Der Schatten des Folterers - Gene Wolfe - E-Book

Der Schatten des Folterers E-Book

Gene Wolfe

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Beschreibung

Aufbruch in eine ungewisse Zukunft

Eine Million Jahre in der Zukunft: Die Technik ist bis auf wenige Rest verschwunden. Die Menschheit fiel kulturell ins Mittelalter zurück und harrt der Ankunft der neuen Sonne, die ein neues Zeitalter herbeiführen soll. Dies ist die Geschichte Severians, eines Waisenjungen, der in der Zunft der Folterer aufwächst und dieses Handwerk erlernt. Doch als er eines Tages aus Mitleid einer Frau den Selbstmord gestattet, wird er aus dieser Zunft ausgestoßen. Doch anstatt selbst gefoltert und hingerichtet zu werden, schickt die Gilde ihn nach Thrax, einer weit entfernten Stadt, die einen Henker braucht. Severian macht sich auf eine Reise, die sein Leben für immer verändern wird …

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Seitenzahl: 526

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GENE WOLFE

DER SCHATTEN DES FOLTERERS

Das Buch der Neuen Sonne

ERSTERBAND

INHALT

Zitat

Karte von Nessus

I. Tod und Auferstehung

II. Severian

III. Das Gesicht des Autarchen

IV. Triskele

V. Der Bilderreiniger und andere

VI. Der Meister der Kuratoren

VII. Die Verräterin

VIII. Der gewandte Gesellschafter

IX. Das Azurne Haus

X. Das letzte Jahr

XI. Das Fest

XII. Der Verräter

XIII. Der Liktor von Thrax

XIV. Terminus Est

XV. Baldanders

XVI. Der Lumpenladen

XVII. Die Herausforderung

XVIII. Der Altarsturm

XIX. Der Botanische Garten

XX. Vater Inires Spiegel

XXI. Die Urwaldhütte

XXII. Dorcas

XXIII. Hildegrin

XXIV. Die Todesblume

XXV. Das Gasthaus zur verlorenen Liebesmüh

XXVI. Die Fanfare

XXVII. Ist er tot?

XXVIII. Scharfrichter

XXIX. Agilus

XXX. Die Nacht

XXXI. Der Schatten des Folterers

XXXII. Das Spiel

XXXIII. Fünf Beine

XXXIV. Der Morgen

XXXV. Hethor

ANMERKUNGZUR ÜBERSETZUNG

Tausend Jahr' sind aus deiner Sicht

Wie ein Abend, der sich neigt;

Kurz wie die Wacht, welche die Nacht bricht,

I. Tod und Auferstehung

Vielleicht ist das bereits ein Omen für meine Zukunft gewesen. Das verschlossene, rostige Tor vor uns, durch dessen Gitterstäbe sich Nebelfetzen vom Fluss schlängeln, bleibt in meiner Vorstellung das Symbol für mein Exil. Deshalb beginne ich meine Erzählung mit den Nachwirkungen unseres Bades im Fluss, wobei ich, der Folterlehrling Severian, beinahe ertrunken wäre.

»Der Wächter ist nicht mehr da.« So sprach mein Freund Roche zu Drotte, der das selbst schon bemerkt hatte.

Unsicher schlug der Knabe Eata vor, außen herum zu gehen. Sein schmächtiger, sommersprossiger Arm zeigte zur abertausend Schritt langen Mauer, die sich durch das Elendsviertel bahnte, hinauf über den Berg stieg und schließlich in die hohe Ringmauer der Zitadelle mündete. Das war ein Weg, den ich viel später gehen würde.

»Ohne Geleitbrief durch das Außenwerk? Man würde uns Meister Gurloes melden.«

»Wie kommt's, dass der Wächter nicht da ist?«

»Egal.« Drotte rüttelte am Tor. »Eata, versuch, zwischen den Stäben durchzukommen.«

Da Drotte unser Anführer war, schob Eata einen Arm und ein Bein durch das Eisengitter, aber wie sich sofort herausstellte, war es aussichtslos sich ganz hindurchzuzwängen.

»Es kommt jemand«, flüsterte Roche. Drotte zog Eata heraus.

Ich blickte die Straße hinunter. Laternen schaukelten dort inmitten von Schritten und Stimmen, die der Nebel halb verschluckte. Ich hätte mich versteckt, doch Roche hielt mich fest. »Warte, ich sehe Piken!«

»Ob das die zurückkehrende Wache ist?«

Er schüttelte den Kopf. »Sind zu viele.«

»Mindestens ein Dutzend«, sagte Drotte.

Wir warteten, immer noch nass vom Wasser des Gyoll. In meiner Vorstellung sehe ich uns noch jetzt zitternd dort stehen. Genau wie alles, was ewig scheint, dem Untergang zustrebt, so leben solche Augenblicke, die seinerzeit am schnellsten verflogen sind, wieder auf – nicht nur in meiner Erinnerung (die sich als lückenlos erweist, wenn ich Rückschau halte), sondern auch als Herzklopfen und Kribbeln auf der Haut; sie erneuern sich, genau wie unsere Republik sich mit jedem morgendlichen Weckruf hellklingender Trompeten neu festigt.

Die Männer trugen keine Rüstungen, wie ich im schwachen, gelben Schein der Laternen sehen konnte; aber sie hatten Piken, wie Drotte festgestellt hatte, und Knüttel und Streitäxte. Dem Anführer hing ein langer, zweischneidiger Dolch am Bauchgurt. Mir wichtiger war, dass an seinem Hals an einer Schnur ein schwerer Schlüssel baumelte; der Form nach hätte er in das Schloss des Tores passen können.

Der kleine Eata zappelte vor Aufregung, als der Anführer uns sah und die Laterne über den Kopf hob. »Wir warten darauf, eingelassen zu werden«, rief Drotte dem Mann zu. Er war der größere, aber in sein dunkles Gesicht trat respektvolle Bescheidenheit.

»Nicht vor Sonnenaufgang«, entgegnete der Anführer barsch. »Geht lieber heim, Burschen!«

»Der Wächter sollte uns einlassen, aber er ist nicht mehr da.«

»Heut' Abend kommt ihr nicht mehr rein.« Der Anführer hatte die Hand ans Heft seines Dolches gelegt, ehe er einen Schritt näherkam. Für einen Moment befürchtete ich, er habe uns erkannt.

Drotte wich zurück, und wir übrigen blieben hinter ihm. »Wer bist du? Ihr seid keine Soldaten.«

»Wir sind die Freiwilligen«, antwortete einer der anderen. »Wir bewachen unsere Toten.«

»Dann könnt ihr uns reinlassen.«

Der Anführer hatte sich abgewandt. »Keiner außer uns kommt rein.« Sein Schlüssel knirschte im Schloss, und quietschend ging das Tor auf. Bevor man ihn daran hindern konnte, war Eata hineingeflitzt. Jemand fluchte, und der Anführer rannte mitsamt zwei anderen hinter Eata her, aber dieser war zu flink. Wir sahen seinen flachsblonden Haarschopf und sein Hemd voller Flicken im Zickzack zwischen den eingesunkenen Gräbern armer Leute sausen und weiter oben in einem Statuenwald verschwinden. Drotte wollte ihm folgen, aber zwei Männer packten ihn an den Armen.

»Wir müssen ihn finden. Wir wollen keine Leichen rauben.«

»Weshalb wollt ihr überhaupt rein?«, fragte einer der Freiwilligen.

»Zum Kräutersammeln«, belehrte ihn Drotte. »Wir sind Apothekergehilfen. Wollt ihr denn nicht, dass die Kranken gesund werden?«

Der Freiwillige sah ihn erstaunt an. Der Mann mit dem Schlüssel hatte seine Laterne fallengelassen, als er Eata nachsetzte, so dass nur mehr zwei übrig waren. In ihrem schwachen Licht sah ich das dumme, unbedarfte Gesicht des Freiwilligen, der vermutlich irgendein Arbeiter war.

Drotte fuhr fort: »Ihr müsst wissen, dass bestimmte Heilpflanzen ihre volle Wirkung nur entfalten, wenn sie von Graberde bei Mondschein geerntet werden. Bald kommt der erste Frost, der alles zerstört, aber zuvor brauchen unsere Meister ihren Wintervorrat. Die drei Herren erwirkten, dass man uns heute Abend hier einlässt, und ich lieh mir zum Helfen diesen Knaben von seinem Vater.«

»Ihr habt nichts bei euch zum Kräutersammeln.«

Noch immer bewundere ich Drotte dafür, was er als nächstes getan hat. Er sagte: »Wir sollen sie zum Trocknen in Büschel binden«, und zog ohne jegliches Zögern ein Stück gewöhnlicher Schnur aus der Tasche.

»Ich verstehe«, antwortete der Freiwillige. Es war offensichtlich, dass er nichts verstand. Roche und ich rückten langsam näher zum Tor.

Drotte indes trat ein Stück zurück. »Wenn ihr uns die Kräuter nicht sammeln lasst, gehen wir lieber wieder. Ich glaube nicht, dass wir den Knaben jetzt noch dort drinnen finden können.«

»Nein, ihr geht nicht! Er muss raus!«

»Also gut«, erwiderte Drotte unwillig, und wir gingen hinein, gefolgt von den Freiwilligen. In bestimmten Mythen wird behauptet, die wirkliche Welt sei vom menschlichen Verstand geschaffen, da unsere Wege von den künstlichen Kategorien gelenkt werden, in die wir eigentlich unterschiedslos Dinge packen – Dinge, die schwächer sind als unsere Wörter dafür. Intuitiv verstand ich diesen Grundsatz in jener Nacht, als ich den letzten Freiwilligen hinter uns das Tor schließen hörte.

Einer, der bis jetzt stumm gewesen war, sagte: »Ich werd' bei meiner Mutter Wache halten. Wir haben schon viel Zeit verloren. Inzwischen könnten sie sie meilenweit verschleppt haben.«

Murmelnd pflichteten einige der übrigen Männer ihm bei, und die Gruppe zerstreute sich allmählich, wobei eine Laterne nach links, die andere nach rechts wanderte. Wir gingen über den Mittelweg (den wir immer nahmen, wenn wir zum eingestürzten Stück der Zitadellenmauer zurückkehrten), begleitet von den restlichen Freiwilligen.

Es ist meine Art, meine Freude und mein Fluch, nichts zu vergessen. Jedes Kettenrasseln, jeden heulenden Windstoß, jeden Anblick, jeden Geruch und Geschmack behalte ich unverändert in Erinnerung, und wiewohl ich weiß, dass es nicht jedermann so ergeht, kann ich mir nicht vorstellen, wie es anders wäre; als ob man geschlafen hätte, obschon das Erlebnis lediglich weit zurückliegt. Jene paar Schritte auf dem fahlen Pfad leben nun wieder bildhaft vor mir auf: Kalt war's, und es wurde noch kälter; wir hatten kein Licht, und allen Ernstes rollten nun vom Gyoll her die Nebelschwaden an. Ein paar Vögel flatterten, einen Schlafplatz in den Pinien und Zypressen suchend, aufgeregt von Baum zu Baum. Wie es sich anfühlte, als ich mir mit den Händen die Arme rieb; wie die Laternen ein Stück weit entfernt zwischen den Grabsäulen schaukelten; wie der Nebel den Geruch des Flusswassers aus meinem Hemd herausholte und die Würze der in einer neuen Umdrehung liegenden Erde zutage treten ließ: an all das erinnere ich mich. Ich wäre an diesem Tag beinahe gestorben, im Wurzelgewirr erstickt; diese Nacht sollte den Beginn meines Mannseins markieren.

Dann fiel ein Schuss, der erste, den ich erlebt hatte; der violette Energieblitz spaltete die Dunkelheit wie ein Keil und endete mit einem Donnerschlag. Irgendwo stürzte tosend ein Monument ein. Daraufhin wieder Stille … in der sich alles um mich herum aufzulösen schien. Wir fingen zu laufen an. Männerstimmen, weit weg. Ich hörte das Klirren von Stahl auf Stein, als hätte jemand mit einer Hellebarde eine Gedenktafel getroffen. Ich rannte einen Pfad entlang, der mir (zumindest meinte ich das damals) völlig unbekannt war; diese mit Knochen geschotterte Wegzeile, die so schmal war, dass nur zwei nebeneinander darauf passten, führte in ein kleines Tal hinab. Im Nebel konnte ich nichts außer den dunklen Grabsteinhaufen zu beiden Seiten erkennen. Ganz plötzlich, als hätte man mich gepackt und an eine andere Stelle gesetzt, war der Pfad unter meinen Füßen verschwunden – vermutlich hatte ich eine Kurve übersehen. Ich wandte mich jäh seitwärts, um einer Statue auszuweichen, die plötzlich vor mir auftauchte, und stieß mit voller Wucht gegen einen Mann in einem schwarzen Umhang.

Er war hart wie eine Mauer; beim Aufprall verlor ich das Gleichgewicht und bekam keine Luft mehr. Ich hörte ihn Verwünschungen knurren, dann ein Zischen, als er seine Waffe schwang. Eine andere Stimme rief: »Was war das?«

»Jemand ist gegen mich gelaufen. Schon wieder weg, wer immer es gewesen sein mag.«

Ich lag still.

Eine Frau befahl: »Die Lampe an!« Ihre Stimme klang wie ein Taubenruf, aber mit einem dringlichen Unterton.

Der Mann, mit dem ich zusammengestoßen war, erwiderte: »Dann würden sie über uns herfallen wie eine Meute von Bluthunden, Madame.«

»Das werden sie sowieso bald – Vodalus hat gefeuert. Du musst es gehört haben.«

»Wird sie eher zurückscheuchen.«

Mit einem Tonfall, den ich in meiner Unbedarftheit nicht als den Akzent eines Beglückten erkannte, sagte der Mann, der als erster gerufen hatte: »Wenn ich sie nur nicht mitgebracht hätte. Bräuchten sie gar nicht gegen solche Leutchen.« Er war jetzt viel näher, und bald konnte ich den sehr großen, schlanken, barhäuptigen Mann neben dem robusteren Gefährten, gegen den ich gestoßen war, sehen. Eine in Schwarz gehüllte dritte Gestalt war offensichtlich die Frau. Als mir die Luft weggeblieben war, war auch alle Kraft aus meinen Gliedern gewichen, trotzdem hatte ich es geschafft, mich hinter den Sockel eines Denkmals zu rollen, von wo aus ich, in Sicherheit liegend, hervorspähte.

Meine Augen hatten sich auf die Dunkelheit eingestellt. Ich konnte das herzförmige Gesicht der Frau ausmachen, die fast genauso groß wie der schlanke Mann war, den sie Vodalus genannt hatte. Der starkgebaute Mann war verschwunden, aber ich hörte ihn sagen: »Mehr Seil!« Seiner Stimme entnahm ich, dass er nicht weiter als ein, zwei Schritte von der Stelle entfernt war, wo ich mich niederduckte, dennoch schien er aufgelöst wie in einen Brunnen geschüttetes Wasser. Dann sah ich etwas Dunkles (das musste die Hutkrone gewesen sein) nahe den Füßen des schlanken Mannes und wusste ganz genau, wo er geblieben war – dort befand sich eine Grube, in der er stand.

Die Frau fragte: »Wie ist sie?«

»Frisch wie eine Blume, Madame. Sie riecht fast gar nicht. Alles klar.« Gewandter, als ich es ihm zugetraut hätte, sprang er heraus. »Nun gebt mir ein Ende und nehmt Ihr das andere, Herr, und wir können sie herausziehen wie eine Mohrrübe.«

Die Frau sagte etwas, was ich nicht verstand, und der schlanke Mann entgegnete ihr: »Du hättest nicht mitkommen müssen, Thea. Wie sähe es aus, wenn ich keines der Risiken auf mich nähme?« Er und sein robuster Gefährte keuchten schwer beim Ziehen, und bald erschien zu ihren Füßen etwas Weißes. Sie bückten sich, um es aufzuheben. Als hätte ein Zauberer ihn mit seinem Stab berührt, wallte der Nebel plötzlich auf und teilte sich, so dass fahles Mondlicht hindurchdrang. Sie hatten eine Frauenleiche. Ihr Haar, das dunkelbraun gewesen war, hing etwas unordentlich um ihr bläuliches Gesicht; bekleidet war sie mit einem langen Gewand aus hellem Stoff.

»Ihr seht«, begann der Robuste, »'s ist wirklich, wie ich sagte, gnädiger Herr, gnädige Frau; bei neunzehn von zwanzig Malen ist nichts dabei. Wir brauchen sie nur mehr über die Mauer zu schaffen.«

Kaum waren diese Worte über seine Lippen gekommen, hörte ich Schreie. Drei von den Freiwilligen kamen über den Pfad in den Talgrund. »Haltet sie zurück, Herr!«, knurrte der Robuste, wobei er sich den Leichnam über die Schulter legte. »Ich kümmere mich hierum und bringe Madame in Sicherheit.«

»Nimm du sie!«, sagte Vodalus. Die Pistole, die er dem anderen reichte, warf das Licht des Mondes zurück wie ein Spiegel.

Der Robuste sah sie mit großen Augen an. »Hab' noch nie eine benutzt, Herr …«

»Nimm sie, du brauchst sie vielleicht!« Vodalus bückte sich und hielt beim Wiederaufrichten etwas Stockförmiges in der Hand. Metall knirschte auf Holz, und den Stock hatte eine glänzende, schmale Klinge ersetzt. Er rief: »Achtung!«

Als hätte eine Taube für einen Augenblick eine Viper in ihren Bann geschlagen, so nahm die Frau aus der Hand ihres robusten Gefährten die Pistole, woraufhin sie gemeinsam im Nebel untertauchten.

Die drei Freiwilligen zögerten. Dann verteilte sich einer nach rechts, ein anderer nach links, um von drei Seiten anzugreifen. Der Mann in der Mitte (der auf dem hellen, mit Knochen geschotterten Weg blieb) hatte eine Pike und einer der beiden anderen eine Streitaxt.

Der dritte von ihnen war der Anführer, mit dem Drotte vor dem Tor gesprochen hatte. »Wer bist du?«, rief er Vodalus entgegen, »und welche Vollmacht von Erebus gibt dir das Recht, hier einzudringen und so etwas zu tun?«

Vodalus gab keine Antwort; vielmehr blickte die Spitze seines Schwertes von einem zum anderen wie ein Auge.

Der Anführer krächzte: »Alle zusammen jetzt, und wir haben ihn.« Jedoch rückten sie nur zögernd näher, und bevor sie ihn einschließen konnte, hatte Vodalus einen Satz nach vorne getan. Ich sah seine Klinge im schwachen Licht aufblitzen und hörte sie über die Pikenspitze kratzen – ein metallisches Scheuern, als würde eine stählerne Schlange über eine Eisenplatte gleiten. Der Pikenier sprang brüllend zurück; auch Vodalus stürmte rückwärts (vermutlich befürchtete er, die beiden anderen würden ihm in den Rücken fallen), verlor dann offenbar das Gleichgewicht und stürzte.

All dies ereignete sich im Dunkeln und Nebel. Ich sah zu, aber die Männer waren größtenteils nur verwischte Schatten – wie es auch die Frau mit dem herzförmigen Gesicht gewesen war. Dennoch war ich davon berührt. Vielleicht war es Vodalus' Bereitschaft, für sie ihr Leben einzusetzen, was mir die Frau kostbar erscheinen ließ; sicherlich war es diese Bereitschaft, die in mir Bewunderung für ihn entfachte. Wenn ich hiernach auf einem wackligen Gerüst in irgendeinem Marktplatz stand, mein Terminus Est auf den Boden gestützt hielt und ein elender Vagabund vor mir kniete, wenn ich das hasserfüllte Flüstern und Zischen der Menge hörte und die viel unliebsamere Bewunderung jener spürte, denen anderer Leute Schmerzen und Tod ein zweideutiges Vergnügen bereiteten, dann besann ich mich oft auf Vodalus im Friedhof, sobald ich mit meinem Schwert zum Schlag ausholte, und redete mir ein, dass es für ihn föchte, wenn es niederführe.

Wie gesagt, er stolperte. Und in diesem Augenblick bangte ich mit ihm ums Leben.

Die seitlich einbrechenden Freiwilligen liefen auf ihn zu; allerdings hatte er seine Waffe nicht aus der Hand verloren. Ich sah die glänzende Klinge aufblitzen, obschon der Besitzer noch auf der Erde lag. Mir fällt ein, wie sehr ich Drotte an dem Tag, an dem er zum Lehrlingswart aufgestiegen ist, um sein Schwert beneidet und mich mit Vodalus verglichen habe.

Der Mann mit der Axt, auf den er eingestochen hatte, wich zurück; der andere stürmte mit einem langen Dolch vor. Ich war inzwischen aufgestanden und beobachtete den Kampf über die Schulter eines Chalcedon-Engels. Der Dolch senkte sich, verfehlte Vodalus, der sich zur Seite rollte, um Daumenbreite und bohrte sich bis zum Heft in den Boden. Vodalus hieb sodann gegen den Anführer, aber die Entfernung war zu kurz für die lange Klinge. Der Anführer floh nicht, sondern ließ seine Waffe los und umklammerte seinen Gegner wie ein Ringkämpfer. Sie befanden sich direkt am Rand des offenen Grabes – vermutlich war Vodalus über die ausgehobene Erde gestrauchelt.

Der zweite Freiwillige holte mit seiner Streitaxt aus, aber zauderte. Sein Führer war ihm am nächsten; also umrundete er das Paar, um ungehindert zuschlagen zu können, bis er weniger als einen Schritt von meinem Versteck entfernt war. Während er noch zielte, bekam Vodalus mit einem Ruck den Dolch frei und rammte ihn dem Anführer in den Hals. Die Axt holte aus; ich packte den Stiel direkt unter der Schneide fast unwillkürlich und fand mich augenblicklich mitten im Kampf wieder, mit dem Fuß tretend, dann um mich schlagend.

Ganz plötzlich war er vorüber. Der Freiwillige, dessen blutverschmierte Waffe ich festhielt, war tot. Der Anführer der Freiwilligen wand sich zu unseren Füßen am Boden. Der Pikenier war verschwunden; seine Pike lag unschädlich auf dem Weg. Vodalus bückte sich nach seiner schwarzen Scheide im Gras und steckte sein Schwert hinein. »Wer bist du?«

»Severian. Ich bin ein Folterer. Vielmehr ein Folterlehrling, Herr. Vom Orden der Wahrheitssucher und Büßer.« Ich nahm einen tiefen Atemzug. »Ich bin ein Vodalarius. Einer von abertausend Vodalarii, deren Existenz Euch nicht bewusst ist.« Das war ein Ausdruck, der mir nur flüchtig zu Ohren gekommen war.

»Hier.« Er drückte mir etwas in die Hand: eine kleine Münze, die so glatt war, dass sie sich wie geölt anfühlte. Am geschändeten Grab stehend, umklammerte ich sie und beobachtete, wie er sich entfernte. Lange bevor er die Anhöhe erreichte, hatte der Nebel ihn verschluckt, und kurz darauf surrte pfeilschnell ein silberner Flieger über mir vorüber.

Der Dolch steckte nicht mehr im Hals des Toten. Vielleicht hatte er sich ihn im Todeskampf herausgerissen. Als ich mich bückte, um ihn aufzuheben, bemerkte ich, dass die Münze noch in meiner Hand lag, also schob ich sie in die Tasche.

Wir glauben, dass wir Symbole erfinden. In Wirklichkeit erfinden sie uns; wir sind ihre Geschöpfe, durch ihre scharfen, klar umrissenen Ränder geformt. Wenn Soldaten den Fahneneid leisten, erhalten sie eine Münze, einen Asimi mit dem Abbild des Autarchen. Indem sie diese Münze annehmen, bürden sie sich die besonderen Pflichten und Lasten des Militärwesens auf – sind von nun an Soldaten, obwohl sie vielleicht keine Ahnung vom Umgang mit Waffen haben. Damals habe ich das noch nicht gewusst, aber es ist ein schwerer Fehler zu glauben, man müsste davon wissen, um davon beeinflusst zu werden; wer das glaubt, ist zutiefst abergläubisch. Nur der Möchtegern-Zauberer hat Vertrauen in die Wirksamkeit reinen Wissens; vernünftige Leute wissen, dass etwas von allein oder gar nicht passiert.

Als ich die Münze einsteckte, wusste ich also nichts über die Lehren der Bewegung, die Vodalus anführte, hörte aber bald zur Genüge davon, denn sie waren in aller Munde. Mit ihm hasste ich die Autarchie, obschon ich keine Vorstellung hatte, was an ihre Stelle treten sollte. Mit ihm verabscheute ich die Beglückten, die sich nicht gegen den Autarchen erhoben, sondern ihre schönsten Töchter feierlich als Konkubinen an ihn banden. Mit ihm verwünschte ich das Volk, weil es keine Disziplin und keine gemeinsamen Ziele besaß. Von den Werten, die Meister Malrubius (der in meiner Kindheit Lehrmeister gewesen war) mich zu lehren versucht hatte, und die Meister Palaemon mir noch jetzt zu übermitteln bestrebt war, akzeptierte ich nur einen: Loyalität gegenüber meiner Zunft. Hierin verhielt ich mich ziemlich korrekt – es war meinem Gefühl nach durchaus möglich, Vodalus zu dienen und Folterer zu bleiben. Derart begann also die lange Reise, an deren Ende mir der Thron zufiel.

II. Severian

Die Erinnerung ist bedrückend. Da ich von Folterern aufgezogen worden bin, habe ich meine Eltern nie gekannt. Ebenso wenig kennen meine Mitbrüder die ihrigen. Von Zeit zu Zeit, besonders häufig aber in den langen Wintermonaten, ziehen lärmend Hungerleider vor die Leichenpforte und begehren Aufnahme in unsere altehrwürdige Zunft. Oft erquicken sie den Bruder Pförtner mit Schilderungen von Martern, die sie gern ausführen wollten, bekämen sie nur ein warmes Plätzchen und Essen dafür; gelegentlich schaffen sie als Arbeitsproben Tiere herbei.

Alle werden sie abgewiesen. Die Tradition aus unserer Blütezeit, die der jetzigen Epoche des Niedergangs und den beiden davor vorangegangen ist und deren Name selbst den Gelehrten nicht mehr geläufig ist, verbietet das Anwerben von solchen. Sogar in der Zeit, über die ich schreibe, wo die Zunft auf zwei Meister und weniger als zwanzig Gesellen zusammengeschrumpft ist, werden diese Überlieferungen beherzigt.

Ich kann mich an alles erinnern, seit ich denken kann. Meine früheste Erinnerung ist, dass ich im Alten Hof Kieselsteine aufschichtete. Dieser liegt südwestlich vom Hexenturm und ist vom Großen Platz abgetrennt. Die Ringmauer, die unsere Zunft mitverteidigen musste, war schon damals in schlechtem Zustand und wies eine breite Lücke zwischen dem Roten Turm und dem Bären auf, wo ich immer über die herabgestürzten Platten aus unschmelzbarem, grauem Metall kletterte, um zu der an dieser Bergseite des Zitadellenhügels gelegenen Nekropolis hinabzuschauen.

Älter geworden, bevorzugte ich diese als Spielgelände. Die gewundenen Wege wurden tagsüber patrouilliert, aber die Posten kümmerten sich hauptsächlich um die frischeren Gräber weiter unten und hatten, weil sie wussten, dass wir zu den Folterern gehörten, selten große Lust, uns aus unseren Verstecken in den Zypressenhainen zu vertreiben.

Unsere Nekropolis gilt als die früheste Grabanlage in Nessus. Das ist sicherlich falsch, aber dass eine solche Meinung überhaupt existiert, beweist an sich schon ihr hohes Alter, obgleich die Autarchen hier nicht zur letzten Ruhe gebettet worden sind, selbst als die Zitadelle noch ihre Hochburg gewesen ist, und die großen Familien – damals wie heute – ihre hochwüchsigen Toten in Grüften auf eigenem Grund und Boden beerdigt haben. Jedoch zogen die Wappenträger und Optimaten die oberen Hanglagen nächst der Zitadellenmauer vor; und die ärmeren Bürgerlichen hatten ihren Platz darunter, bis zuletzt in den hintersten Ecken der Talsohle, gegen die den Gyoll säumenden Mietshäuser gedrängt, die Töpfer zu liegen kamen. Selten ging ich als Knabe allein so weit, oder auch nur halb so weit.

Wir waren immer zu dritt – Drotte, Roche und ich. Später auch Eata, der nächstälteste von den Lehrlingen. Keiner von uns kam bei den Folterern zur Welt, denn das ist nie so. Angeblich waren früher einmal Männer und Frauen in der Zunft, und die Kinder, die sie bekamen, erlernten das Handwerk von ihren Eltern, wie es heute bei den Lampenmachern, Goldschmieden und vielen anderen Gilden der Fall ist. Aber als Ymar der fast Gerechte sah, wie grausam die Frauen waren und wie oft sie die von ihm erlassenen Strafen übertrieben, befahl er, dass es hinfort bei den Folterern keine Frauen mehr geben dürfte.

Seit dieser Zeit werden unsere Reihen einzig durch die Kinder jener ergänzt, die uns in die Hände fallen. Es ragt in unserem Matachin-Turm ein gewisser Eisenstab in Hüfthöhe aus der Wand. Knaben, die noch so klein sind, dass sie sich aufrecht darunterstellen können, finden Aufnahme an Kindes Statt; kommt eine Hochschwangere zu uns, eröffnen wir ihren Leib und bringen den Säugling, falls er atmet und ein Knabe ist, zu einer Amme. Mädchen werden den Hexen übergeben. So ist es seit Ymars Zeit gewesen, und diese längst vergessene Zeit liegt aberhundert Jahre zurück.

Also kennt keiner von uns seine Abstammung. Jeder möchte ein Beglückter sein, wenn er könnte, und tatsächlich werden uns viele Menschen aus hohen Häusern anvertraut. Als Knabe versuchte jeder von uns, sich darüber ein eigenes Bild zu machen und die älteren Brüder unter den Gesellen auszuhorchen, aber diese sagten uns, durch das eigene Schicksal verhärtet, wenig. In dem Jahr, von dem ich schreibe, malte Eata das Wappen eines großen Geschlechts aus dem Norden an die Decke über seinem Bett, hielt er sich doch für einen Spross dieser Familie.

Was mich anging, so hatte ich bereits das über der Tür eines bestimmten Mausoleums angebrachte Bronzerelief als das meinige angenommen. Es bestand aus einer aufschießenden Wasserfontäne, einem fliegenden Schiff und einer Rose darunter. Die Tür selbst war vor langer Zeit aufgebrochen worden; zwei leere Särge lagen auf dem Boden. Drei weitere, die zu schwer zum Verrücken und noch unbeschädigt waren, warteten auf Gestellen entlang der Wand. Weder die geschlossenen noch die offenen machten den Ort für mich so anziehend, obschon ich mich manchmal auf den Resten der weichen, dumpfen Lederpolsterung zur Ruhe legte. Eigentlich war es wegen der Enge des Raumes, der dicken Mauern aus Großsteinen und des einzigen schmalen Fensters mit seinem einzelnen Gitterstab, zusammen mit der treulosen Tür (so wuchtig und gediegen), die für alle Zeiten offenstand.

Durch Fenster und Tür konnte ich unbemerkt das Gedeihen der Bäume, Sträucher und Wiesen draußen beobachten. Hänfling und Hase, die flohen, wenn ich näherkam, konnten mich weder sehen noch wittern. Ich verfolgte, wie die Nebelkrähe zwei Ellen über meiner Nase ihr Nest baute und ihre Jungen aufzog. Ich sah den Fuchs mit erhobener Lunte vorüberschleichen; und einmal jenen Riesenfuchs, der größer als die größten Hunde ist und von den Menschen Mähnenwolf genannt wird, als er in der Dämmerung auf geheimnisvoller Fährte von den Ruinen im Süden heranschnürte. Der Caracara erlegte Vipern für mich, und der Falke schwang sich elegant vom Wipfel einer Pinie in den Wind.

Ein Augenblick reicht aus, um diese Dinge zu schildern, nach denen ich so lange Ausschau gehalten habe. Die Dekaden eines Saros' wären zu kurz zum Niederschreiben all dessen, was sie dem zerlumpten Lehrburschen, der ich gewesen bin, bedeutet haben. Zwei Gedanken (fast Träume) packten mich und ließen diese Dinge unendlich kostbar erscheinen. Der erste war, dass in absehbarer Zeit die Zeit selbst aufhören würde zu sein … die bunten Tage, seit alters aneinandergereiht wie Glieder einer Zauberkette, kämen zu einem Ende, und die trübe Sonne würde erlöschen. Der zweite war, dass es irgendwo ein wunderbares Licht gäbe – das ich mir einmal als Kerze vorstellte, ein andermal als Fackel –, welches alle Dinge, auf die es fiele, zum Leben erweckte, so dass einem von einem Busch gepflückten Blatt dünne Beinchen und zuckende Fühler entwüchsen und ein knorriger dürrer Ast schwarze Augen aufschlüge und auf einen Baum hinaufkletterte.

Manchmal jedoch, insbesondere in den trägen Mittagsstunden, gab es wenig zu sehen. Dann wandte ich mich wieder dem Wappenbild über der Tür zu und überlegte, was ein Schiff, eine Rose und eine Fontäne mit mir zu tun hätten, oder betrachtete die bronzene Totenstatue, die ich gefunden, gesäubert und in einer Ecke aufgestellt hatte. Der Leichnam lag aufgebahrt, die großen Augenlider geschlossen. Im spärlichen Licht, das durchs Fensterchen drang, erforschte ich sein Gesicht und verglich es mit dem meinigen, wie es sich im polierten Metall spiegelte. Mit meiner geraden Nase, meinen tief sitzenden Augen und hageren Wangen sah ich ihm sehr ähnlich, und ich brannte darauf zu wissen, ob auch er dunkle Haare gehabt hatte.

Im Winter suchte ich die Nekropolis selten auf, aber im Sommer kam ich gern in das geschändete Mausoleum oder an andere Stellen, um Beobachtungen zu machen oder ein kühles Plätzchen zum Ausruhen zu haben. Drotte, Roche und Eata kamen ebenfalls hierher, allerdings führte ich sie nie an diesen meinen bevorzugten Zufluchtsort; wie ich wusste, hatten sie eigene Verstecke. Wenn wir beisammen waren, krochen wir meist überhaupt nicht in Grüfte. Vielmehr bastelten wir uns Holzschwerter und kämpften damit gegeneinander oder bewarfen die Soldaten mit Pinienzapfen oder zeichneten ein Schachbrett in die Erde frischer Gräber und spielten Dame mit Steinen, Schnurstücken, Schneckenhäuschen und angeschwemmten Muschelschalen.

Wir vergnügten uns auch in dem Labyrinth, das die Zitadelle darstellte, und badeten in der großen Zisterne unter dem Glockenturm. Dort war es sogar im Sommer kalt und dumpfig unter dem Dachgewölbe am runden Becken bodenlos tiefen, dunklen Wassers. Aber es war im Winter kaum schlimmer, und es hatte den unvergleichlichen Vorteil des Unerlaubten, so dass wir, den Reiz des Verbotenen auskostend, heimlich hinunterschlüpfen konnten, wenn man uns woanders wähnte, wobei wir unsere Fackeln erst entzündeten, nachdem wir das Bodengitter hinter uns geschlossen hatten. Wenn dann die Flammen vom brennenden Pech aufloderten, wie tanzten da unsere Schatten über die feuchten Mauern!

Wie ich schon erwähnte, gingen wir daneben auch im Gyoll schwimmen, der sich wie eine große, träge Schlange durch Nessus windet. Sobald es warm wurde, zogen wir durch die Nekropolis dort hin – zuerst vorüber an den alten, vornehmen Ruhestätten nächst der Zitadellenmauer, dann durch die Prunkgräber der Optimaten und weiter durch den Steinwald gewöhnlicher Gedenktafeln (wobei wir uns höchst ehrerbietig gaben, wenn wir an den stämmigen, auf ihre Streitäxte gestützten Wächtern vorbeimussten). Und zuletzt dann durch die schlichten, blanken Hügel, unter denen die Armen bestattet waren, Hügel, die nach dem ersten Regen zu lehmigen Gruben zusammensackten.

Am untersten Ende der Nekropolis befand sich das bereits geschilderte Eisentor. Durch dieses wurden die für den Töpferacker bestimmten Leichen getragen. Als wir dieses rostige Portal durchschritten, hatten wir zum ersten Mal das Gefühl, wirklich außerhalb der Zitadelle zu sein – und damit unleugbar im Ungehorsam zu den Regeln, die unser Kommen und Gehen bestimmen sollten. Wir glaubten (oder gaben zu glauben vor), dass wir gefoltert würden, falls unsere älteren Brüder unsere Unfolgsamkeit entdeckten; in Wirklichkeit hätte uns nicht mehr als eine Prügelstrafe erwartet – derart ist die Güte der Folterer, die ich später noch missbrauchen sollte.

Größere Gefahr drohte uns von den Bewohnern der vielstöckigen Mietshäuser an der schmutzigen Straße, die wir entlangschritten. Manchmal glaube ich, die Zunft hat deswegen so lange überdauert, weil sie als Brennpunkt den Hass des Volkes auf sich vereint und ablenkt vom Autarchen, von den Beglückten, von der Armee und teilweise sogar von den bleichen Cacogens, die unsere Urth zuweilen von fernen Sternen besuchen.

Die gleiche Aufmachung, die den Wächtern unsere Identität verriet, schien oft auch den Bewohnern der Mietshäuser Aufschluss über unseren Stand zu geben; gelegentlich wurden wir von den oberen Fenstern mit Spülicht begossen und von zornigem Raunen begleitet. Aber die Angst, die diesen Hass hervorbrachte, beschützte uns auch. Es kam zu keinen echten Ausschreitungen gegen uns, und wenn bekannt war, dass ein grausamer Wüterich oder bestechlicher Bürgersmann der Gnade der Zunft ausgeliefert worden war, rief man uns hin und wieder auch Empfehlungen zu, wie mit diesem zu verfahren sei – meist unzüchtige und oft unmögliche Vorschläge.

Wo wir baden gingen, hatte der Gyoll vor Hunderten von Jahren seine natürlichen Ufer verloren. Hier war er ein zwei Ketten breites, von Steinmauern begrenztes Feld blauer Teichrosen. Stufen für anlegende Boote führten an verschiedenen Stellen zum Fluss hinab; an heißen Tagen war jede Treppe immer durch eine Horde von zehn bis fünfzehn schreienden Jugendlichen besetzt. Wir vier waren nicht so stark, diese Gruppen zu vertreiben, aber sie konnten uns nicht (oder wollten's zumindest nicht) den Zugang verwehren, obschon ein jeder dieser Haufen, zu dem wir uns gesellten, Drohungen ausstieß, wenn wir näherkamen, und uns verspottete, sobald wir in seiner Mitte weilten. Bald jedoch entfernten sich alle und überließen uns den Besitz bis zum nächsten Badetag.

All dies wollte ich jetzt schildern, weil ich nach dem Tag, an dem ich Vodalus das Leben gerettet hatte, nie wieder diesen Ort aufsuchte. Drotte und Roche glaubten, der Grund dafür sei meine Angst, wieder ausgesperrt zu werden. Eata erriet es wohl – bevor sie das Mannsein richtig erreichen, haben Knaben oft eine fast weibliche Einsicht. Es war wegen der Teichrosen.

Die Nekropolis war mir nie wie eine Stadt des Todes vorgekommen; ich weiß, ihre purpurroten Rosen (die andere Leute für so grässlich halten) beherbergen aberhundert Tierchen und Vögel. Die Hinrichtungen, die ich so oft gesehen und selbst vollzogen habe, sind nichts weiter als ein Handwerk, ein Hinschlachten von Menschen, die größtenteils unschuldiger und wertloser als Vieh sind. Wenn ich an meinen eigenen Tod denke oder an den Tod eines Gefährten, der gütig zu mir gewesen ist, oder sogar an den Tod der Sonne, so kommt mir das Bild der Teichrose mit ihren glänzenden, hellen Blättern und azurblauen Blüten in den Sinn. Unterhalb der Blüten und Blätter erstreckt sich tief ins dunkle Wasser das schwarze Wurzelwerk, so fein und kräftig wie Haar.

Als Jünglinge machten wir uns nichts aus diesen Pflanzen. Wir planschten und badeten zwischen ihnen, schoben sie beiseite und kümmerten uns nicht um sie. Ihr Duft entkräftete zum Teil den fauligen Geruch des Wassers. An dem Tag, an dem ich Vodalus retten sollte, tauchte ich unter das dichte Polster, wie ich es schon tausendmal getan hatte.

Ich kam nicht wieder hoch. Irgendwie war ich in eine Stelle eingedrungen, wo die Wurzeln dicker waren, als ich es je erlebt hatte. Ich war gleichzeitig in hundert Netzen gefangen. Die Augen hatte ich offen, trotzdem konnte ich nichts sehen – nur das schwarze Wurzelgewirr. Ich schwamm und spürte, dass meine Arme und Beine sich zwischen den Millionen von feinen Ranken bewegten, nicht aber mein Körper. Ich packte sie büschelweise und riss sie auseinander, aber nachdem ich Handvoll um Handvoll zerrissen hatte, hing ich fest wie eh und je. Meine Lungen drängten in meinen Hals und würgten mich, als wollten sie sich explosionsartig nach außen ins Wasser stülpen. Der Drang zum Atmen, zum Einsaugen der dunklen, kahlen Flüssigkeit um mich herum war überwältigend groß.

Ich wusste nicht mehr, in welcher Richtung die Oberfläche lag, und ich war mir des Wassers nicht mehr als Wasser bewusst. Alle Kraft war aus meinen Gliedern gewichen. Ich hatte keine Angst mehr, obschon der Tod nahe oder vielleicht sogar schon eingetreten war. Laut und höchst unangenehm klangen mir die Ohren, und allmählich bekam ich Visionen.

Meister Malrubius, der vor einigen Jahren verstorben war, weckte uns, indem er mit einem Löffel gegen die Wand hämmerte: das war das metallische Rasseln in meinen Ohren. Ich lag auf meiner Pritsche und war nicht fähig zum Aufstehen, obschon Drotte und Roche und die jüngeren Knaben schon auf den Beinen waren und gähnend nach ihren Kleidern tasteten. Meister Malrubius hatte seinen Mantel nach hinten umgeschlagen; ich konnte die lappige Haut an seiner Brust und seinem Bauch sehen, wo Muskeln und Fett mit der Zeit geschwunden waren. Das Dreieck aus Haaren dort war grau wie Schimmel. Ich wollte ihm zurufen, dass ich wach sei, brachte aber keinen Laut hervor. Er schritt an der Wand entlang, weiter mit dem Löffel klopfend. Es verging, wie mir schien, eine Ewigkeit, bevor er die Tür erreichte, stehenblieb und sich hinausbeugte. Ich wusste, dass er auf dem Alten Hof darunter nach mir suchte.

Dennoch konnte er nicht weit genug sehen. Ich war in einer der Zellen unter dem Vernehmungssaal. Dort lag ich auf dem Rücken, zur grauen Decke hinaufstarrend. Eine Frau, die ich nicht sehen konnte, weinte, aber ihr Schluchzen kam mir weniger zum Bewusstsein als das Klirr, Klirr, Klirr des Löffels. Dunkelheit umgab mich, doch aus der Dunkelheit tauchte das Gesicht einer Frau auf, so gewaltig wie die fahle Mondscheibe. Es war nicht sie, die weinte – ich konnte das Schluchzen noch hören, doch dieses Gesicht war ausgeglichen, ja von solcher Schönheit, wie sie sich kaum in Worte kleiden lässt.

Sie streckte die Arme nach mir aus, und ich wurde sofort zu einem Vöglein, das ich im Jahr zuvor mit der Hoffnung, es handzahm zu machen, aus seinem Nest genommen hatte, denn ihre Hände waren so lang wie die Särge meines geheimen Mausoleums, in denen ich mich manchmal zur Ruhe legte. Sie packten mich, zogen mich hoch und stießen mich dann nach unten, von ihrem Gesicht weg und fort vom Schluchzen, hinunter in das schwarze Dunkel, so dass ich schließlich auf dem Grund, der mir schlammig vorkam, aufschlug und durch ihn hindurch in eine schwarzgeränderte Lichterwelt purzelte.

Noch immer bekam ich keine Luft. Ich wollte gar nicht mehr atmen, und mein Brustkorb hatte seine unwillkürlichen Bewegungen eingestellt. Ich glitt durchs Wasser, obwohl ich nicht wusste wie. (Später erfuhr ich, dass Drotte mich am Schopf gepackt hatte.) Sogleich lag ich auf den kühlen, schlüpfrigen Steinen, während Roche, dann Drotte und schließlich wieder Roche mir Atem in den Mund spendeten. Augen umringten mich, wie einen die immer wiederkehrenden Muster eines Kaleidoskops umringen, und ich glaubte, eine Sehstörung bei mir vervielfache Eatas Augen.

Zuletzt wandte ich mich energisch von Roche ab und erbrach große Mengen schwarzen Wassers. Hierauf war mir wieder wohler. Ich konnte mich aufsetzen und wieder schnaufen, wenn auch wie ein Schwindsüchtiger; obschon ich matt war und mir die Hände zitterten, konnte ich meine Arme wieder heben. Die Augen ringsum gehörten leibhaftigen Menschen, den Leuten aus den Mietshäusern. Eine Frau brachte eine Schale mit einem heißen Getränk – ich konnte nicht unterscheiden, ob es sich um Suppe oder Tee handelte, nur dass es kochend heiß und etwas salzig war und rauchig schmeckte. Ich tat, als tränke ich, wobei ich mir, wie sich herausstellte, die Lippen und die Zunge ein wenig verbrannte.

»War das Absicht?«, fragte Drotte. »Wie bist du raufgekommen?«

Ich schüttelte den Kopf.

Jemand aus der Menge sagte: »Er ist richtig aus dem Wasser geschossen!«

Roche hielt beruhigend meine zitternde Hand. »Wir dachten, du würdest woanders rauskommen. Dass du einen Spaß mit uns machtest.«

Ich erwiderte: »Ich habe Malrubius gesehen.«

Ein alter Mann, ein Fischer, seiner teerverschmierten Kleidung nach, nahm Roche bei der Schulter. »Wer ist das?«

»War einmal unser Lehrherr. Er ist tot.«

»Keine Frau?« Der Greis hielt Roche fest, sah aber mich an.

»Nein, nein«, antwortete Roche ihm. »Es gibt keine Frauen in unserer Zunft.«

III. Das Gesicht des Autarchen

Erst am nächsten Vormittag fiel mir die Münze wieder ein, die Vodalus mir gegeben hatte. Nach dem Tischdienst im Refektorium bei den Gesellen hatten wir wie üblich gefrühstückt, waren zu Meister Palaemon ins Klassenzimmer gegangen und ihm nach einer kurzen Einführung in die Untergeschosse gefolgt, um die Arbeit der vorausgegangenen Nacht zu besichtigen.

Aber vielleicht sollte ich, bevor ich weiterschreibe, zu den Örtlichkeiten unseres Matachin-Turms nähere Erläuterungen geben. Er steht im hinteren Teil der Zitadelle an der Westseite. Im Erdgeschoss befinden sich die Studierzimmer unserer Meister, wo Besprechungen mit den Justizbeamten und den Vorstehern anderer Gilden stattfinden. Unser Gemeinschaftsraum, dessen Rückwand an die Küche grenzt, ist darüber zu finden. Über diesem schließt sich das Refektorium an, das uns als Versammlungs- und Speisesaal dient. Oberhalb davon liegen die Stuben unserer Meister, die in besseren Zeiten viel zahlreicher waren. Im Stock darüber sind die Stuben der Gesellen und wiederum darüber Schlafsaal und Schulzimmer der Lehrlinge und verschiedene Mansarden und leerstehende Kämmerchen untergebracht. Die Turmkammer unter dem Dach birgt die Kanonen, die – soweit erhalten – wir von der Zunft zu bedienen haben, sollte die Zitadelle einem Angriff ausgesetzt sein.

Die wirkliche Arbeit unserer Zunft geht allerdings weiter unten vonstatten. Der Keller beherbergt den Vernehmungssaal; darunter und somit außerhalb des eigentlichen Turmes (denn der Vernehmungssaal bildet das tiefste Geschoss des ursprünglichen Baus) erstreckt sich das Labyrinth der Oubliette. Dieses Verlies umfasst drei benutzbare Etagen, die durch ein zentrales Treppenhaus zu erreichen sind. Die Zellen sind schlicht, trocken und sauber, ausgestattet mit einem Tischchen, einem Stuhl und einem schmalen, in der Mitte am Boden befestigten Bett.

Die Lampen der Oubliette sind uralt und brennen angeblich ewig, obschon inzwischen einige erloschen sind. Im düsteren Zwielicht dieser Korridore waren meine Gefühle an diesem Morgen nicht düster, sondern freudig – hier würde ich wirken, sobald ich Geselle wäre, hier würde ich die alte Kunst ausüben und mich zum Rang eines Meisters emporarbeiten, hier würde ich das Fundament dafür legen, den ehemaligen Ruhm unserer Zunft wiederherzustellen. Schon die Luft dort wickelte mich ein wie ein Tuch, das an einem rauchlosen Feuer gewärmt worden war.

Wir hielten vor einer Zellentür an, und der diensthabende Geselle drehte klirrend den Schlüssel im Schloss. Drinnen hob die Klientin den Kopf und riss ihre dunklen Augen weit auf. Meister Palaemon trug den mit schwarzem Zobel verbrämten Mantel und die samtene Maske seines Standes; dies, so vermute ich, oder das vorstehende Augenglas, das er zum besseren Sehen benutzte, muss sie erschreckt haben. Sie sagte nichts, und selbstverständlich sprach keiner von uns mit ihr.

»Hier«, begann Meister Palaemon mit seiner trockensten Stimme, »haben wir etwas nicht Alltägliches im normalen Vollzug und ein anschauliches Beispiel für moderne Verfahren. Die Klientin wurde in der vergangenen Nacht einem Verhör unterzogen – vielleicht haben einige von euch sie gehört. Zwanzig Tropfen Tinktur wurden vor der Marter gegeben und zehn danach. Die Dosis war zu schwach, um Schock und Ohnmacht zu verhindern, so dass nach dem Schinden des rechten Beins abgebrochen wurde, wie gleich zu sehen ist.« Mit einer Geste veranlasste er Drotte, den Verband abzunehmen.

»Halber Stiefel?«, fragte Roche.

»Nein, ganzer Stiefel. Sie war eine Zofe, und wie Meister Gurloes sagt, haben diese eine dicke Haut. In ihrem Fall hatte er recht. Ein einfacher runder Schnitt wurde unterhalb des Knies angelegt und der Wundrand mit acht Klammern aufgenommen. Das sorgfältige Arbeiten von Meister Gurloes, Odo, Mennas und Egil erlaubte es, dass ohne weitere Zuhilfenahme des Messers alles zwischen dem Knie und den Zehen entfernt werden konnte.«

Wir versammelten uns um Drotte, wobei sich die jüngeren Knaben vordrängten und so taten, als wüssten sie, nach welchen Stellen sie sehen müssten. Die Arterien und großen Venen waren alle unbeschädigt, trotzdem sickerte allgemein langsam Blut aus der Wunde. Ich half Drotte beim Auflegen von neuem Verbandszeug.

Als wir uns gerade zum Gehen anschickten, sagte die Frau: »Ich weiß es nicht. Ach, wollt ihr denn nicht glauben, dass ich's euch sagte, wenn ich's wüsste? Sie ist mit Vodalus vom Wald gegangen, wohin, das weiß ich nicht.« Unwissenheit vorschützend, fragte ich draußen Meister Palaemon, wer Vodalus vom Wald sei.

»Wie oft habe ich schon erklärt, dass nichts, was ein Klient bei der Vernehmung äußert, von euch gehört wird?«

»Schon oft, Meister Palaemon.«

»Aber umsonst! Bald kommt der Maskentag, Drotte und Roche werden Gesellen und du Lehrlingswart. Ist dies das Beispiel, das du den Knaben geben willst?«

»Nein, Meister.«

Hinter dem Rücken des alten Mannes warf Drotte mir einen Blick zu, der besagte, dass er viel über Vodalus wisse und es mir bei passender Gelegenheit erzählen werde.

»Einst wurden die Gesellen unserer Zunft taub gemacht. Möchtest du, dass so etwas wieder kommt? Nimm die Hände aus den Taschen, wenn ich mit dir spreche, Severian!«

Ich hatte sie dort hineingesteckt, um seinen Zorn abzulenken, aber als ich sie herauszog, bemerkte ich, dass ich mit der Münze, die Vodalus mir am Abend zuvor geschenkt hatte, gespielt hatte. In der Aufregung des Kampfes, der in meiner Erinnerung noch lebendig war, hatte ich sie vergessen; nun brannte ich darauf, sie zu begutachten – aber konnte nicht, weil Meister Palaemon mich durch sein glänzendes Augenglas musterte.

»Wenn ein Klient spricht, Severian, dann hörst du nichts! Überhaupt nichts! Denke an Mäuse, deren Quieksen einem Menschen unverständlich ist!«

Ich kniff die Augen zusammen zum Zeichen dafür, dass ich an Mäuse dachte.

Den ganzen langen, ermüdenden Weg hinauf über die Treppe zu unserem Klassenzimmer gelüstete es mich danach, die dünne Metallscheibe, die ich umklammert hielt, anzuschauen; doch mir war klar, wenn ich das täte, würde es der Knabe hinter mir (das war zufällig Eusignius, einer der jüngeren Lehrlinge) sehen. Im Klassenzimmer, wo Meister Palaemon Bemerkungen zu einer zehn Tage alten Leiche herunterleierte, war die Münze wie eine glühende Kohle, aber einen Blick auf sie zu werfen, das wagte ich nicht.

Erst am Nachmittag konnte ich mich zurückziehen und in den Ruinen der Ringmauer im leuchtenden Moos verstecken; jedoch zögerte ich, als ich die geschlossene Faust gegen die Sonne hielt, weil ich befürchtete, die Enttäuschung, wenn ich sie sähe, wäre doch größer, als ich ertragen könnte.

Nicht weil mir ihr Wert etwas bedeutete. Obwohl ich bereits ein Mann war, besaß ich so wenig Geld, dass jede Münze mir wie ein Vermögen vorgekommen wäre. Vielmehr stellte die Münze (die jetzt so geheimnisvoll in meiner Hand verborgen lag, was sie aber bald wohl nicht mehr wäre) das einzige Verbindungsglied zum Abend davor dar, die einzige Beziehung zu Vodalus und der schönen, vermummten Frau und dem robusten Mann, der mit seiner Schaufel nach mir geschlagen hatte, meine einzige Beute vom Kampf am offenen Grab. Das Leben in der Zunft war das einzige Leben, das ich kannte, und es kam mir nun grau wie mein zerlumptes Hemd vor, verglichen mit der aufblitzenden Schwertklinge des Beglückten und dem durch den Friedhof hallenden Schuss. Vielleicht wäre all das weg, öffnete ich die Hand.

Schließlich sah ich nach, sobald ich das spannende Gefühl des drohenden Verlusts ausgekostet hatte. Ein goldener Chrysos war die Münze, und abermals schloss ich meine Hand, weil ich befürchtete, ihn nur mit einem Orikalkum aus Messing verwechselt zu haben, und wartete, bis ich wieder Mut gefasst hatte.

Das war das erste Mal, dass ich ein Stück Gold in Händen hielt. Orikalken hatte ich schon recht oft gesehen und sogar schon einige besessen. Silberne Asimi hatte ich ein- oder zweimal zu Gesicht bekommen. Aber von Chrysos hatte ich nur die gleiche vage Vorstellung wie von der Existenz einer Welt außerhalb unserer Stadt Nessus und von den anderen Kontinenten im Norden und Osten und Westen.

Auf dieses Geldstück war ein Antlitz geprägt, ein Frauengesicht, wie ich zuerst dachte, ein gekröntes Frauenhaupt, weder jung noch alt – aber still und vollendet in diesem zitronengelben Metall. Schließlich drehte ich den Schatz um und hielt dann fürwahr den Atem an; auf der Rückseite war genau das gleiche fliegende Schiff abgebildet, das ich im Wappen über der Tür meines geheimen Mausoleums entdeckt hatte. Das war mir unerklärlich, dermaßen unerklärlich, dass ich damals nicht einmal Mutmaßungen darüber anstellte, so sicher war ich mir, alle Mutmaßungen wären vergeblich. Stattdessen steckte ich die Münze wieder in meine Tasche und ging wie in Trance zurück zu meinen Kameraden.

Die Münze mit mir herumzutragen kam nicht in Frage. Sobald sich eine Möglichkeit dazu ergab, schlich ich allein in die Nekropolis und suchte mein Mausoleum auf. Das Wetter hatte an diesem Tag umgeschlagen – ich schlüpfte durch tropfnasses Gebüsch und stapfte durch hohes, altes Gras, das sich allmählich zur Winterruhe umlegte. Als ich an meine Zuflucht gelangte, war sie nicht mehr der kühle, einladende Unterschlupf des Sommers, sondern eine eisige Fallgrube, in der ich obskure Feinde witterte, Feinde von Vodalus, der inzwischen sicherlich wusste, dass ich sein verschworener Anhänger war; sobald ich einträte, würden sie hervorstürmen und die schwarze Tür auf frisch geölten Angeln zuschlagen. Natürlich war mir klar, dass dies Unsinn war. Trotzdem war mir ebenfalls klar, dass Wahrheit darin lag, dass die Bedrohung, der ich mich ausgesetzt fühlte, eine zeitbedingte war. In ein paar Monaten oder Jahren wäre es vielleicht so weit, dass diese Feinde mir auflauerten; als ich die Streitaxt schwang, hatte ich mich fürs Kämpfen entschieden, was ein Folterer normalerweise nicht tut.

Es war eine Steinplatte im Boden ziemlich nahe am Fuß meiner bronzenen Totenstatue locker. Ich wuchtete sie hoch und legte meinen Chrysos darunter, woraufhin ich eine Zauberformel murmelte, die ich vor Jahren von Roche gelernt hatte – einen Reim, der versteckte Gegenstände vor Entdeckung schützte:

»Hier sei und bleibe außer Sicht,

Zeig dich fremdem Auge nicht,

Gläsern scheine ihm im Licht,

Wo ich dich verborgen.

Dass keiner dich entwende,

Verwirre fremde Hände

Und fremde Augen blende,

Bis ich dich geborgen.«

Damit der Zauber tatsächlich wirksam würde, müsste man bei Mitternacht, eine Totenkerze tragend, um die Stelle herumgehen, aber ich brach unwillkürlich in Gelächter aus bei diesem Gedanken – er erinnerte mich an Drottes bei Mitternacht auf Gräbern gesammelte Heilkräuter – und beschloss, mich allein auf den Reim zu verlassen, obgleich ich verwundert feststellte, dass ich nun alt genug wäre, mich dessen nicht zu schämen.

Die Tage vergingen, aber die Erinnerung an meinen Besuch im Mausoleum blieb so frisch, dass ich davon absah, die Sicherheit meines Schatzes durch jemand anders auf die Probe stellen zu lassen, obschon es mich zuweilen dazu gelüstete. Dann fiel der erste Schnee, der die Ruinen der Ringmauer in eine fast unüberwindlich rutschige Barriere verwandelte und die vertraute Nekropolis in ein wunderlich ödes, falsches Hügelfeld, in dem die Grabmale unter den frischen Schneehauben mit einemmal übergroß wirkten, während Bäume und Büsche unter der weißen Last auf halbe Größe schrumpften.

Die Lehrzeit in unserer Zunft ist so angelegt, dass ihre Bürden, die einem anfangs zwar leicht vorkommen, mit dem Heranwachsen immer schwerer werden. Die kleinsten Knaben arbeiten überhaupt nicht. Mit sechs Jahren, wenn die Arbeit beginnt, ist zuerst nicht mehr zu tun als mit Botschaften die Treppen des Matachin-Turms hinauf- und hinabzueilen, was der kleine Lehrling – stolz, damit betraut zu werden – nicht als Mühe empfindet. Im Laufe der Zeit wird seine Arbeit jedoch immer beschwerlicher. Die Pflicht führt ihn in andere Teile der Zitadelle: zu den Soldaten im Vorwerk, wo er erfährt, dass die Zöglinge des Militärs Trommeln, Trompeten, Ophikleiden, Stiefel und manchmal vergoldete Kürasse haben; zum Bärenturm, wo er Knaben in seinem Alter sieht, die lernen, mit allerlei seltsamen Kampftieren umzugehen – mit Doggen, deren Schädel so groß wie ein Löwenhaupt ist, mit übermannsgroßen Diatrymen, deren Schnabel in einer stählernen Scheide steckt – und an hundert andere solche Plätze, wo er zum ersten Mal entdeckt, dass seine Zunft verhasst und verachtet ist, sogar bei jenen (ja, hauptsächlich bei jenen), die von ihren Diensten Gebrauch machen. Bald sind Putz- und Küchenarbeiten an der Reihe. Während der Koch das vielleicht reizvolle oder angenehme Kochen besorgt, muss der Lehrling Gemüse schälen, den Gesellen servieren und in endloser Folge Tabletts stapelweise über die Treppe in die Oubliette hinuntertragen.

Ich wusste es damals noch nicht, aber bald würde dieses mein Leben als Lehrling, das immer mühsamer geworden war, soweit ich zurückdenken konnte, einen neuen Lauf nehmen und bequemer und gemütlicher werden. Im Jahr vor der Ernennung zum Gesellen beaufsichtigt ein älterer Lehrling fast nur noch die Arbeit der jüngeren. Sein Essen und sogar seine Kleidung werden besser. Die jüngeren Gesellen behandeln ihn fast schon als gleichrangig, und er trägt vor allem die erhebende Bürde der Verantwortung und kann nach eigenem Ermessen Weisungen geben und durchsetzen.

Mit der Erhebung wird er erwachsen. Er führt nur solche Arbeiten aus, die in sein Fach fallen; er hat freien Ausgang, wenn sein Dienst in der Zitadelle vorüber ist, und erhält für seine Vergnügungen reichlich Geld. Sollte er schließlich zum Rang eines Meisters aufsteigen (einer Ehre, die der einstimmigen Wahl durch alle lebenden Meister bedarf), kann er sich solche Aufträge aussuchen und auswählen, an denen er Interesse oder Gefallen findet, und die Gilde selbst in ihren Belangen lenken.

Aber ihr müsst wissen, dass ich in dem Jahr, von dem ich schreibe, dem Jahr also, in dem ich Vodalus das Leben gerettet habe, von all dem keine Ahnung gehabt habe. Der Winter (so erfuhr ich) hatte den Feldzügen im Norden ein Ende gesetzt und somit den Autarchen und seine wichtigsten Offiziere und Ratgeber wieder zum heimischen Sitz der Gerechtigkeit geführt. »Und deshalb«, erklärte Roche, »haben wir so viele neue Klienten. Und es werden noch welche folgen … Dutzende, Hunderte vielleicht. Womöglich müssen wir das vierte Stockwerk wieder öffnen.« Ein Wink seiner sommersprossigen Hand zeigte, dass er zumindest bereit wäre, alles Erforderliche zu tun.

»Ist er hier?«, fragte ich. »Der Autarch? Hier in der Zitadelle? Im Großen Turm?«

»Natürlich nicht. Wenn er je käme, wüsstest du's, nicht wahr? Es gäb' Paraden und Inspektionen und alle möglichen Vorkehrungen. Es sind dort Gemächer für ihn, aber die Tür dazu ist seit hundert Jahren nicht mehr geöffnet worden. Er hält sich wohl an entlegenen Orten auf – im Haus Absolut – irgendwo nördlich der Stadt.«

»Weißt du denn nicht, wo?«

Roche wurde abwehrend. »Man kann nicht sagen, wo es liegt, weil es außer dem eigentlichen Haus Absolut dort nichts gibt. Es ist da, wo es ist. Im Norden, am anderen Ufer.«

»Jenseits der Mauer?«

Er lächelte über meine Unwissenheit. »Weit dahinter. Wochen zu Fuß. Natürlich könnte der Autarch mit einem Flieger augenblicklich hier zur Stelle sein, wenn er wollte. Auf dem Flaggenturm – dort würde er landen.«

Aber unsere neuen Klienten trafen nicht mit Fliegern ein. Die unbedeutenderen kamen in Herden von zehn bis zwanzig Männern und Frauen, hintereinander am Hals aneinandergekettet. Bewacht wurden sie von Dimarchi, abgebrühten Reitern in Rüstung, die aussahen, als wären sie zum Gebrauch geschaffen und ordentlich gebraucht worden. Jeder Klient trug einen Kupferzylinder, der angeblich seine Papiere und damit sein Schicksal enthielt. Alle hatten sie natürlich die Siegel gebrochen und diese Papiere gelesen; manche hatten sie vernichtet oder gegen die eines anderen eingetauscht. Diejenigen, die ohne Papiere eintrafen, würden eingesperrt werden, bis wir Kenntnis davon erhielten, wie mit ihnen zu verfahren sei – vermutlich also für den Rest ihres Lebens. Diejenigen, die ihre Papiere getauscht hatten, hatten auch ihr Schicksal getauscht; sie würden eingesperrt oder freigelassen, gefoltert oder hingerichtet werden – an eines anderen Stelle.

Die bedeutenderen kamen in gepanzerten Wagen. Die Stahlwände und Gitterfenster dienten in erster Linie nicht der Fluchtverhinderung, sondern der Vereitelung von Befreiungsversuchen. Sobald das erste dieser Vehikel um die Ostseite des Hexenturms gerollt und mit Getöse im Alten Hof aufgefahren war, gingen in der ganzen Zunft Gerüchte um von dreisten Überfällen, die Vodalus plane oder ausgeführt habe. Denn alle Lehrlinge und die meisten Gesellen hielten viele dieser Klienten für seine Gefolgsleute, Helfershelfer und Verbündeten. Ich hätte sie aus diesem Grunde nicht freigelassen – das hätte die Zunft in Verruf gebracht, was ich trotz meiner engen Bindung an ihn und seine Bewegung nicht gewollt hätte, und es wäre mir sowieso nicht gelungen. Aber ich hoffte, denjenigen, die ich als meine Waffenbrüder ansah, etwas Erleichterung verschaffen zu können, soweit es in meiner Macht lag: zusätzliches Essen, das ich von den Tabletts solcher Klienten stahl, die es weniger verdienten, und hin und wieder einen aus der Küche geschmuggelten Happen Fleisch.

Eines stürmischen Tages bekam ich Gelegenheit, in Erfahrung zu bringen, wer sie waren. Ich schrubbte gerade den Boden in Meister Gurloes' Studierzimmer, als dieser zu irgendeiner Besorgung hinausgerufen wurde und die neu eingetroffenen Aktenbündel auf seinem Schreibpult liegen ließ. Sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, eilte ich zum Tisch und konnte die meisten überfliegen, bevor ich wieder seine schweren Tritte auf den Stufen vernahm. Kein einziger – kein einziger – der Gefangenen, deren Papiere ich eingesehen hatte, war ein Anhänger von Vodalus. Es handelte sich um Kaufleute, die mit Waren, welche das Heer benötigte, einen fetten Profit hatten einstreichen wollen; um Marketender, die für die Ascier spioniert hatten, und hie und da um lumpige Gauner. Sonst nichts.

Als ich meinen Eimer hinaustrug, um ihn in den Spülstein auf dem Alten Hof zu leeren, hielt dort einer dieser gepanzerten Wagen mit seinem dampfenden, stampfenden, langmähnigen Gespann an und die Soldaten mit ihren pelzverbrämten Helmen nahmen scheu unsere Becher heißen Glühweins entgegen. Irgendwo schnappte ich den Namen Vodalus auf; aber anscheinend war ich der einzige, der ihn gehört hatte, und plötzlich war ich überzeugt, Vodalus sei nur ein Gespenst, das meine Phantasie aus dem Nebel hervorgezaubert hatte, und lediglich der Mann, den ich mit seiner eigenen Axt erschlagen hatte, sei echt gewesen. Die Akten, die ich vor einem Augenblick durchwühlt hatte, schienen weggeblasen wie Blätter, die der Wind einem ins Gesicht pustet.

In diesem Augenblick der Verwirrung erkannte ich zum ersten Mal, dass ich ein bisschen verrückt war. Es war der schrecklichste Moment meines Lebens, ließe sich dagegenhalten. Ich hatte sie oft belogen, Meister Gurloes und Meister Palaemon, Meister Malrubius, als er noch lebte, Drotte, weil er unser Wart war, Roche, weil er älter und stärker als ich war, und Eata und die übrigen jüngeren Lehrlinge, weil ich ihnen Respekt vor mir einflößen wollte. Jetzt hatte ich keine Gewissheit mehr, dass mein eigener Verstand mich nicht belog; alle meine Unwahrheiten prallten auf mich zurück, und ich, der ich ein lückenloses Gedächtnis besaß, konnte mir nicht mehr sicher sein, dass meine Erinnerungen mehr als meine Träume waren. Ich besann mich auf das mondbeschienene Gesicht von Vodalus; allerdings hatte ich mir gewünscht, es zu sehen. Ich besann mich auf seine Stimme, als er mit mir gesprochen hatte; allerdings hatte ich mir gewünscht, sie zu hören, und die der Frau ebenfalls.

Titel der Originalausgabe

THE SHADOW OF THE TORTURER

Aus dem Amerikanischen von Reinhard Heinz

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1980 by Gene Wolfe

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat