für gewöhnlich gehandhabt. Und schließlich merken die Frauen, die heut' über uns geredet haben, dass eines Tages sie selbst oder ihre Söhne oder Gatten sich unter meiner Hand wiederfinden mögen.«

»Siehst du denn nicht, dass es darum gar nicht geht? Es ist …« – Dorcas verstummte, und nach längerem Schweigen erhob sie sich und schritt mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. Das hatte sie noch nie getan, und es beunruhigte mich.

»Worum geht es dann?«, fragte ich.

»Dass es damals nicht gestimmt hat, jetzt aber schon.«

»Ich praktizierte die Kunst, wann immer es Arbeit für mich gab. Verdingte mich an Städte und Landgerichte. Mehrmals sahst du von einem Fenster aus zu, obwohl du nie unter der Menge stehen wolltest – was ich dir kaum verübeln kann.«

»Ich sah nicht zu. Nicht beim eigentlichen Akt. Du warst so eifrig mit deinem Werk beschäftigt, dass du nicht bemerktest, wenn ich hineinging oder mir die Augen bedeckte. Ich habe immer zugeschaut, wie du aufs Schafott gesprungen bist, und dir gewinkt. Du hast so stolz gewirkt und so gerade gestanden wie dein Schwert und ein so schönes Bild abgegeben. Du bist ehrlich gewesen. Ich erinnere mich, wie einmal neben dem Verurteilten und einem Hieromonachus irgendein Beamter mit oben gewesen ist. Dein Gesicht ist das einzige ehrliche gewesen.«

»Das konntest du unmöglich gesehen haben. Gewiss hatte ich die Maske auf.«

»Severian, ich brauchte es nicht zu sehen. Ich weiß, wie du aussiehst.«

»Seh' ich jetzt nicht genauso aus?«

»Ja«, meinte sie schweren Herzens. »Aber ich bin unten gewesen. Ich hab' sie gesehn, die Leute in Ketten in den Stollen. Wenn wir, du und ich, nachts in unserem weichen Bett liegen, schlafen wir direkt über ihnen. Wie viele sind's, hast du gesagt, als du mich runtergeführt hast?«

»Ungefähr sechzehnhundert. Glaubst du denn allen Ernstes, diese sechzehnhundert wären frei, wenn ich als ihr Wächter nicht mehr da wäre? Wohlgemerkt sind sie schon dagewesen, als wir gekommen sind.«

Dorcas mied meinen Blick. »Wie ein Massengrab«, entgegnete sie. Ich bemerkte, dass ihre Schultern bebten.

»Soll's ja sein«, erklärte ich ihr. »Der Archon könnte sie auf freien Fuß setzen, aber wer könnte jene wiederauferstehen lassen, die sie umgebracht haben? Du hast noch nie jemand verloren, nicht wahr?«

Sie gab keine Antwort.

»Frag die Frauen und Mütter und Schwestern der Männer, die diese Gefangenen im Hochland unter die Erde gebracht haben, ob Abdiesus sie aus dem Kerker entlassen solle.«

»Nur mich selbst«, sagte Dorcas und blies die Kerze aus.

Thrax ist wie ein ins Herz der Berge eindringender Säbel. Es liegt in einem Engpass des Acis-Tales und reicht hinauf bis zur Burg Acies. Die Arena, das Pantheon und die übrigen öffentlichen Bauten bedecken die ganze Ebene zwischen der Burg und der Mauer (›Capulus‹ genannt), welche das untere Ende des schmalen Tals abgrenzt. Die Privathäuser der Stadt bekleiden die Hänge zu beiden Seiten, und viele sind großzügig in den Fels gehauen, wovon Thrax einen seiner Beinamen ableitet – die Stadt der fensterlosen Zimmer.

Seinen Reichtum verdankt es der Lage am Scheitel des schiffbaren Teils des Flusses. Zu Thrax müssen alle Güter, die auf dem Acis nach Norden transportiert worden sind (wovon viele neun Zehntel des Gyoll befahren haben, bevor sie zur Mündung des kleineren Flusses, der vielleicht wirklichen Quelle des Gyolls, gelangt sind), auf Packtiere verladen werden, soll die Reise weiter gehen. Umgekehrt lassen die Hetmans der Gebirgsstämme und die Grundbesitzer der Gegend ihre Wolle und ihr Korn zu Thrax unterhalb der Wasserfälle, die sich in den überwölbten Abflusskanal von Burg Acies ergießen, verschiffen.

Wie immer, wenn eine Festung in einer turbulenten Region für Recht und Ordnung sorgen muss, so war auch für den Archon von Thrax die Rechtspflege ein Hauptanliegen. Zur Durchsetzung seines Willens außerhalb der Mauern, wo man sich nur ungern einer Obrigkeit beugte, konnte er auf sieben Dimarchi-Schwadronen unter jeweils eigenem Kommando zurückgreifen. Das Gericht tagte monatlich, vom ersten Neumond bis zum Vollmond gerechnet, begann mit der zweiten Morgenwache und endete erst, wenn alle anhängigen Fälle erledigt waren. Als oberster Vollstrecker der Urteile hatte ich diesen Sitzungen beizuwohnen, auf dass der Autarch die Gewissheit habe, die erlassenen Strafen würden durch solche, die sie mir andernfalls hätten übermitteln müssen, weder gemildert noch verstärkt; gleichfalls oblag mir in allen Einzelheiten die Leitung der Vincula, worin die Gefangenen einsaßen. Meine Verantwortung entsprach auf einer geringeren Stufe der des Meister Gurloes in unserer Zitadelle, und in meinen ersten Wochen zu Thrax lastete sie schwer auf mir.

Es war ein Grundsatz von Meister Gurloes, dass kein Gefängnis ideal gelegen sei. Wie die meisten der klugen Lebensregeln zur Erbauung der Jugend, war sie unwiderlegbar und nutzlos. Alle Ausbrüche fallen unter drei Kategorien – das heißt, sie werden entweder heimlich, durch offene Gewalt oder durch Verrat des Wachpersonals bewerkstelligt. Ein abgelegener Ort hilft sehr, heimliche Ausbrüche zu erschweren, und wird deshalb von den meisten, die sich darüber lange Gedanken machen, bevorzugt.

Unglücklicherweise bieten Wüsten, Berggipfel und einsame Inseln ein höchst fruchtbares Betätigungsfeld für gewaltsame Ausbrüche – werden sie von den Freunden der Gefangenen belagert, ist es schwer, das in Erfahrung zu bringen, ehe es zu spät ist, und beinahe unmöglich, die Besatzung zu verstärken; und wenn die Gefangenen sich erheben, ist es gleichfalls höchst unwahrscheinlich, dass man rasch Truppen zusammenziehen kann, bevor die Sache entschieden ist.

Eine Anstalt in einer dichtbesiedelten und wehrhaften Region schaltet diese ungünstigen Umstände aus, bedingt aber noch größere Nachteile. An einem solchen Ort braucht ein Gefangener nicht tausend Freunde, sondern einen oder zwei; und diese müssen keine Krieger sein – es genügt schon eine Putzfrau oder ein Straßenhändler, wenn sie schlau und entschlossen vorgehen. Des weiteren taucht der Gefangene, ist ihm die Flucht erst gelungen, sofort in der anonymen Masse unter, so dass seine Wiederergreifung keine Sache für Jäger und Hunde, sondern für Spitzel und Informanten ist.

In unserem Fall wäre ein abgelegenes Gefängnis in einer unwegsamen Gegend nicht in Frage gekommen. Selbst wenn es zusätzlich zu den Wächtern mit einer genügend starken Truppe ausgestattet gewesen wäre, um sich der umherstreifenden Autochthonen, Zoanthropen und Cultellarii (von den stets unberechenbaren kleinen Beglückten ganz zu schweigen) zu erwehren, wäre die Versorgung ohne ein stehendes Heer als Geleit für die Nachschublieferungen unmöglich gewesen. Die Vincula von Thrax befinden sich deshalb notgedrungen innerhalb der Stadt – genauer gesagt etwa auf halber Höhe der Steilhänge am Westufer und ungefähr eine halbe Meile vom Capulus entfernt.

Es ist ein uraltes Gebäude, das meiner Meinung nach von Anfang an als Gefängnis gedacht gewesen ist, obwohl die Sage geht, es sei einmal eine Grabesstätte gewesen und erst vor ein paar Jahrhunderten erweitert und für seine neue Bestimmung umgestaltet worden. Einem Beobachter auf dem geräumigeren Ostufer erscheint es als ein aus dem Fels ragender, rechteckiger Turm mit vier Stockwerken an der Seite, die er sieht, und einem flachen, zinnenbewehrten Dach, das am Steilhang endet. Dieser sichtbare Teil des Bauwerks – den bestimmt viele Besucher der Stadt für das ganze Gebäude halten – ist in Wirklichkeit der kleinste und unwichtigste Teil. Zu der Zeit, in der ich Liktor war, beherbergte er lediglich unsere Schreibstuben, die Unterkünfte der Wärter und meine eigene Wohnung.

Die Gefangenen waren in einem schrägen, in den Fels getriebenen Stollen untergebracht. Es waren weder Einzelzellen wie in unserer Oubliette daheim noch ein Gemeinschaftsraum eingerichtet, wie ich ihn im Haus Absolut erlebt hatte, als ich mich selbst in Haft befand. Vielmehr waren die Gefangenen entlang der Stollenwände an kräftigen eisernen Halsbändern angekettet, und zwar so, dass in der Mitte genügend Freiraum blieb, damit zwei Wärter Seite an Seite hindurchgehen könnten, ohne befürchten zu müssen, es würden ihnen die Schlüssel entrissen.

Dieser Stollen war an die fünfhundert Schritt lang und bot für über tausend Gefangene Platz. Er wurde durch eine in den Felsgrat gelassene Zisterne mit Wasser versorgt, und die sanitären Abfälle wurden beseitigt, indem man den Stollen ausspülte, sobald die Zisterne überzulaufen drohte. Ein in das untere Stollenende gebohrter Abfluss führte das Abwasser über einen Kanal am Fuße des Hangs durch den Capulus unterhalb der Stadt in den Acis.

Der aus dem Fels ragende viereckige Turm und der eigentliche Stollen bildeten einst wohl die gesamten Vincula. Nach und nach wurde die Anlage durch ein Gewirr aus langen Gängen und parallelen Stollen immer verzweigter, denn bei früheren Befreiungsversuchen wurden von dem einen oder anderen Privathaus im Hang Tunnel in den Fels getrieben und wiederum Gegenminen angelegt, um solche Bemühungen zu vereiteln – wovon allesamt nun als zusätzliche Unterbringungsmöglichkeit in Gebrauch waren.

Diese ungeplanten oder schlecht geplanten Erweiterungen machten meine Aufgabe ungleich schwieriger, und eine meiner ersten Amtshandlungen war die Einleitung der Verschließung unerwünschter und überflüssiger Korridore durch ein Gemisch aus Feldsteinen, Sand, Wasser, gebranntem Kalk und Kies und der Beginn des Ausbaus und Zusammenschlusses offen gebliebener Gänge, um schließlich eine vernünftige Struktur zu erhalten. Diese Arbeit, so notwendig sie auch war, ließ sich nur schleppend voranbringen, denn es konnten nur ein paar hundert Gefangene gleichzeitig dafür abgekettet werden, und ihre Verfassung war meist sehr dürftig.

In den ersten Wochen nach unserer Ankunft in der Stadt ließ mir mein Amt für nichts anderes Zeit. Dorcas erkundete sie für uns beide und war ausdrücklich damit betraut, für mich nach den Pelerinen zu forschen. Auf der langen Reise von Nessus war mir das Wissen, im Besitz der Klaue des Schlichters zu sein, eine schwere Bürde gewesen. Nun, da ich nicht mehr auf Wanderschaft war und keine Möglichkeit hatte, die Pelerinen unterwegs ausfindig zu machen, und mich nicht einmal damit trösten konnte, in eine Richtung zu ziehen, die mich zuletzt vielleicht zu ihnen führte, wurde es zu einer schier unerträglichen Last. Unterwegs hatte ich unter den Sternen geschlafen und das Juwel in meinem Stiefelschaft verwahrt oder in der Kappe meines Schuhs verborgen, falls wir – selten genug – unter einem Dach einkehren konnten. Nun stellte ich fest, dass ich überhaupt nicht schlafen konnte, wenn ich es nicht bei mir hatte, um mich beim nächtlichen Erwachen vergewissern zu können, dass ich noch in seinem Besitz war. Dorcas nähte mir ein rehledernes Säckchen dafür, das ich Tag und Nacht um meinen Hals trug. Ein dutzend Mal träumte ich in diesen ersten Wochen, das Juwel leuchten und wie seine brennende Kathedrale in der Luft schweben zu sehen, und bemerkte, als ich erwachte, dass es durch das dünne Leder schimmerte, so hell strahlte es. Ein- oder zweimal erwachte ich nachts und stellte fest, dass ich auf dem Rücken lag und das Säckchen auf meiner Brust offenbar so schwer geworden war (obschon ich es mühelos mit der Hand heben konnte), dass es mich erdrückte.

Dorcas tat alles in ihrer Macht Stehende, um mich zu trösten und mir zu helfen; dennoch entging mir nicht, dass sie sich des jähen Wandels in unserer Beziehung bewusst war und noch mehr als ich darunter litt. Solche Veränderungen sind meiner Erfahrung nach immer unangenehm – und sei's nur deshalb, weil sie weitere Veränderungen nahelegen. Als wir unterwegs waren (und wir waren mehr oder minder schnell unterwegs seit jenem Moment im Garten des Endlosen Schlafes, als ich, halb ertrunken, von ihr auf den schwabbeligen Riedsteg gezerrt worden war), stellten wir ebenbürtige Gefährten dar; ein jeder ging die zurückgelegten Meilen auf eigenen Füßen oder ritt auf dem eigenen Tier. Hatte ich ihr leiblichen Schutz geboten, so hatte sie mir irgendwo moralische Unterstützung gewährt, denn nur wenige konnten auf Dauer vorgeben, ihre unschuldige Schönheit zu verachten, oder ob meines Amtes Entsetzen empfinden, wenn sie, mich beäugend, unweigerlich auch sie betrachten mussten. Sie war mir in Schwierigkeiten Berater und an hundert einsamen Orten Kamerad gewesen.

Als wir schließlich nach Thrax gelangten und ich dem Archon Meister Palaemons Brief vorlegte, wurde all dem notgedrungen ein Ende gesetzt. In meiner rußschwarzen Tracht hatte ich die Menge nicht mehr zu fürchten, denn nun fürchtete sie mich als den höchsten Vollstrecker des verhassten Arms des Gesetzes. Dorcas lebte nun – nicht als Ebenbürtige, sondern als Buhlin, wie die Sibylle sie einst genannt hatte, in der Wohnung, die mir in den Vincula bereitgestellt worden war. Ihr Rat wurde überflüssig oder fast überflüssig, denn die Schwierigkeiten, die mir zu schaffen machten, waren rechtlicher oder verwaltungsmäßiger Art, auf die ich jahrelang vorbereitet worden war und wovon sie nichts verstand; außerdem hatte ich selten die Zeit oder Kraft, sie ihr zu erläutern, auf dass wir sie besprechen könnten.

Während ich also Wache um Wache im Gericht des Archons stand, machte sie es sich zur Gewohnheit, durch die Stadt zu streifen, und wir, die wir den ganzen letzten Teil des Frühlings zusammen gewesen waren, sahen uns jetzt im Sommer kaum mehr, bis auf das gemeinsame Nachtessen, woraufhin wir erschöpft aufs Bett sanken, wo wir selten mehr taten, als in den Armen des anderen in Schlaf zu fallen.

Schließlich schien der Vollmond vom Himmel. Mit welcher Freude betrachtete ich ihn vom Dach des Turmes aus, grün wie Smaragd unter seinem dichten Waldmantel und rund wie der Rand einer Tasse! Ich war noch nicht frei, denn die einzelnen Folterungen und Verwaltungsarbeiten, die sich seit meinem Dienstantritt angehäuft hatten, harrten der Erledigung; immerhin war ich aber nun frei, mich ihnen mit ganzer Aufmerksamkeit zu widmen, was mir so famos wie die Freiheit selbst vorkam. Ich hatte Dorcas eingeladen, mich am nächsten Tag bei meinem Inspektionsgang durch die unterirdischen Teile der Vincula zu begleiten.

II. Auf dem Katarakt

Am nächsten Morgen schnitt sich Dorcas, ehe sie den Turm verließ, das Haar, bis sie fast wie ein Knabe aussah, und steckte eine weiße Pfingstrose durch den Reif, der es zusammenhielt. Ich saß bis zum späten Nachmittag über verschiedenen Schriftstücken, borgte mir dann einen zivilen Burnus vom Sergeanten meiner Wärter und begab mich mit der Hoffnung, ihr zu begegnen, in die Stadt.

Im braunen Buch, das ich bei mir trage, wird gesagt, nichts sei so sonderbar wie die Erkundung einer Stadt, die sich von allen bekannten völlig unterscheidet, denn dabei erkunde man ein zweites, ungeahntes Selbst. Noch sonderbarer dünkt mich die Erkundung einer solchen Stadt, wenn man eine Weile in ihr gelebt hat, ohne etwas von ihr zu sehen.

Ich wusste nicht, wo sich die Badeanstalt, die Dorcas erwähnt hatte, befand, obschon ich anhand von Gesprächen, die ich im Gerichtshof gehört hatte, vermutete, dass es eine solche Einrichtung gab. Ich wusste nicht, wo der Basar lag, in dem sie ihre Kleider und Schönheitsmittel gekauft hatte, oder ob es mehr als einen gab. Ich kannte, kurz gesagt, nur das, was ich von den Zinnen und auf dem kurzen Weg von den Vincula zum Palast des Archons sehen konnte. Ich war vielleicht allzu zuversichtlich, mich in einer so viel kleineren Stadt als Nessus zurechtfinden zu können; dennoch versäumte ich es vorsichtshalber nicht, mich hin und wieder bei meinem Gang durch die krummen Gassen, die sich zwischen den höhlenartig in den Fels getriebenen und schwalbennestartig aufgesetzten Behausungen über den Abhang schlängelten, zu vergewissern, dass ich den vertrauten Turm mit seinem verbarrikadierten Tor und schwarzen Banner noch sehen konnte.

In Nessus wohnen die Reichen im nördlichen Teil, wo das Wasser des Gyolls reiner ist, und die Armen im südlichen, wo es verschmutzt ist. Hier in Thrax war dieser Brauch unnütz, denn der Acis floss so schnell, dass die Exkremente von denjenigen weiter flussaufwärts (die natürlich nur ein Tausendstel der Einwohner an den nördlichen Gyollufern ausmachten) den Strom kaum trüben konnten und das Wasser von oberhalb des Katarakts zudem über Aquädukte in die öffentlichen Brunnen und Häuser der Wohlhabenden geleitet wurde, so dass man vom Fluss unabhängig war, wenn man nicht – wie in Manufakturen und Wäschereien – auf große Mengen angewiesen war.

In Thrax vollzog sich die Trennung also durch die Höhe der Lage. Die Reichsten wohnten in den flachen Hängen unmittelbar am Fluss in nächster Nähe der Läden und Ämter, wo sie ein kurzer Fußmarsch zu den Anlegestellen brachte, von denen aus sie auf von Sklaven geruderten Kaiks in der Stadt auf und ab fahren konnten. Die weniger Bemittelten lebten etwas höher, und die Häuser der Mittelklasse standen üblicherweise noch höher, bis sich zuletzt unterhalb der Befestigungsanlagen auf den Bergkämmen die Behausungen der Allerärmsten anschlossen, die oft nicht mehr als schilfgedeckte Lehmhütten waren, die man nur über lange Leitern erreichen konnte.

Ich sollte diese elenden Verhältnisse noch kennenlernen, blieb aber zunächst im Geschäftsviertel neben dem Flussufer. In den engen Straßen dort herrschte ein solches Gedränge, dass ich schon glaubte, irgendein Fest sei im Gange oder der Krieg – der mir, solange ich in Nessus war, so fern vorgekommen, aber immer unmittelbarer zu spüren gewesen war, je weiter Dorcas und ich in den Norden vordrangen – sei nun so nahe gerückt, dass sich die Stadt mit seinen Flüchtlingen füllte.

Nessus ist so groß, dass auf jeden lebenden Bewohner, wie ich mir hab' sagen lassen, fünf Gebäude kommen. In Thrax ist dieses Verhältnis gewiss umgekehrt, und ich habe an diesem Tag zuweilen den Eindruck gehabt, jedes Dach müsse fünfzig beherbergen. Auch ist Nessus eine Weltstadt, in der man neben vielen Fremdländern sogar gelegentlich Cacogens, die mit Schiffen von anderen Welten gekommen sind, sieht und spürt, dass sie Fremde sind, fern von ihrer Heimat. Hier erlebte ich in den Straßen ein buntes Menschengemisch, aber die Leute stellten nur Angehörige verschiedener Bergvölker dar; auch wenn ich zum Beispiel einen Mann mit einem Hut aus Vogelgefieder sah, dessen Flügel ihm als Ohrenklappen dienten, oder einen Mann in einem zottigen Kaberu-Mantel oder einen Mann mit einem tätowierten Gesicht, hätte ich hinter der nächsten Ecke hundert anderen solcher Stammesvertreter begegnen können.

Diese Leute waren Eklektiker, die Abkömmlinge der Siedler aus dem Süden, die sich mit den vierschrötigen, dunklen Autochthonen verpaart und gewisse Gebräuche von ihnen übernommen und diese wiederum mit den Sitten der noch nördlicheren Amphitryonen und zum Teil anderer, unbekannterer Völker, Händler und parochialer Rassen vermengt hatten.

Viele dieser Eklektiker verwenden vornehmlich Messer, die gebogen sind – oder krumm, wie manchmal gesagt wird. Sie bestehen aus zwei ziemlich geraden Schenkeln und haben im unteren Teil ein Knie. Diese Form erleichtert es angeblich, das Herz zu durchbohren, wenn man unter dem Brustbein einsticht. Die Klinge ist durch eine Mittelrippe verstärkt und hat zwei Schneiden, die sehr scharf gehalten werden; ein Stichblatt fehlt, und der Griff ist für gewöhnlich ein knöcherner. (Ich habe diese Messer so ausführlich beschrieben, weil sie wie nichts anderes typisch für diese Gegend sind und weil Thrax von ihnen einen anderen seiner Beinamen ableitet: die Stadt der Krummen Messer. Auch gleicht der Aufbau der Stadt der Klinge eines solchen Messers, wobei das Knie im Engpass dem Knie in der Klinge ähnelt, der Fluss Acis der Mittelrippe, Burg Acies der Spitze und der Capulus dem Ansatzstück, wo der Stahl im Heft verschwindet.)

Einer der Wärter im Bärenturm sagte mir einmal, es gebe kein so gefährliches oder wildes und unbezähmbares Tier wie die Hybride, die entsteht, wenn ein Bluthund eine Wölfin begattet. Wir sind daran gewöhnt, uns die Tiere des Waldes und der Berge als wild vorzustellen und die Menschen, die sozusagen diesem Boden entspringen, für barbarisch zu halten. Aber in Wahrheit sind bestimmte Haustiere (wie wir wüssten, wären wir nicht so mit ihnen vertraut) viel bösartiger, obwohl sie die menschliche Sprache so gut verstehen und manchmal sogar ein paar Brocken sprechen können; gleichfalls steckt in Männern und Frauen, deren Vorfahren seit dem Anbeginn der Menschheit in Städten und Dörfern gelebt haben, eine viel ausgeprägtere Wildheit. Vodalus, in dessen Adern das unverdünnte Blut von tausend Beglückten – Exarchen, Ethnarchen und Starosten – floss, war zu Gewalthandlungen fähig, die den Autochthonen, welche nackt unter ihren Mänteln die Straßen von Thrax beschritten, unvorstellbar erschienen wären.

Wie die Wolfshunde (die ich nie zu Gesicht bekam und die zu bösartig waren, um von irgendeinem Nutzen zu sein) vereinten diese Eklektiker alles Grausame und Unbezähmbare von ihren gemischten Ahnen; als Freunde oder Gefährten waren sie mürrisch, treulos und zänkisch; als Feinde grimmig, listig und rachsüchtig. So hatte ich es wenigstens von meinen Untergebenen in den Vincula gehört, denn die Gefangenen dort setzten sich zur Hälfte aus Eklektikern zusammen.

Immer wenn ich Männern begegnet bin, deren Sprache, Gewand und Brauchtum fremd sind, habe ich mir überlegt, wie die Frauen ihrer Rasse wären. Es besteht immer ein Zusammenhang, denn Mann und Weib sind das Ergebnis einer einzigen Kultur, wie auch die Blätter eines Baumes, die man sieht, und die Früchte, die man nicht sieht, weil sie vom Laub verborgen werden, aus einem einzigen Organismus hervorgehen. Der Betrachter indes, der Form und Geschmack der Frucht anhand einiger belaubter Zweige vorhersagen möchte, die er (wie in meinem Fall) nur aus der Ferne sieht, müsste viel von Blättern und Früchten verstehen, wollte er sich nicht lächerlich machen.

Kriegerische Männer werden vielleicht von schmachtenden Frauen geboren oder mögen Schwestern haben, die vielleicht genauso stark, aber resoluter sind. So machte ich mir auch nun, da ich durch die Menge schritt, die hauptsächlich aus diesen Eklektikern und den Städtern bestand (welche mir nicht viel anders als die Bürger von Nessus vorkamen, außer dass sie nicht so feine Kleider und Manieren hatten), Gedanken über die dunkeläugigen, dunkelhäutigen Frauen; Frauen mit glänzend schwarzen Haaren, so dicht wie die Schweife der scheckigen Reittiere ihrer Brüder; Frauen, deren Gesichter ich mir kräftig, aber dennoch fein vorstellte; Frauen, die erbittertem Widerstand und rascher Kapitulation ergeben waren; Frauen, die zu gewinnen, aber nicht zu kaufen waren – falls es solche Frauen auf dieser Welt gäbe.

Von ihren Armen begab ich mich in Gedanken zu den Orten, an denen sie zu finden wären, den einsamen Hütten, die sich an Gebirgsquellen schmiegten, den versteckten Zelten, die allein auf hohen Weiden standen. Bald war ich so berauscht von der Bergwelt wie damals, als Meister Palaemon mir die korrekte Lage von Thrax erklärt hatte, von der Vorstellung des Meeres. Wie glorios sie sind, diese unerschütterlichen Idole der Urth, die, in unvorstellbar früher Zeit mit unfassbarem Werkzeug geformt, noch immer über den Rand der Welt die finsteren, mit Mitren, Tiaren und Diademen bekrönten, schneegeschmückten Häupter heben; Häupter, deren Augen groß wie Städte sind; Gestalten, deren Schultern in Wälder gehüllt sind.

Mit dem unscheinbaren Burnus eines Städters verkleidet, bahnte ich mir mit den Ellbogen einen Weg durch das bunte Menschengewühl in den Straßen, die von üblen Ausdünstungen und Küchengerüchen durchdrungen waren, im Geiste jähe Felsen mit ihrem Geschmeide aus kristallklaren Wildbächen schauend.

Thecla muss, glaube ich, zumindest in das Vorgebirge dieser Massive gebracht worden sein, gewiss um der Hitze eines besonders schwülen Sommers zu entgehen; denn viele der Szenen, die (fast wie von selbst) vor meinem geistigen Auge aufstiegen, waren auffällig kindlich. Ich sah Steingewächse, deren jungfräuliche Blüten ich so unmittelbar gewahrte, wie es ein Erwachsener nur kniend vermöchte; Schluchten, die nicht nur furchterregend, sondern schockierend wirkten, als wäre ihre bloße Existenz eine Beleidigung der Naturgesetze; Berge, die ob ihrer Höhe buchstäblich wie ohne Gipfel schienen, als fiele die ganze Welt unablässig aus irgendeinem unvorstellbaren Himmel, der diese Berge dennoch im Griff behielte.

Schließlich gelangte ich zur Burg Acies, nachdem ich die Stadt fast der ganzen Länge nach durchwandert hatte. Ich gab mich den Wächtern an der Seitentür zu erkennen und durfte eintreten und den Donjon besteigen, wie ich einst unseren Matachin-Turm erklommen hatte, bevor ich von Meister Palaemon Abschied nahm.

Als ich diesen erklommen hatte, um dem einzigen Ort, der mir vertraut war, Lebewohl zu sagen, stand ich auf einem der höchsten Punkte der Zitadelle, welche wiederum von einem der höchsten Hügel in der ganzen Gegend um Nessus aufragte. Die ganze Stadt lag bis zum Rande meines Blickfelds vor mir ausgebreitet, und durch sie bahnte sich wie der grüne Schleim einer Wegschnecke auf einer Landkarte der Fluss Gyoll; sogar die Mauer war an einigen Stellen des Horizonts sichtbar, und kein Schatten einer recht viel höheren Warte fiel auf mich.

Hier war der Eindruck ganz anders. Ich stand über dem Acis, der über eine Treppe von Felsstufen, die jeweils doppelt oder dreifach so hoch wie ein mächtiger Baum lagen, auf mich zu stürzte. Zu weißem Schaum geschlagen, der im Sonnenschein glitzerte, verschwand er unter mir und kam wieder zum Vorschein als silbernes Band, das sich reißend durch die Stadt wälzte, welche sich so fein in das enge Tal schmiegte wie eines jener Spielzeugdörfer in einem Kasten, wie ich (oder vielmehr Thecla) es einmal zum Geburtstag erhalten hatte.

Dennoch stand ich eigentlich auf dem Boden einer Schale. Auf jeder Seite stiegen die Felswände empor, und wenn ich sie betrachtete, glaubte ich zumindest für einen Augenblick, die Schwerkraft sei durch das Malnehmen eines Zauberers mit Phantasiezahlen verdreht worden, bis sie im rechten Winkel zur eigentlichen Richtung stünde, und die Höhe, die ich sah, sei in Wirklichkeit die ebene Oberfläche der Welt.

Eine Wache oder länger bestaunte ich wohl diese Felswände, verfolgte die spinnwebartigen Wasserfälle, die mit Getöse wildromantisch herniederstürzten, um sich mit dem Acis zu vereinen, und beobachtete die eingeschlossenen Wolken, die sich, wie mir schien, sanft gegen den unnachgiebigen Fels drängten wie aufgeschreckte Schafe gegen den gemauerten Pferch.

Schließlich wurde ich die Herrlichkeit der Bergwelt und meine Gebirgsträume müde – das heißt, nicht müde, sondern berauscht davon, bis sich um mich herum alles schwindelerregend schnell drehte und ich diese unbarmherzigen Höhen offenbar selbst mit geschlossenen Augen sah und in meinen Träumen in dieser Nacht und vielen kommenden Nächten fühlte, von ihren Gipfeln zu stürzen oder mich mit blutigen Fingern hoffnungslos an ihre Felsen zu klammern.

Nun kehrte ich mich allen Ernstes der Stadt zu und lenkte meinen Blick, um zur Ruhe zu kommen, auf den Turm der Vincula, einem nun sehr bescheidenen Würfelchen, das an einem Steilhang haftete, der kaum mehr als eine kleine Welle im unermesslichen Felsenmeer ringsum darstellte. Ich folgte dem Verlauf der Hauptstraßen und versuchte (fast spielerisch, um nach dem langen Ausschauhalten wieder zu Sinnen zu kommen), jene zu bestimmen, die ich auf dem Weg zur Burg durchschritten hatte, und aus dieser neuen Perspektive die Häuser und Marktplätze zu betrachten, die ich dabei passiert hatte. Ich erspähte die Basare, wovon es zwei gab, nämlich auf jeder Flussseite einen, und entdeckte von neuem die markanten Punkte, die mir von der Fensterlaibung der Vincula aus vertraut geworden waren – die Arena, das Pantheon und den Palast des Archons. Als ich alles, was ich von unten aus gesehen hatte, wiedererkannte von meinem neuen Aussichtspunkt und bestätigt fand, was ich anhand des Stadtplans über die Lage der Burg, auf der ich stand, bereits gewusst hatte, begann ich, die kleineren Straßen zu erforschen, indem ich den verschlungenen Steigen folgte, welche die oberen Hänge überzogen, und in schmale Gassen spähte, die oft nicht mehr als ein schwarzer Strich zwischen den Häusern schienen.

Schließlich fiel mein suchender Blick wieder auf die Flussufer, und ich studierte Stück für Stück die dortigen Anlegestellen, die Lagerhäuser und sogar die pyramidenartig aufgeschichteten Fässer, Kisten und Ballen, die auf die Verschiffung warteten. Das Wasser war nicht mehr schäumig, außer wo die Piere seinen Lauf hemmten. Seine Farbe war fast indigoblau, und wie die indigoblauen Schatten, die man abends an einem verschneiten Tag sieht, schien es still, geschmeidig und frostig voranzuhuschen; aber der Zug der dahineilenden Kaiks und schwer beladenen Feluken verriet, was für eine Turbulenz unter der glatten Oberfläche verborgen lag, denn die größeren Schiffe schwangen ihre langen Bugspriete wie Fechter, und allesamt gierten sie immer wieder dwars, während die Ruder in die reißenden Schnellen droschen.

III. Vor der Hütte

Als ich Dorcas erreichte, vermochte ich nicht, sie zum Sprechen zu bewegen. Nun war es nicht einfach so, dass sie mir grollte, obgleich ich das damals vermutete. Schweigen war über sie gekommen wie ein Gebrechen, das ihr zwar nicht Zunge und Lippen Versehrte, aber ihren Willen lähmte, diese zu gebrauchen, und vielleicht auch ihren Wunsch dazu, gleichsam wie gewisse Seuchen unser Verlangen nach Lust und sogar unser Verstehen für das Vergnügen anderer zerstören. Wenn ich ihr Gesicht nicht zum meinigen hob, blickte sie ins Nichts, starrte vor sich auf den Boden, wohl ohne ihn zu sehen, oder bedeckte das Gesicht mit den Händen, wie sie es darin vergraben hatte, als ich sie entdeckte.

Ich wollte mit ihr sprechen, weil ich – damals – glaubte, ich könnte etwas sagen, obwohl ich nicht wusste, was, das aus ihr wieder die alte machte. Allerdings war es mir dort auf dem Kai unmöglich, wo uns die Schauerleute verwundert beäugten, und zunächst konnte ich keinen Ort finden, wohin ich sie hätte führen können. In einer nahegelegenen Gasse, die sich über den Hang östlich des Flusses wand, bemerkte ich ein Wirtshausschild. In der engen Gaststube speisten Leute, aber für ein paar Aes konnte ich mir im Stockwerk darüber ein Zimmer mieten, eine Kammer, die bis auf ein Bett leer war und kaum Platz für mehr Möbel geboten hätte, und deren schräge Decke so niedrig war, dass ich an einer Seite nicht aufrecht stehen konnte. Die Wirtin dachte, wir wollten das Zimmer für ein flüchtiges Schäferstündchen, was unter den gegebenen Umständen recht selbstverständlich schien, dachte sich aber anhand von Dorcas' verzweifelter Miene zugleich, ich übte irgendeinen Druck auf sie aus oder hätte sie von einem Kuppler gekauft, denn sie warf ihr einen rührenden, mitleidigen Blick zu, den Dorcas wohl nicht im geringsten registrierte, während sie mich voller Vorwürfe ansah.

Ich verschloss und verriegelte die Tür und forderte Dorcas auf, sich ins Bett zu legen; dann setzte ich mich neben sie und wollte sie zum Sprechen ermuntern, indem ich fragte, was mit ihr sei und was ich tun könne, um das, was sie plage, in Ordnung zu bringen und so weiter. Als ich sah, dass es keinen Zweck hatte, begann ich, über mich selbst zu reden, denn ich vermutete, was sie bewegte, ein Gespräch mit mir zu verweigern, sei ihr Entsetzen ob der Zustände in den Vincula.

»Alle verachten uns«, sagte ich. »Es gibt also keinen Grund, warum nicht auch du mich verachten solltest. Das Überraschende ist nicht, dass du mich hassen gelernt hast, sondern dass es so lange gedauert hat, bis du wie alle anderen fühlst. Aber weil ich dich liebe, will ich versuchen, die Sache der Zunft und damit meine eigene vorzutragen, damit es dich nicht mehr quäle, einen Folterer geliebt zu haben, selbst wenn du mich jetzt nicht mehr liebst.

Wir sind nicht grausam. Wir finden kein Gefallen an dem, was wir tun, außer es gut zu tun, was bedeutet, es schnell zu tun und weder mehr noch weniger zu tun, als das Gesetz uns vorschreibt. Wir gehorchen den Richtern, denn sie sind aufgrund der Bestimmung des Volkes im Amt. Manche sagen, wir sollten nichts von dem tun, was wir tun, und dass niemand es tun sollte. Sie sagen, eine kaltblütig verhängte Strafe sei ein größeres Verbrechen, als es unsere Klienten überhaupt begangen haben könnten.

Es mag Gerechtigkeit darin sein, aber es ist eine Gerechtigkeit, die unsere Republik zerstören würde. Keiner könnte sich sicher fühlen und sicher sein, und zuletzt würde sich das Volk erheben – zunächst gegen die Diebe und Mörder, dann gegen jeden, der die volkstümlichen Vorstellungen von Anstand und Schicklichkeit verletzte, und schließlich gegen bloße Fremdlinge und Verstoßene. Bald hätten wir wieder die schrecklichen alten Zustände wie Scheiterhaufen und Steinigung, wobei jeder versuchte, seinen Nachbarn zu übertreffen, aus Furcht, man könnte ihn morgen verdächtigen, mit dem armen Tropf, der heute stirbt, zu sympathisieren.

Wieder andere sagen, bestimmte Klienten verdienten die schlimmste Strafe, während andere zu schonen seien, und dass wir uns weigern sollten, bei letzteren unseres Amtes zu walten. Es wird gewiss so sein, dass manche sich schuldiger als andere gemacht haben, und es mag sogar sein, dass einige von denen, die uns ausgeliefert werden, überhaupt keine Schuld trifft – weder in der vorgeworfenen Sache noch in irgendeiner anderen.

Aber die Leute, die für so etwas eintreten, erheben sich lediglich zum Richter über die Richter, die der Autarch eingesetzt hat, obwohl sie in der Rechtskunde weniger bewandert sind und nicht befugt sind, Zeugen zu bestellen. Sie fordern, dass wir den echten Richtern nicht gehorchen und auf sie hören, obgleich sie nicht zeigen können, dass sie unseren Gehorsam eher verdienen.

Wieder andere verlangen, dass unsere Klienten überhaupt nicht gefoltert oder hingerichtet werden, sondern für die Republik arbeiten sollten, indem sie Kanäle grüben, Wachttürme bauten und so fort. Aber mit den Kosten für ihre Wächter und Ketten ließen sich ehrliche Arbeiter bezahlen, die ansonsten ohne Broterwerb blieben. Warum sollten diese fleißigen Arbeiter hungern, damit Mörder nicht stürben und Diebe keinen Schmerz erlitten? Obendrein würden diese Mörder und Diebe, die dem Gesetz nicht treu ergeben wären und keine Hoffnung auf Entlohnung hätten, nur arbeiten, wenn sie die Peitsche im Rücken fühlten. Und was wäre das anderes als Folterung unter einem neuen Namen?

Wieder andere sagen, dass die Verurteilten in Gewahrsam kommen sollten, ohne Entbehrungen und Schmerz – jahrelang und oft bis zum Ende ihres Lebens. Aber Menschen ohne Entbehrungen und Schmerzen leben lange, und jedes Orikalkum, das zu ihrem Unterhalt dient, müsste von besseren Verwendungen abgezogen werden. Ich weiß wenig über den Krieg, aber ich verstehe genug, um zu wissen, wie viel Geld für Waffen und Sold gebraucht wird. Der Kampf findet in den nördlichen Bergen statt, so dass wir wie hinter hundert Mauern kämpfen. Was aber, wenn er sich bis in die Pampas verlagerte? Könnten wir die Ascier zurückhalten, wenn sie so breiten Raum für ihre Manöver hätten? Und wie wollte man Nessus ernähren, sollten die dortigen Viehherden in ihre Hände fallen?

Wenn die Schuldigen nicht entbehrungslos einzusperren und nicht zu foltern sind, was bleibt dann noch? Würden sie getötet, allesamt getötet, dann gälte das arme Weib, das gestohlen hätte, als genauso schlimm wie die Mutter, die das eigene Kind vergiftete, wie Morwenna von Saltus es getan. Möchtest du das? In Friedenszeiten würden viele verbannt. Aber verbannte man sie jetzt, spielte man den Asciern nur ein Heer von Spitzeln zu, die nach entsprechender Schulung und Ausstattung mit Mitteln zu uns zurückgeschickt würden. Bald könnte man keinem mehr über den Weg trauen, selbst wenn er unsere Sprache spräche. Möchtest du das?«

Dorcas lag so still auf dem Bett, dass ich schon glaubte, sie sei eingeschlafen. Aber ihre Augen, diese großen, makellos blauen Augen, waren offen; und als ich mich über sie beugte, bewegten sie sich und betrachteten mich eine Weile, als verfolgten sie die sich ausbreitenden Wellen in einem Teich.

»Nun gut, wir sind Teufel«, sagte ich, »wenn du unbedingt willst. Aber wir sind notwendig. Sogar die Mächte des Himmels halten es für nötig, Teufel einzusetzen.«

Tränen traten in ihre Augen, obschon ich nicht wusste, ob sie weinte, weil sie mir Unrecht getan hatte oder weil ich noch anwesend war. In der Hoffnung, ihre alte Liebe zurückzugewinnen, begann ich von der Zeit zu erzählen, da wir noch gen Thrax unterwegs gewesen waren, und erinnerte sie daran, wie wir uns nach der Flucht aus den Anlagen des Hauses Absolut auf der Lichtung getroffen hatten, wie wir vor Dr. Talos' Spiel in den großen Gärten geredet hatten, durch den blühenden Obstgarten gegangen waren und auf einer alten Bank an einem verfallenen Brunnen gesessen hatten; ich wiederholte, was sie zu mir und ich zu ihr gesagt hatte.

Und mir war, als nähme ihr das ihren Kummer ein bisschen, bis ich den Brunnen erwähnte, dessen Wasser aus dem zerbrochenen Becken in kleine Rinnsale, von irgendeinem Gärtner zum Tränken der Bäume angelegt, abgeflossen war, um schließlich im Boden zu versickern. Etwas Finsteres, das nirgendwo sonst im Zimmer gegenwärtig war, kam über ihr Gesicht wie eines dieser wunderlichen Dinger, die Jonas und mich durch die Zedern gehetzt hatten. Sodann wollte sie mich nicht mehr ansehen und schlief nach einer Weile wahrhaftig ein.

Ich stand auf, so leise ich konnte, entriegelte die Tür und ging über die Wendeltreppe nach unten. Die Wirtin hantierte noch in der Gaststube, aber die Leute, die sich dort aufgehalten hatten, waren schon fort. Ich erklärte ihr, dass die Dame, die ich mitgebracht hatte, krank sei, bezahlte das Zimmer für einige Tage im Voraus und versprach, wiederzukommen und alle übrigen Ausgaben zu begleichen. Sie solle von Zeit zu Zeit nach ihr sehen und ihr zu essen geben, falls sie etwas wolle.

»Ach, welch ein Segen, dass jemand in dem Zimmer schläft«, meinte die Wirtin. »Aber ist denn, wenn dein Liebchen krank ist, das Entennest wirklich der beste Ort, den du ihr bieten kannst? Kannst du sie nicht mit heim nehmen?«

»Ich fürchte, gerade das Wohnen in meinem Haus hat sie krank gemacht. Zumindest will ich nicht riskieren, dass es schlimmer wird, wenn ich sie dorthin bringe.«

»Armes Ding!« Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Und wie hübsch sie ist, und fast noch ein Kind. Wie alt ist sie denn?«

Ich sagte ihr, das wisse ich nicht.

»Also gut, ich werd' mal zu ihr gehn und ihr 'ne Suppe bringen, wenn sie soweit ist.« Sie sah mich an, als wollte sie sagen, dass es bald soweit wäre, wäre ich erst fort. »Aber lass dir sagen, dass ich sie nicht für dich hier festhalte. Sie kann gehen, wann immer sie will.«

Als ich aus dem kleinen Gasthaus trat, wollte ich auf dem schnellsten Weg in die Vincula heimeilen; allerdings unterlief mir der Irrtum zu glauben, da die schmale Gasse, in der das Entennest stand, fast südlich verlief, es ginge schneller, ihr zu folgen und weiter unten den Acis zu überqueren, anstatt wieder die Treppe zu besteigen, die Dorcas und ich heruntergekommen waren, und zum Fuß der Seitenmauer von Burg Acies zurückzukehren.

Die enge Gasse täuschte mich, wie ich mir hätte denken können, wäre ich mit den Wegen von Thrax besser vertraut gewesen. Denn all die krummen Gassen, die sich über die Hänge schlängeln, verlaufen im Grunde – auch wenn sie sich kreuzen – auf und ab; will man von einem in den Fels geduckten Haus zum nächsten gelangen, muss man (falls sie nicht dicht beisammen oder übereinander liegen) hinunter zum Fluss und wieder hinauf gehen. So fand ich mich also bald so hoch im östlichen Steilhang wie die Vincula im westlichen, und die Aussicht heimzufinden war geringer als beim Aufbruch aus dem Gasthaus.

Offengestanden war mir diese Feststellung nicht ganz unliebsam. Daheim wartete Arbeit auf mich, zu der ich keine besondere Lust hatte, denn mich beschäftigte noch die Sorge um Dorcas. Mir war danach zumute, meine Frustration durch Beinarbeit zu verjagen, also entschloss ich mich, der krummen Gasse notfalls bis zum oberen Ende zu folgen, die Aussicht auf die Vincula und Burg Acies zu genießen und dann einem der Wächter an den dortigen Befestigungsanlagen mein Dienstabzeichen zu zeigen, um dort entlang zum Capulus zu gehen und den Fluss am untersten Steg zu überqueren.

Aber nach einer mühsamen halben Wache stellte sich heraus, dass ich weiter nicht käme. Die Gasse endete vor einer drei bis vier Ketten hohen Felswand und hatte vermutlich schon früher geendet, denn die letzten zwanzig Schritt stellten wohl nicht mehr als einen Privatweg zur dürftigen Hütte aus Lehm und Reisiggeflecht dar, vor der ich stand.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass kein Weg um sie herum und kein Steig in der Nähe weiter hinauf führte, wollte ich mich schon verärgert umdrehen, als ein Kind aus der Hütte schlüpfte, sich halb kühn, halb furchtsam an mich heranmachte, wobei es mich nur aus dem rechten Auge beguckte und mir in der überall anzutreffenden Bettlergeste die kleine, sehr schmutzige Hand entgegenstreckte. Vielleicht hätte ich über das arme kleine Geschöpf, das sich mir so scheu und bedrängend näherte, gelacht, wäre ich besser gelaunt gewesen; jedenfalls ließ ich ein paar Aes in die dreckigen Fingerchen fallen.

Davon ermutigt, begann das Kind: »Meine Schwester ist krank. Sehr krank, Sieur.« Der Stimme nach zu urteilen, war es ein Knabe; und weil er mir beim Sprechen das Gesicht fast ganz zukehrte, konnte ich sehen, dass sein linkes Auge entzündet und zugeschwollen war. Eitrige Tränen waren herausgeflossen und auf der Wange angetrocknet. »Sehr, sehr krank.«

»Ich sehe«, antwortete ich.

»O nein, Sieur. Das könnt Ihr nicht, nicht von hier aus. Aber wenn Ihr wollt, könnt Ihr durch die Tür reinschauen – das wird ihr nichts ausmachen.«

In diesem Augenblick rief ein Mann mit dem abgenutzten Lederschurz eines Maurers: »Was ist denn, Jader? Was will er?« Er stapfte über den Weg in unsere Richtung herauf.

Wie man sich hätte denken können, verstummte der Knabe bei dieser Frage ängstlich. »Ich wollte nur den besten Weg in die Stadt hinunter wissen«, erklärte ich.

Der Maurer gab keine Antwort, sondern blieb etwa vier Doppelschritt vor mir stehen und verschränkte die Arme, die härter wirkten als die Steine, die sie brachen. Er schien aufgebracht und misstrauisch, obwohl ich's mir nicht erklären konnte. Vielleicht hatte meine Sprache verraten, dass ich aus dem Süden stammte; vielleicht lag es nur an meiner Kleidung, die zwar keineswegs vornehm oder außergewöhnlich war, aber doch zeigte, dass ich zu einer höheren Klasse als der seinen gehörte.

»Darf man hier nicht gehen?«, fragte ich. »Ist das privat?«

Er gab keine Antwort. Was immer er über mich dachte, es war offensichtlich, dass seiner Ansicht nach zwischen uns keine Verständigung stattfinden konnte. Wenn ich zu ihm sprach, so konnte das nur so geschehen, wie ein Mensch zu Tieren spricht, und nicht einmal zu intelligenten Tieren, sondern nur so wie ein Treiber Hornvieh anschreit. Und wenn ich sprach, so war das in seiner Sicht nur so, wie wenn ein Tier zu einem Mensch spricht – in Lauten aus der Kehle.

Mir ist aufgefallen, dass in Büchern nie ein solches Patt auftritt; die Verfasser sind so darauf erpicht, ihre Geschichte voranzubringen (und seien sie auch noch so hölzern, gleichsam wie Marktkarren mit ächzenden Rädern, die nie still sind, auch wenn sie nur in staubige Dörfer fahren, wo aller ländliche Reiz tot ist und die Wonnen der Stadt nie erreicht werden), dass für solche Verständigungsschwierigkeiten, für eine solche Nichtbereitschaft zum Gedankenaustausch kein Platz ist. Der Meuchelmörder, der seinem Opfer das Messer an die Kehle drückt, ist darauf versessen, die ganze Angelegenheit abzuhandeln – so wortreich, wie es dem Opfer oder Verfasser gefällt. Das leidenschaftliche Paar in der Liebesumarmung ist schließlich einmütig gewillt, das Erdolchen aufzuschieben – wenn nicht mehr.

Im Leben ist es anders. Ich starrte auf den Maurer und er auf mich. Ich hätte ihn wohl töten können, wäre mir meiner Sache aber nicht sicher gewesen, denn er machte einen ungewöhnlich starken Eindruck, und ich wusste nicht, ob er eine verborgene Waffe trüge oder ob Freunde in den umliegenden Elendsbehausungen ihm zu Hilfe kämen. Ich glaubte, er würde in jedem Moment auf den Weg zwischen uns speien, und hätte er das getan, hätte ich ihm meinen Burnus über den Kopf geschwungen und ihn zu Boden gepresst. Aber er tat es nicht, und nachdem wir uns eine Weile angestarrt hatten, sagte der Knabe, der wohl gar nicht verstand, was vor sich ging, wiederum: »Ihr könnt durch die Tür reinschauen, Sieur. Das wird meiner Schwester nichts ausmachen.« Er wagte es sogar, in seinem Eifer, mir zu zeigen, dass er nicht gelogen hatte, an meinem Ärmel zu zupfen, wohl ohne sich bewusst zu sein, dass sein Aussehen ihm das Recht zu jeder Bettelei gab.

»Ich glaub's dir«, sagte ich. Aber sogleich erkannte ich, dass ich ihn beleidigte, wenn ich sagte, ich glaubte ihm, denn damit gab ich ihm zu verstehen, ich hätte nicht so viel Vertrauen, es einfach zu probieren. Also bückte ich mich und schaute, obwohl ich zunächst wenig sah, denn ich blickte ja vom hellen Sonnenlicht in das düstere Innere der Hütte.

Der Sonnenschein fiel direkt von hinten auf mich. Ich spürte, wie er drückend auf meinem Nacken lag, und wurde mir bewusst, dass der Maurer, dem ich nun den Rücken zukehrte, mich ungestraft anfallen könnte.

Die Hütte war zwar klein, aber der enge Raum war nicht mit allerlei Zeug vollgestopft. An der Wand gegenüber der Tür war ein Strohlager aufgehäuft, worauf die Schwester lag. Sie befand sich in jenem Krankheitsstadium, wo man mit dem Erkrankten kein Mitgefühl mehr haben kann, weil er zum Bild des Entsetzens zerfallen ist. Ihr Gesicht war ein Totenkopf, von dünner, durchscheinender Haut wie der einer Trommel überzogen. Ihre Lippen vermochten nicht einmal mehr im Schlaf ihre Zähne zu bedecken, und durch das zehrende Fieber war ihr das Haar bis auf einige Büschel ausgefallen.

Ich stützte mich mit der Hand an der Wand aus Lehm und Reisig und richtete mich auf. Der Knabe sagte: »Ihr seht, sie ist sehr krank, Sieur. Meine Schwester.« Wieder hielt er die Hand auf.

Ich sah sie – sehe sie noch jetzt –, aber sie hinterließ keinen unmittelbaren Eindruck in meinem Verstand. Ich musste immerzu an die Klaue denken, die mir anscheinend gegen das Brustbein drückte, aber nicht wie ein Gewicht, sondern wie die Knöchel einer unsichtbaren Faust. Mir fiel der Ulan ein, der wie tot gewesen war, bis ich seine Lippen mit der Klaue berührte, was mir aber nun vorkam, als wär's eine Ewigkeit her; auch fiel mir der Menschenaffe mit seinem Armstumpf ein, und wie Jonas' Verbrennungen verschwunden waren, als ich sie mit der Klaue bestrichen hatte. Ich hatte sie nicht mehr gebraucht – oder auch nur daran gedacht, sie zu gebrauchen –, seitdem sie bei Jolenta versagt hatte.

Titel der Originalausgabe

THE SWORD OF THE LICTOR

Aus dem Amerikanischen von Reinhard Heinz

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1981 by Gene Wolfe

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat