Das Senfkorn - Alexandra M. Schellenberg - E-Book

Das Senfkorn E-Book

Alexandra M. Schellenberg

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Beschreibung

Der biografische Roman "Das Senfkorn" basiert auf einer wahren Geschichte. Er beschreibt die ersten zweiundsechzig Jahre des Lebens von Maria L. Prean-Bruni, einer österreichischen Missionarin, die in Uganda (Afrika) lebt und dort das größte Missionswerk Ugandas aufgebaut hat. Schon im Kindesalter übergab Maria ihr Leben Jesus. Im Laufe des Lebens erlitt sie persönliche Schicksalsschläge und überstand Krisen. Dank ihrem unerschütterlichen Vertrauen und Glauben an den großen, allmächtigen Gott wurde sie auf vielfältige Weise zu seinem Werkzeug. Mit ihren Seminaren verhalf sie Menschen zur Heilung von psychischen und körperlichen Krankheiten, seelischen Verletzungen und zerbrochenen Beziehungen und viele entdeckten den lebendigen Glauben an Jesus. Nach ihrem sechzigsten Lebensjahr bereitete Gott sie für ihre wohl größte Lebensaufgabe vor: Sie wanderte nach Afrika aus und wurde zur geistlichen Mutter von Tausenden von Waisenkindern. Dort lässt sie den Kindern eine für ihr irdisches Leben notwendige Schul- und Berufsbildung und eine für das ewige Leben notwendige Glaubensbildung zukommen.

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DAS SENFKORN

DAS LEBEN VON MARIA PREAN

GOTT IST IN DEN SCHWACHEN MÄCHTIG

ALEXANDRA M. SCHELLENBERG

Das Leben von Maria Prean

Gott ist in den Schwachen mächtig

Nach einer wahren Geschichte

Alexandra M. Schellenberg

Die in diesem Buch beschriebenen Ereignisse basieren auf biografischen Fakten. Ein Teil der Ereignisse, Charaktere und Personennamen entspricht den realen Fakten. Ein Teil der Ereignisse, Charaktere und Personennamen ist frei erfunden.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Originalausgabe: 1. Auflage 2021 unter dem Buchtitel „Das Senfkorn. Gott ist in den Schwachen mächtig“

2. Auflage 2022

© 2021/2022 Alexandra M. Schellenberg

Kontakt:

[email protected] M. Schellenberg, c/o Autorenservice GorischekAm Rinnergrund 14/58101 Gratkorn, Österreich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und der Übersetzungen, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz und Umschlaggestaltung: Nina Winkler

Umschlagmotiv: pixabay.com

Lektorat und Korrektorat: Christiane Kathmann, Christin Gruber

ISBN: 9783756222315 (Taschenbuch)

Vorwort von Maria L. Prean-Bruni

Schon als junger Teenager hatte ich den Eindruck, dass Gott für jeden Menschen einen Traum hat und dass diesen Traum zu finden die Erfüllung unseres Lebens ist. Ich betete: „Vater, lass mich nicht sterben, bevor ich nicht den Traum leben darf, den du für mein Leben hast.“

Und dann kamen viele Jahre der Vorbereitung. Weißt du, so wie einem irdischen Berufstraum eine besondere Ausbildung zugrunde liegt, so liegt auch dem Traum, den Gott für unser Leben hat, eine Charakterschule zugrunde. Es waren viele Jahre, in denen Gott mich wirklich durch Höhen und Tiefen geschickt hat. Vor allem hat er an meinem Herzen gearbeitet, sodass ich erkannt habe: Er will, soll und muss die erste Liebe in meinem Leben sein. Das ist für keinen Menschen einfach, denn wir glauben, selbst zu wissen, was für uns das Beste ist. Aber in Wirklichkeit weiß nur Gott, was für uns das Beste ist! Wenn wir in diese Gelassenheit kommen, kann Gott anfangen, zu arbeiten.

Mit etwa zwanzig Jahren habe ich gebetet: „Herr, mit mir kannst du machen was du willst, wie du willst, wann du willst, und wo du willst. du kannst mich auf null reduzieren – ABER verherrliche in meinem Leben deinen Namen! Setz mich zum Segen und schenke mir Freude, die die Welt nicht geben und nicht nehmen kann.“

In diesem Roman erfährst du von meinen Höhen und Tiefen, von den vielen Kurven, die ich gemacht habe, und den Wiederholungen, die ich erlebt habe, bis Gott mich an dem Punkt hatte, an dem ich wusste: Er ist das ein und alles in meinem Leben und er hat den besten Weg für mich. An diesem Punkt wurde es ruhig in meinem Herzen. Und erst dann konnte er mich auf die „Autobahn“ seiner Herrlichkeit führen.

In der Vorbereitung für den Traum, den Gott in unserem Leben hat, gibt es zwei Geschwindigkeitsstufen: Langsam und sehr langsam! Aber, wenn er uns einmal dort hat, wo er uns haben möchte, dann wird es schnell! Und dann sagen wir: Bitte langsam! Hier müssen wir uns einfach total auf Gott verlassen und IHM vertrauen. ER wird uns von Herrlichkeit zu Herrlichkeit und von Kraft zu Kraft und von Wunder zu Wunder führen.

Erst wahre Hingabe an Jesus Christus gibt dir die Freiheit, der Mensch zu werden, von dem Gott träumt. Dann wird sein Leben in einer Frische, Spontaneität und göttlicher Kraft in dir wirksam und du wirst erleben, dass beständig Ströme aus deinem Innersten fließen:

Wer an mich glaubt! Wie die Schrift sagt: Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen.

(Johannes 7,38)

Denn ich, ich kenne die Gedanken, die ich für euch denke – Spruch des HERRN –, Gedanken des Heils und nicht des Unheils; denn ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben. Ihr werdet mich anrufen, ihr werdet kommen und zu mir beten und ich werde euch erhören. Ihr werdet mich suchen und ihr werdet mich finden, wenn ihr nach mir fragt von ganzem Herzen. Und ich lasse mich von euch finden – Spruch des HERRN.

(Jeremia 29,11–14a)

Ich vertraue darauf, dass du in diesem Roman die Liebe Gottes kennenlernst, und Glauben bekommst, dass Gott auch für dich etwas Besonderes in seinem Herzen hat. Wenn du dich ihm bedingungslos auslieferst, dann wird es für ihn leicht sein, dich zu führen und dich in diese himmlische Bestimmung zu führen, die dann in deinem Herzen einen Frieden auslöst und eine Freude freisetzt, die die Welt nicht geben und nicht nehmen kann.

Ich vertraue darauf, dass du inspiriert wirst und dein Vertrauen auf Gott 100 Prozent stabil wird.

Shalom, Shalom!

Maria Prean-Bruni, September 2021

Vorwort von Alexandra M. Schellenberg

Jesus sagte:

Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen, mit welchem Gleichnis sollen wir es beschreiben? Es gleicht einem Senfkorn. Dieses ist das kleinste von allen Samenkörnern, die man in die Erde sät. Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, sodass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.

(Markus 4,30b-32)

Der Glauben von Maria Prean-Bruni ähnelt einem Senfkorn. Sie ließ bereits als siebenjähriges Mädchen ihren Glauben wachsen, der damals noch klein und kaum sichtbar war. Sie pflegte und hegte ihn, bis er zu dem geworden ist, was er nun ist.

Die vielen Kinder in Afrika, deren geistliche Mutter sie geworden ist, sind wie Vögel, die im Schatten ihres Glaubens nisten dürfen. Sie gibt ihnen ein Zuhause, eine Ausbildung und eine Lebensperspektive.

Für viele Christen in der ganzen Welt ist sie durch ihre Arbeit, ihren unerschütterlichen Glauben und ihre innige Beziehung zu Gott zum Vorbild geworden. Inspirierend ist unter anderem ihre Bemühung, ihr Handeln stets nach dem Willen Gottes auszurichten, weil sie weiß: Seinen Willen zu erfüllen, ist die zentrale Aufgabe jedes Christen, der in das Himmelreich kommen möchte.

Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut. Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten und haben wir nicht in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und haben wir nicht in deinem Namen viele Machttaten gewirkt? Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Gesetzlosen!

(Matthäus 7,21-23)

Doch wie ist Maria Prean-Bruni zu dem Menschen geworden, der sie nun ist? Wie hat sie es dank des Glaubens geschafft, aus der Asche, die die traumatischen Ereignisse in ihrem Leben hinterlassen hatten, ein großes Feuer der Liebe zu Gott zu entfachen und zum Segen für andere zu werden? Das versucht dieser biografische Roman zu beleuchten, indem er sich den ersten zweiundsechzig Jahren ihres Lebens widmet.

Alexandra M. Schellenberg, August 2021

Über die Autorin

Alexandra M. Schellenberg ist ein Pseudonym. Die Autorin ist Psychologin und lebt in der Schweiz.

Mit ihrem Debütroman „Das Senfkorn“ möchte sie Menschen dazu ermutigen, den Glauben in seiner ganzen Fülle zu leben und darin ihre wahre Berufung zu finden.

Wenn Sie über künftige Veröffentlichungen informiert werden möchten, können Sie sich gerne für den Newsletter anmelden: alexandra.ma­ria.schel­len­[email protected]

Inhalt

Impressum

Vorwort von Maria L. Prean-Bruni

Vorwort von Alexandra M. Schellenberg

Über die Autorin

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Inspiriertes Gebet

Was Jesus für mich am Kreuz getan hat

Gebet – Loslassen der falschen Identität

Anmerkungen

Literatur

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1944

Wenn das Grauen des Krieges und Bombenangriffe zur täglichen Realität werden, der man nicht entkommen kann, versucht jeder, seinen eigenen Weg zu finden, um damit umzugehen. Manche leiden unter der Angst, andere stumpfen ab. Manche kämpfen ums Überleben, andere resignieren. Und ich?

Ich war fünf Jahre alt und kannte nichts anderes als Krieg. Es war eine Zeit voller Angst und Unsicherheit, aber trotz der Umstände war ich ein aufgewecktes Kind. Ich liebte meine Mutter und meinen jüngeren Bruder. Gemeinsam konnten wir dem Leben immer wieder schöne Momente abtrotzen.

*

Fürsorglich legte ich meine Puppe in ihr Bettchen, geschustert aus einem alten grauen Schuhkarton.

„Lisbeth, jetzt bleibst du schön im Bett und hältst den Mittagsschlaf. Sei ein braves Mädchen, weine nicht. Mami wird dich bald wieder abholen.“

Zufrieden schaute ich zu meiner Mutter auf, die über das Bügelbrett gebeugt dastand. Die Hitze des Bügeleisens stieg in ihr Gesicht und ließ ihre Wangen erröten. Der Duft der frisch gebügelten Wäsche mischte sich mit dem Geruch nach Bratkartoffeln, der seit dem Mittagessen in der Luft hing. Immer wieder schaute meine Mutter zum Kinderbett hinüber, in dem mein kleiner Bruder schlief. Hier und da wälzte sich Kurti im Schlaf umher und atmete tief ein und aus. Der Mittagsschlaf war für ihn mit seinen zarten zwei Jahren ein Muss – genauso wie für meine Puppe Lisbeth.

Auf einmal ertönte ein Sirenenalarm und unterbrach herzlos unsere Familienidylle, doch – meine Mutter stand weiterhin seelenruhig da. Ich dagegen erstarrte wie immer wenn ich das höllische Sirenengeheul hörte. Ich konnte an nichts anderes denken als an das ohrenbetäubende Geheul und an das, was ihm folgen würde. Mein Herz bebte. Ich brach in Tränen aus, sprang auf und lief zu meiner Mutter.

Ich umklammerte ihr Bein und schrie: „Mami! Mami!“ Heftig zog ich an ihrem Rock und erwartete, dass wir sofort in den Luftschutzkeller rennen würden, so wie wir es immer taten. Dieses Mal aber passierte etwas Unerwartetes.

„Maria Luise, es ist nur ein Fehlalarm. Es passiert nichts … Wir gehen nur dann in den Keller, wenn wir Bomben fallen hören“, sagte sie und streichelte mit der Hand über meinen Kopf.

Mit weit aufgerissenen Augen sah ich zu ihr auf. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen der Angst vor den Bomben und dem Vertrauen zu ihr.

In Innsbruck, wo wir wohnten, war oft Sirenenalarm zu hören. Es gab viele Bombenangriffe. Häufig aber flogen die Flugzeuge auch nur vorbei, ohne Bomben fallen zu lassen. Meine Mutter hasste diese Fehlalarme. Im Nachhinein beschwerte sie sich darüber, dass wir sinnlos im Keller gesessen hatten, während zu Hause viel Arbeit auf sie wartete. Dieses Mal aber sollte sie sich irren. Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, knallte und grollte es entsetzlich. Die Fensterscheiben zersprangen und flogen durch die Küche. Die ersten Bomben fielen … Die Druckwelle, die sie verursachten, hatte unser Haus erreicht. Noch konnten wir die Flugzeuge in der Ferne hören, aber sie kamen näher und die nächste Detonation tönte um vieles stärker.

Meine Mutter riss das Bügeleisenkabel aus der Steckdose, packte mit Blitzgeschwindigkeit Kurti samt seiner Wolldecke in den Arm, nahm mich in den anderen und lief, so schnell sie konnte, aus der Wohnung. Sie rannte Hals über Kopf gleichzeitig mit anderen Nachbarn die Treppe hinunter in den Luftschutzkeller.

Leute schrien. Manche stürzten zu Boden. Sie rappelten sich hastig wieder auf, und versuchten schnell weiterzukommen. Sie schubsten sich untereinander, auch wir wurden beiseite geschubst. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis wir endlich den Schutz des Kellers erreichten. Dort stellte mich meine Mutter auf den Boden.

Im Halbdunkel des Kellers herrschte Panik. Reflexartig klammerte ich mich an meiner Mutter fest. Die schreienden und schluchzenden Menschen machten mir genauso viel Angst wie der Bombenangriff selbst. Ich hielt mir die Ohren zu. Dann schaute ich mich um. Das einzige winzige Fenster war dicht mit einer dicken Eisenplatte verschlossen. Nur die Kerzen an den Wänden gaben spärliches Licht. In der hintersten Ecke stand ein Regal, vollgestopft mit Heiligenstatuen, Kreuzen, Wolldecken, Konserven und Wasserflaschen. Ich kannte diesen Raum, in dem wir uns seit Monaten regelmäßig versteckten, und dennoch empfand ich ihn jedes Mal als völlig fremd.

Meine Mutter drückte mich und Kurti krampfhaft an sich. Sollte uns eine Bombe treffen, so wollte sie, dass wir alle zusammen sterben. Sie wollte nicht ohne uns weiterleben, wollte aber auch keine Waisenkinder zurücklassen. Ich staunte noch über die wunderschönen Statuen im Regal, als sie mich plötzlich in eine Ecke schob und rief:

„Leute, hört auf zu schreien! Wir sollten jetzt beten!“

Misstrauisch schauten sie die Menschen um uns herum an. In den Luftschutzkellern wurde oft gebetet. Je nachdem, welche Religionsangehörigen dabei waren, wurden unterschiedliche Gebete gesprochen. In einem waren sich jedoch alle einig: im Vaterunser.

Meine Mutter begann zu beten: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden …“

Langsam versank ihre Stimme im lauten, inbrünstigen Gebet, das nun von allen Seiten hallte. Wir waren umgeben von vielen Menschen, die sich zu uns in die Ecke drängten. Manche waren unsere Nachbarn, manche waren mir fremd. Es waren Leute, die sich beim Fliegeralarm auf der Straße befunden hatten und in unserem Luftschutzkeller Schutz suchten. Aber ob bekannt oder fremd, beim Beten war unter uns eine starke Einheit zu spüren. Zwar immer noch angsterfüllt, jetzt aber kämpfte nicht mehr jeder für sich selbst. Jetzt waren wir im Gebet vereint, ein klares Ziel vor Augen: das Überleben.

Und ich? So weit ich die Worte des Gebets kannte, versuchte ich mitzubeten. Irgendwann aber wusste ich nicht mehr weiter und betete stattdessen ein eigenes Gebet: „Lieber Gott, pass auf meine Puppe Lisbeth auf.“ Ein schrecklicher Gedanke kam mir: Was, wenn ihr etwas Schlimmes zustößt und ich nie mehr mit ihr spielen kann? Tränen kullerten meine Wangen hinunter.

„Amen!“, beendeten die Leute das Gebet.

Im selben Moment ertönte ein fürchterlicher Knall. Das Haus zitterte. Das starke Beben ließ auch mich erzittern. Draußen, direkt vor dem Kellerfenster, war eine Bombe eingeschlagen. Wie im Zeitlupentempo wurde die große Eisenplatte samt Fenster, Staub und Scherben in den Kellerraum hineingeschleudert. Ein zweiter entsetzlicher Knall ertönte, näherte sich mir, begleitet von einer dicken Staubwolke. Ich kniff die Augen zusammen und erstarrte. Als ich sie wieder öffnete, lag der Eisenbrocken direkt vor meinen Füßen. Entsetzt schaute ich mich um. Ich sah die verstaubten Menschen, ihre angespannten Gesichter, doch wie durch ein Wunder war keiner verletzt.

Immer mehr Leute drängten sich in die Ecke, in der ich stand. Sie drückten sich um mich und an mich heran von allen Seiten. Ich bekam kaum noch Luft. In Windeseile schoss mir durch den Kopf: Kommt jetzt der nächste Knall? Ich drückte mein tränenbenetztes Gesicht in den Rock meiner Mutter und umklammerte noch fester ihr Bein.

Totenstille herrschte im Keller. Es schien, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Lange passierte nichts und je länger wir so dastanden, desto mehr drang die eiserne Kälte durch das Loch in der Wand in den Keller und durch meine Kleider hindurch. Ich zitterte. Meine Mutter drängte sich durch die Menschenmenge zum Regal. Als sie zurückkam, beugte sie sich zu mir und packte mich in eine Wolldecke. Mit einem verstaubten Stofftuch trocknete sie meine Tränen und machte ein Kreuzzeichen auf meine Stirn.

Es müssen einige Stunden vergangen sein, bis der Flugzeuglärm endlich weniger wurde und schließlich nur noch ganz leise zu hören war. Dann durften wir hinaus.

Wie bei einer Trauerprozession, in Gedanken versunken und vermutlich Gott für das Überleben dankend, gingen die Menschen, einer nach dem anderen an den Trümmern vorbei die Treppe hinauf. Von den Mauern hatten sich unzählige Bruchstücke gelöst, große und kleine, und viele Fensterscheiben waren kaputt. Zum Teil mussten wir über Trümmer steigen oder darüber klettern.

Ich aber hatte andere Sorgen. Was ist wohl mit Lisbeth passiert? Gibt es sie noch?, dachte ich. Ich hastete über die Trümmer zur Wohnung. Mein Herz schlug wild, als ich daran dachte, was ihr passiert sein konnte: Hatte die Bombe sie vielleicht in Stücke gerissen? Sobald meine Mutter die Wohnungstür geöffnet hatte, stürmte ich zu ihrem Bettchen.

„Lisbeth! Meine liebe Lissy!“, rief ich laut. Die Puppe lag seelenruhig in ihrem Bett.

Von diesem Tag an war ich felsenfest überzeugt: Gott erhört unsere Gebete.1

*

Der Winter brachte Kälte und meterhohen Schnee, der sich wie eine dicke Daunendecke über die Trümmer in den Straßen legte. Wenn die weiße Schneedecke die verwüsteten Häuser zudeckte, war das wie eine Geste der Barmherzigkeit.

Mir froren die Finger ab, aber das störte mich nicht. Hungrig nach Abenteuer rollte ich eine Schneekugel durch den Schnee.

„Maria Luise, wie oft habe ich dir gesagt, dass du draußen nicht spielen darfst! Es ist gefährlich. Beeil dich, wir müssen nach Hause!“ Meine Mutter erhob die Stimme. „Das nächste Mal bleibst du mit Kurti und Tante Helga zu Hause, wenn ich einkaufen gehe!“

„Nein!“, rief ich. Meine Lust, einen Schneemann zu bauen, fesselte mich an Ort und Stelle. Zugleich nagte jedoch das schlechte Gewissen an mir, weil ich nicht auf meine Mutter gehört hatte. Schließlich ließ ich die Schneekugel liegen und lief ihr nach.

Seit der Winter eingesetzt hatte, stellte ich meiner Mutter immer wieder dieselbe Frage: „Wann kommt das Christkind?“

Für gewöhnlich lachte sie, klopfte sanft mit ihrem Zeigefinger auf meinen Handrücken und erwiderte: „Wir zählen zusammen nach, Maria Luise. Heute ist der 10. Dezember. Das Christkind kommt am Heiligabend, das ist der 24. Dezember, also …“

Eines Tages gab sie mir jedoch nicht die gewohnte Antwort. Stattdessen setzte sie Kurti und mich auf ihren Schoß und flüsterte geheimnisvoll: „Ich habe eine Überraschung für euch … Wir fahren aufs Land. Dorthin, wo sehr nette Bauern wohnen.“

Kurz vor Weihnachten reisten wir ab. Meine Mutter saß im Zug am Fenster und hielt Kurti auf dem Schoß. Der drückte seine winzige Nase an der Fensterscheibe platt und stieß jedes Mal einen Freudenschrei aus, wenn er einen Blick auf eine vorbeifahrende Pferdekutsche erhaschte. Auch ich war fasziniert von dem Geschehen hinter der Fensterscheibe. Dort draußen war so viel los: die vorbeiziehenden Dörfer, ärmliche Häuschen und prächtige Herrenhäuser, Bäume, Sträucher, Berge und Seen. Hier und da erblickte ich ein Reh oder einen Raben. Mein Blick sprang zwischen den Teichen, Bäumen und Sträuchern hin und her. Ich genoss mit all meinen Sinnen das Spektakel hinter der Fensterscheibe, als mich die Stimme meiner Mutter aus meiner Träumerei riss.

„Wir müssen aussteigen! Kommt schnell!“, sagte sie laut, als der Zug zu bremsen begann.

Kurti brüllte aus voller Kehle. Dass sein Zugabenteuer so abrupt zu Ende ging, schien ihm nicht zu behagen.

Am Bahnsteig eilten Menschen auf und ab: fein gekleidete Damen und Herren, die ich mit Ehrfurcht anschaute, und Männer in Uniform, die von Frauen zum Zug begleitet wurden. Manche hielten ein Kind im Arm oder an der Hand. Das lebhafte Treiben löste bei mir eine ganze Reihe von Gefühlen zwischen Furcht und Entzücken aus.

„Na endlich!“, rief ein alter Mann mit einem schmalen, runzligen Gesicht meiner Mutter ungeduldig entgegen. Er nahm ihr Kurti ab, während sie aus dem Zug stieg.

„Ich wollte zu Hause bleiben, damit uns mein Mann findet, wenn er zurückkommt. Aber jetzt wird es in der Stadt immer gefährlicher. Ich habe ihm geschrieben. Er weiß, wo wir sind“, sagte sie mit bebender Stimme.

„Möge Gott ihn beschützen!“ Der Mann machte ein Kreuzzeichen auf Stirn und Brust. „Kommt schnell! Sonst erfriert ihr hier noch!“, rief er laut, um das Dröhnen des Zuges zu übertönen. Dann eilte er mit Kurti auf dem Arm zu einem Pferdewagen. In der anderen Hand trug er unseren großen, abgegriffenen Koffer.

Die Kälte auf dem Land war rauer als in der Stadt, aber die Stille war einzigartig. Hier gab es weder Bombenalarm noch Flugzeuglärm.

*

Das einzig beheizte Zimmer im Haus war die Küche, deswegen verbrachten wir hier die meiste Zeit. Wir schliefen sogar hier. Wenn ich wach wurde, war der Holzofen ausgekühlt und der Raum eiskalt, während es im Bett angenehm warm war. Vormittags durften wir lange im Bett bleiben. Mit Kurti unter der Daunendecke zusammengekuschelt, lauschte ich meiner Mutter, die uns mit lebhafter Stimme Märchen aus aller Welt erzählte. Auch das Gebet durfte nie fehlen. Wir beteten für unseren Vater, dass er wohlbehalten aus dem Krieg heimkehren möge. Unsere Mutter erwartete seinen Besuch zum Weihnachtsfest. „Soldaten haben an Weihnachten Urlaub. Papa wird sicher nach Hause kommen. Falls er länger braucht, warten wir mit der Weihnachtsfeier auf ihn“, sagte sie.

Als die lang ersehnte Weihnacht kam, war ich ganz aufgeregt. Am Vormittag des Heiligabends schmückte Mutter den Christbaum in der kalten Stube und bereitete das Fest vor. Kurti und ich durften das Zimmer nicht betreten, denn es gehörte zum Brauchtum, dass Kinder den Weihnachtsbaum samt Geschenken erst am Abend sehen durften. Ich stellte mir vor, was für Leckerbissen und welcher Schmuck wohl am Christbaum hängen würden: dunkelrot glänzende Äpfel, raue Walnüsse und golden glitzernde Strohsterne. Sicher ist der ganze Weihnachtsbaum damit behängt, dachte ich.

Bald wurde es dunkel. Es fehlte nur noch mein Vater, dann hätten wir uns an den Festtisch setzen können. Ich lief auf und ab, vor dem Fenster stellte ich mich auf die Zehenspitzen, schaute in die finstere Nacht hinaus und hoffte, ihn zu erblicken … Immer wieder rannte ich zum Fenster. Vielleicht steht Papa ja schon vor dem Haus, dachte ich jedes Mal. Und jedes Mal ging ich wieder enttäuscht zurück. Mein Vater stand nicht vor dem Haus … Er kam nicht.

Die Stube mit dem Christbaum blieb am Heiligabend verschlossen. Irgendwann meinte Mutter, es sei Zeit, schlafen zu gehen, und brachte mich und Kurti zu Bett. Ohne feines Essen, ohne Weihnachtslieder und ohne ein Geschenk.

„Es ist nicht schlimm. Weihnachten können wir auch morgen oder übermorgen feiern. Wir feiern, sobald Papa da ist“, versicherte sie mir.

Ich konnte mich dennoch kaum gegen die stumme Enttäuschung wehren, dass dieser Heiligabend an mir vorbeigegangen war.

Nach dem Heiligabend warteten wir weiter. Tag für Tag. Und jeden Tag beteten wir inbrünstig. Immer wieder blickte ich durch das mit Eisblumen geschmückte Fenster in die schneebedeckte Landschaft hinaus, in der Hoffnung, meinen Vater zu erblicken …

*

Es war Januar, der Dreikönigstag. Ich schaute wieder einmal zum Fenster hinaus und erblickte drei dunkle Gestalten im tiefen Schnee, die den Weg zu unserem Haus hinaufstapften.

„Mami, Mami, schau!“, rief ich laut.

Meine Mutter kam zum Fenster und sah hinaus. Rasch drehte sie sich um und lief aus der Küche. Ich rannte ihr nach. Sie ging über das Vorzimmer zur Haustür, wickelte sich hastig ein dickes schwarzes Kopftuch um, zog ihren Wintermantel und die Stiefel an und verschwand in der Kälte.

Ich kehrte zum Fenster zurück und starrte das merkwürdige Grüppchen an. Die Fremden setzten mühsam einen Fuß vor den anderen. Ihre Mützen waren schneebedeckt, die Bärte weiß, die Gesichter knallrot. Als meine Mutter sie erreichte, machte einer von ihnen mit den Händen ein paar Gesten, dann gingen sie zusammen weiter.

Die Haustür öffnete sich laut und ich hörte den Holzboden unter den schweren Schritten knarren. Leise schlich ich mich zu der Tür, die ins Vorzimmer führte, und musterte aus sicherer Entfernung die erschöpften Fremden. Sie trugen Uniformen. Besonders einer erregte meine Aufmerksamkeit. Er war groß wie ein Riese. Mit zitternden Händen zog er seine dicken Handschuhe aus und ließ sie zu Boden fallen. Dann versuchte er, mit zittrigen Fingern seinen Mantel aufzuknöpfen. Schließlich gelang es ihm. Er schlüpfte heraus und ließ sich mit einem lauten Plumps auf den Holzboden fallen.

Ein anderer Mann lehnte an der Wand und schaute sich im Raum um. Sein Blick kreuzte den meinen und seine Augen leuchteten auf. Er machte einen Schritt auf mich zu. In diesem Augenblick erkannte ich ihn.

„Papa!“, rief ich voller Freude und rannte ihm entgegen. „Papa, Papa ist da!“

Mein Vater beugte sich vor und nahm mich in die Arme. Seine Tränen benetzten mein Gesicht und ich spürte die Kälte seiner Hände, seines Gesichts und seiner Kleidung. Ich erschauerte. Er machte den Mund auf, als ob er etwas sagen wollte, aber es kam kein Wort. Ich schaute mich ratlos um. Kurti stand bei der Tür, an der Stelle, wo ich vorher gestanden hatte. Er weinte. Erschüttert schaute ich nochmals meinen Vater an, dann die anderen Männer. Auch sie sprachen nicht. Mein Vater stellte mich auf den Boden. Verunsichert kehrte ich zu Kurti zurück.

Das frostrote Gesicht des einen Mannes verzerrte sich vor Schmerz. Mit einer Hand umklammerte er seinen Lederstiefel und zog ihn ganz langsam aus, die Zähne fest zusammengebissen. Als der Stiefel am Boden lag, sah ich Stofffetzen von seinem Fuß hängen, zwischen denen die Haut blau und schwarz hervorblitzte. An der Fußsohle fehlte die Haut.

Meine Mutter wandte sich um und ging in die Küche. Ich nahm Kurti an der Hand und lief ihr nach. Dort war die Welt noch in Ordnung. Die Wärme strahlte vom Holzofen und aus der Teekanne stieg Dampf auf. Mutter nahm einen Brotlaib, stellte ihn auf das abgenutzte Holzbrett und schnitt dicke Scheiben von ihm ab.

Der Holzboden vor der Tür knarrte und die Männer betraten die Küche. Dem Ersten von ihnen reichte Mutter eine dampfende Tasse Tee. Er nickte und nahm sie entgegen. Ein leichtes, kaum sichtbares Lächeln überflog sein Gesicht. Mein Vater nahm die nächste Tasse und reichte sie dem Mann, der neben ihm stand. Die letzte Tasse stellte er auf den Tisch und setzte sich hin. Der Duft des Kamillentees erfüllte nun die ganze Küche. Meine Mutter bot den Männern ein Stück Brot an, aber sie aßen nichts. Sie nippten nur an ihrem Tee.

Nach einer Weile sagte mein Vater mit heiserer Stimme: „Jetzt geht’s wieder“, und schaute zuversichtlich zu meiner Mutter. „Durch die Kälte hatte ich die Stimme verloren, aber jetzt geht’s wieder“, wiederholte er mit Erleichterung.

Etwas schnürte meine Kehle zusammen. Gut, dass wir mit der Weihnachtsfeier auf Papa gewartet haben, dachte ich. Er hat den qualvollen Weg ja auf sich genommen, um mit uns Weihnachten zu feiern.1

2

1945

Nach unserer späten Weihnachtsfeier musste mein Vater bald wieder an die Front. Unsere Mutter blieb mit uns auf dem Land. Das Kriegsgeschehen, das wir aus der Stadt kannten, erreichte das kleine Dorf noch nicht. Zuweilen kam es mir vor, also ob es unser altes Leben nie gegeben hätte. Nur die Verbote und Mahnungen meiner Mutter erinnerten mich daran, dass wir auch hier vorsichtig sein mussten.

Der Frühling kam. Obwohl die dicke Schneedecke vor dem Haus einer saftig grünen Wiese Platz gemacht hatte, die zum Spielen geradezu einlud, durfte ich mit Kurti nicht alleine draußen spielen. Die Begründung war immer dieselbe: der Krieg.

Eines Tages klopfte es an unserer Tür. Eine Männergruppe. Auch sie trugen Uniformen. Die Dorfbewohner tuschelten bereits seit Wochen darüber: „Bald werden fremde Soldaten ins Dorf kommen: die Russen oder die Alliierten. Wir müssen friedlich sein und folgen, dann wird uns nichts passieren. Sie werden hier essen, schlafen und hoffentlich bald weiterziehen …“ Hier und da flüsterte jemand hinter vorgehaltener Hand meiner Mutter ins Ohr: „Wenn Russen kommen, du weißt schon … Frauen und Mädchen verstecken.“ Dann wandte sie sich von mir ab und versuchte, ihre Tränen zu verstecken.

Und nun standen sie da. Vor unserem Haus. Meine Mutter machte mit zitternden Händen die Tür auf und begrüßte die uniformierten Männer mit einem nervösen Lächeln. Ohne zu zögern, traten sie ein. Ich versteckte mich rasch hinter dem Rock meiner Mutter und blinzelte hervor. Bei dem Anblick, der sich mir bot, wurde ich mutlos. Ich rieb meine Augen, sah jedoch nach wie vor dasselbe: schwarzes Gesicht, schwarze Hände, schwarze Haare. Sogar die Augen leuchteten schwarz. Meine Mutter musste darauf vorbereitet gewesen sein, denn sie schien gar nicht erstaunt zu sein, stattdessen führte sie die Männer in die Küche und deckte den Tisch.

Die Fremden setzten sich. Brot und Tee wurden herumgereicht. Versteckt hinter dem Herd, wo ich mich sicher fühlte, steigerte sich meine Neugier. Irgendwann wich meine Angst der Neugier und ich traf eine Entscheidung: Ich wollte das Geheimnis lüften. Die Haut der Männer war anders als meine und ich wollte unbedingt wissen, weshalb.

Während die Männer aßen und tranken, schlich ich mich von hinten an einen von ihnen heran. Mit meiner Hand berührte ich seinen Handrücken und versuchte mit dem Fingernagel, die schwarze Farbe abzukratzen.

„What!“, rief der Mann verstört. Mit einer beachtlichen Geschwindigkeit drehte er sich in meine Richtung.

Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. Er schien meine Absicht verstanden zu haben, denn er begann zu lachen. Die anderen lachten herzlich mit. Mit beiden Händen packte er mich, hob mich hoch und setzte mich auf seinen Schoß. Er schaute mich belustigt an und sagte etwas, das ich nicht verstand. Er muss wohl meine Angst bemerkt haben, denn er ließ mich los. Doch Faszination und Neugierde waren viel stärker als die Furcht und hielten mich zurück.

Während er immer noch in der fremden Sprache mit mir redete, zog er aus seiner Hemdtasche einen zerknitterten, vergilbten Briefumschlag. Er nahm ein Foto heraus und zeigte es mir. Die Menschen auf dem Foto hatten alle eine schwarze Hautfarbe. Einer davon war er. Er umarmte eine hübsche Frau. Ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, saß lächelnd auf dem Boden vor der Frau. Neben ihm stand ein etwas größerer Junge und grinste in die Kamera.

„My family. It’s my family.“ Er zeigte auf das Foto.

Lange saß ich auf seinem Schoß und betrachtete das Foto. Am längsten aber betrachtete ich meine kleine Hand, die auf seiner großen, dunklen Hand lag.1

*

Die Leute im Dorf sehnten sich nach dem Kriegsende und nach Frieden. Alle gesunden Männer und Familienväter waren an der Front, nur Frauen mit Kindern, alte Väterchen und Mütterchen waren zurückgeblieben. Die meisten Familien hatten Angehörige an der Front und bangten Tag und Nacht um sie. Die Unsicherheit machte ihnen zu schaffen, genau wie das Bewusstsein, dass das Leben dieser geliebten Menschen jederzeit auslöscht werden könnte. Frauen beteten für die, die noch kämpften, und für die, die bereits gefallen waren. Das Gebet war wie eine Verbindung – und zwar nicht nur zu Gott. Durch das Gebet fühlten sie sich auch mit denen verbunden, die weit weg waren.

Die alten Männer zogen sich zurück. Sie lenkten sich durch die Arbeit auf dem Feld und im Stall oder durch das Rauchen ihrer Pfeife von den trüben Gedanken ab.

Eines Tages drang bis zu unserem Haus ein lautes Treiben. Auf den kargen Dorfstraßen, auf denen sonst gähnende Leere herrschte, standen überall Menschen. Wie eine graue Herde bewegten sie sich in eine Richtung und drängten sich vor das Gemeindehaus. Ein lautes Stimmengewirr und Blasmusik prallten aufeinander.

„Ich gehe schauen, was los ist. Maria Luise, du bleibst hier und passt auf Kurti auf“, sagte meine Mutter.

Als sie zurückkam, rief sie aufgeregt: „Kinder, der Krieg ist zu Ende! Es ist zu Ende! Wir ziehen in die Stadt zurück!“ Sie lief zu mir, hob mich hoch und drehte sich mit mir durch das Zimmer. „Weißt du, was das bedeutet, Maria Luise? Es ist Kriegsende!“, jubelte sie. In ihrem Gesicht sah ich Freudentränen und ein glückliches Lächeln, das ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Ich verstand, dass keine Bomben mehr fallen und mein Vater nach Hause kommen würde, und ich rief mit: „Kriegsende! Kriegsende!“

Ich freute mich auf mein altes Zuhause und darauf, dass Lisbeth dort wieder in ihrem Bettchen schlafen konnte.

3

Auf der Heimreise saß ich im Zug meiner Mutter gegenüber, die ein ernstes Gesicht machte. Das versetzte mich in Unruhe. Sie schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Ich konnte nicht ahnen, dass sie sich Sorgen machte, weil sie nicht wusste, ob unser Haus in Innsbruck noch stand oder ob es zerbombt und in Schutt und Asche gelegt worden war. Wir fuhren nach Hause, ohne zu wissen, ob es überhaupt ein Zuhause für uns gab.

Ein Durcheinander an Stimmen erfüllte den Waggon. Ich verstand nicht alles, was die Zugreisenden halblaut erzählten, aber das Wenige, das ich verstand, löste in mir ein mulmiges Gefühl aus.

„Haben Sie es gehört? Die Schienen auf der Brennerstrecke wurden komplett zerbombt.“

„Ja, das hat schon letztes Jahr begonnen! Im November. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als es losging! Ein ganzes Bombengeschwader war da!“

„Und so ging es heuer weiter, bis April.“

„Über die Monate haben sie auf der Strecke fünfzehntausend Tonnen Bomben abgeworfen! Das haben wir den Deutschen zu verdanken! Die Alliierten haben alles unternommen, um den Nachschubweg für die deutschen Truppen in Italien zu zerstören! Es war klar, dass sie diese Schienen angreifen werden. Ich hab es schon immer gesagt!“

„Das haben wir davon! Jetzt liegt der ganze Bahnhof von Innsbruck in Schutt und Asche! Und was für ein schöner Bahnhof das war!“

„Und die Häuser! Fast die Hälfte wurde zerbombt. Und die fünfhundert Toten! Gott hab sie selig!“

Als unser Zug in den Bahnhof einfuhr, sah ich, so weit das Auge reichte, überall Trümmer. Das Bahnhofsgebäude glich einem Trümmerberg und Trümmerhaufen begleiteten uns auf allen Straßenzügen auf dem Nachhauseweg. Verfallene und ausgebrannte Häuser prägten das Stadtbild. Von einem Gebäude stand nur noch der Kamin. Traurig wie Totendenkmäler schauten die Ruinen den Überlebenden zu, wie sie versuchten, aus ihren Resten etwas Nützliches zu machen. Ich sah Menschen mit Handkarren, die in den Trümmern nach Brennholz suchten. Manche Menschen hausten inmitten des Trümmerschutts, das wenige Hab und Gut, das sie hatten retten können, auf einen Haufen gestapelt.

Und dann entdeckte ich das Leben, das aus der Hoffnung lebte und bereits eine Zukunftsperspektive hatte. Das Leben, das nicht nur fortbestehen, sondern neu gestalten wollte. Ich sah Menschen, die die übrig gebliebenen Mauerreste gesprengt hatten, und mit Schaufeln und Spitzhacken die Trümmer und den Schutt wegräumten, um für etwas Neues Platz zu schaffen. Sie säuberten die alten Ziegel, um sie wiederzuverwenden. Hier lagen dichter Staub, Lärm und Schweiß in der Luft – und Lebensmut.

Ich sah Kinder, die zwischen den Ruinen spielten, als ob es das Natürlichste von der Welt wäre. Ich blieb stehen und betrachtete ihr Spiel.

„Beeile dich, Maria Luise, wir müssen weitergehen!“ Meine Mutter zog mich an der Hand. „Da ist nichts zu sehen!“

Unser Wohnhaus erkannte ich erst, als wir direkt davorstanden. Es war beschädigt, aber es stand. Behutsam traten wir ein.

„Es hätte schlimmer sein können“, sagte meine Mutter. Vorsichtig sperrte sie die Wohnungstür auf. Knirschend ging diese auf, während eine verschreckte Katze davonlief. „Sie ist bestimmt durch das Fenster hereingekommen. Eine der Holzlatten muss sich gelöst haben“, sagte meine Mutter. Vor unserer Abreise hatte sie die zersprungenen Fensterscheiben zusammen mit einer Nachbarin notdürftig mit Holzlatten abgedeckt. „Durch das Loch im Fenster ist die Katze hereingekommen“, murmelte sie, während sie durch die Wohnung lief. Sie schaute sich überall um, als ob sie nach weiteren Katzen suchen würde. Irgendwann blieb sie stehen und sagte: „Bis auf die Fenster ist wohl alles in Ordnung. Ich sehe keine Bombenschäden.“

Es dauerte nicht lange, bis auch mein Vater aus dem Krieg zurückkehrte. Dass er den Krieg unbeschadet überlebt hatte, verdankte er einem Glück im Unglück. Wegen seiner schweren Nierenkrankheit war er für den Aktivdienst an der Front für untauglich erklärt worden und hatte stattdessen in verschiedenen militärischen Büros gedient.

Ich freute mich, meinen Vater wieder bei uns zu haben, aber meine Freude hielt nicht lange an, denn er war oft gereizt und zornig.

Bald nach seiner Rückkehr schreckte mich in der Nacht ein Schrei aus dem Schlaf auf. Es war mein Vater. Ich hielt den Atem an und wartete ängstlich, was weiter geschehen würde. Durch die dünnen Wände hörte ich, wie meine Eltern miteinander sprachen. Kurz darauf öffnete sich meine Zimmertür und meine Mutter kam herein. Sie trug Kurti im Arm.

„Papa träumt vom Krieg“, sagte sie flüsternd. „Ab jetzt wird Kurti bei dir schlafen. So wird er nicht jedes Mal geweckt.“ Sie legte ihn zu mir ins Bett. Kurti schaute sich verschlafen um und schlief dann wieder ein.

Die Alpträume blieben, aber auch tagsüber hielt die Wiedersehensfreude nicht lange. Meine Eltern stritten häufig und so merkte ich bald, dass ihre Ehe unglücklich war. Schlimmer noch, wie ich später erfuhr, hätte meine Mutter meinen Vater nie geheiratet, wenn sie nicht von ihm schwanger gewesen wäre. Das ungeborene Kind, das der einzige Grund für das Zustandekommen dieser Ehe gewesen war, war ich. Und während sich mein Vater nach der Liebe meiner Mutter sehnte, lehnte sie ihn ab.

Schon bald hatte ich den Eindruck, dass ich Schuld am Unglück meiner Eltern war. Wäre ich nicht auf der Welt, hätten die beiden nie geheiratet und wären glücklicher gewesen. Ich fühlte mich schuldig für meine Existenz.

Mein Vater war viel unterwegs und arbeitete hart, damit wir das Notwendigste zum Leben hatten, denn in der Nachkriegszeit war Hunger allgegenwärtig. Uns Kinder behandelte er mit Strenge und forderte Disziplin.

Für mich brachte die Rückkehr in unser Zuhause auch eine Neuerung mit sich: Da ich bereits sechs Jahre alt war, durfte ich in die Schule gehen. Während wir auf dem Land gelebt hatten, hatte mir meine Mutter viel darüber erzählt, und ich freute mich darauf, Lesen, Schreiben und noch viele andere Dinge zu lernen.

Am ersten Schultag setzte ich mich im Klassenzimmer in die erste Bank, damit mir auch ja nichts entging. Ich hörte stets gut zu, was die Lehrerin erzählte. Schnell stellte ich fest, dass die Schule noch viel interessanter war, als ich erwartet hatte, und ich sog das neue Wissen wie ein Schwamm auf.

Und noch etwas Unerwartetes geschah in diesem Jahr: Ich bekam ein Schwesterchen, das auf den Namen Margot getauft wurde.

4

1946

Mein siebter Geburtstag näherte sich. Das Gefühl der Schuld, weil es mich gab, prägte mich inzwischen stark. So stark, dass ich das Gefühl hatte, niemandem zur Last fallen zu dürfen und auch für Selbstverständliches dankbar sein zu müssen. Ich schrieb ein Brieflein an meine Mutter:

„Liebe Mama,

ich danke dir, dass du mir das Leben geschenkt hast und mich nicht abgetrieben hast.

Ich liebe dich

Deine Maria Luise“

Als Geburtstagsgeschenk bekam ich eine Tafel Schokolade. Ein unschuldiges Glücksgefühl durchrieselte mich. Eine ganze Schokolade nur für mich zu haben, glich einem Traum, denn Schokolade gab es bei uns nur an ganz besonderen Tagen.

„Maria Luise“, sagte da jedoch meine Mutter und schaute mich prüfend an, „vergiss nicht, dein Geschenk mit den anderen zu teilen.“

„Teilen?“ Mein Blick haftete an der Schokolade wie an einem Magnet, der nicht lockerlassen wollte. Die Süßigkeit war so nah und nun sollte ich sie wieder hergeben. Eine Welle der Enttäuschung huschte durch mein Herz.

„Indem du die Schokolade mit den anderen teilst, vollbringst du eine gute Tat“, sagte sie in einem Ton, als ob sie von einer Heldentat sprechen würde.

Verunsichert blickte ich zu ihr auf. Das muss etwas Verdienstvolles sein, dachte ich. Ich nickte, mein Herz pochte. Zögerlich legte ich die Schokolade in ihre Hand.

„Das ist für die anderen“, sagte ich.

„Ein braves Mädchen“, sagte sie und strich über meinem Kopf. Sie teilte die Schokolade in mehrere kleine Stücke auf. „Ein Stück für Kurti, ein Stück für dich, Maria Luise, und ein Stück für Papa.“ Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und bat mich mit einer Geste, näher zu kommen. „Als ich so alt war wie du, Maria Luise, ist meine Mutter bei einem Unfall gestorben. Mein Vater arbeitete viel und hatte keine Zeit für uns. Ich war das älteste Kind in unserer Familie und musste mich um meine drei jüngeren Geschwister kümmern und auch den ganzen Haushalt führen. Jetzt bist du so alt wie ich damals. Du bist jetzt groß, Maria Luise.“ Sie schaute mich bedeutungsvoll an und nickte dabei mit dem Kopf.

---ENDE DER LESEPROBE---