Die Klaue des Schlichters - Gene Wolfe - E-Book

Die Klaue des Schlichters E-Book

Gene Wolfe

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Beschreibung

Aufbruch in ein neues Zeitalter

Severian, das ausgestoßene Mitglied der Gilde der Folterer, ist auf dem Weg nach Norden, denn er wird zur Strafe nach Thrax geschickt. Dort soll er als Henker dienen, doch die Reise hält einige Überraschungen für den jungen Mann bereit: Er verliebt sich in Agia, die Schwester eines Revolutionärs, den Severian hinrichten musste. Doch Agia flieht, und Severian sucht nach ihr. Dabei trifft er einen komplett grünen Menschen, der als Sklave auf einem Jahrmarkt ausgestellt wird. Angeblich kann er jede Frage beantworten – weil er aus der Zukunft kommt …

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GENE WOLFE

DIE KLAUE DES SCHLICHTERS

Das Buch der Neuen Sonne

ZWEITERBAND

INHALT

Zitat

Karte von Nessus

I. Das Dorf Saltus

II. Der Mann im Dunkeln

III. Das Zelt des Schaustellers

IV. Das Bukett

V. Der Bach

VI. Blaues Licht

VII. Die Meuchelmörder

VIII. Die Cultellarii

IX. Der Herr des Laubes

X. Thea

XI. Thecla

XII. Die Notulen

XIII. Die Klaue des Schlichters

XIV. Das Vorzimmer

XV. Feuerwerk

XVI. Jonas

XVII. Die Geschichte vom Studenten und seinem Sohn

XVIII. Spiegel

XIX. Kammern

XX. Bilder

XXI. Hydromantie

XXII. Personifikationen

XXIII. Jolenta

XXIV. Dr. Talos' Schauspiel: Eschatologie und Genesis

XXV. Angriff auf die Hierodulen

XXVI. Trennung

XXVII. Gen Thrax

XXVIII. Die Odaliske von Abaia

XXIX. Die Hirten

XXX. Wieder der Dachs

XXXI. Die Läuterung

ANHANG

Aber noch entströmt deinen Dornen Kraft

und deinen Schluchten der Klang von Musik.

Deine Schatten liegen auf meinem Herzen wie Rosen

I. Das Dorf Saltus

Morwennas Gesicht, lieblich und von Haaren so dunkel wie mein Mantel umrahmt, schwebte im Lichtkegel; Blut prasselte vom Nacken auf die Steine. Ihre Lippen bewegten sich tonlos. Eingefasst zwischen ihnen gewahrte ich (als wäre ich der Increatus, der durch einen Spalt der Ewigkeit in die Welt der Zeit spähte) das Gehöft, Stachys, ihren Gemahl, der sich gequält auf dem Lager wälzte, den kleinen Chad, der sich am Teich das fiebrige Gesicht benetzte.

Draußen schrie Eusebia, Morwennas Anklägerin, wie eine Hexe. Ich versuchte, die Gitterstäbe zu erreichen, um sie zum Stillsein anzuhalten, aber sofort verlor ich mich in der Finsternis der Zelle. Als ich endlich Licht entdeckte, war es die grüne Straße, die aus dem düsteren Gewölbe des Erbärmlichen Tores führte. Blut strömte von Dorcas' Wange, und obschon so viele schrien und kreischten, hörte ich es auf den Boden prasseln. Ein so gewaltiger Bau war die Mauer, dass sie die Welt teilte wie die bloße Linie zwischen den Buchrücken zweier Bände; vor uns stand ein Wald, der wohl so alt wie die Urth selbst war, mit turmhohen Bäumen, in makelloses Grün gehüllt. Dazwischen verlief die Straße, die junges Gras bedeckte und auf der sich Männer und Frauen drängten. Ein brennender Einspänner belud die reine Luft mit Rauch.

Fünf Reiter bestiegen ihre Renner, deren gebogene Hauer mit Lazulith belegt waren. Die Männer trugen Helme und indigoblaue Umhänge und führten Lanzen, deren Spitzen stahlblau flackerten; ihre Gesichter glichen sich mehr als die Gesichter von Brüdern. An diesen Reitern brach sich der Strom der Reisenden, wie sich eine Welle an einem Fels bricht – nach links und rechts weichend. Dorcas wurde mir aus den Armen gezogen, und ich zückte Terminus Est, um alle zwischen uns Stehenden niederzuhauen, bemerkte jedoch, dass ich im Begriff war, auf Meister Malrubius einzuschlagen, der mit meinem Hund Triskele an seiner Seite ruhig inmitten des Tumults stand. Als ich ihn sah, wusste ich, dass ich träumte, wusste aber ebenfalls, dass die früheren Visionen von ihm, auch wenn ich sie im Schlaf erlebte, keine Träume gewesen waren.

Ich warf die Decken zur Seite. Das Leuten des Carillons vom Glockenturm drang an meine Ohren. Es war Zeit zum Aufstehen, Zeit zum Anziehen und Antreten in der Küche, Zeit, für den Bruder Koch einen Topf umzurühren und eine Wurst zu stehlen – eine pralle, pikante, halb verbrannte Wurst vom Bratrost. Zeit zum Waschen, Zeit, die Gesellen zu bedienen, Zeit, mir die Lektionen vorzusagen, ehe Meister Palaemon uns austrüge.

Ich erwachte im Lehrlingsschlafsaal, aber alles war verkehrt: eine blinde Wand, wo die runde Pforte hätte sein sollen, ein viereckiges Fenster, wo ein Bullauge hätte sein sollen. Die Reihe der harten, schmalen Pritschen war verschwunden, und die Decke war zu niedrig.

Dann war ich wach. Landdüfte – fast wie das liebliche Aroma der Blüten und Bäume, das von der Nekropolis durch die verfallene Ringmauer heranwehte, nun aber mit scharfem Stallgeruch versetzt – drangen durchs Fenster. Wieder läuteten Glocken von einem nahegelegenen Campanile und riefen die wenigen noch gläubigen Menschen zum Gebet um das Nahen der Neuen Sonne, obwohl es noch sehr früh war und die alte Sonne den Schleier der Urth kaum von ihrem Gesicht genommen hatte und im Dorf bis auf das Geläute Ruhe herrschte.

Wie Jonas am Abend zuvor entdeckt hatte, enthielt unser Wasserkrug Wein. Ich spülte mir damit den Mund, und seine zusammenziehende Eigenschaft wirkte erfrischender als Wasser, dennoch wollte ich mir mit ein wenig Wasser das Gesicht benetzen und das Haar glätten. Vor dem Schlafengehen hatte ich meinen Mantel mit der Klaue in der Mitte zusammengerollt, um ihn als Kopfkissen zu benützen. Ich breitete ihn wieder aus und steckte die Klaue in den Stiefelschaft, da mir einfiel, wie Agia einst versucht hatte, in meine Tasche am Gürtel zu greifen.

Jonas schlief noch. Meiner Erfahrung nach wirken Menschen beim Schlafen jünger als beim Wachsein, Jonas indes hat älter gewirkt – vielleicht auch nur altertümlich; er hatte das Gesicht mit der flachen Nase und flachen Stirn, das ich oft auf alten Gemälden gesehen hatte. Ich begrub die letzte Glut unter der Asche und ging hinaus, ohne ihn zu wecken.

Nachdem ich mich vom Eimer des Brunnens im Hof des Gasthauses frisch gemacht hatte, wurde es laut auf der Straße vor dem Gasthaus; Hufe trappelten durch die Pfützen des Nachtregens, und krumme Hörner klapperten. Jedes Tier war mehr als mannshoch, schwarz oder scheckig und halb blind, da ihm die Mähne über die rollenden Augen wirr ins Gesicht hing. Morwennas Vater war, wie mir einfiel, Fuhrknecht; vielleicht war es seine Herde, obwohl ich das nicht für wahrscheinlich hielt. Ich wartete bis das letzte plumpe Tier vorüber war, und beobachtete die nachfolgenden Reiter. Es waren ihrer drei, staubige, gemeine Männer mit Stachelstöcken, die länger waren als sie selbst, umringt von ihren scharfen, wachsamen Kötern.

Wieder im Gasthaus, bestellte ich mein Morgenmahl und erhielt ofenwarmes Brot, frisch geschlagene Butter, eingelegte Enteneier und gepfefferten, schäumigen Kakao. (Letzterer ein sicheres Zeichen dafür, dass ich unter Leuten war, deren Gebräuche sich vom Norden ableiteten, obschon ich's damals noch nicht wusste.) Der haarlose Zwerg von einem Wirt, der mich gewiss am Vorabend im Gespräch mit dem Alkalden gesehen hatte, schwirrte, sich die Nase am Ärmel abwischend, um meinen Tisch und erkundigte sich jedes Mal, wenn etwas aufgetischt wurde, ob es mir schmecke – es mundete offengestanden vorzüglich –, wobei er mir für den Mittag ein noch besseres Essen versprach und die Köchin, seine Frau, verfluchte. Er nannte mich Sieur, nicht weil er mich für einen inkognito reisenden Beglückten hielt, wie man in Nessus zuweilen geglaubt hatte, sondern weil ein Folterer hier als wirksamer Arm des Gesetzes ein großer Mann war. Wie die meisten Bauern konnte er sich keine soziale Klasse vorstellen, die um mehr als eine Stufe höher als die eigene war.

»Das Bett, war es bequem? Genügend Decken? Wir bringen noch welche.«

Mein Mund war voll, aber ich nickte.

»Also gut. Werden drei reichen? Ihr und der andere Sieur, habt Ihr's bequem zusammen?«

Ich wollte schon sagen, dass mir ein eigenes Zimmer lieber wäre (nicht dass ich Jonas für einen Dieb hielt, aber ich befürchtete, dass die Klaue für jeden eine zu große Versuchung darstellte, und war es überdies nicht gewöhnt, zu zweit zu schlafen), als mir einfiel, dass er sich eine eigene Unterkunft womöglich gar nicht leisten konnte.

»Werdet Ihr heute dabei sein, Sieur? Wenn sie die Mauer durchbrechen? Ein Maurer könnte die Quadersteine rausreißen, aber man hat Barnoch sich drinnen bewegen gehört, und er könnte noch bei Kräften sein. Vielleicht hat er eine Waffe gefunden. Nun, er könnte dem Maurer in die Finger beißen, wenn nicht mehr!«

»Nicht als Amtsperson. Vielleicht sehe ich zu, wenn ich kann.«

»Alle kommen.« Der kahlköpfige Mann rieb sich die Hände, die rutschten wie geölt. »Es wird einen Jahrmarkt geben, wisst Ihr. Der Alkalde hat ihn ausgerufen. Recht geschäftstüchtig, unser Alkalde. Nehmt einen durchschnittlichen Mann – er sieht Euch in meiner Stube, aber denkt sich nichts dabei. Oder wenigstens nicht mehr, als Euch die Hinrichtung Morwennas aufzutragen. Ganz anders der unsrige! Er sieht alles. Er sieht alle Möglichkeiten. Im Nu entsprang der ganze Jahrmarkt seinem Kopf – bunte Zelte und Bänder, Bratfleisch und Zuckerwatte und alles, was dazu gehört. Heute? Nun, heute öffnen wir das versiegelte Haus und ziehen diesen Barnoch wie einen Dachs heraus. Das wird die Leute auftauen lassen, das wird sie von weither ringsum anlocken. Dann werden wir zusehen, wie Ihr mit dieser Morwenna und diesem Bauernkerl verfährt. Morgen beginnt Ihr mit Barnoch – mit heißen Eisen fangt Ihr für gewöhnlich an, nicht wahr? Und ein jeder wird dabei sein wollen. Übermorgen geht's ihm an den Kopf, und die Zelte werden abgebrochen. Es taugt nichts, wenn sie zu lange herumhängen, nachdem sie ihr Geld ausgegeben haben; dann fangen sie nur zu betteln und zu raufen an und so weiter. Alles bestens geplant, bestens ausgedacht! Ihr könnt Euch auf den Alkalden verlassen!«

Ich ging nach dem Frühstück wieder hinaus und beobachtete, wie die zauberhaften Ideen des Alkalden Gestalt annahmen. Bauersleute mit feilen Früchten, Tieren und selbstgewebten Tuchen stapften ins Dorf; darunter einige Autochthonen, die Pelze und zu Bündeln aufgereihte, mit der Cerbotana getötete schwarz-grüne Vögel mitführten. Nun wünschte ich mir, dass ich den von Agias Bruder gekauften Umhang noch hätte, denn mein rußschwarzer Mantel trug mir manch seltsamen Blick ein. Ich wollte mich abermals ins Gasthaus zurückziehen, als ich den Schnellschritt einer aufmarschierenden Schar hörte, einen durch die exerzierende Garnison in der Zitadelle mir vertrauten Laut, den ich seit meiner Abreise von dort jedoch nicht mehr vernommen hatte.

Das Vieh, das ich am frühen Morgen zu Gesicht bekommen hatte, war hinab zum Fluss gezogen, um dort auf Lastkähne verladen zu werden und darin das letzte Stück Weges in die Schlachthäuser von Nessus anzutreten. Diese Soldaten kamen aus der entgegengesetzten Richtung, vom Fluss herauf. Ob deswegen, weil ihre Offiziere sie mit einem Fußmarsch stählen wollten, oder weil die Schiffe, mit denen sie gekommen waren, anderswo gebraucht wurden, oder weil sie in ein vom Gyoll abgelegenes Gebiet kommandiert waren, wusste ich nicht. Ich hörte den gerufenen Befehl zum Singen, als sie auf die zusammenlaufende Menschenmasse stießen, und fast gleichzeitig damit die Schläge von den Ruten der Vingtner und die Schreie der Unglücklichen, die getroffen wurden.

Die Männer waren Kelau; ein jeder trug als Waffe eine Schleuder mit einem zwei Ellen langen Griff und einen bemalten Lederbeutel mit Brandgeschossen. Wenige wirkten älter als ich, und die meisten schienen jünger, aber ihre vergoldeten Schuppenpanzer und reichverzierten Gürtel und Scheiden für den langen Dolch wiesen sie als Mitglieder eines Elitekorps der Erentarii aus. Ihr Lied handelte nicht von Krieg oder Weibern wie die meisten Soldatenlieder, sondern war ein echtes Schleuderwerferlied. Insoweit als ich es an diesem Tag hörte, ging es so:

»Die Mutter sagte, lang ist's her,

Schlafe Knabe, wein nicht mehr;

Für die Fremde bist du erkoren,

Unter einem Schweifstern geboren.

Der Vater schlug mich ins Gesicht,

Wonach er zu dem Sohne spricht:

Er klagt nicht ob der brennenden Ohren,

Der unter einem Schweifstern geboren.

Einen Weisen traf ich, dieser droht:

Ich sehe deine Zukunft rot,

Hast dich dem Brand und Krieg verschworen,

Der du unter dem Schweifstern geboren.

Einen Hirten traf ich, der sinniert:

›Wir Schafe gehn, wohin man uns führt;

Zu den Engeln in den Himmelstoren,

Auf der Bahn des Schweifsterns verloren.‹«

Und so weiter, Vers um Vers. Manche waren mysteriös (wie mir schien), andere lediglich komisch und wieder andere waren gewiss nur um des Reimes willen geschmiedet worden.

»Ein prächtiger Anblick, nicht wahr?« Es war der Wirt, dessen Glatzkopf an meiner Schulter auftauchte. »Südländer – seht, wie viele blondes Haar und Sommersprossen haben. Sind es von da unten kalt gewöhnt und müssen in die Berge. Möchte direkt mitgehen, wenn man sie so singen hört. Wie viele sind's, was meint Ihr?«

Die Packtiere kamen nun in Sicht. Sie waren schwer mit Proviant und Ausrüstung beladen und wurden mit spitzen Schwertern vorwärtsgetrieben. »Zweitausend. Vielleicht zweieinhalb.«

»Danke, Sieur. Ich möchte mich auf dem laufenden halten. Ihr würdet mir nicht glauben, wie viele ich schon durch unsere Straßen habe ziehen sehn. Aber herzlich wenig kommen zurück. Nun, so ist nun mal der Krieg, glaube ich. Ich versuche mir immer einzureden, sie seien noch da – ich meine, dort, wohin sie gezogen sind – aber Ihr wisst so gut wie ich, dass viele für immer gegangen sind. Trotzdem, als Mann möchte man direkt mitgehen, wenn man sie so singen hört.«

Ich fragte, ob er Neues vom Krieg wisse.

»O ja, Sieur. Ich verfolge das Geschehen nun schon seit x Jahren, obwohl die Schlachten, die man führt, nie eine große Änderung bringen, wenn Ihr versteht, was ich meine. Anscheinend rückt die Front weder näher, noch rückt sie weiter fort. Ich denke mir immer, unser Autarch und der ihrige verabreden sich zu einer Schlacht und ziehen dann, ist sie geschlagen, wieder heim. Meine Frau, töricht wie sie ist, glaubt überhaupt nicht, dass wirklich Krieg herrscht.«

Hinter dem letzten Maultiertreiber strömten die Leute wieder zusammen; mit jedem Wort, das wir wechselten, wurde die Menge dichter. Geschäftige Männer errichteten Stände und Zelte, so dass die Straße immer schmaler und das Gedränge immer dichter wurden; finstere Masken auf hohen Stangen schienen wie Pilze aus dem Boden zu wachsen.

»Was glaubt denn deine Frau dann, wohin die Soldaten ziehen?«, fragte ich den Wirt.

»Sie suchen nach Vodalus, sagt sie. Als ob der Autarch – dessen Hände in Gold schwimmen und dessen Feinde ihm die Ferse küssen – seine ganze Armee schickte, um einen Räuber zu fangen!«

Nach Vodalus hörte ich kaum mehr ein Wort.

Alles, was ich besitze, gäbe ich darum, einer von euch zu werden, die tagtäglich über ein schwindendes Gedächtnis klagen. Das meine schwindet nicht. Meine Erinnerungen bleiben bestehen und so lebendig wie zum Zeitpunkt des Erlebens; sind sie erst einmal herbeigerufen, tragen sie mich wie gebannt fort.

Ich wandte mich wohl vom Wirt ab und mischte mich unter die drängenden Bauern und schwatzhaften Händler, ohne all das zu gewahren. Vielmehr spürte ich unter meinen Füßen die mit Knochen geschotterte Wegzeile unserer Nekropolis und sah durch die Nebelfetzen, die vom Fluss heranwehten, die schlanke Gestalt von Vodalus, wie er die Pistole seiner Herrin übergab und das Schwert zog. Nun (es ist traurig, ein Mann geworden zu sein) ging mir diese törichte, verschwenderische Geste sehr nahe. Er, der sich auf hundert heimlichen Plakaten dazu bekannt hatte, für das Althergebrachte zu kämpfen, für die frühere, nun abgelöste Hochkultur unserer Urth, entledigte sich der wirksamen Waffe jener Zivilisation.

Wenn meine Erinnerungen an die Vergangenheit bestehen bleiben, so vielleicht nur deshalb, weil die Vergangenheit nur in der Erinnerung existiert. Vodalus, der sie wie ich Wiederaufleben lassen wollte, blieb dennoch ein Geschöpf der Gegenwart. Dass wir nur sein können, was wir sind, bleibt unsere unverzeihliche Sünde.

II. Der Mann im Dunkeln

Das Haus des Räubers unterschied sich nicht von den übrigen Häusern des Dorfes. Es war aus Bruchstein, einstöckig, mit einem recht flachen, gediegenen Schieferdach aus dem gleichen Gestein. Die Tür und das einzige Fenster, das ich von der Straße aus sehen konnte, waren mit rohem Mauerwerk verschlossen. An die hundert Jahrmarktsbesucher standen nun redend und gestikulierend vor dem Haus; drinnen hingegen war es mäuschenstill, und aus dem Schornstein stieg kein Rauch auf.

»Ist das in dieser Gegend üblich?«, fragte ich Jonas.

»So ist es Tradition. Du kennst den Spruch. ›Eine Legende, eine Lüge und eine Laune machen eine Tradition‹?«

»Mir scheint, es wäre gar nicht schwer rauszukommen. Er könnte nachts ein Fenster oder die Mauer selbst durchbrechen oder einen Gang graben. Ja, wenn er mit so etwas gerechnet hat – und es üblich ist und er tatsächlich für Vodalus spioniert hat – gibt es keinen Grund, warum er das nicht sollte – er könnte sich sowohl mit Werkzeug als auch einem ausreichenden Essens- und Trinkvorrat ausstatten.«

Jonas schüttelte den Kopf. »Bevor die Öffnungen verschlossen werden, wird das Haus durchsucht und alles auffindbare Essen, Werkzeug und Licht entfernt. Auch alles, was sonst noch von Wert sein könnte, wird mitgenommen.«

Eine volltönende Stimme sagte: »Was wir, die wir uns gescheit dünken, in der Tat nicht versäumen.« Es war der Alkalde, der in der Menge unbemerkt an uns herangetreten war. Wir wünschten ihm einen guten Tag, und er erwiderte den Gruß. Er war ein kräftiger, vierschrötiger Mann mit einem offenen Gesichtsausdruck, den ein listiger Zug um die Augen trübte. »Dachte, ich hätte Euch erkannt, Meister Severian, helle Kleider hin, helle Kleider her. Sind sie neu? Sehen so aus. Seid Ihr nicht zufrieden, sagt's mir! Wir sind bemüht, dass nur ehrliche Händler zu unseren Märkten kommen. Keine krummen Geschäfte. Wenn er – egal, wer's ist – Euren Wünschen nicht entspricht, tauchen wir ihn in den Fluss. Ein, zwei Getauchte im Jahr, und die übrigen fühlen sich nicht allzu unbeschwert.«

Schweigend trat er einen Schritt zurück, um mich genauer zu mustern, wobei er offenbar höchst beeindruckt nickte. »Kleiden Euch gut. Ich muss sagen, Ihr seid schön von Gestalt und habt auch ein hübsches Gesicht, das vielleicht ein bisschen blass ist, was unser heißes nördliches Klima hier aber bald in Ordnung bringen wird. Jedenfalls kleiden sie Euch gut und lassen sich gut tragen, wie's scheint. Wenn man Euch fragt, woher Ihr sie habt, so sagt doch vom Markt zu Saltus. Es wird nicht schaden.«

Ich versprach ihm das, obschon ich um die Sicherheit von Terminus Est, das ich in unserm Zimmer im Gasthaus versteckt hatte, viel mehr besorgt war als um mein Aussehen oder die Haltbarkeit meiner Zivilkleidung, die ich bei einem billigen Kaufmann erworben hatte.

»Ihr und Euer Gehilfe seid gekommen, um zu erleben, wie wir den Missetäter hervorholen, nehme ich an? Wir rücken ihm auf den Pelz, sobald Mesmin und Sebald den Balken bringen. Einen Sturmbock nannten wir ihn, als wir unser Vorhaben verkünden ließen, aber es handelt sich eigentlich, fürchte ich, nur um einen Baumstamm, einen recht kleinen noch dazu – sonst müsste die Gemeinde zu viele Helfer entlohnen. Es sollte damit jedoch zu schaffen sein. Ich bezweifle, dass Euch der Fall bekannt ist, den wir hier vor dreizehn Jahren erlebt haben?«

Jonas und ich schüttelten den Kopf.

Der Alkalde warf sich in die Brust, wie es Politiker tun, wenn sie eine Möglichkeit sehen, mehr als nur ein paar Sätze zu sagen. »Ich erinnere mich genau, obwohl ich noch ein junges Bürschchen gewesen bin. Eine Frau. Ihren Namen weiß ich nicht mehr, aber wir haben sie Mutter Pyrexia genannt. Sie ist genauso eingemauert worden, wie Ihr es jetzt vor Euch seht, denn es ist hauptsächlich von denselben Leuten und in der gleichen Art gemacht worden. Aber es ist gegen Ende des Sommers zur Zeit der Apfelernte gewesen, denn ich weiß noch, dass die vielen Zuschauer neuen Most getrunken haben und ich einen frischen Apfel verspeist habe.

Im nächsten Jahr, als das Korn reifte, wollte jemand das Haus kaufen. Aller Besitz fällt der Gemeinde zu, müsst Ihr wissen. Damit decken wir unsere Auslagen; die Helfer bekommen als Lohn, was sie finden können, und die Gemeinde erhält Haus und Grundstück.

Um es kurz zu sagen, wir schnitten einen Rammbock zu und brachen mit wenigen gekonnten Stößen die Tür durch, um die Gebeine der alten Frau zu zermalmen und dem neuen Besitzer sein Eigentum zu übergeben.« Der Alkalde hielt inne und lachte, wobei er den Kopf zurückwarf. Es lag etwas Gespenstisches in diesem Lachen, was vielleicht nur davon herrührte, dass es sich mit dem Lärm der Menge vermischte und dadurch fast lautlos war.

Ich fragte: »War sie tot?«

»Je nachdem, was man darunter versteht. Ich sage nur – eine Frau, die lange genug im Dunkeln eingeschlossen ist, kann sich in etwas sehr Wunderliches verwandeln, ähnlich den wunderlichen Dingen, die man im tiefen Wald in morschem Holz findet. Wir in Saltus sind hauptsächlich Bergmänner und das gewöhnt, was man unter der Erde findet, aber wir haben die Beine in die Hand genommen und Fackeln geholt. Das Licht und das Feuer waren ihm zuwider.«

Jonas tippte mich auf die Schulter und deutete auf ein Gewühl in der Menge. Eine Gruppe entschlossen dreinblickender Gesellen bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg über die Straße. Keiner war behelmt oder in Rüstung, einige jedoch trugen schmalspitzige Lanzen und die übrigen messingbeschlagene Knüttel. Sie erinnerten mich stark an die Freiwilligen, die Drotte, Roche, Eata und mich vor so langer Zeit in die Nekropolis eingelassen hatten. Hinter diesen Bewaffneten folgten vier Männer mit dem Sturmbock, den der Alkalde angekündigt hatte, einem rohen, etwa zwei Spannen breiten und sechs Ellen langen Stamm.

Ein allgemeines Aufatmen war ihre Begrüßung; dem schlossen sich rege Unterhaltung und freundlich zugerufene Aufmunterungen an. Der Alkalde verließ uns, um die Leitung zu übernehmen. Er ließ sich von den Männern mit den Knütteln einen Freiraum vor der Tür des verschlossenen Hauses schaffen und sorgte mit seiner Autorität dafür, dass man uns durchließ, als wir uns vordrängten, um besser sehen zu können.

Sobald alle Brecher ihre Stellung eingenommen hätten, würde man, hatte ich geglaubt, ohne weitere Zeremonie ans Werk gehen. Hierbei hatte ich jedoch nicht mit dem Alkalden gerechnet. Im denkbar letzten Augenblick bestieg er die Treppe zum verschlossenen Haus, bat hutschwenkend um Ruhe und sprach zur Menge:

»Willkommen, Besucher und Mitbürger! Binnen dreier Atemzüge werden wir dieses Hindernis niederreißen und den Räuber Barnoch herausziehen, ob tot oder – wie wir Grund zu glauben haben, da er nicht allzu lange eingesperrt gewesen ist – lebendig. Ihr wisst, was er getan hat. Er hat mit Vodalus' Cultellarii kollaboriert und sie über die Ankunft und Abreise möglicher Opfer informiert! Ihr alle werdet nun denken – und zurecht! –, dass ein solch ruchloses Verbrechen keine Gnade verdient. Ja, sage ich! Ja, sagen wir alle! Hunderte, vielleicht sogar Tausende liegen aufgrund dieses Barnoch in namenlosen Gräbern. Hunderten, vielleicht Tausenden ist noch viel Schlimmeres widerfahren!

Dennoch bitt' ich euch, kurz nachzudenken, ehe wir diese Steine einreißen. Vodalus hat einen Spitzel verloren. Er wird sich einen neuen suchen. Bald schon, denke ich, wird ein Fremder in einer stillen Nacht zu einem von euch kommen. Er wird gewiss viel zu reden haben …«

»Wie du!«, rief jemand zur allgemeinen Erheiterung.

»Bessere Worte als die meinen – ich bin nur ein derber Bergmann, wie viele von euch wissen. Viele süße, überzeugende Worte, hätte ich besser sagen sollen, und vielleicht etwas Geld obendrein. Ehe ihr ihm zunickt, solltet ihr an dieses Haus des Barnoch denken, so wie es jetzt aussieht, mit Quadersteinen anstelle der Tür. Denkt euch das eigene Haus ohne Türen und Fenster, aber mit euch darin.

Dann denkt daran, wie's diesem Barnoch ergehen wird, wenn wir ihn rausholen! Denn ich sage euch – besonders euch Fremden –, was ihr hier zu sehen bekommt, ist nur der Anfang dessen, was Ihr beim Markt zu Saltus sehen werdet! Für die folgenden Tage haben wir einen der besten Meister aus Nessus bestellt! Mindestens zwei Menschen werden in aller Form hingerichtet – mit einem einzigen Streich enthauptet. Einmal eine Frau, also gebrauchen wir den Stuhl! So etwas werden viele, die sich höchster, weltmännischer Bildung rühmen, noch nicht erlebt haben. Dann dieser Mann« – wobei der Alkalde eine Pause einlegte und mit der flachen Hand auf die sonnigen Türsteine klopfte –, »dieser Barnoch, den ein kundiger Führer dem Tode zuführt! Mag sein, dass er sich inzwischen ein kleines Loch in die Mauer hat schaben können. Oft gelingt ihnen das, und in diesem Fall kann er mich vielleicht hören.«

Mit gehobener Stimme rief er: »Wenn du mich hörst, Barnoch, so schneide dir jetzt die Kehle durch. Wenn nicht, wirst du dir wünschen, du wärest längst verhungert!«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Mich quälte der Gedanke, dass ich bald an einem Anhänger von Vodalus die Kunst praktizieren müsste. Der Alkalde hob den rechten Arm über den Kopf und ließ ihn dann wuchtig niedersausen. »Also gut, Gesellen, mit Macht ans Werk!«

Die vier, die den Sturmbock gebracht hatten, zählten wie ausgemacht eins, zwei, drei und rannten gegen die zugemauerte Tür an, wobei sie etwas von ihrem Schwung einbüßten, als die beiden Vordermänner die Stufen nahmen. Der Sturmbock donnerte mit Getöse gegen die Steine, aber ein anderes Ergebnis zeitigte er nicht.

»Also gut, Gesellen«, wiederholte der Alkalde. »Versuchen wir es noch einmal. Zeigt ihnen, was für Männer Saltus hervorbringt!«

Die vier stürmten abermals an. Bei diesem Versuch überwanden die Vorderen die Stufen geschickter; die Steine, mit denen die Tür zugepfropft war, schienen unter dem Aufprall zu erbeben, und der Mörtel bröckelte ab. Ein Freiwilliger aus der Volksmenge, ein stämmiger, schwarzbärtiger Bursche, ging den Brechern zur Hand, und alle fünf stürmten von neuem an; der dumpfe Schlag, mit dem der Sturmbock auftraf, war kaum lauter, aber zu ihm gesellte sich ein Knirschen wie das von berstenden Knochen. »Noch einmal!«, trug der Alkalde auf.

Er hatte recht. Ein weiterer Schlag drückte den Stein, den der Sturmbock rammte, ins Hausinnere, wobei ein Loch von der Größe eines Männerkopfes entstand. Daraufhin machten die Brecher sich nicht mehr die Mühe, Anlauf zu nehmen; sie rissen die restlichen Steine nieder, indem sie den Sturmbock mit den Armen hin- und herschwangen, bis die Öffnung so hoch und breit war, dass man hindurchtreten konnte.

Jemand, den ich bisher nicht bemerkt hatte, hatte Fackeln mitgebracht, und ein Knabe rannte in ein Nachbarhaus, um sie am Küchenherd zu entzünden. Die Männer mit den Lanzen und Knütteln nahmen sie ihm ab. Der Alkalde, der mehr Mut zeigte, als ich seinen listigen Augen zugetraut hätte, zog einen kurzen Schlagstock aus seinem Hemd hervor und sprang als erster hinein. Wir Zuschauer drängten uns hinter die Bewaffneten, und weil Jonas und ich in der ersten Reihe unter den Schaulustigen gestanden hatten, erreichten wir die Öffnung fast gleichzeitig.

Die Luft war stickig, viel grässlicher, als ich sie mir vorgestellt hatte. Möbeltrümmer lagen überall verstreut, wie wenn Barnoch seine Kommoden und Schränke verschlossen hätte, als die Maurer zum Verschließen gekommen waren, und diese alles zerschlagen hätten, um an die Güter seines Haushalts zu gelangen. Auf einem kaputten Tisch bemerkte ich die zerronnenen Reste einer Kerze, die bis aufs Holz abgebrannt war. Die Leute hinter mir drückten mich weiter hinein; ich jedoch sperrte mich, wie ich zu meiner Überraschung entdeckte, und drängte zurück.

Hinten im Haus wurde es laut – ein Durcheinander rascher Schritte – ein Ruf – dann ein schriller, unmenschlicher Schrei.

»Sie haben ihn!«, verkündete jemand hinter mir lauthals, und ich hörte, wie draußen die Kunde weitergegeben wurde.

Ein beleibter Mann, wahrscheinlich ein Kleinbauer, kam aus dem Dunkeln gerannt, eine Fackel in der einen, einen Knüttel in der anderen Hand. »Aus dem Weg! Zurück, alles zurück! Sie bringen ihn raus!«

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe … Vielleicht eine dreckige Gestalt mit verfilzten Haaren. Was jedoch zum Vorschein kam, war ein Gespenst. Barnoch war groß gewesen; das war er noch, allerdings hielt er sich gebückt und war spindeldürr, mit einer Haut, die offenbar leuchtete wie fauliges Holz, so bleich war sie. Er war haarlos, glatzköpfig und bartlos; wie ich an diesem Nachmittag von seinen Wächtern erfuhr, hatte er es sich angewöhnt, sich die Haare auszuzupfen. Am schlimmsten waren seine hervorquellenden Augen, die scheinbar erblindet und schwarz wie der finstere Schlund seines Mundes waren. Ich wandte mich ab, als er zu sprechen begann, wusste jedoch, dass die Stimme ihm gehörte. »Ich werde befreit«, stieß er aus. »Vodalus! Vodalus wird kommen!«

Wie wünschte ich mir damals, nie selbst in einem Gefängnis gesessen zu haben, denn seine Stimme gemahnte mich an jene dumpfen Tage, die ich in der Oubliette unter unserem Matachin-Turm ausgeharrt hatte. Auch ich hatte von einer Rettung durch Vodalus geträumt, von einer Revolution, die den Tiergestank und die Verderbtheit des gegenwärtigen Zeitalters hinwegfegte und die glänzende Hochkultur wiederherstellte, die einst auf Urth geherrscht.

Indes wurde ich nicht durch Vodalus und seine geheimnisvollen Heerscharen gerettet, sondern durch die Fürsprache von Meister Palaemon – und gewiss auch von Drotte, Roche und einigen anderen Freunden – der die Brüder davon überzeugt hatte, dass es zu gefährlich wäre, mich zu töten, und zu schändlich, mich vor einen Richter zu bringen.

Barnoch würde überhaupt nicht gerettet werden. Ich, der ich sein Waffenbruder sein sollte, würde ihn brandmarken, ihn rädern und schließlich enthaupten. Ich versuchte mir einzureden, er habe nur für Geld gehandelt; aber im selben Moment traf etwas Metallenes – bestimmt die Stahlspitze einer Lanze – auf Stein, so dass ich scheinbar das Klirren der Münze wieder hörte, die Vodalus mir geschenkt hatte, das Klirren, als ich sie in den Spalt unter der Bodenplatte des verfallenen Mausoleums steckte.

Manchmal, wenn unsere ganze Aufmerksamkeit auf Erinnerungen gerichtet ist, unterscheiden unsere Augen, von uns selbst ungelenkt, aus einer Masse von Details eine Einzelheit und bieten sie mit einer durch Konzentration unerreichbaren Klarheit dar. So geschah es auch mit mir. Inmitten des Gewühls wogender Gesichter hinter der Tür entdeckte ich ein aufschauendes, sonnenbeschienenes: Agias Gesicht.

III. Das Zelt des Schaustellers

Der Anblick erstarrte, als stünden wir beide und alle ringsum in einem Gemälde. Agias aufschauendes Gesicht – meine großen Augen; so verharrten wir inmitten der bäuerlichen Schar mit bunten Kleidern und Bündeln. Dann rührte ich mich, und sie war weg. Ich wäre zu ihr gelaufen, wenn ich gekonnt hätte; aber ich musste mich durch die Schaulustigen zwängen, und es dauerte vielleicht hundert Herzschläge, bis ich an die Stelle gelangte, wo sie gestanden hatte.

Sie war inzwischen spurlos verschwunden in diesem Menschenauflauf, der sich immerfort wandelte und verteilte wie das Wasser unter dem Bug eines Schiffes. Barnoch, der im grellen Sonnenlicht aufschrie, wurde herausgeführt. Ich klopfte einem Bergmann auf die Schulter und rief ihm eine Frage zu, aber er hatte nicht auf die junge Frau neben sich geachtet und keine Ahnung, wohin sie gegangen sein mochte. Ich folgte der Menge, die dem Gefangenen folgte, bis ich mich vergewissert hatte, dass sie nicht darunter war. Weil mir nichts Besseres einfiel, begann ich dann auf dem Markt zu suchen, spähte in die Zelte und Buden, befragte Bäuerinnen, die ihr duftendes Ingwerbrot feilboten, und erkundigte mich bei den Verkäufern, die ihr gebratenes Fleisch anpriesen.

All dies klingt – indessen ich es, gemächlich einen Faden zinnoberroter Tinte des Hauses Absolut spinnend, niederschreibe – wohlbedacht, ja methodisch. Nichts könnte von der Wahrheit entfernter sein. Keuchend und schwitzend tat ich all das und plärrte, oft nicht einmal auf eine Antwort wartend, meine Fragen hinaus. Wie ein Antlitz in einem Traum schwebte Agias Gesicht vor meinem geistigen Auge: die breiten, flachen Wangen, das sanft gerundete Kinn, die sommersprossige, sonnengebräunte Haut und die langen, lachenden, höhnischen Augen. Weswegen sie hergekommen war, konnte ich mir nicht erklären; ich wusste nur, dass sie hier war und dass ihr Anblick die quälende Erinnerung an ihren Aufschrei wiedererweckte.

»Hast du eine Frau von dieser Größe mit braunen Haaren gesehen?«, wiederholte ich in einem fort wie der Duellant, der »Cadroe von den Siebzehn Steinen« ausgerufen hatte, bis der Spruch so bedeutungslos wie das Zirpen der Zikaden geworden war.

»Ja. Jedes Landmädchen, das hierherkommt.«

»Weißt du, wie sie heißt?«

»Eine Frau? Sicher kann ich dir eine Frau besorgen.«

»Wo hast du sie verloren?«

»Keine Sorge, du findest sie bald wieder. Der Markt ist nicht so groß, dass jemand lange unauffindbar bleiben kann. Habt ihr beiden keinen Treffpunkt ausgemacht? Trink etwas Tee von mir – du siehst so müde aus.«

Täppisch suchte ich nach einem Geldstück.

»Du brauchst nicht zu bezahlen, das Geschäft geht gut. Nun, wenn du unbedingt willst. Kostet nur ein Aes. Hier.«

Die alte Frau kramte aus ihrer Schürzentasche eine Handvoll Kleingeld hervor und goss dann dampfenden Tee aus ihrer Kanne in eine irdene Tasse, zu der sie mir einen Halm aus einem matten, silbrigen Metall anbot. Ich winkte ab.

»Ist sauber. Ich spüle alles nach jedem Kunden.«

»Ich bin das nicht gewohnt.«

»Dann pass auf – 's ist heiß. Hast du an der Richtstätte nachgesehn? Dort sind viele Leute.«

»Wo das Vieh ist? Ja.« Es war ein würziger, etwas bitterer Matetee.

»Weiß sie, dass du sie suchst?«

»Ich glaub' nicht. Selbst wenn sie mich gesehen hat, wird sie mich nicht erkannt haben. Ich … ich bin anders angezogen als sonst.«

Die alte Frau schnaubte verächtlich und schob eine lose graue Haarsträhne unter das Kopftuch zurück. »Zum Markt zu Saltus? Natürlich! Jeder trägt sein bestes Gewand zum Jahrmarkt, was sich jedes vernünftige Mädchen denken kann. Was ist mit dem Ufer, wo der Gefangene in Ketten liegt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Aber du hast noch nicht aufgegeben. Ich seh's dir an, weil du immer nach den Leuten schielst, die vorbeigehen. Um so besser für dich. Du wirst sie schon finden, obwohl ringsum neuerdings allerlei Merkwürdiges passiert, wie man hört. Man hat einen grünen Mann gefangen, weißt du das? Steckt dort drüben, wo du das Zelt siehst. Grüne Männer wissen alles, sagt man, wenn man sie nur zum Reden bringen kann. Dann die Sache mit der Kathedrale. Davon hast du wohl gehört?«

»Die Kathedrale?«

»Nicht so etwas, was die Städter darunter verstehen – ich weiß, du bist aus der Stadt, so wie du deinen Tee trinkst – aber die einzige Kathedrale, die die meisten von uns aus Saltus je zu Gesicht bekommen haben, eine hübsche obendrein mit lauter Hängelampen und Fenstern in den Wänden aus bunter Seide. Ich selbst bin nicht gläubig – oder glaube vielmehr, wenn der Pancreator sich nicht um mich schert, schere ich mich nicht um ihn, warum sollte ich auch? Trotzdem ist's eine Schande, was sie getan haben, wenn es stimmt, was man ihnen nachsagt. Sie einfach in Brand zu stecken.«

»Meinst du die Kathedrale der Pelerinen?«

Die alte Frau nickte gescheit. »Ha, du sagst es selber. Du machst den gleichen Fehler wie sie. Es war nicht die Kathedrale der Pelerinen, es war die Kathedrale der Klaue. Was bedeutet, sie hatten kein Recht, sie niederzubrennen.«

Ich sagte für mich: »Also haben sie das Feuer wieder angezündet.«

»Wie bitte?« Die alte Frau spitzte die Ohren. »Das hab' ich nicht verstanden.«

»Ich meinte, sie haben sie angezündet. Sie müssen den Strohboden angezündet haben.«

»Das habe ich auch gehört. Sie haben sich einfach zurückgezogen und zugeschaut, wie sie abgebrannt ist. Sie ist zu den Ewigen Auen der Neuen Sonne aufgefahren.«

Ein Mann auf der anderen Seite der Gasse begann eine Trommel zu schlagen. Als er innehielt, versetzte ich: »Es wird behauptet, sie sei in die Luft aufgestiegen.«

»Und ob sie das ist! Als mein Enkel davon erfuhr, war er zunächst wie vom Donner gerührt. Dann klebte er sich aus Papier eine Art Hut zusammen und hielt ihn über meinen Ofen, und das Ding stieg in die Höhe. Dass die Kathedrale emporgeschwebt sei, habe nichts zu besagen, dachte er sich, sei ganz und gar kein Wunder. Das zeigt, was es heißt, ein Tor zu sein – es kam ihm nicht in den Sinn, dass alles deswegen so gemacht war, damit die Kathedrale aufstiege, wie sie's tat. Er kann die Hand in der Natur einfach nicht sehen.«

»Er hat sie nicht selbst gesehen?«, fragte ich. »Die Kathedrale, meine ich.«

Sie verstand mich falsch. »Oh, mindestens ein Dutzend Mal, wenn sie hier durchgezogen sind.«

Der rezitierende Gesang des Trommlers, der mich an das Psalmodieren von Dr. Talos erinnerte, obschon rauer und ohne die beißende Intelligenz des Doktors vorgetragen, unterbrach unser Gespräch. »Weiß alles! Kennt jeden! Grün wie eine Stachelbeere! Seht selbst!«

(Das penetrante Getrommel: BUM! BUM! BUM!)

»Glaubst du, der grüne Mann weiß, wo Agia ist?«

Die alte Frau lächelte. »So also heißt sie. Nun weiß ich Bescheid, falls jemand den Namen erwähnt. Ob er's weiß? Vielleicht. Du hast Geld, warum probierst du's nicht?«

Warum eigentlich nicht, dachte ich.

»Stammt aus den Ur-wäldern des Nor-dens! Isst nicht! Verwandt mit den Büschen und Gräsern!« BUM! BUM! »Die Zukunft und die grau-e Vor-zeit sind für ihn eins!«

Als er sah, dass ich auf den Eingang seines Zeltes zuging, hielt er mit seinem Geschrei inne. »Kostet nur ein Aes, ihn zu sehen. Zwei, mit ihm zu sprechen. Drei, mit ihm allein zu sein.«

»Allein für wie lange?«, fragte ich, während ich drei kupferne Aes entnahm. Ein gequältes Lächeln huschte über das Gesicht des Trommlers. »So lange du willst.« Ich reichte ihm das Geld und trat ein.

Offensichtlich hatte er damit gerechnet, dass ich nicht lange bleiben wollte, und ich hatte einen Gestank oder etwas anderes Ekliges erwartet. Es roch jedoch nur ein wenig nach trocknendem Heu. Das durch eine Öffnung im Zeltdach einfallende Sonnenlicht bildete in der Mitte einen Lichtkegel, in dem der Staub fütterte, worin angekettet ein Mann von der Farbe heller Jade saß. Er trug einen Kilt aus Laub, das schon welkte; neben ihm stand ein bis zum Rand mit klarem Wasser gefüllter Tonkrug.

Zunächst herrschte Schweigen. Ich betrachtete ihn stehend. Er blickte zu Boden. »Das ist keine Bemalung«, sagte ich. »Und gefärbt ist es wohl auch nicht. Und du hast nicht mehr Haare als der Mann, der aus dem zugemauerten Haus geschleppt worden ist.«

Er sah zu mir auf, dann wieder vor sich nieder. Selbst sein Augenweiß hatte eine grünliche Tönung.

Ich versuchte, ihn zu reizen. »Wenn du wirklich eine Pflanze bist, solltest du Haare aus Gras haben.«

»Nein.« Er hatte eine sanfte Stimme, die nur wegen ihrer Tiefe nicht weiblich klang.

»Also bist du eine Pflanze? Eine sprechende?«

»Du bist kein Landmann.«

»Ich komme aus Nessus. Vor ein paar Tagen habe ich die Stadt verlassen.«

»Mit etwas Bildung.«

Ich dachte an Meister Palaemon, dann an Meister Malrubius und meine arme Thecla, und zuckte die Achseln. »Ich kann lesen und schreiben.«

»Dennoch weißt du nichts über mich. Ich bin keine sprechende Pflanze, wie du eigentlich sehen müsstest. Selbst wenn eine Pflanze der einen Evolutionslinie unter vielen Millionen, die zu Intelligenz führt, folgen würde, ist es ausgeschlossen, dass sie sich zu einem Duplikat der menschlichen Gestalt in Holz und Laub entwickelte.«

»Dasselbe ließe sich von Steinen sagen, trotzdem gibt es Statuen.«

Obwohl tiefe Verzweiflung seine Miene prägte (er machte ein viel traurigeres Gesicht als mein Freund Jonas), zerrte etwas an seinen Mundwinkeln. »Schön gesagt. Du hast keine wissenschaftliche Ausbildung, aber du bist gebildeter, als du glaubst.«

»Im Gegenteil, meine ganze Ausbildung ist wissenschaftlich gewesen – wenn auch solch phantastische Spekulationen nicht Teil davon gewesen sind. Was bist du?«

»Ein großer Seher. Ein großer Lügner wie jeder, dessen Fuß in einer Falle steckt.«

»Wenn du mir sagst, was du bist, versuche ich, dir zu helfen.«

Er sah mich an, und mir war, als hätte ein großes Gewächs Augen aufgeschlagen und ein menschliches Gesicht offenbart. »Ich glaube dir«, versetzte er. »Wie kommt's, dass du unter den Aberhunderten, die in mein Zelt pilgern, Mitleid kennst?«

»Ich kenne kein Mitleid, aber ich bin durchdrungen von Achtung vor Recht und Gerechtigkeit und kenne den Alkalden dieses Dorfes. Ein grüner Mensch ist dennoch ein Mensch; und falls er Sklave ist, muss sein Herr darlegen, wie er das geworden und wie er selbst in seinen Besitz gekommen ist.«

Der grüne Mann erwiderte: »Es ist wohl töricht von mir, dir zu vertrauen. Doch ich tu's. Ich bin ein freier Mann und komme aus eurer Zukunft, um eure Zeit zu erforschen.«

»Das ist unmöglich.«

»Die grüne Farbe, die euch Herrschaften so verdutzt, kommt lediglich von dem, was ihr Algen nennt. Wir haben sie umgeformt, so dass sie in unserm Blut leben können, und durch diesen Eingriff den langen Kampf der Menschheit mit der Sonne endlich friedlich beendet. In uns leben und sterben die winzigen Pflanzen, und unser Körper ernährt sich von ihnen und ihren Toten und bedarf keiner anderen Nahrung mehr. Alle Hungersnöte, alle Mühen des Ackerbaus sind beendet.«

»Aber ihr braucht Sonne.«

»Ja«, antwortete der grüne Mann. »Und ich habe hier nicht genug. Die Tage meines Zeitalters sind heller.«

Dieser einfache Ausspruch fesselte mich wie nichts anderes seit meinem ersten Blick auf die dachlose Kapelle im Bruchhof unserer Zitadelle. »Also kommt die Neue Sonne wie prophezeit«, sagte ich, »und gibt es tatsächlich ein zweites Leben für unsere Urth – falls es stimmt, was du sagst.«

Der grüne Mann warf den Kopf zurück und lachte. Viel später sollte ich hören, wie der Schrei des Alzabos klingt, wenn er durch die schneeverwehten Hochebenen des Gebirges schweift; sein Lachen ist schrecklich, aber das des grünen Mannes war schrecklicher, und ich wich zurück. »Du bist kein Mensch«, stieß ich hervor. »Jedenfalls nicht jetzt, falls du je einer gewesen bist.«

Er lachte abermals. »Und ich hoffte auf dich. Was bin ich für ein armes Geschöpf. Ich dachte, ich hätte mich damit abgefunden, hier in diesem Volk zu sterben, das nicht mehr als wandelnder Staub ist; aber mit dem kleinsten Hoffnungsschimmer bröckelte alle Resignation ab. Ich bin ein wahrer Mensch, Freund. Du nicht. In ein paar Monaten werd' ich tot sein.«

Ich dachte an seinesgleichen. Wie oft hatte ich die froststarren Stängel der Sommerblumen gesehen, die der Wind gegen die Wände der Mausoleen in unserer Nekropolis drückte. »Ich verstehe dich. Die warmen Sonnentage kommen, aber wenn sie gehen, gehst du mit ihnen. Samen ziehen, solange es geht.«

Ernüchtert entgegnete er: »Du glaubst mir nicht und verstehst nicht einmal, dass ich ein Mensch wie du bin, dennoch hast du Mitleid mit mir. Vielleicht hast du recht, und es ist für uns eine neue Sonne gekommen, die wir, weil sie gekommen ist, vergessen haben. Sollte es mir je gelingen, in meine Zeit zurückzukehren, werde ich ihnen davon berichten.«

»Wenn du tatsächlich aus der Zukunft stammst, warum kannst du nicht einfach vorwärts, heimwärts gehen und so entkommen?«

»Weil ich angekettet bin, wie du siehst.« Er streckte das Bein vor, um mir die Schelle um seinen Knöchel zu zeigen. Sein fruchtiges Fleisch war rundherum geschwollen wie die Borke eines Baumes, den ein Eisenring beengt.

Der Türvorhang ging auf, und der Trommler steckte den Kopf herein. »Du bist noch hier? Leute warten draußen.« Nach einem vielsagenden Blick auf den grünen Mann zog er sich zurück.

»Er meint, ich soll dich abwimmeln, oder er schließt die Öffnung, durch die mein Sonnenlicht fällt. Die bezahlen, um mich zu sehen, wimmle ich ab, indem ich ihnen die Zukunft vorhersage, und so will ich auch die deinige vorhersagen. Du bist noch jung und stark. Aber noch ehe diese Welt sich zehnmal um die Sonne bewegt hat, wirst du schwächer sein, und die Kraft, die du nun hast, nicht wiedererlangen. Wenn du Söhne zeugst, schaffst du dir Feinde gegen dich. Wenn …«

»Genug!«, unterbrach ich. »Was du mir sagst, ist lediglich jedermanns Zukunft. Beantworte mir eine Frage wahrheitsgemäß, und ich werde gehen. Ich suche eine Frau namens Agia. Wo werde ich sie finden?«

Er rollte die Augen nach oben, bis unter den Lidern nur mehr schmale, hellgrüne Sicheln sichtbar waren. Ein leichtes Beben überkam ihn; er stand auf und breitete die Arme aus, wobei seine Finger zitterten wie Zweige. Langsam antwortete er: »Über der Erde.«

Das Zucken ließ nach, und er nahm wieder Platz, älter und noch bleicher wirkend.

»Du bist nur ein Schwindler«, erwiderte ich, als ich mich abkehrte. »Und ich Einfaltspinsel habe dir geglaubt.«

»Hör zu!«, flüsterte der grüne Mann. »Als ich hierhergekommen bin, habe ich deine ganze Zukunft durchlaufen. Zum Teil erinnere ich mich, wenn auch dunkel. Ich habe dir nur die Wahrheit gesagt – und wenn du tatsächlich ein Freund des hiesigen Alkalden bist, will ich dir noch etwas sagen, das du ihm gern ausrichten darfst – etwas, das ich durch die Fragen, die mir hier gestellt werden, in Erfahrung gebracht habe. Bewaffnete Männer versuchen, einen Mann namens Barnoch zu befreien.«

Ich nahm meinen Wetzstein aus der Gürteltasche, brach ihn auf dem Anbindepflock entzwei und gab ihm eine Hälfte. Zunächst war ihm nicht klar, was er da in Händen hielt. Dann sah ich, wie in ihm die Ahnung dämmerte, so dass er sich in seiner Freude anscheinend entfaltete, als badete er sich schon im helleren Licht seiner eigenen Zeit.

Titel der Originalausgabe

THE CLAW OF THE CONCILIATOR

Aus dem Amerikanischen von Reinhard Heinz

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1981 by Gene Wolfe

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat