Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein mehrwöchiges Seminar, das alles verändert: 27 Menschen reisen zu einem Selbsterfahrungsseminar in ein abgelegenes Haus. Unterschiedlicher könnten ihre Hintergründe, Lebensgeschichten und Beweggründe kaum sein - und doch verbindet sie eine gemeinsame Hoffnung: sich selbst ein Stück näher zu kommen. Was zunächst nach ruhigen Tagen voller Gespräche und Übungen aussieht, entwickelt sich schnell zu einem dichten Geflecht aus unausgesprochenen Wahrheiten, wachsenden Spannungen und stillen Allianzen. Masken, die im Alltag perfekt sitzen, beginnen zu rutschen. Manche finden den Mut, sich zu zeigen - andere kämpfen darum, ihre Fassade zu bewahren. Zwischen vorsichtiger Annäherung, brennendem Misstrauen und überraschender Nähe erleben die Teilnehmer, wie schwer es sein kann, Grenzen zu setzen - oder sie zu überschreiten. Jede Begegnung, jeder Blick, jedes Schweigen wird zu einem Teil eines stillen Spiels, in dem niemand sicher ist, welche Rolle er wirklich spielt. "Das Seminar - Wenn Masken fallen" ist ein psychologisch vielschichtiger Roman, der den Blick für menschliche Dynamik schärft und zugleich mitreißend erzählt, wie Begegnungen uns verändern. Er führt mitten hinein in die Fragen, die wir oft meiden: Wer bin ich ohne meine Schutzmechanismen? Wie echt bin ich im Blick der anderen? Und was geschieht, wenn die Wahrheit näher kommt, als mir lieb ist? Für alle, die spannende Figuren, emotionale Tiefe und einen klaren, packenden Erzählstil schätzen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 369
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Was geschieht, wenn 27 Menschen mit vollkommen unterschiedlichen inneren Antrieben aufeinandertreffen – nicht im Lärm des Alltags, sondern in der Stille eines abgelegenen Seminarhauses? Was offenbart sich, wenn Masken zu rutschen beginnen und unter der Oberfläche etwas zum Vorschein kommt, das tiefer reicht als bloße Rollen oder erlernte Verhaltensmuster?
Dieses Buch ist ein Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen: die feinen inneren Bewegungen, die uns oft unbemerkt steuern – unsere Ängste, Strategien, Wünsche, Schutzmechanismen. Jede Figur in dieser Geschichte verkörpert einen der 27 Subtypen des Enneagramms – differenziert nach Instinkttendenzen. Doch diese Muster werden nicht erklärt. Sie werden gelebt.
Es geht nicht um Typologien, sondern um Menschen. Um ihre Konflikte, ihre Intimität, ihre Widersprüche. Um das, was geschieht, wenn Nähe nicht mehr kontrollierbar ist – und wir beginnen, uns selbst im Blick der anderen zu begegnen.
Dieser Roman will nicht lehren - und schon gar nicht belehren. Er versteht sich als Einladung: zum Beobachten, zum Wiedererkennen, zum Erspüren. Und vielleicht auch dazu, sich selbst ein Stück näher zu kommen – gerade dort, wo es unbequem wird.
Ich wünsche Ihnen eine berührende, spannende, erkenntnisreiche Reise.
Und den Mut, hinzuschauen.
Herzlich, Detlef Rathmer
„Wer nach außen blickt, träumt.
Wer nach innen schaut, erwacht."
— C.G. Jung
Die 27 Romanfiguren
Kapitel 1 – Ankunft im System
Kapitel 2 – Erste Brüche
Kapitel 3 – Kontrollzonen
Kapitel 4 – Zwischen Nähe und Pflicht
Kapitel 5 – Die Stille unter der Oberfläche
Kapitel 6 – Spiegelungen
Kapitel 7 – Fragmente von Vertrauen
Kapitel 8 – Die Bewegung der Rollen
Kapitel 9 – Schwellenmomente
Kapitel 10 – Der zweite Blick
Kapitel 11 – Gewohnheiten und Gewissen
Kapitel 12 – Muster und Masken
Kapitel 13 – Inmitten der Dynamik
Kapitel 14 – Die Regeln des Spiels
Kapitel 15 – Stimmen im Hintergrund
Kapitel 16 – Drehpunkte
Kapitel 17 – Was verborgen bleibt
Kapitel 18 – Innere Horizonte
Kapitel 19 – Misstrauen in Bewegung
Kapitel 20 – Knotenpunkte
Kapitel 21 – Zerreißproben
Kapitel 22 – Nebelzonen
Kapitel 23 – Zwischenlösung
Kapitel 24 – Der Druck im System
Kapitel 25 – Wendelinien
Kapitel 26 – Der Ton der Tiefe
Kapitel 27 – Die falsche Ruhe
Kapitel 28 – Auf der Kippe
Kapitel 29 – Brennpunkte
Kapitel 30 – Eine Frage zu viel
Kapitel 31 – Die Mitte verschiebt sich
Kapitel 32 – Zwischen den Linien
Kapitel 33 – Die stille Grenze
Kapitel 34 – Am Rand der Wahrheit
Kapitel 35 – Linien und Lücken
Kapitel 36 – Die Logik der Nähe
Kapitel 37 – Wenn der Schatten spricht
Kapitel 38 – Der Punkt ohne Rückkehr
Kapitel 39 – Was bleibt, wenn es still wird
Kapitel 40 – Nachklang
Nachwort zur Entstehung des Buches
Kurzübersicht der 27 Romanfiguren
Enneagramm-Subtypen-Zuordnung der Romanfiguren
Glossar der 27 Enneagramm-Subtypen
Schwester Gerlinde
Petra Stoll
Leandro Mercuri
Irmgard Kühn
Franka Basar
Sophie de la Croix
Heiko Paulsen
Jasper Nolden
Lina Chevalier
Rosa Nebel
Simon Eberle
Alma Varela
Marius Vent
Dr. Anton Weynfeld
Eva-Lou Naubert
Timo Berendt
Karl-Heinz Mertens
Juliane Beranek
Fannic Fuchs
Daniel Reiser
Maja Holt
Olaf Steiner
Konrad Falk
Carmen Vêlez
Manfred Biller
Leonard Klein
Nadja Glück
Teil 1: Der Kreis der Neun sieht alles
Der Nebel hing schwer über dem abgelegenen Tagungshaus, das sich wie ein alter, schweigsamer Wächter zwischen Tannen und Felsen duckte. Alma Varela stand auf dem Kiesweg vor dem Eingang, die Hand noch auf dem Griff ihres Rollkoffers. Schon in diesem Moment wusste sie: Dieser Ort war nicht einfach ein Gebäude. Er war ein Schwellenraum. Ein Dazwischen.
Es roch nach Laub, Stein, Moos – und etwas anderem. Metallisch, Feucht. Schwer zu greifen. Vielleicht war es nur Einbildung. Oder Erinnerung. Hinter den Fenstern: mattes Licht, keine Bewegung.
27 Menschen waren eingeladen worden. Niemand sprach es aus, doch die Zahl hatte Gewicht. Sie entsprach dem Kreis. Dem Raster.
Der Tiefe. Und irgendwo in Alma regte sich ein Widerstand – gerade weil sie wusste, dass sie dazugehört.
In der Eingangshalle empfing sie gedämpftes Licht, das durch hohe Fenster fiel. Der Empfang war unbesetzt. Kein Lächeln, kein Schlüssel, keine Stimme. Nur das leise Summen eines Kühlschranks aus dem angrenzenden Raum.
An der Wand hing ein hölzernes Schild mit eingeritzter Inschrift:
„Der Kreis der Neun sieht alles." Alma runzelte die Stirn. Niemand hatte sie auf eine derart eigentümliche Begrüßung vorbereitet.
Sie war nicht zum ersten Mal auf einem Selbsterfahrungsseminar.
Und doch – diesmal war etwas anders. Etwas Unwirkliches lag in der Luft. Wie ein Schleier über der Wirklichkeit, der sich nicht abschütteln ließ.
Sie zog die Schultern hoch, schüttelte sich unmerklich und stieg die knarzenden Treppen in den ersten Stock hinauf. Auf der Suche nach ihrem Zimmer. Nummer 4.
Der Flur war schmal, die Türen alt, das Licht gedimmt.
Dann hörte sie es: ein leises, rhythmisches Klopfen. Wie Haut auf Holz. Klopf. Klopf.
Sie hielt den Atem an. Es verstummte. Vielleicht ein Heizungsrohr.
Oder jemand, der nervös mit den Fingern auf eine Tischplatte trommelte.
Aber da war es wieder. Klopf. Klopf. Und dann – ein kratzendes Schleifen.
Sie trat näher an eine Tür, aus der das Geräusch zu kommen schien. Die Luft roch hier schärfer. Fast wie Medizin. Ein Hauch von etwas Organischem lag darunter – nicht faulig, aber fremd.
Ihr Herz setzte einen Takt aus.
Dann drehte sie sich abrupt um und ging weiter. Ihre Schritte klangen zu laut auf dem alten Dielenboden.
Im Zimmer angekommen, ließ sie sich aufs Bett sinken. Die Tasche rutschte vom Schoß auf den Boden.
Durch das Fenster sah sie auf das Nachbargebäude. Ein Schatten bewegte sich dort. Für einen Moment war sie sicher, dass jemand sie beobachtet hatte. Doch da war nichts mehr. Nur die Tannen.
Und der Nebel, der alles einhüllte.
Alma lehnte sich zurück, verschränkte die Finger ineinander.
Stille.
Aber nur außen.
In ihrem Inneren begann sich etwas zu regen. Etwas, das lange geschlafen hatte.
Teil 2: Der Klang der Räume
Das Zimmer war schlicht: ein Einzelbett mit glatten, weißen Laken, ein Schreibtisch, ein Sessel am Fenster. An der Wand ein gerahmtes Schwarzweißfoto – eine verschneite Berglandschaft, menschenleer.
Nicht vertraut, aber auffallend still.
Alma trat ans Fenster. Draußen begann der Nebel sich zu lichten, als wolle der Ort seine Konturen vorsichtig preisgeben: Innenhof, kahle Bäume, ein rostiger Fahrradständer. Nichts Bewegendes – und doch war alles aufgeladen.
Dann hörte sie es: ein entferntes Rollen – ein Koffer vielleicht – und das gleichmäßige Plätschern eines Springbrunnens im Hof.
Sie ließ sich auf das Bett sinken. Die Tagesdecke war glatt, kühl.
Ihre Hand glitt darüber. Für Alma waren Stoffe wie Stimmen.
Manche flüsterten, andere schrien. Dieser hier schwieg.
Ankunft war nie ein Ort. Sie war ein Zustand. Nicht mehr unterwegs, noch nicht angekommen. Die eigentliche Bewegung: innen.
Ein Klopfen. Dreimal, leise. Dann eine Pause.
Sie erstarrte. Kein Erschrecken – eher eine Ahnung.
Langsam stand sie auf, ging zur Tür, öffnete sie. Ein Schatten bewegte sich im Flur. Schritte entfernten sich. Sie trat auf den Gang, doch dort war es nun still. Dann kehrte sie zurück ins Zimmer und wartete.
Teil 3: Fremde Spiegel
Alma trat aus dem Schatten des Hauptgebäudes. Unter ihren Sohlen knirschten die grobkörnigen Steinplatten. Der weite Hof lag fast leer, nur einige vereinzelte Gestalten bewegten sich langsam zwischen den Nebelschwaden. Der Himmel war in blasses Licht getaucht – als hätte jemand die Farben heruntergedimmt, um alles auf ein einziges Gefühl zu reduzieren: Vorsicht.
Am Rand des Geländes erkannte sie das Gewächshaus. Die gläsernen Scheiben waren milchig angelaufen und spiegelten verschwommen die Umrisse der Bäume dahinter. Davor stand ein Mann mittleren Alters mit Schirmmütze und Gummistiefeln, der mit der Gelassenheit eines Zen-Gärtners still Tomatenpflanzen begutachtete. Alma blieb kurz stehen, betrachtete die Szene – nicht, weil sie besonders war, sondern weil sie ihr seltsam vertraut erschien. Etwas an dieser Gleichzeitigkeit von Bewegung und Stille rührte an eine Erinnerung, die keinen Namen hatte.
Sie wandte sich ab und ging weiter in Richtung des kleinen Pavillons in der Mitte des Hofs. Dort hatte sich eine Gruppe von drei Frauen versammelt, alle etwa in ihrem Alter. Ihre Stimmen klangen angeregt, das Lachen zu laut, zu perfekt getaktet – wie einstudiert oder nervös.
„Sie sind auch gerade angekommen?", fragte eine der Frauen, als Alma sich näherte.
„Gerade eben", erwiderte Alma knapp.
„Varela, richtig? Alma Varela?" Die Frau kannte offenbar ihren Namen – vermutlich von der Teilnehmerliste, die allen vorab zugeschickt worden war.
Ja."
„Ich bin Maja. Das ist Lina – und drüben steht Juliane." Sie deutete auf die anderen. Hände wurden gereicht, kurz und leicht feucht.
Niemand sprach lange, doch jeder musterte den anderen mit dieser Mischung aus höflicher Neugier und vorauseilender Bewertung.
Alma lächelte flüchtig, ließ sich aber nicht auf ein Gespräch ein.
Sie verspürte dieses feine Unbehagen, das sie oft überkam, wenn sich Gruppen bildeten – diese Ahnung, dass sich Rollen bereits formten, bevor überhaupt etwas gesagt worden war.
Sie kannte diese Dynamiken. Und sie wusste, wie trügerisch sie waren, wenn man zu früh mitspielte.
„Ich sehe mich noch ein wenig um", sagte sie, trat einen Schritt zurück und ging weiter.
Auf dem Rückweg zum Haupteingang fiel ihr Blick auf ein kleines Schild an der Seitenwand:
Seminarraum 3 – Zugang nur für Personal
Die Tür war nur angelehnt.
Ein Luftzug.
Ein kaum wahrnehmbares Geräusch – wie das leise Ticken einer alten Uhr hinter einer geschlossenen Wand.
Alma blieb stehen.
Und zum ersten Mal an diesem Tag spürte sie einen Widerstand in der Brust. Kein Schmerz – eher ein inneres Zögern.
Ein Echo.
Teil 4: Geräusche im Flur
Alma Varela hatte sich in dem kleinen Zimmer eingerichtet, ohne wirklich anzukommen. Der Koffer stand geöffnet auf dem alten Holzstuhl, die Hälfte ihrer Kleidung noch darin. Ihr Blick wanderte zum Fenster. Hinter den Vorhängen schimmerte das fahle Licht des frühen Abends. Es war still – zu still. Nur ab und zu knackte das Gebälk.
Sie stand auf und öffnete das Fenster. Kühle Luft strömte herein, getragen vom Geruch feuchter Erde. Für einen Moment wirkte der Außenraum vertrauter als der hinter ihr. Dann ein Geräusch im Flur – ein kurzes Schleifen, ein Klopfen: Danach Stille.
War es der Hausmeister? Einer der anderen? Oder nur die Tür im Luftzug?
Alma trat hinaus. Der Flurteppich dämpfte ihre Schritte, doch die Wände schienen jedes Geräusch zu sammeln. Türen reihten sich aneinander, alle geschlossen – bis auf eine. Sie stand einen Spalt offen; Licht flackerte darin. Eine Stimme – leise, bruchstückhaft – drang nach außen. Vielleicht ein Telefonat. Vielleicht etwas anderes.
Sie blieb stehen, dann trat sie zurück und schloss ihre Tür hinter sich.
Im Innern des Zimmers griff sie nach dem Notizbuch. Mit ruhiger Hand schrieb sie:
„Die Wirklichkeit hatte sich leicht verschoben."
Sie legte den Stift beiseite. Das Licht schaltete sie nicht mehr ein.
Teil 5: Der Blick zurück
Alma saß auf der Fensterbank ihres Zimmers, den Rücken gegen die kühle Scheibe gelehnt. Der Nebel hatte sich noch dichter an die Scheiben geschmiegt – als wolle er das Haus endgültig von der Außenwelt trennen. Kein Laut drang mehr von draußen herein.
Nur der eigene Atem – gleichmäßig, etwas zu laut.
Auf dem Tisch vor ihr lagen ihr Notizbuch, der geschlossene Koffer – und das Gefühl, beobachtet zu werden.
Seit ihrer Ankunft war nichts offen Bedrohliches geschehen. Und doch war da dieses leise, schleichende Gefühl von etwas Unstimmigem. Nicht außen. Innen.
Sie hatte noch nicht alle Gesichter gesehen. Die anderen Gäste, die fremden Stimmen auf dem Flur, die flüchtigen Bewegungen hinter Milchglas – es war, als würde sich ein Geflecht aus Geschichten zusammenziehen, deren Struktur sie nicht kannte. Noch nicht.
Alma nahm das Notizbuch und schlug es auf. Eine neue Seite. Nur ein Satz:
„Ich weiß nicht, ob ich hier finden werde, was ich immer gesucht habe."
Sie legte den Stift weg, ohne die Zeile zu korrigieren. Dann stand sie auf, trat ans Fenster und berührte das kalte Glas mit den Fingerspitzen. Für einen winzigen Moment meinte sie, eine Bewegung im Nebel zu erkennen – eine Gestalt? Ein Schatten?
Als sie blinzelte, war da nichts mehr. Sie wandte sich ab. Ihr Blick fiel auf das kleine Emaille-Schild an ihrer Tür: Zimmer 4. Ohne Bedeutung – eigentlich. Und doch schien die Zahl plötzlich mehr zu sagen, als sie sollte.
Dann hörte sie Schritte im Flur. Langsam, gleichmäßig. Nicht bedrohlich. Aber zu ruhig, um beiläufig zu sein.
Alma blieb stehen. Horchte.
Als es klopfte, sprang nichts in ihr. Kein Schreck. Nur ein Gedanke:
„Jetzt beginnt es."
Teil 1: Der Blick von oben
Timo Behrendt stand am Fenster seines Apartments im vierten Stock eines der neuen Stadtquartiere am Rand der Altstadt. Von hier aus hatte er freie Sicht auf das wuchernde Chaos der Stadt – Schornsteine, Dachgärten, Kräne, die in den Himmel ragten wie stählerne Giraffen. Er liebte diesen Blick. Das Gefühl, darüber zu stehen. Im doppelten Sinn.
Die Espresso-Tasse in seiner rechten Hand war leer, längst erkaltet, aber er hielt sie noch immer. Seine linke ruhte locker auf der Fensterbank. Diese wenigen Minuten, früh am Morgen, kurz bevor er das Haus verließ, waren ritualisiert. Wie ein innerer Reset. Hier oben, über den Dingen, sortierte er sich. Jeden Tag neu.
Die Wände seiner Wohnung waren hell, fast leer. Nur ein großformatiges Schwarzweißfoto neben dem Regal zog den Blick auf sich – ein Boxer in der Ecke des Rings, zerschlagen, aber mit erhobenem Kinn. Darunter ein gerahmter Satz in kursiver Handschrift:
„Ich verliere nie. Entweder ich gewinne – oder ich lerne."
Er stellte die Tasse ab, griff nach seinem Schlüsselbund. Die Bewegungen saßen, wie bei einem Kampfpiloten. Er hatte nie beim Militär gedient, aber er bewunderte Effizienz, Disziplin, Funktionsfähigkeit unter Druck. Gefühle waren sekundär. Reaktionen primär.
Das hatte ihm oft den entscheidenden Vorteil verschafft – in Bewerbungsgesprächen, Diskussionen, Beziehungen.
Draußen bellte ein Hund. Jemand fluchte. Ein Auto röhrte an.
Timo reagierte nicht. Er war auf Störungen trainiert. So redete er sich das jedenfalls ein. Emotionales Grundrauschen, nannte er das in Gedanken, wenn etwas zu nahe kam. Was andere aus dem Konzept brachte, durfte ihn nicht tangieren. Alles andere hätte ihn zu verletzlich gemacht.
Er ging zu Fuß zum Seminarort. Zwanzig Minuten durch eine Stadt, die er kannte – und nicht mochte. Der Weg war ein Testlauf:
Wie er beobachtete, analysierte, Muster erkannte. Menschen waren für ihn Bewegungen in Systemen. Er erkannte schnell, wer führte, wer auswich, wer Anschluss suchte und wer Randpositionen bevorzugte.
Am Gelände angekommen, blieb er kurz stehen. Kies knirschte unter seinen Schuhen. Alte Mauern, moderne Fenster, ein Schild mit schlichter Aufschrift. Seminarhaus. Funktional. Keine Inszenierung. Gut. Er mochte es, wenn Dinge sich nicht wichtiger machten, als sie waren.
Eine Frau saß allein auf einer Bank im Garten. Dunkelbraunes Haar, schmale Haltung, Blick gesenkt. Sie bewegte sich kaum, doch als er sie ansah, richtete sie sich auf. Keine Provokation, kein Gruß. Nur ein winziger Impuls. Rückzug oder Wachsamkeit?
Er ging weiter, ohne sich zu erkennen zu geben. Noch war er niemand hier. Noch kannte ihn keiner. Aber das würde sich ändern.
Bald.
Teil 2: Zimmernummer und Schatten
Zimmer 6.
Die Zahl schimmerte matt auf dem Namensschild in der Flurbeleuchtung, als Timo die Tür öffnete. Der Raum lag still da, wie in Erwartung. Nicht feindlich – aber auch nicht einladend. Eine neutrale Bühne. Kein Duft, der blieb. Nur etwas zwischen Reinigungsmittel und Holzpolitur, kühl, synthetisch.
Er stellte seinen Rucksack auf das Bett, überprüfte Fenster und Vorhänge. Alles korrekt, nüchtern, unpersönlich. Die Matratze hart, der Raum akkurat hergerichtet. Projektionsfläche. Wie gemacht für Dinge, die erst geschehen müssen.
Timo zog sein Notizbuch hervor. Dünne Seiten, enge Schrift. Ein Ort, in dem er nichts erklären musste, sondern nur speicherte. Er schrieb:
„Ankunft: Seminarhaus. Gruppe unbekannt. Vorsicht geboten.
Struktur unklar."
Ein Klopfen an der Tür.
Sophie.
Sie hatte etwas Aufrichtiges, fast Zärtliches in ihrer Haltung. Ein stiller, freundlicher Blick, keine Pose. „Ich bin Sophie. Wir sollen gleich runterkommen, erstes Treffen."
„Ich komm gleich", sagte er.
Als sie ging, versteckte er das Notizbuch tief im Rucksack, zwischen Kleidungsschichten. Nicht aus Misstrauen. Aus Prinzip.
Der Flur war leer. In der Feme Stimmen. Lachen. Schritte auf Holz.
Er verließ das Zimmer. Jeder Schritt war jetzt Teil eines Musters, das sich bald zeigen würde.
Teil 3: Echo zwischen den Wänden
Der Morgen danach.
Timo saß am offenen Fenster. Der Flur war leer, der Innenhof fast still. Unten arbeitete eine ältere Frau mit einem Gartenschlauch, das Wasser zog Muster auf dem Steinboden.
Er hörte Stimmen. Gespräche. Lachen. Alles durch Wände. Und doch klang es, als hätte das Haus selbst Ohren.
Er dachte an das Einladungsschreiben: „Entdecken Sie verborgene Ressourcen." Ein abgedroschener Satz. Aber irgendetwas daran hatte ihn gereizt. Vielleicht, weil er wusste, dass Menschen selten wissen, wie viel sie wirklich verbergen.
Ein neuer Gedanke drängte sich auf: Wer beobachtete hier wen?
Ein zweites Klopfen. Dieses Mal sachlicher. Ein Mann mit Brille, distanziert, offenbar vom Team.
„Herr Behrendt? Vorstellungsrunde. Zehn Minuten. Saal unten rechts. Fragebogen mitbringen."
Dann war er wieder weg. Kein Lächeln. Kein Blick.
Timo nickte – mehr zu sich selbst, griff nach seinen Unterlagen – und verließ das Zimmer. Er war bereit, soweit man eben bereit sein konnte. Nicht um sich zu zeigen. Sondern um herauszufinden, was da unten wirklich auf ihn wartete.
Teil 4: Grenzlinien
Die Morgendämmerung legte sich wie eine Haut über das Seminarhaus. Der Himmel violett, der Horizont unscharf. Timo stand wieder am Fenster, spürte den Widerstand des Ortes. Dieses alte Gebäude, das zu viel hörte und zu wenig sagte.
Er dachte an ein kurzes Gespräch mit dem Hausmeister namens Manfred Biller. Freundlich, aber nicht harmlos. Timo war sicher:
Der Mann wusste mehr, als er zeigte.
Auf dem Nachttisch lag das Seminar-Skript. Neun Typen. 27 Subtypen. Persönlichkeitsmuster. Alles bekannt. Theorie war Kontrolle. Aber was war mit der Praxis? Mit Sophie? Mit dem Mann vom ersten Tag? Mit den Blicken, die zu lang verweilten?
Ein Klopfen. Leise. Wieder niemand da.
Timo blieb an der Tür stehen, die Hand am Griff. Vielleicht war es das Haus. Vielleicht jemand anderes. Vielleicht war es ein Test.
Er legte sich noch einmal kurz auf das Bett. Die Decke war kühl, der Raum zu still. Aber der Gedanke war klar:
Dieses Seminar war kein Spiel. Und das, was unter der Oberfläche lauerte, war nicht nur ein innerer Prozess.
Es war ein System. Und Systeme konnte man lesen – wenn man wusste, wo die Grenzlinien verliefen.
Teil 1: Die Ankunft der Schatten
Eva-Lou Naubert saß still auf dem letzten Platz am Fenster, halb verborgen hinter einem schweren Vorhang, der das hereinfallende Licht streute. Ihre Bewegungen waren sparsam, fast mechanisch – so, als wolle sie sich selbst möglichst wenig Raum geben. Die anderen hatten sich verteilt, die einen stehend, die anderen bereits platznehmend, mit ihren Namen auf weißen Namensschildern vor sich.
Sie war früh angekommen, aber nicht als Erste. Das schien ihr wichtig: früh genug, um unauffällig zu sein, aber nicht so früh, dass man sich für ihre Anwesenheit interessieren würde. Niemand hatte sie bislang direkt angesprochen. Einige hatten sie gesehen, genickt, mehr nicht. Das war ihr recht.
Konrad Falk trat ein, breit gebaut, mit prüfendem Blick. Er war anders – nicht laut, aber deutlich. Kein Polizist, auch wenn man es ihm zugetraut hätte. Etwas an ihm stand einfach im Raum. Er hatte nichts Offensives. Aber man spürte genau: Wer ihm zu nahe kam, bekam es mit Klarheit, seiner Wahrheit und seiner Präsenz zu tun. Er ließ sich zwei Stühle von Eva-Lou entfernt nieder, warf einen kurzen Seitenblick auf sie, der registrierte, aber nicht forschte.
Eva-Lou beobachtete, ohne sich zu regen. Das machte sie oft. Es war kein Ausweichen – es war ihre Art, zu verstehen. Manchmal sah sie Details, die anderen entgingen. Die Art, wie jemand seinen Stift hielt. Die Länge eines Zögerns im Satz. Die Stelle, an der jemand das Atmen vergaß.
Sie machte sich keine Notizen. Sie behielt alles im Kopf – das, was sie brauchte. Es war ihre Art, präsent zu sein, ohne dabei in den Vordergrund zu treten. Vielleicht fiel sie gerade deshalb niemandem auf.
Als die Seminarleiterin hereinkam und ein kurzes Begrüßungswort sprach, blieben ihre Augen für einen Moment an Eva-Lou haften. Sie hatte sie wohl gesehen. Aber auch sie sagte nichts. Die Gruppe begann, sich gegenseitig vorzustellen. Eva-Lou wartete.
Wenn sie dran war, würde sie sprechen. Kurz, sachlich. Dann würde sie wieder verschwinden – nicht physisch, sondern im Raum zwischen Aufmerksamkeit und Bedeutungslosigkeit. Dort fühlte sie sich sicher.
Teil 2: Verborgene Muster
Eva-Lou Naubert saß nun schon eine Weile regungslos in der hinteren Ecke des Seminarraums. Die Stimmen der anderen Teilnehmer klangen wie aus weiter Feme. Ihr Blick war auf einen Riss im Putz der gegenüberliegenden Wand gerichtet, der sich wie ein feines Adergeflecht von der Decke herabzog. Gedankenverloren ließ sie den Fingernagel ihrer rechten Hand über die abgenutzte Tischkante gleiten – eine vertraute Geste, wenn sich Unruhe in ihr breitmachte.
Neben ihr blätterte jemand geräuschvoll durch das Tagungsmaterial, doch sie nahm es nur peripher wahr. Sie hatte nicht vor, sich in den Vordergrund zu drängen. Das tat sie nie. Und doch war sie da – beobachtend, absichernd, wie ein Schatten am Rand des Geschehens. Was die anderen nicht wussten: Eva-Lou registrierte wirklich jedes Detail, speicherte jede Geste, jedes Zucken in den Mundwinkeln, jedes Funkeln in den Augen. Sie hörte zu, wenn andere dachten, sie sei in Gedanken. Und sie erinnerte sich – an alles.
In der Pause mischte sie sich kaum unter die Gruppe. Sie bevorzugte es, allein durch das Foyer zu gehen, dort, wo die alten Fliesen unter den Schuhen ein hohles Echo erzeugten. Ihre Bewegungen waren leise, beinahe scheu, und doch hatte sie einen inneren Kompass, der sie sicher durch die Räume leitete. Wenn sie den schmalen Spiegel im Treppenaufgang passierte, warf sie nur einen kurzen Blick hinein – kontrollierend, nicht eitel.
An einem der Fenster stand Timo Behrendt, stützte sich mit den Händen auf die Fensterbank, starrte hinaus in den regnerischen Garten. Ihre Blicke trafen sich kurz, als er sich umdrehte. Sie nickte knapp. Keine weiteren Worte. Es war nicht nötig. Zwischen beiden bestand eine stille Form von Verständigung, die sich eher durch das Nichtgesagte ausdrückte.
Eva-Lou wandte sich ab. Der nächste Programmpunkt würde bald beginnen. Sie hatte ihre Notizen sortiert, das Klemmbrett an sich gezogen. Doch was sie wirklich beschäftigte, war das Gefühl, dass sich in dieser Gruppe mehr verbarg, als auf den ersten Blick zu erkennen war. Kleine Risse im Verhalten, winzige Unstimmigkeiten in den Reaktionen – Hinweise auf tiefer liegende Muster. Sie spürte sie wie eine unsichtbare Strömung. Und sie wusste: Früher oder später würde sich zeigen, wohin sie führte.
Teil 3: Das Echo der Stimmen
Die Gespräche in der Küche verklangen nur langsam, während draußen die Dämmerung über das Seminarhaus fiel. Konrad Falk hatte sich an den Rand des Raumes gesetzt, abseits des allgemeinen Stimmengewirrs, mit einer Tasse schwarzem Kaffee in der Hand. Er beobachtete die Anwesenden genau. Nicht aus Misstrauen – noch nicht –, sondern aus alter Gewohnheit. Seine Arbeit im Konfliktmanagement hatte seinen Blick geschärft.
Am Fenster stand Eva-Lou Naubert, scheinbar versunken in den Blick ins Freie. Ihre Silhouette wirkte schmaler als zuvor, beinahe zerbrechlich im schwachen Licht. Konrad bemerkte, dass sie immer wieder den Kopf neigte, leicht zur Seite, wie ein Rotkehlchen, das etwas Unsichtbares belauschte – als lenke sie ein innerer Dialog ab. Er fragte sich, wie viel davon Fassade war. In ihren Augen lag eine Klarheit, die ihm auffiel.
Am Tisch saß auch Timo Behrendt, ein Notizbuch vor sich, in das er immer wieder mit schwerer Hand Stichworte schrieb. Alma Varela hingegen bewegte sich zwischen den Menschen wie eine Gastgeberin, die zu gefallen wusste – sinnlich, intensiv, unergründlich. Mit einem Blick, der traf, und einer Haltung, die nicht auf Nähe drängte.
Eine Stimme riss ihn aus den Gedanken. „Und Sie?" fragte jemand. Konrad wandte sich um. Eva-Lou hatte sich zu ihm gesellt.
Sie wirkte freundlich, ruhig, beobachtend. „Sie wirken wie jemand, der mehr sieht als er sagt."
Konrad lächelte. „Man erfährt viel, wenn man zuhört." – „Ich mag Menschen, die nicht alles preisgeben", sagte sie nur und trat zurück ans Fenster.
Die Gespräche ebbten ab, Stimmen verebbten, der Abend drehte sich langsam in Richtung Dunkelheit. Konrad trank den letzten Schluck Kaffee. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass dies kein gewöhnliches Seminar war.
Teil 4: Verdeckte Linien
Die Nachmittagssonne warf flache Lichtstreifen durch die hohen Fenster des Seminarraums. Die Schatten der Stuhlreihen zogen sich wie dunkle Gitter über das Parkett, während die Teilnehmer in einem lockeren Halbkreis Platz nahmen. Die Atmosphäre war ruhig, fast zu ruhig – als ob alle ahnten, dass sich in der nächsten Stunde etwas verschieben würde.
Eva-Lou Naubert saß am Rand, wie immer ein wenig außerhalb der Mitte, den Blick gesenkt, die Schultern leicht angespannt. Ihre Stille war nicht auffällig, eher zart, subtil, aber wer genau hinsah – wie Konrad Falk – konnte das innere Vibrieren hinter ihrer stillen Maske wahrnehmen.
Alma hatte unterdessen das Wort übernommen. Ihre Stimme war ruhig, aber dicht, als ob unter ihrer Oberfläche etwas lauerte. Sie sprach über emotionale Dynamiken, die sich nicht offen zeigten, aber Räume verändern konnten. Nähe, Abwehr, alte Verletzungen – Dinge, die keiner anspricht, aber jeder kennt.
Timo Behrendt meldete sich: „Wenn jemand ständig lächelt, obwohl er verletzt ist – zählt das auch zu den verdeckten Mustern?" – „Absolut", sagte Alma. „Wir schützen uns durch Rollen. Und manchmal verlieren wir den Kontakt zu dem, was darunter liegt."
Eva-Lous Finger spielten mit der Kordel ihres Pullovers. Konrad notierte es innerlich – wie ein stiller Beobachter alter Schule.
Dann kam die Ankündigung einer Übung, die die Rollen durcheinanderbringen würde. Ein kurzer Moment des Flackerns ging durch die Gruppe. Konrad spürte, wie sich unter der Oberfläche etwas regte.
Etwas, das nicht bleiben würde, wo es war.
Teil 1: Die Stimme in der Dunkelheit
Timo Behrendt schrak aus dem Halbschlaf, als ein leiser Laut durch die Dunkelheit schnitt. Es war kaum mehr als ein Wispern, eingebettet zwischen dem Ticken der alten Standuhr im Flur und dem Rascheln der Bäume draußen im Wind – aber es genügte, um sein Nervensystem in Alarmbereitschaft zu versetzen.
Er setzte sich auf, lauschte. Nichts. Nur das vertraute Knarzen der Holzbalken, das durch das alte Haus lief wie eine Erinnerung.
Er stand auf, die Füße kalt auf dem Dielenboden, zog seine Jacke über und öffnete die Tür. Der Flur lag leer vor ihm, aber in der Luft hing eine Stille, die nicht beruhigte – sondern lauerte.
Er bewegte sich lautlos, ein Reflex aus Einsatztagen, in denen man besser nicht gehört wurde. Damals bei der Feuerwehr hatte er gelernt, was es hieß, in Unübersichtlichkeit zu funktionieren. Jetzt war er keiner mehr, der kam, um zu helfen. Jetzt war er einer unter vielen. Oder?
Die Einladung zu diesem Seminar war kryptisch gewesen. Nur ein Satz war ihm im Kopf geblieben: Finde die Wahrheit in dir. Er hatte es nicht hinterfragt. Aber jetzt klang es weniger wie eine Einladung – mehr wie ein Auftrag.
Er hörte es wieder. Ein Flüstern. Aus Richtung der Bibliothek, deren Tür einen Spalt offenstand. Zögernd trat er näher, schob sie lautlos auf.
Drinnen: Regale, Bücher, schwaches Licht. Niemand zu sehen.
Und doch – da war etwas. Auf dem Tisch lag ein geöffnetes Notizbuch. Er trat näher. Die Schrift eng, gedrängt. „Sie hören nicht, aber sie sehen. Und du – du wirst lernen zu flüstern."
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er klappte das Buch zu, legte es zurück.
Auf dem Rückweg klang das Flüstern nach. Vielleicht Einbildung.
Vielleicht der Beginn von etwas, das er besser nicht wissen wollte.
Teil 2: Das Rauschen hinter den Wänden
Timo saß auf der Holzbank vor dem Waschraum, den Kopf in die Hände gestützt. Das spärliche Licht fiel milchig durch Glasbausteine, warf ein flackerndes Muster auf den Boden. Irgendwo rauschte Wasser in den Rohren – ein dumpfer, pulsierender Klang, wie Stimmen unter Wasser.
Die Glühbirne über ihm flackerte. Das ganze Haus fühlte sich angespannt an. Nicht bedrohlich. Aber wach. Als hielte es den Atem an.
Er stand auf, ging durch den Flur, vorbei an der Küche, in der noch der metallische Geruch des Abendessens hing. Ganz am Ende, dort wo die Holztreppe ins Obergeschoss führte, bewegte sich etwas. Ein Schatten. Kein Geräusch.
„Hallo?" Seine Stimme klang brüchiger, als er erwartet hatte. Keine Antwort.
Er stieg eine Stufe hoch, dann noch eine. Die Stille war schwer.
Seine Gedanken streiften den Moment beim Mittagessen – das plötzliche Verstummen der Gruppe, Alma Varelas abruptes Aufstehen. Als ob irgendetwas gekippt war.
Oben war die Luft kühler. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen.
Auf dem Bett: ein gefalteter Zettel mit seinem Namen.
Er öffnete ihn. „Du siehst nicht, was du siehst."
Er setzte sich, starrte das Blatt an. Und plötzlich wusste er: Dieses Seminar war keine lose Sammlung von Suchenden. Es war eine Bühne. Und jemand führte Regie.
Teil 3: Der Blick hinter die Stirn
Allein im Seminarraum saß Timo mit einem Klemmbrett auf dem Schoß. Die anderen waren verschwunden – in die Zimmer, in die Bibliothek, in ihre Masken. Hier fühlte er sich unbeobachtet. Fast.
Er dachte an das „Spiegelgespräch" mit Eva-Lou. Ihre Fragen hatten ihn durchbohrt – leise, höflich, aber unnachgiebig. „Haben Sie das Gefühl, Ihre Kontrolle hindert Sie an echter Nähe?"
Er hatte gelächelt. Und „Ja" gesagt. Weil es wahr war.
Konrad Falk hatte ihn auch registriert – dieser Mann mit dem klaren, etwas furchteinflössenden Blick, der sich nie erklärte, aber alles sah. Und Alma – sie war gefährlich auf eine andere Weise. Zu offen, zu wach. Als ob sie ahnte, dass auch er eine Maske trug.
Die Tür öffnete sich. Alma trat ein. „Ich dachte, ich bin die Einzige, die hier Zuflucht sucht", sagte sie.
„Ich könnte auch einfach gehen."
„Nein. Bleib."
Ein stilles Schweigen. Nichts musste gesagt werden.
Timo schrieb: Was bleibt übrig, wenn man sich ganz zeigt?
Er wusste nicht, ob es seine Frage war – oder ihre gemeinsame.
Teil 4: Nadel im Innern
Eva-Lou saß auf der Fensterbank ihres Zimmers. Ihre Hände ruhten im Schoß wie verschränkte Argumente. Draußen flackerte das Licht des frühen Abends. Alles war in Bewegung, nur sie nicht.
Im Flur Stimmen, ein Lachen, Schritte. Sie sammelte sie wie Hinweise.
Konrad Falk war gefährlich – nicht wegen seiner Geschichte. Sondern wegen seiner Klarheit. Er sah Dinge. Spürte Dinge. Und bei ihr war wenig Platz für Irrtümer.
Sie öffnete ihr Notizbuch:
Timo: sichernd, angespannt, Rückzug als Kontrolle.
Alma: suchend, intensiv, Hunger im Blick.
Konrad: durchdringend, druckvoll, Klarheit, die keinen Widerspruch duldet.
Sie schrieb nicht, was sie fühlte. Nur, was sie wusste.
Ein Vogel huschte über die Wand, warf einen Schatten. Sie zog den Vorhang zu.
Die Nacht begann. Und mit ihr das alte Spiel:
Sammeln. Warten. Verbergen.
Teil 5: Das Versprechen der Stille
Konrad ging den Pfad entlang, der ins Halbdunkel des Waldes führte. Die Luft war kühl, feucht. Er hörte sein eigenes Atmen.
Irgendetwas stimmte nicht.
Nicht das Seminar. Nicht die Themen. Sondern die Dynamik. Zu glatt. Zu aufgesetzt. Als ob man etwas verbergen wollte – oder prüfen.
Ein Knacken. Zehn Meter entfernt: eine Gestalt. Eva-Lou. Ihr Blick traf seinen, dann verschwand sie zwischen den Bäumen.
Zurück im Haus: Ruhe. Aber keine Entspannung. Er saß am Fenster, betrachtete die Spiegelungen des Lichts. In seinem Inneren formten sich Muster: Blickwechsel. Schweigen. Fragen, die nicht gestellt wurden.
Ein Satz kam ihm in den Sinn – nicht als Beobachter menschlicher Konflikte, sondern als jemand, der gelernt hatte:
Das Gefährlichste ist nicht das, was passiert. Sondern das, was vorbereitet wird.
Teil 1: Die Stimme der Erinnerung
Timo Behrendt saß allein auf der steinernen Bank am Rand des weitläufigen Geländes. Die Sonne hatte sich hinter einem Schleier aus Wolken verborgen, und das Licht lag milchig und traumverloren über dem Anwesen. Der Kies unter seinen Schuhen knirschte kaum hörbar, als er sich ein wenig zur Seite neigte. In seiner linken Hand hielt er ein zerknittertes Stück Papier, dessen Ecken vom vielen Falten weich geworden waren.
Er hatte es am Morgen in der Innentasche seiner Jacke gefunden – ein Brief, offenbar von sich selbst geschrieben, vor Monaten. Die Handschrift war unverkennbar seine, doch der Inhalt ließ ihn erschaudern. Keine Grußformel, kein Datum. Nur drei knappe Sätze:
„Denk an das, was du gesehen hast.
Schweigen ist kein Schutz.
Vertrau niemandem ganz."
Timo erinnerte sich nicht daran, diese Zeilen verfasst zu haben.
Und doch hallten sie in ihm nach wie ein Echo aus einer Tiefe, die er lange nicht betreten hatte.
Andere hatten sich ebenfalls zurückgezogen. Die Gruppe wirkte zerstreuter als noch vor Tagen. Manche streiften allein durch den Wald, andere saßen in Ecken des Hauses, in Schweigen oder mit abgewandten Blicken. Das Seminar war in seine zweite Woche gegangen, und zwischen den Teilnehmern lag ein Hauch von Misstrauen – wie Nebel, der sich nicht greifbar macht, aber in alles hineinkriecht.
Timo warf einen Blick über den Hof. Am Rand bewegte sich eine Gestalt – Eva-Lou Naubert. Sie ging langsam, mit gesenktem Blick, beinahe lautlos. Nichts an ihr war auffällig. Aber gerade das machte ihn aufmerksam. Ihre Beobachtungen wirkten systematisch, ihre Zurückhaltung kontrolliert.
Er stand auf, steckte den Zettel zurück in die Tasche und ging ins Haus. Die Flure lagen still, das Holz unter seinen Schritten ächzte leise. Eine seltsame Kälte hing in der Luft – nicht von außen kommend, sondern aus den Wänden selbst.
In der Bibliothek traf er auf Konrad Falk. Der saß da, ein Buch über Körpersprache vor sich, aber seine Gedanken waren offenbar weit entfernt. Timo nickte ihm zu, und Konrad erwiderte die Geste mit einem Blick, der mehr sagte als Worte.
„Hast du auch das Gefühl, dass wir hier beobachtet werden?", fragte Timo leise.
Konrad schloss das Buch. „Nicht beobachtet. Durchleuchtet."
Timo lachte kurz, ohne Wärme. „Na, das ist ja beruhigend."
„Nicht, wenn du was zu verbergen hast."
Timo schwieg. Irgendetwas in diesem Ort arbeitete gegen ihre Wahrnehmung, verdrehte Nähe in Kontrolle, Vertrauen in Unsicherheit. Und irgendjemand – oder etwas – schien genau zu wissen, wie es sie zu erfassen hatte.
Später, im kleinen Andachtsraum, öffnete Timo ein altes Notizbuch, das dort auf dem Tisch lag. Auf der ersten Seite, in feiner Handschrift:
„Nicht das, was du erinnerst, macht dich aus – sondern das, was du vergessen musstest."
Teil 2: Zeichen der Natur
Alma Varela hatte sich abgesetzt, war lautlos durch einen Nebenausgang verschwunden. Während die anderen sich zur nächsten Übung versammelten, ging sie hinaus in den verwilderten Park hinter dem Gelände. Ihre Schritte führten sie über feuchtes Gras, das sich kalt um ihre Knöchel schmiegte. Die Trittsteine ließ sie bewusst links liegen – es war ihr Weg, nicht der vorgegebene.
Die alten Bäume wirkten wie Zeugen. Ihre knorrigen Äste ragten über sie hinweg, warfen flackernde Schatten auf den Boden, als würden sie etwas wissen, das noch nicht ausgesprochen war.
In ihr arbeitete etwas. Keine Angst – etwas anderes. Ein waches inneres Vibrieren, das sie selbst überraschte. Das Seminar, so ruhig es sich auch gab, hatte eine Unruhe in ihr ausgelöst, die nicht mehr weichen wollte.
Sie setzte sich in einen halb überwucherten Holzpavillon am Waldrand und schlug ihr schwarzes Notizheft auf.
16:12 Uhr Timos Blick heute Morgen – abwesend oder besorgt?
Konrad: fragt nicht viel, beobachtet. Kontrolliert sich.
Eva-Lou – zu still. Ihre Mimik passt nicht zur Situation. Spielt sie eine Rolle?
Warum fühlt sich das hier wie ein Experiment an?
Ein Geräusch. Schritte auf dem Kiesweg.
Sie hob den Kopf erst, als sie wusste, wer es war.
Timo.
„Ich wusste, dass ich dich hier finde", sagte er.
„Wirklich?", fragte sie, kühl, aber nicht abweisend.
„Du meidest die Gruppe genauso wie ich."
„Ich sammle Eindrücke und schau, was echt ist", entgegnete sie.
„Ich auch."
Er setzte sich neben sie. Abstand. Respekt. Doch da war auch Nähe – nicht körperlich, sondern im Blick.
„Findest du nicht auch, dass hier irgendetwas nicht stimmt?"
„Doch. Aber ich weiß nicht, ob es das Seminar ist. Oder ob es in uns liegt."
Timo lächelte schräg. „Vielleicht beides."
Sie zeigte ihm das Heft nicht. Noch nicht. Aber sie wusste, dass er ahnte, dass sie mehr wusste, als sie sagte.
Ein leiser Windzug rauschte durch die Äste – als würde sich etwas ankündigen.
Teil 3: Fragmente
Konrad Falk trat hinaus auf die Terrasse. Die Stimmen im Haus klangen nach – zu viele, zu leise. Nicht geführte Gespräche. Blicke, die zu lange hafteten. Zu viele Zufälle, zu viele Lücken.
Timo gesellte sich zu ihm. Wortlos erst. Dann: „Du hältst dich raus."
„Ich sehe, was läuft und halte den Überblick", erwiderte Konrad.
„Und?"
„Es ergibt kein Bild. Noch nicht. Aber die Teile liegen auf dem Tisch."
„Ein Spiel?", fragte Timo.
„Vielleicht. Mit Regeln, die wir nicht kennen. Oder die gerade neu geschrieben werden."
Sie schwiegen.
Dann trat Eva-Lou aus dem Haus. Kurz traf ihr Blick die beiden Männer. Kein Lächeln. Kein Gruß. Nur dieser eine Blick – und die Dunkelheit in ihren Augen, die keine Müdigkeit war.
„Es wird dunkel", sagte sie leise, fast beiläufig.
Konrad sah ihr nach – und wusste: sie meinte nicht nur das Wetter.
Teil 4: Zwischen den Linien
Der Seminarraum war wieder gefüllt. Die Stühle standen im ordentlichen Halbkreis. In der Mitte: Jasper Nolden – Haltung, Wirkung, Präsenz. Sein Auftritt war durchdacht – nicht aufdringlich, aber klar gesteuert. Berechnend, ja. Man sah: er wusste, wie man wirkt.
„Heute geht es um die Dynamiken des Enneagramms im Gruppensystem", begann er. „Was passiert, wenn Muster aufeinandertreffen? Was zeigt sich – in Reibung oder Resonanz?"
Die Gruppe reagierte kaum. Nur Konrad, der leicht versetzt am Rand saß, war hellwach. Er sah Gesichter, Körperhaltungen, kleine Fluchten mit den Augen. Er wusste: Hier entstand gerade etwas.
