Die fünfte Jahreszeit - Anette Hinrichs - E-Book

Die fünfte Jahreszeit E-Book

Anette Hinrichs

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

In kurzer Folge ereignen sich in Hamburg zwei rätselhafte Morde. Bei einem Opfer wird eine Münze mit eigentümlicher Inschrift gefunden. Doch was haben ein Kinderarzt im Ruhestand und eine Buchillustratorin gemeinsam? Erst der jungen Kriminalbeamtin Malin Brodersen gelingt es, die Verbindung zwischen den Opfern aufzudecken. Die Spur führt zu der bekannten Krimiautorin Charlotte Leonberger. Beide Morde wurden detailgetreu nach den Bestsellern der Schriftstellerin inszeniert. Nachdem die Krimiautorin in den beiden Opfern ihren alten Kinderarzt und ihre beste Schulfreundin erkennt, gerät ihr Leben in einen Strudel, der einem Albtraum gleicht. Bald ist klar, dass ein Serienmörder die Krimiautorin im Visier hat.

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Seitenzahl: 476

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Anette Hinrichs

Die fünfte Jahreszeit

KRIMINALROMAN

Zum Autor

Anette Hinrichs wurde 1970 in Hamburg geboren. Nach Fachabitur und kaufmännischer Ausbildung am Hamburger Flughafen folgten berufliche Stationen bei einer Reederei, im Bereich Banken und Einzelhandel. Ihre Leidenschaft fürs Krimilesen wurde im Teenageralter durch Agatha Christie entfacht und weckte den Wunsch, eines Tages selbst zu schreiben.

Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie im Raum München.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

(Originalausgabe erschienen 2012 im Leda-Verlag)

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © TIMDAVIDCOLLECTION / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6414-0

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Harry öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit.

Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Er hatte ein pelziges Gefühl auf der Zunge und griff nach der Bierdose, die er wenige Stunden zuvor unter die Parkbank gestellt hatte. Sie war leer. Mit einem Seufzen ließ er sich wieder auf sein Nachtlager zurückfallen. Er lauschte einen Augenblick in die Dunkelheit, doch alles schien still. Harry zog den dünnen Schlafsack fester um seinen zitternden Körper und versuchte, zurück in den Schlaf zu finden. Dann hörte er es wieder.

Er fuhr hoch. Sein Herz raste. Verstohlen schaute er sich um. Der Mond warf nur einen schwachen Schein durch das Laub der Bäume. Harry blinzelte. Langsam konnte er die Konturen des Parks erkennen. Die Geräusche kamen vom Torhaus.

Er streifte seinen zerschlissenen Schlafsack ab und blieb einige Minuten unentschlossen auf der Bank sitzen. Es war eine kühle Nacht Mitte September. Das genaue Datum kannte Harry nicht. Und es interessierte ihn auch nicht. Ihn interessierte nur, dass es heute ausnahmsweise mal nicht regnete, ja es nieselte noch nicht einmal. Das war für Harry ein Glücksfall. Denn auch wenn die Blätter der Bäume ihn vor dem Regen weitestgehend schützten, zog die Feuchtigkeit durch den Schlafsack direkt in seine altersmüden Knochen.

Inzwischen war er hellwach. An weiteren Schlaf war nicht mehr zu denken.

Er entschloss sich, der Ursache seiner nächtlichen Schlafstörung auf den Grund zu gehen, und streckte die Beine durch. Harry griff nach seinem alten Seesack und kramte, bis er gefunden hatte, was er suchte. Dann verließ er das schützende Dickicht und schlich zum Wanderpfad, der zum Torhaus führte. Am Rand der Grünfläche kauerte er sich hinter eine Eiche und spähte über das Parkgelände. Die Stadtvillen auf der Westseite lagen im Dunklen. Drei Straßenlaternen tauchten den Weg vom Besucherparkplatz zum Torhaus in spärliches Licht und warfen lange Schatten an das alte Gemäuer.

Ein leises Scheppern ertönte vom Ostflügel des Torhauses. Das Licht der Straßenlaternen erreichte diesen Teil nicht. Vom Torbogen waren jetzt kratzende Geräusche zu hören. Harry kannte das Geräusch, doch es dauerte einen Augenblick, bis er es einem kehrenden Besen zuordnen konnte. Wer um Himmels willen sollte denn mitten in der Nacht den Torbogen fegen?

Es war wieder still. Harry wartete noch einige Minuten, dann schlich er den Pfad entlang. Alle paar Meter blieb er stehen und lauschte in die Dunkelheit. Doch außer seinem eigenen pochenden Herzschlag konnte er keinen Laut vernehmen. Was auch immer noch vor wenigen Minuten im Torhaus vor sich gegangen war, es schien beendet.

Er nahm all seinen Mut zusammen und verließ den schützenden Pfad. Es war stockdunkel, und Harry musste aufpassen, dass er nicht stolperte. Dicke Wolken hatten sich vor den Mond geschoben. Harry tastete sich an der Backsteinmauer entlang zum Torbogen. Irgendetwas war anders als sonst. Seine Hände zitterten, als er nach dem alten Feuerzeug griff und vergeblich versuchte, es anzuknipsen. Er fluchte leise, während er sich die kalten Hände rieb und ein paar Schritte in den Torbogen ging.

Etwas versperrte ihm den Weg. Noch ehe die Flamme seines Feuerzeuges die Sicht auf das Hindernis freigab, beschleunigte sich Harrys Puls. Sein Blick folgte dem tanzenden Licht. Ihm blieben nur wenige Sekunden Zeit, um das Geschehen zu erfassen, bevor die Flamme erlosch und das Feuerzeug aus seinen Händen glitt.

Er wimmerte leise und spürte eine warme Flüssigkeit sein Bein hinunterrinnen. In der Nähe schlug eine Autotür zu. Das reichte, um ihn aus seiner Starre zu befreien und zum Handeln zu treiben. Harry bückte sich und tastete im Dunkeln nach seinem Feuerzeug. Wenige Augenblicke später ließ er seinen Fund in die Jackentasche gleiten. Dann drehte er sich um und begann zu laufen. Dunkles Grollen war vom Nachthimmel zu hören und vereinzelte Regentropfen fanden ihren Weg auf die Grünflächen der Parkanlage und in Harrys Nacken. Er spürte es nicht.

Das Gebäude des Polizeipräsidiums Hamburg befand sich an der Hindenburgstraße im Stadtteil Alsterdorf. Der moderne Bau mit den zehn sternförmig um einen Ring gruppierten Riegeln erinnerte an einen Polizeistern. Zahlreiche bis vor wenigen Jahren noch über die gesamte Stadt verstreute Dienststellen waren nun in dem sechsgeschossigen Gebäude zusammen untergebracht. Im dritten Stock lagen die Räume des LKA 41, dem Fachkommissariat für Tötungsdelikte. Das Büro der Mordkommission unterschied sich in seiner Einrichtung kaum von anderen Großraumbüros. Die großen Schreibtische standen sich in Zweierblocks gegenüber, und die hellgrauen Möbel wirkten klar strukturiert und nüchtern.

An einem dieser Schreibtische saß Kriminalkommissarin Malin Brodersen und starrte auf den großen Stapel Akten, der sich vor ihr auftürmte. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie hatte erst vor drei Wochen den Dienst im LKA 411 angetreten, doch ihr kam es vor wie mehrere Monate. Ihre Euphorie hatte sich schnell gelegt. Bisher hatte sie erst in einem Fall ermittelt, einem Tötungsdelikt zwischen zwei Eheleuten, der noch am gleichen Tag aufgeklärt worden war. Seitdem bestand ihr Alltag größtenteils aus Schreibtisch­arbeit.

Malins Tage waren davon geprägt, Berichte in den Computer einzugeben, Formulare in Fallakten zu sortieren und Kaffee zu kochen. Dabei hatte sie einen jahrelangen Ausbildungsmarathon hinter sich. Nach dem Abitur hatte sie vier Jahre Jura studiert und war nach dem ersten Staatsexamen für ein weiteres dreijähriges Studium zur Polizeihochschule gewechselt. In ihrer knappen Freizeit hatte sie Kurse in Kriminalistik und Verbrechensanalyse belegt und zusätzlich jedes Fachbuch und jeden Artikel verschlungen, der sie ihrem Ziel näher bringen konnte, Ermittlerin bei der Mordkommission zu werden. Doch die Bürokratie zwang sie zu Umwegen. Nach Abschluss ihrer Ausbildung an der Fachhochschule als Diplom-Verwaltungswirtin der Polizei hatte sie erst eine Zeit bei einem Kommissariat und danach ein weiteres Jahr beim Kriminaldauerdienst absolvieren müssen.

Jetzt habe ich jahrelang die Tretmühlen durchlaufen, bin endlich am Ziel – und was ist? Der Papierkram geht von vorne los, dachte sie frustriert. Anstatt Mordfälle aufzuklären, befinde ich mich auf dem Abstellgleis, zusammen mit einem Berg von Akten.

Malin griff nach einem weiteren Dokument und ließ ihren Blick dabei durchs Büro schweifen. Wo steckten die bloß alle? Ihre Abteilung bestand aus drei weiteren Ermittlern und dem Ersten Kriminalhauptkommissar Fricke, der das Team leitete. Der Schreibtisch ihres vorläufigen Team­partners Frederick Bartels, der ihr normalerweise gegenübersaß, war verwaist. Auch Ole Tiedemann, ein weiteres Teammitglied, glänzte durch Abwesenheit. Der dritte Kollege, Kriminaloberkommissar Sven Andresen, befand sich noch im Urlaub.

Malin hatte gerade nach einem Franzbrötchen gegriffen, als ihr Telefon klingelte. Seufzend legte sie das Brötchen beiseite und nahm den Hörer.

»Brodersen? Fricke hier. Am Wellingsbüttler Torhaus wurde heute früh eine Leiche gefunden«, brummte ihr die Stimme des Vorgesetzten ins Ohr. »Wir brauchen Sie hier am Tatort.«

Endlich. Malin schluckte ihre Aufregung hinunter. »Ich bin schon unterwegs.«

Sie nahm den Fahrstuhl und ging mit schnellen Schritten in die Tiefgarage des Präsidiums zu ihrem Auto, einem grünen Mini Baujahr 1979 mit durchgesessenen schwarzen Ledersitzen und Holzlenkrad. Der Mini war bereits zum Zankapfel zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten geworden. Es war üblich, die Dienstwagen zu nehmen. Da ihr jedoch keine Dienstvorschrift die Nutzung des Privatfahrzeugs während der Arbeitszeit ausdrücklich verweigerte, hatte Malin sich durchgesetzt.

»Bitte, bitte spring an«, murmelte Malin, als sie sich hinters Lenkrad setzte. Gleichmäßig brummend kam der Motor in Gang.

Zwanzig Minuten später bog Malin vom Wellingsbüttler Weg in den Waldweg zum Torhaus ein. Schon von Weitem sah sie die für diese Uhrzeit ungewöhnlich vielen Autos auf dem Parkplatz, darunter auch einen Übertragungswagen des Lokalsenders. Schaulustige drängelten sich dicht an dicht. Malin kurbelte das Fenster herunter und zeigte dem uniformierten Beamten ihren Dienstausweis. Mit einem kurzen Nicken winkte er sie durch die Absperrung.

Mehrere Einsatzfahrzeuge standen dahinter, eins erkannte sie als Frickes Dienstwagen. Sie parkte daneben und ging die restlichen Meter zu Fuß. Vom Regen und Sturm der letzten Nacht war nichts mehr spürbar. Die Luft war kühl und klar, und durch den Frühnebel drängten sich schon vereinzelte Sonnenstrahlen.

Vor ihr lag das Wellingsbütteler Torhaus, ein historisches Fachwerkgebäude aus rotem Backstein. Die beiden Torhausflügel hatten weiße Sprossenfenster und kleine schmale Giebel. Es war ein beeindruckendes Gebäude.

Schon von Weitem konnte Malin Hauptkommissar Fricke­ und einige andere Kollegen erkennen. Sie folgte dem von der Polizei angelegten Trampelpfad. Keiner nahm ihre Anwesenheit zur Kenntnis. Malin entschied, jetzt sei der falsche Zeitpunkt für persönliche Eitelkeiten. Sie stellte sich unmittelbar neben ihren Chef, folgte seinem Blick und zuckte zusammen. Kurz schloss sie die Augen und kämpfte gegen das Würgen in ihrem Hals. Sie zwang sich, wieder hinzuschauen.

2

Die ersten Sonnenstrahlen warfen einen schwachen Schein auf das dunkle Gemäuer des Torhauses. Ein Mensch war mit dicken Seilen zwischen die alten Balken des Toreinganges gespannt. Der leblose Körper war mit einem weißen Tuch bekleidet und wurde durch die Seile so gestrafft, dass die Leiche die Haltung eines Hampelmannes einnahm. Der Kopf war auf die Brust gesunken. Körperbau und Größe wiesen darauf hin, dass es sich um einen Mann handelte. Nichts deutete auf eine äußerliche Verletzung.

Malin hörte jemanden stöhnen und bemerkte verwundert, dass dieses Geräusch aus ihrer eigenen Kehle drang. Die anderen Beamten starrten sie an, und sie spürte, dass sie rot wurde.

Ihr Teamkollege Frederick Bartels trat auf sie zu, ergriff ihren Ellenbogen und führte sie ein paar Schritte beiseite. »Schließ die Augen und atme tief durch. Und achte nicht auf die anderen. Bei denen war es am Anfang auch nicht anders.«

»Geht schon wieder. Danke.« Ihr Pulsschlag normalisierte sich.

Scheinwerfer waren aufgestellt worden, sie hörte das Klicken einer Kamera, und einige Beamte der Spurensicherung durchsuchten in ihren Schutzanzügen, die sie wie Astronauten aussehen ließen, das Gelände um den Torbogen. Ein Handy klingelte.

Mittendrin stand Fricke. Sein wirres Haar klebte ihm noch vom morgendlichen Duschen am Kopf und ein Zipfel seines Hemdes lugte unter seiner Jacke hervor. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Malin atmete noch einmal tief durch und trat dann entschlossen auf ihn zu.

»Schöner Schiet«, sagte Fricke nicht unfreundlich und mit einer Kopfbewegung in Richtung Leiche.

Gerade stellte ein Beamter eine Leiter unmittelbar daneben auf. Der junge Mann, kaum dem Teenager-Alter entwachsen, wurde auffallend blass. Schnell drehte er sich um und rannte zum nächstliegenden Gebüsch. Ein Würgen war zu hören.

Malin stieß der süß-säuerliche Geschmack ihres Frühstückes auf. Sie kämpfte gegen die Übelkeit. Fricke wühlte in seinen diversen Jackentaschen und reichte ihr ein abgegammelt aussehendes Zitronenbonbon. Misstrauisch beäugte sie das fleckige Papier, doch sobald sich der Zitronengeschmack in ihrem Mund ausbreitete, ging es ihr besser.

»So, Brodersen, dann machen Sie sich mal nützlich. Die Frau da drüben, Ingrid Larsen, hat die Leiche gefunden.« Fricke wies auf eine ältere Dame, die einige Meter entfernt auf einer Parkbank saß. Eine Polizistin hatte ihr eine Decke über die Schultern gelegt und schien beruhigend auf sie einzureden. »Frau Larsen arbeitet für das Alstertal-Museum, das ist im linken Flügel des Anbaus. Sie scheint noch unter Schock zu stehen, hat bisher kaum etwas Brauchbares von sich gegeben. Sehen Sie zu, dass sich das ändert.«

Die alte Frau saß zusammengekauert auf der Bank und umklammerte ihren Kaffeebecher. Ihr blasser Teint war um Augen und Nase gerötet. Sie hob ihren Blick, als Malin auf sie zutrat, und strich sich zitternd eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Frau Larsen, mein Name ist Malin Brodersen, LKA Hamburg. Lassen Sie es uns noch einmal gemeinsam durchgehen. Also, um welche Uhrzeit haben Sie die Leiche gefunden?«

»Es war so gegen zehn nach sieben, ich hatte gerade auf die Uhr gesehen, kurz bevor ich …« Sie schluckte. »Ich muss normalerweise durch das Tor gehen, um zum Eingang des Museums zu gelangen. Er liegt auf der Hinterseite. Aber ich konnte doch nicht …« Ihre Stimme versagte. Eine Träne kullerte über ihr Gesicht. Malin legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm. »Ich konnte da doch nicht einfach durchgehen, also bin ich zum Alsterdomizil gelaufen, um deren Telefon zu benutzen.«

»Alsterdomizil?«

»Die Seniorenresidenz hinter dem Westflügel vom Torhaus. Direkt neben dem Herrenhaus.«

»Das haben Sie richtig gemacht, Frau Larsen. Bitte versuchen Sie sich jetzt noch mal genau zu erinnern, ob Sie vielleicht jemanden auf Ihrem Weg begegnet sind?«

»Nein, ich bin niemandem begegnet.«

»Ist Ihnen denn in den letzten Tagen etwas aufgefallen? Vielleicht ein ungewöhnlicher Besucher, oder gab es irgendwelche sonderbaren Anfragen?«

»Nein, es war alles wie immer.« Sie klang kraftlos.

»Gut, Frau Larsen, das war es dann fürs Erste. Meine Kollegin wird sich jetzt um Sie kümmern. Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen: Unter dieser Nummer können Sie mich jederzeit erreichen oder mir eine Nachricht hinterlassen.« Malin reichte ihr eine Visitenkarte und drehte sich zu der uniformierten Polizistin um, die in einigem Abstand gewartet hatte. »Bitte sorgen Sie doch dafür, dass Frau Larsen nach Hause gebracht wird.«

Sie ging zu Frederick Bartels. Ihr Teamkollege war Mitte dreißig und von sportlicher Statur. Er hatte kräftiges dunkelbraunes Haar, kantige Gesichtszüge und seine dunklen, fast schwarzen Augen erweckten den Anschein, als würde ihnen nichts entgehen. Sie hatten sich einige Monate vor Malins Dienstantritt bei der Mordkommission bei einem Vortrag über Täterprofile kennengelernt. Malin war der gutaussehende Beamte sofort sympathisch gewesen, und sie hatten an jenem Abend noch lange und angeregt über den Vortrag diskutiert. Sie war überrascht und erfreut gewesen, als sie ihn unter ihren neuen Kollegen erkannte, doch in der Mordkommission hatte er sich ihr gegenüber bislang eher reserviert verhalten.

Malin sah zum Torbogen, wo die Leiche gerade von zwei Beamten abgenommen wurde. »Der Tatort wirkt, als hätte der Täter ein Bühnenbild inszeniert.« Kurz flackerte eine Erinnerung auf, doch bevor sie den Gedanken greifen konnte, war der Moment auch schon wieder vorbei.

»Das Gleiche habe ich auch gedacht«, erwiderte Bartels stirnrunzelnd.

Kriminalhauptkommissar Fricke verabschiedete sich gerade von einer attraktiven Blondine, die in ihrer linken Hand eine Arzttasche hielt. Dann wandte er sich seinen beiden Mitarbeitern zu. »Dr. Steinhofer ist gerade mit der vorläufigen Untersuchung fertig. Allerdings konnte sie noch nicht viel sagen. Außer den Hautabschürfungen an Hand- und Fußgelenken weist die Leiche anscheinend keine weiteren äußeren Verletzungen auf. Fest steht allerdings, dass der Mann schon tot war, bevor er aufgehängt wurde. Für alles Weitere müssen wir wohl oder übel die Ergebnisse der Obduktion abwarten. Verdammt, womit haben wir es hier zu tun? Fred, was meinst du?«

»Ich weiß es nicht, Hans. Aber es spricht alles dafür, dass der Tatort gezielt ausgesucht wurde. Fragt sich nur, warum.«

Malin räusperte sich. »Vielleicht will uns der Täter etwas mitteilen und hat irgendeinen Hinweis hinterlassen. Irgendetwas, das wir bisher vielleicht noch nicht gefunden oder auch übersehen haben.«

Fricke betrachtete sie abschätzig und schien seine Worte mit Bedacht zu wählen. »Frau Brodersen, ich bin sehr dankbar für Ihren Hinweis. Wie Sie sehen können, wird der Tatort bereits abgesucht.« Er wies mit weit ausholender Geste auf das Treiben um sie herum. »Mein Team und ich machen das nicht zum ersten Mal.«

»Manchmal ist es aber auch von Vorteil, wenn ein wenig frischer Wind durch einige Arbeitsabläufe weht.« Herausfordernd funkelte Malin ihren Vorgesetzten an.

Fricke wandte sich an Bartels. »Fred, du fängst an, in den umliegenden Häusern nach Zeugen zu suchen. Vielleicht hat jemand etwas mitbekommen. Und nimm unsere verehrte Frau Brodersen mit. Wir treffen uns dann später zur Besprechung im Präsidium.« Ohne Malin eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte er sich um und ging auf einen der Kriminaltechniker zu.

»Es fehlt nur noch, dass du Schaum vor dem Mund bekommst«, sagte Bartels, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Mensch, Malin, reiß dich zusammen. Denkst du, der Chef lässt sich von einer Anfängerin bloßstellen?«

»Ich habe es einfach langsam satt, die Tippmieze der Abteilung zu sein. Dafür hab ich nicht studiert!«

»Genau, und deshalb lässt du am besten mal nicht immer dein Jurastudium so raushängen. Und außerdem: Was meinst du denn, warum Fricke dich zum Tatort bestellt hat? Wenn ich dir mal einen Tipp geben darf: Beobachte ihn und hör ihm zu. Er ist der Beste in seinem Job.«

Malins Wut war schon wieder verflogen. »Da bin ich dann wohl übers Ziel hinausgeschossen«, stellte sie zerknirscht fest.

»Mach dir darüber keinen Kopf. – Weißt du etwas über das Torhaus?«

Malin nickte. »Es diente früher als Pferdestall und als Wohnstätte für die Bediensteten des Herrenhauses, des ehemaligen Gutes Wellingsbüttel. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde es um 1750 erbaut. Heute stehen die Gebäude unter Denkmalschutz.«

Bartels pfiff durch die Zähne. »Woher weißt du das alles?«

»Der Vorteil einer humanistischen Erziehung«, erwiderte Malin trocken.

»Aha.« Bartels warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Dann lass uns mal mit dem Klinkenputzen beginnen.«

Es war bereits später Nachmittag, als sich das Team zur Besprechung im Präsidium einfand.

Malins Magen knurrte. Sie fischte eine zerknitterte Papiertüte aus ihrer Tasche und zog ein Franzbrötchen heraus. Mit wenigen Bissen war das Gebäck verzehrt, und Malin schaute enttäuscht in die leere Tüte.

»Und wenn du noch so lange hineinstarrst: Es werden nicht mehr. Sag mal, isst du eigentlich auch mal etwas anderes als dieses süße Zeugs?«

Malin sah in die wasserblauen Augen ihres Kollegen Ole Tiedemann, ein schlaksiger Kerl mit sandfarbenem Haar und blasser, fast durchscheinender Haut. Mit seiner sachlichen und zurückhaltenden Art bildete er den Ruhepol der Abteilung.

Schnell beförderte sie die Tüte in den Papierkorb. »Jeder hat so seine Laster«, murmelte sie verlegen, doch der Kollege blätterte bereits wieder in seinem Notizblock.

Die Tür öffnete sich, und Hauptkommissar Fricke trat in das Großraumbüro, dicht gefolgt von Frank Glaser, dem Leiter der Spurensicherung, und einem kräftigen Mann mit rötlichem Schnäuzer und finsterem Blick. Bartels erhob sich und schlug dem Unbekannten freundschaftlich auf die Schulter.

Fricke ergriff als Erster das Wort. »Wie ihr seht, konnte ich Sven überreden, einen Tag eher aus dem Urlaub zurückzukommen. So wie die Dinge liegen, können wir jede Unterstützung gebrauchen. Also, fangen wir an. Was habt ihr rausgekriegt, Fred?«

»Wir haben die Anwohner der umliegenden Häuser, das Personal und die Bewohner der Seniorenresidenz und auch die vom Café befragt.« Bartels zuckte die Schultern. »Leider liegt die Erfolgsquote bisher bei null. Niemand konnte auch nur einen entfernt nützlichen Hinweis geben.«

»Dann erweitert den Umkreis. Wurden die Parkplätze schon überprüft? Vielleicht ist der Täter mit dem Wagen gekommen.«

»Einige Leute sind noch vor Ort und durchkämmen das Gelände.«

»Sind schon irgendwelche Spuren ausgewertet worden, Frank?« Fricke wandte sich dem hageren Kriminaltechniker zu, der neben Tiedemanns Schreibtisch lehnte und die Arme vor der Brust verschränkt hielt.

»Wir sind noch dabei«, gab der wortkarg zur Antwort.

»Gar nichts?«, hakte Fricke nach.

»Wir haben Fußabdrücke am Eingang zum Torbogen gefunden. Unbrauchbar wegen des strukturierten Bodens. Trotzdem interessant.« Glasers verkniffener Gesichtsausdruck verzog sich zu einem grimmigen Lächeln.

»Inwiefern? Meinst du, sie stammen vom Täter?«

»Eben nicht. Der Mörder hat die ganze Bodenfläche des Torbogens vermutlich mit einem Besen gesäubert. Ich glaube kaum, dass er hinterher zurückgekommen ist, um seine Fußabdrücke zu hinterlassen.«

»Könnten die von einem unserer Leute stammen?«, fragte Bartels.

Glaser schüttelte den Kopf und rückte dabei seine kleine, runde Brille zurecht. »Die Kollegen von der Streife haben umgehend gesichert.«

»Weitere Abdrücke?«, hakte Fricke nach.

»Wenn welche da waren, hat der Regen der letzten Nacht sie weggespült«, erwiderte Glaser.

»Wenn die Spuren also nicht vom Mörder stammen, dann haben wir vielleicht einen Zeugen. Und derjenige hat nicht die Polizei benachrichtigt.« Fricke strich sich nachdenklich übers Kinn.

»Wissen wir schon, um wen es sich bei dem Toten handelt?«, fragte Tiedeman.

Fricke schüttelte den Kopf. »Bisher nicht, aber die Identifizierung der Leiche steht für uns an erster Stelle. Ole, darum kümmerst du dich. Sprich mal mit den Kollegen von 4.17, die sollen alle Vermisstenanzeigen der letzten Zeit durchgehen.« Er runzelte die Stirn. »Bisher sind unsere Fakten mehr als dürftig. Morgen früh bekomme ich die vorläufigen Berichte der Rechtsmedizin und aus dem Labor. Bis dahin erledigt ihr die zugeteilten Aufgaben. Irgendwelche Fragen?«

Malin räusperte sich. »Ich bin ja noch nicht lange dabei, trotzdem scheint es mir, als hätten wir es nicht gerade mit einem alltäglichen Mord zu tun. Wir haben bisher noch nicht über das mögliche Motiv des Täters gesprochen.«

Fricke fuhr sich bedächtigt übers Kinn. »Sie haben recht, Brodersen, das bereitet auch mir Kopfschmerzen. Trotzdem, vorrangig ist jetzt die Identifizierung des Toten, sie ist unser Ausgangspunkt. Wenn wir erste Ergebnisse der Rechtsmedizin vorliegen haben, die uns über Zeitpunkt und Todesursache aufklären, und das Labor die Spuren ausgewertet hat, können wir daraus vielleicht erste Rückschlüsse ziehen.« Frickes ernster Blick wanderte über die Anwesenden. »Weitere Fragen? Nein? Dann an die Arbeit.«

Malin verließ als eine der Letzten den Raum. Sie eilte Frederick Bartels hinterher, der sich angeregt mit dem rothaarigen Ermittler unterhielt. Das ist also Andresen, dachte Malin und musterte die bullige Statur des Polizisten. Das Gespräch verstummte sofort, als sie auf die beiden zutrat.

»Ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden. Ich bin Malin Brodersen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich weiß, wer du bist«, erwiderte Andresen, ohne auf die dargebotene Hand zu reagieren. »Fred, ich warte im Wagen auf dich.« Er drehte sich um und ging auf den Fahrstuhl zu.

Verblüfft sah Malin ihm hinterher. »Was für eine Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?«

»Dein Ruf ist dir wohl schon vorausgeeilt. Ich habe dich ja gewarnt.«

»Fred, was soll das denn jetzt? Und vor allem, was meint er damit, dass er im Wagen auf dich wartet? Ich dachte, wir beide sollten weiter Klinken putzen?«

»Komm schon, Malin, es war keine Rede davon, dass du die ganze Zeit an meiner Seite klebst. Ich führe die restlichen Befragungen mit Sven durch. Bei der Gelegenheit kann er sich gleich ein Bild vom Tatort machen.«

Malin hatte Mühe, ihren Zorn zu unterdrücken. »Wie du meinst. Und was soll ich stattdessen tun?«

»Informiere dich über den Hintergrund des Wellingsbüttler Torhauses. Und sieh zu, dass du die Berichte von der Schutzpolizei bekommst.«

Malin holte tief Luft. »Ich kümmere mich um die Recherche, aber glaubt nicht, dass ich weiterhin sämtliche Büroarbeiten übernehme.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und marschierte davon.

Es war bereits später Abend und die Luft merklich abgekühlt, als Malin die Tür zu ihrem kleinen Stadthaus aufschloss. Sie hatte das hundertfünfzig Jahre alte Bleicherhaus mitten im angesagten Stadtteil Winterhude vor fünf Jahren von ihrer Tante geerbt. Es stand unter Denkmalschutz, hatte einen handtuchgroßen Garten und achtzig Quadratmeter Wohnfläche, verteilt auf vier Räume mit niedrigen Decken. Vom Erdgeschoss mit dem Wohnzimmer und der Küche führte eine kleine Wendeltreppe in die obere Etage. Dort hatte Malin ihr Schlafzimmer und ein Gästezimmer, das ihr allerdings eher als Abstellkammer diente.

Malin war erschöpft und schlecht gelaunt. Sie nahm sich eine halbe Pizza vom Vortag aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Milch dazu ein. Dann ging sie in den ans Wohnzimmer angrenzenden Wintergarten. Es war ihr Lieblingsort, eingerichtet mit einer gemütlichen gelb-weiß karierten Couch, zwei Korbsesseln und einem hellen Sisalteppich.

Nachdenklich kaute sie auf ihrer Pizza herum. Sie hatte die vergangenen Stunden mit dem Sammeln von Informationen über das Torhaus und das Herrenhaus verbracht, aber wenig Neues erfahren. Außerdem konnte sie sich nicht richtig konzentrieren. Der inszenierte Fundort der Leiche stand ihr ständig vor Augen. Etwas daran ließ sie nicht los, doch sie konnte diesen Gedanken nicht greifen. Hinter ihren Schläfen begann es zu pochen.

Und sie war noch immer verärgert über ihre Kollegen. Lag es wirklich an ihr oder gab es vielleicht noch andere Gründe für Andresens feindseliges Verhalten? Noch bevor sie zur Mordkommission stieß, hatte sie die Geschichte von Martin Sablowoski gehört. Der Ermittler vom LKA 411 war nach Dienstschluss bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Malin hatte die Lücke, die er in seinem Team hinterlassen hatte, bei ihrem Dienstantritt nahezu körperlich spüren können. Soweit sie wusste, hatte er mit Sven Andresen ein Team gebildet. Das erklärte vielleicht teilweise die Abneigung des rothaarigen Ermittlers gegen sie. Trotzdem ist das keine Entschuldigung, dachte Malin.

Sie stellte fest, dass der Anrufbeantworter blinkte. Die erste Nachricht war von ihrer Freundin Suse, die sie an den Geburtstag einer gemeinsamen Freundin erinnerte und sie bat, bei Gelegenheit mal ihre Sporttasche abzuholen. Malin unterbrach das fröhliche Geschnatter der Freundin und spulte vor zum nächsten Anruf. Die nörgelnde Stimme ihrer Mutter ertönte. Augenblicklich sträubten sich ihre Nackenhaare und sie löschte den Anruf. Seufzend hörte sie die letzte Nachricht ab. Die tiefe Stimme ihres Großvaters informierte sie darüber, dass er ein paar neue Krimis für sie parat liegen hatte.

Ein warmes Gefühl der Zuneigung durchströmte Malin. Erich Brodersen war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Beide verband unter anderem die große Leidenschaft zum Krimilesen. Sie hatten schon so manche Nacht damit verbracht, über Plots zu diskutieren. Ihr Großvater hatte sie als Kind in die Welt von Agatha Christie geführt und damit den Grundstein für ihren späteren Berufswunsch gelegt. Leider war er auch der Einzige in ihrer Familie, der sie bei ihrem Vorhaben unterstützt hatte, Polizistin zu werden.

Für einen Rückruf war es heute schon zu spät. Sie beschloss, ins Bett zu gehen.

Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte.

Schlaftrunken setzte sie sich auf. Hinter dem Fenster war es noch dunkel. Malin schaute auf ihren Wecker. Es war vier Uhr zwanzig. Sie hatte gerade mal vier Stunden geschlafen. Stöhnend ließ sie sich zurück in die Kissen sinken und versuchte wieder einzuschlafen. Erneut schob sich der Anblick des Toten vor ihre Augen.

Sie setzte sich auf und starrte in die Dunkelheit. Jetzt wusste sie, woran die Inszenierung der Leiche sie erinnert hatte.

3

Als Malin ihren Wagen an der Elbchausee in Övelgönne abstellte, brach gerade der Morgen an. Dicke Wolken hingen am Himmel und kräftiger Wind zerzauste ihr die Haare. Rasch lief sie die Treppen des Schulbergs hinunter, um zu dem schmalen Fußweg zu gelangen, der zwischen den ehemaligen Lotsenhäusern und ihren kleinen Gärten hindurchführte. Sie ging auf eines der aus Backstein gebauten Fachwerkhäuser zu und klopfte an die Tür.

Kurze Zeit später wurde sie geöffnet. Frisch geduscht, die grauen Haare sorgfältig aus dem Gesicht gekämmt und bereits komplett angezogen, stand ihr Großvater Erich Brodersen vor ihr. Trotz seiner fünfundsiebzig Jahre wirkte der ehemalige Fährkapitän kräftig und energiegeladen. Sein Blick war klar und intelligent, und um seine blauen Augen hatten sich viele kleine Lachfältchen gebildet.

»Himmel, Malin, was treibt dich denn um diese Zeit hierher? Jetzt komm erst mal rein, mein Schatz.« Malin wurde von ihm in den Flur gezogen und seine kräftigen Arme drückten sie liebevoll.

»Hallo, Opa, ich bin völlig durch den Wind. Ich brauche unbedingt deine Hilfe. Ich bin da einer total verrückten Sache auf der Spur«, sprudelte sie heraus.

Ihr Großvater sah sie fragend an. »Komm, setzen wir uns erst mal, dann kannst du mir in Ruhe alles erzählen.«

Malin folgte ihm in die Küche. Blau-weiße Kacheln, massive Küchenschränke mit rustikaler Arbeitsplatte, freigelegte Deckenbalken und ein alter Gesindetisch sorgten für Gemütlichkeit.

Sie setzte sich auf eine der Holzbänke und erzählte vom Fund der Leiche am vergangenen Tag. Ihr Großvater strich sich hin und wieder bedächtig übers Kinn. Als Malin ihren Bericht beendet hatte, folgte langes Schweigen.

»So sieht sie jetzt also aus, deine Welt«, sagte er schließlich. »Ist es das, was du wolltest?«

Malin schluckte. »Es war mir klar, dass ich mit so etwas konfrontiert werde. Deshalb wollte ich zur Mordkommission. Auch wenn die Realität anders ist als Krimis.«

»Also gut. Wie kann ich dir helfen?«

Malin holte tief Luft. »Beim Anblick der Leiche war mein erster Gedanke: Das habe ich schon mal gesehen. Das Ganze hatte so etwas Surreales, es war fast wie in einem Film. Und jetzt bin ich mir sicher: Ich habe es gelesen. Genau so habe ich es in irgendeinem Buch gelesen. Dummerweise fällt mir der Name des Autors nicht ein.«

Erich runzelte die Stirn. »Könntest du es vielleicht auch woanders gelesen haben? Vielleicht in einem Zeitungsartikel oder in einer dieser Fachzeitschriften?«

»Du hältst mich also nicht für völlig verrückt?«

Erich schmunzelte. »Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, würde ich sagen, du hast eindeutig zu viele Krimis gelesen. Aber nein, ich halte dich nicht für verrückt.«

Dankbar griff Malin nach seiner Hand. »Opa, ich weiß, es ist ziemlich viel verlangt, aber ich denke, wir müssen beide unsere kompletten Bücher durchforsten. Alleine schaffe ich das nicht.«

Erich schmunzelte erneut. »Das habe ich mir fast gedacht.«

Sie gingen ins Wohnzimmer. Drei der vier Wände waren bis unter die Decke mit Bücherregalen versehen. Erich hatte seine Lektüren sorgfältig nach Autoren und Genres geordnet und sein Sortiment konnte es mit jeder Buchhandlung aufnehmen.

»Da haben wir uns ja ganz schön was vorgenommen. Ich hoffe nur, ich habe mich nicht getäuscht.« Malin war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob ihr Erinnerungsvermögen ihr nicht doch einen Streich spielte.

Zwei Stunden später hatten sie etwa fünf Dutzend Bücher durchforstet. Malin hätte nie für möglich gehalten, dass es so langsam vorangehen würde. Mittlerweile wurde es allerhöchste Zeit, zum Präsidium aufzubrechen. Ihr Großvater blätterte ganz vertieft in einem amerikanischen Psycho­thriller. Auf seiner Stirn hatte sich eine Furche gebildet und seine Lesebrille war ein wenig von der Nase gerutscht. Er schien ihren Blick zu spüren und legte das Buch beiseite. »Und, hast du schon was gefunden?«

Malin schüttelte den Kopf. »Fehlanzeige. Aber jetzt muss ich leider erst einmal ins Präsidium.«

»Tja, ich habe heute sowieso nichts Besseres vor – also wühle ich mich noch ein bisschen hier durch.«

»Danke, Opa, du bist ein Schatz.« Malin drückte ihm zum Abschied rasch einen Kuss auf die raue Wange.

Sie war spät dran, als sie eine dreiviertel Stunde danach die Büroräume der Mordkommission betrat. Jemand hatte ein Whiteboard aufgestellt und Tatortfotos daran geheftet. Sie fuhr gerade ihren Computer hoch, als Hauptkommissar Fricke eintraf, dicht gefolgt von Glaser, dem Kriminaltechniker. Fricke trug immer noch das Hemd vom Vortag. Er hatte tiefe Augenringe, war unrasiert, und sein Haaransatz schimmerte fettig.

Malin unterdrückte ein Gähnen. Der Schlafmangel machte sich bemerkbar.

Fricke zog ein paar Unterlagen aus seiner Tasche und schaute in die Runde. »Moin, moin. Wenn denn jetzt alle wach und aufnahmebereit sind, beginnen wir mit dem jetzigen Ermittlungsstand. Die Rechtsmedizin hat uns heute früh den vorläufigen Bericht durchgefaxt. Demnach ist der Tod zwischen null und zwei Uhr dreißig eingetreten. Todes­ursache Herzversagen. Über dem linken Brustkorb des Opfers befindet sich ein kleiner Einstich. Vermutlich wurde dort eine Substanz injiziert, die zum Herzversagen geführt hat. Um welche Substanz es sich dabei handelt, wird uns erst das toxikologische Gutachten verraten.« Fricke räusperte sich. »Aufgrund der bisher vorliegenden Ergebnisse der Spurensicherung müssen wir davon ausgehen, dass Tatort und Fundort nicht identisch sind. Leider bringt uns das nicht weiter. Wir brauchen die Identifizierung des Toten. Ole, wie weit bist du mit den Vermisstenmeldungen?«

Ole Tiedemann, der an diesem Morgen noch blasser wirkte als sonst, blätterte in seinem Notizheft. »Heute früh wurde ein gewisser Richard Woy von seiner Frau als vermisst gemeldet, die Meldung ist gerade hereingekommen. Die Beschreibung passt auf den Toten. Soll ich jemanden hinschicken?«

Fricke überlegte kurz. »Mir ist es lieber, wenn das jemand aus dem Team übernimmt. Frank, was haben die Spurenauswertungen ergeben?«

»Das Seil, mit dem das Opfer aufgehängt wurde, weist an diversen Stellen Gewebespuren auf, allerdings stammen die allesamt vom Opfer.«

»Konntet ihr die Herkunft des Seiles feststellen?«

»Massenware, in jedem Baumarkt zu erstehen. Ähnliches bei dem Tuch: ein stinknormales Bettlaken, hundert Prozent Baumwolle, kein Etikett. In jedem Kaufhaus zu kriegen.«

Es klopfte und eine Beamtin streckte den Kopf durch die Tür. Fricke winkte sie heran, und die Polizistin reichte ihm einen Zettel. Nach einem kurzen Blick auf die Notiz wandte er sich wieder seinem Team zu. »Wir müssen hier jetzt abbrechen. Frank, ich brauche ein Team von der Spurensicherung, am besten kommst du auch gleich mit.« Er nickte dem Kriminaltechniker zu und ging ohne weitere Erklärungen zur Tür.

Dann drehte er sich noch einmal um. »Worauf warten Sie, Brodersen? Kommen Sie, fürs Herumstehen werden Sie nicht bezahlt!«

Malins Müdigkeit war schlagartig verflogen.

4

Malin saß auf dem Beifahrersitz von Frickes Dienstwagen und starrte aus dem Seitenfenster. Die dicke Wolkendecke entlud sich ihrer Schwere und das träge Tröpfeln der letzten Stunden ging in einen kräftigen Schauer über.

Abgesehen vom Quietschen der Scheibenwischer war es seltsam still im Wagen. Malin schaute zu Fricke hinüber und musterte ihn. Die tiefen Ringe unter seinen Augen ließen erkennen, dass die letzten vierundzwanzig Stunden auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen waren. Mit starrem Blick aus der Frontscheibe und beiden Händen am Steuer lenkte er den Wagen. Sie fühlte sich neben ihrem Vorgesetzten äußerst unbehaglich. Malin hatte immer an ihre gute Menschenkenntnis geglaubt, doch bei Fricke schien die zu versagen. Außerdem fragte sie sich, warum er sie nicht duzte. Schließlich war das beim LKA im Allgemeinen üblich.

Ein Lastwagen hupte.

»Kann der denn nicht aufpassen!«, wetterte Fricke und hupte ebenfalls. »Solche Idioten haben hinterm Steuer einfach nichts verloren.« Dann wandte er sich an Malin. »Am Waldrand im Rehagen wurde ein herrenloses Auto gefunden. Eine schwarze Mercedes-Limousine mit etwas ungewöhnlichem Inhalt. Weiß der Teufel, was das wieder zu bedeuten hat.«

»Was meinen Sie mit ungewöhnlichem Inhalt?«

»Der Wagen war wohl vollkommen leer, bis auf einen Stapel Herrenkleidung. Obenauf liegt eine Brieftasche. Ein Reiter hat den Wagen gestern entdeckt. Als er heute immer noch da stand, hat der Mann die Polizei gerufen. Der Wagen blockiert den Reitweg.«

»Und warum hat man uns verständigt?«

»Der Wagen ist auf einen Dr. Richard Woy zugelassen.«

»Der Vermisste, dessen Beschreibung auf unsere Torhausleiche passt«, stellte Malin verblüfft fest.

»Genau. Und so viele Menschen mit diesem Namen wird es in Hamburg wohl nicht geben. – Ah, ich glaube, da sind wir schon.«

Fricke bog in den Rehagen ein und kurze Zeit später sahen sie den Reitstall. Etwa zweihundert Meter weiter ging die geteerte Straße in einen schmaleren Waldweg über, und an diesem Punkt stand ein Streifenwagen. Fricke parkte sein Auto am Seitenrand. Noch immer regnete es Bindfäden.

Malin setzte die Kapuze ihrer Regenjacke auf und stapfte ihrem Chef durch den Matsch hinterher. Vor dem Streifenwagen parkte ein schwarzer Mercedes der S-Klasse.

Fricke streifte Einweghandschuhe über und reichte Malin auch ein Paar. »Bevor die Spusi den Wagen in die KT bringen lässt, wollen wir doch mal einen Blick hineinwerfen.« Vorsichtig öffnete er eine Fahrzeugtür.

Der besagte Stapel Kleidung lag auf der hinteren Sitzbank. Alle Teile waren akkurat zusammengelegt. Fricke griff nach der Brieftasche aus schwarzem Leder und reichte sie an Malin weiter. Nach kurzem Suchen fand sie hinter dem Kreditkarten­fach einen Personalausweis.

»Richard Woy, geboren am 17. Januar 1945. Schauen Sie sich mal das Foto an.« Sie reichte ihm den Ausweis.

Fricke runzelte die Stirn. »Das weist in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit mit unserer Leiche auf.« Er wandte sich an einen der uniformierten Beamten. »Haben Sie die Daten des Halters und die Adresse überprüft?«

»Häherweg in Poppenbüttel«, kam prompt die Antwort.

»Die Adresse stimmt mit den Daten auf dem Personalausweis überein«, bestätigte Malin.

Fricke bückte sich und betrachtete noch mal eingehend das Wageninnere. »Was zum Teufel soll das bloß? Erst die Leiche im Torbogen und jetzt die Limousine, wie auf dem Präsentier­teller. Warum so umständlich? Das ist ja total bekloppt«, murmelte er, während der Regen weiterhin unablässig in seinen Nacken glitt. »Ach verdammt … Kann mir vielleicht jemand mal einen Schirm bringen?«

Ein Beamter eilte zum Streifenwagen und kam mit einem aufgespannten Schirm zurück. Er reichte ihn Fricke.

»Danke. Ist dieser Reiter noch vor Ort?«

»Nein, aber ich habe die Personalien überprüft und die Aussage aufgenommen.«

»Gut.« Fricke holte sein Handy aus der Jackentasche. Er drückte Malin den Schirm in die Hand und tippte eine Nummer in die Tastatur. »Ole? Fricke hier. War schon jemand bei den Angehörigen von Richard Woy? Nein? Gut, dann übernehmen wir das.« Er murmelte einen kurzen Abschiedsgruß und wendete sich an den Beamten der Schutzpolizei. »Sie rühren sich nicht vom Fleck und warten auf die Kollegen von der Spurensicherung. – Und wir, Brodersen, fahren jetzt mal zu dieser Adresse in Poppenbüttel.«

Fünfzehn Minuten später standen Malin und Fricke vor einem weißen Bungalow aus den siebziger Jahren. An der Eingangspforte warnte ein Schild vor einem bissigen Hund.

Malin drückte die Klingel. Eine elegante Frau mittleren Alters öffnete und ein Westhighlandterrier flitzte aus dem Haus. Wild mit dem Schwanz wedelnd sprang er an Malins Beinen hoch und versuchte, ihr die Hand zu lecken. Das zum Thema bissiger Hund, dachte sie und tätschelte seinen Kopf.

Fricke stellte sich und Malin vor. »Sind Sie Frau Woy?«

Der Blick der Frau wurde ängstlich. »Ja, ich bin Henriette Woy. Kommen Sie wegen meines Mannes?«

Fricke nickte.

»Dann kommen Sie bitte herein.« Sie führte sie in ein behaglich eingerichtetes Wohnzimmer mit cremefarbener Sitzgruppe und Sesseln aus Korbgeflecht. Mit einer einladenden Geste wies sie auf die Couch. »Bitte, was ist mit meinem Mann, haben Sie ihn gefunden?« Henriette Woy strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem diskret geschminkten Gesicht.

Fricke räusperte sich. »Frau Woy, bitte schildern Sie uns, was Sie dazu veranlasst hat, Ihren Mann als vermisst zu melden.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Mein Mann hat sich vorgestern Abend mit ein paar alten Kollegen getroffen. Alles pensionierte Ärzte. Sie treffen sich immer einmal im Monat. Jeden ersten Dienstag. Gegen halb elf hat er mich angerufen, um mir zu sagen, dass er auf dem Weg nach Hause ist. Aber er ist nicht gekommen.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Gegen Mitternacht habe ich dann angefangen, seine Freunde und die Krankenhäuser anzurufen. Niemand wusste etwas. Und bei der Polizei hat man mir dann gesagt, es gebe derzeitig keinerlei Veranlassung, eine Vermisstenanzeige aufzunehmen. Das ist erst heute früh geschehen.« Mittlerweile war Henriette Woys Gesicht tränenüberströmt, und sie musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. »Bitte sagen Sie mir endlich … Ist ihm etwas passiert?«

Fricke warf Malin einen unbehaglichen Blick zu und wandte sich dann an die zitternde Frau. »Frau Woy, der Wagen Ihres Mannes wurde verlassen an einem Waldweg im Rehagen gefunden. Können Sie sich vorstellen, was er dort vielleicht gewollt hat?«

Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Was sollte er dort gewollt haben? Er wollte doch nach Hause kommen.«

»Frau Woy, ich würde Ihnen das gerne ersparen, aber wir haben gestern Morgen eine Leiche gefunden, die auf die Beschreibung Ihres Mannes passt. Ich muss Sie leider bitten, uns zu begleiten.«

»Mein Mann soll tot sein? Das glaube ich nicht«, sagte Henriette Woy kraftlos.

Malin setzte sich neben die verstörte Frau. »Gibt es jemanden, der Sie begleiten könnte?«

»Meine Tochter, ich muss meine Tochter anrufen.« Zitternd erhob sich Henriette Woy von der Couch und verließ den Raum.

»Sie denken es auch, oder?« Malin sah ihren Chef fragend an. »Ich meine, dass er es ist.«

Fricke nickte. »Trotz all meiner Dienstjahre habe ich mich immer noch nicht an diese Augenblicke gewöhnt.« Er schien zu sich selbst zu sprechen. Resigniert starrte er auf den Boden. Malin wagte nicht, ihn länger anzuschauen, sie kam sich vor wie ein Eindringling.

Die Leiche war von Henriette Woy eindeutig als die ihres Mannes identifiziert worden. Es war schon später Nachmittag, als Malin zusammen mit ihrem Vorgesetzten erneut den weißen Bungalow verließ. Routiniert hatte Fricke in der letzten Stunde die Befragung durchgeführt. Laut Henriette Woys Aussage hatten sie und ihr Mann eine harmonische Ehe geführt. Außerdem hatte sie ihn als einen geradlinigen und integeren Menschen beschrieben. Unvorstellbar, dass jemand einen Grund gehabt haben könnte, ihn umzubringen.

Malin war froh, der bedrückenden Atmosphäre im Haus zu entkommen. »Chef, glauben Sie, dass seine Frau etwas mit dem Mord zu tun hat?«

»Bisher glaube ich überhaupt nichts.«

»Auf mich wirkte sie ehrlich erschüttert.«

»Trotzdem sind zu diesem Zeitpunkt alle verdächtig. Auch die Hinterbliebenen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass mehr als neunzig Prozent aller Tötungsdelikte Beziehungstaten sind. So leicht lass ich mich durch ein paar Tränen nicht täuschen. Und Sie sollten das auch nicht tun.«

»Wie Sie meinen, Chef.«

»Lassen Sie die Telefondaten des Anschlusses überprüfen. Und sehen Sie zu, dass wir die Liste mit den Adressen von den Angehörigen und Freunden der Familie bekommen. Außerdem müssen wir dringend in Erfahrung bringen, wo er seine alten Praxisunterlagen aufbewahrt.«

»Vermutlich wird er sie seinem Nachfolger übergeben haben«, bemerkte Malin.

»Dann überprüfen Sie das.«

Malin zuckte resigniert mit den Schultern und folgte ihrem Vorgesetzten zum Auto.

Die Tür klemmte. Charlotte Leonberger stemmte ihren Körper gegen die schwere Eingangstür ihres Reetdachhauses. Dann wuchtete sie ihren Koffer über die Schwelle in den Flur. Zufrieden sah sie sich um. Zwei Stapel Briefe lagen säuberlich nach Größe sortiert auf der alten Nussbaumkommode. Daneben stand ein frischer Strauß gelber Astern, ihre Lieblingsblumen. Die gute Tante Alma, dachte sie. Sie ließ ihren Koffer stehen, hängte ihren Mantel an die Garderobe und ging in die Küche, um sich erst einmal einen Tee aufzubrühen.

Endlich zu Hause, dachte sie und schaute aus dem Fenster. Dicke Wolken hingen am Himmel und Windböen peitschten die Ostsee zu hohen Wellen auf. Ein paar Möwen hatten sich unter einem Holzsteg ein trockenes Plätzchen gesucht. Dicht an dicht drängten sie sich zusammen.

Die meisten Lokale an der Strandpromenade hatten bereits geschlossen und die verbliebenen Strandkörbe wirkten verwaist. Auf die meisten Menschen hätte der Strand trostlos gewirkt, doch Charlotte liebte ihn zu dieser Jahreszeit ganz besonders. Er lud zu langen Spaziergängen ein – ohne all die Touristen, die den kleinen Ort Strande im Sommer belagerten.

Der Wasserkessel pfiff. Sie bereitete ihren Tee zu, legte noch ein paar selbstgebackene Kekse von Alma dazu und balancierte alles auf einem Tablett ins Wohnzimmer. Das Kofferauspacken konnte warten. Der Dreiwochentrip durch alle größeren Städte Deutschlands hatte seine Spuren hinter­lassen. Nach einem kurzen Nippen am Tee war Charlotte auch schon auf der Couch eingeschlafen.

Das dumpfe Hämmern des Türklopfers riss sie aus ihren Träumen. Verwirrt setzte sie sich auf und rieb sich die Augen. Es war stockdunkel. Erneut war ein energisches Klopfen zu hören.

»Ja, ich komme ja gleich!« Schlaftrunken tastete sie nach dem Knopf der Stehlampe. Gleißendes Licht erhellte den Raum. Gähnend ging sie in den Flur und öffnete die Tür.

»Hallo, mien Deern, schön, dass du wieder da bist. Hier, ich habe dir ein gutes Süppchen gekocht. Du hast doch bestimmt heute noch nichts Warmes gegessen.«

Charlotte unterbrach mit einer abwehrenden Geste den Wortschwall der alten Frau, die – in ein dunkles Regencape gehüllt – tropfnass vor ihrer Türschwelle stand. In ihren Händen hielt sie einen riesigen Topf, dessen Inhalt gut und gerne eine achtköpfige Familie sättigen konnte. »Guten Tag, Alma, komm doch rein, wenn du schon mal da bist.« Schmunzelnd trat Charlotte beiseite, um die kleine, rundliche Gestalt einzulassen.

»Und, war die Reise ein Erfolg?«, fragte Alma neugierig. Sie hatte zielstrebig die Küche angesteuert und hantierte am Herd herum.

Charlotte winkte ab. »Lass uns morgen darüber reden, ich möchte mich jetzt einfach nur noch entspannen. Erzähl mal, wie ist es dir denn in den letzten Wochen ergangen?«

»Ach, so weit ganz gut, auch wenn meine alten Knochen nicht mehr ganz so wollen.« Alma rührte die Suppe um. »Mmh, wie das duftet!«

Charlotte lief das Wasser im Mund zusammen. »Ich decke schon mal den Tisch. Du bleibst doch zum Essen?«

»Gerne, dann können wir noch ein bisschen plauschen.« Ein Strahlen überzog Almas rosiges Gesicht und ihre haselnussbraunen Augen sahen Charlotte liebevoll an.

Es war spät geworden, als Alma sich vom Küchentisch erhob, um sich auf den kurzen Heimweg zu machen. Es behagte Charlotte gar nicht, die alte Frau alleine in die Dunkelheit zu schicken, aber wie immer lehnte Alma ihr Angebot, ein Taxi zu rufen, brüsk ab.

»Wer sollte denn eine so alte Frau wie mich überfallen? Bei mir gibt es doch nichts zu holen. Ihr jungen Dinger solltet euch schon eher Sorgen machen.« Ohne Widerspruch zu dulden, griff sie nach ihrem Regencape.

Charlotte gab sich geschlagen. »Aber ruf an, wenn du zu Hause bist«, rief sie ihr hinterher.

Keine zwei Minuten später läutete das Telefon. Komisch, dachte Charlotte, Alma konnte doch unmöglich in dieser kurzen Zeit zu Hause eingetroffen sein. Sie griff nach dem Hörer und nannte ihren Namen. Eine fremde Stimme.

Kurz lauschte sie dem Anrufer, dann legte sie verwirrt auf. Schon wieder, dachte sie. Das war bereits das zweite Mal. Sie überlegte einen Moment und wählte dann die Nummer der Kriminalpolizei Kiel.

5

Sie hatte versucht, es so lange wie möglich hinauszuzögern, doch allmählich waren ihr die Ausreden ausgegangen.

Verdammt, dachte Malin. Als hätte ich nichts Besseres zu tun. Der Sonntag war ihr erster freier Tag seit einer Woche und sie war auf dem Weg zum wöchentlichen Familien­essen. Ausgerechnet heute war ihr Mini nicht angesprungen. Schlecht gelaunt hatte sie sich auf den Weg zur U-Bahn gemacht. Die hatte nun aufgrund einer Signalstörung fünf­undzwanzig Minuten Verspätung. Und das, wo Malin sowieso schon zu spät dran war.

Kurz entschlossen verließ sie den Bahnsteig und steuerte den nächsten Taxistand an. Ein Wagen wartete bereits mit laufendem Motor auf Kundschaft. Knoblauchgestank drang ihr aus dem Wageninneren entgegen, trotzdem glitt sie auf die Ledersitze und nannte dem Fahrer die Adresse in Harvestehude. Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen.

Seit zwei Tagen traten sie bei den Ermittlungen auf der Stelle. Sie hatten alle Verwandten, Freunde und Nachbarn von Dr. Woy befragt, Alibis überprüft und Zeugen vernommen. Nichts. Niemand schien etwas zu wissen oder auch nur ansatzweise ein Tatmotiv zu haben. Allem Anschein nach war Dr. Woy ein angesehener und unbescholtener Bürger gewesen, den alle gemocht und geschätzt hatten. Und dennoch hatte ihn jemand ermordet.

Am Harvestehuder Weg bezahlte sie den Fahrer und blieb kurz am Straßenrand stehen, um die Aussicht zu genießen. Hinter gepflegten Parkanlagen und der langen Ufer­promenade schimmerte die Außenalster und zeigte Hamburgs schönste Seite.

Malin wandte sich um und ging die paar Meter zur Auffahrt. Die weiße Jugendstilvilla mit dem parkähnlichen Garten befand sich seit Generationen im Familienbesitz. Malins Mutter war Constanze Heidenberg, Haupt­gesellschafterin der Heidenberg-Bank, eines hanseatischen Privatunternehmens, das seit fast anderthalb Jahrhunderten existierte.

Malin versuchte, das beklemmende Gefühl abzuschütteln, das sie jedes Mal befiel, wenn sie vor dem Haus ihrer Kindheit stand. Sie atmete tief durch und wollte gerade klingeln, als die Tür von innen weit aufgerissen wurde. Gewöhnt an den Anblick eines Dienstmädchens, sah Malin überrascht in das sommersprossige Gesicht von Marie Heidenberg, der Frau ihres Cousins Maximilian.

»Hi, Malin – akademisches Viertel?« Marie lächelte.

»Bin ich die Letzte?«

»Nein, Max ist noch in der Bank. Wie immer.«

Sie traten in einen getäfelten und üppig bestuckten Raum, der von allen nur der Salon genannt wurde. Eine blonde, gertenschlanke Frau kam ihnen entgegen und schaute missbilligend auf die Uhr. Constanze Heidenberg trug einen dunkelblauen Hosenanzug, kombiniert mit einer weißen Bluse und einer einreihigen Perlenkette. Das honigblonde Haar hatte sie zu einem strengen Knoten gesteckt.

»Du bist zu spät.«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, erwiderte Malin trocken.

»Nun gut, dann können wir ja endlich beginnen. Geht ihr schon mal ins Esszimmer, ich sage schnell der Köchin Bescheid.«

»Was ist mit dem Dienstmädchen passiert?«, flüsterte Malin Marie zu, nachdem ihre Mutter den Raum verlassen hatte.

»Hat gekündigt.«

Sie grinsten sich an und betraten das Esszimmer, einen länglichen Raum mit blassgrünen Wänden und bis zum Boden eingelassenen Fenstern. Der sechs Meter lange Mahagoni­tisch war mit weißem Porzellan und Silberbesteck eingedeckt.

»Erzähl doch mal, wie steht es an der Verbrecherfront?«, fragte Marie neugierig, nachdem die drei Frauen am Esstisch Platz genommen hatten.

»Das ist wohl kaum das richtige Gesprächsthema beim Essen.« Constanze Heidenberg widmete sich ihrem Vor­speisen­teller mit gedünsteter Seezunge.

Malin räusperte sich. »Im Moment ermittle ich in einem Mordfall. Ihr habt bestimmt schon in der Zeitung davon gelesen – ein bekannter Kinderarzt. Wurde im Wellingsbütteler Torhaus aufgehängt gefunden.«

Mit einem lauten Klirren ließ Constanze Heidenberg ihr Fischbesteck auf den Rand ihres Porzellantellers fallen. »Malin­, ich verbitte mir jedes weiteres Wort darüber. Reicht es nicht, dass du der Bank den Rücken gekehrt hast? Müssen wir uns jetzt auch noch die Einzelheiten dieses – Berufes anhören?«

»Mutter, ich lasse mir hier nicht das Wort verbieten. Es tut mir leid, wenn ich deine Erwartungen nicht erfüllt habe, aber ich habe getan, was ich für richtig hielt. Und vielleicht würdest du es auch verstehen, wenn du nicht immer jedes Gespräch darüber verweigern würdest.«

Constanze Heidenbergs Blick wurde hart. »Du bist wie dein Vater, Malin. Auch er wollte weder unseren Familiennamen noch unsere Bank.«

»Lass Vater aus dem Spiel!« Malin hatte ihren Teller von sich geschoben und erhob sich von ihrem Stuhl.

Es herrschte betretenes Schweigen. Constanze Heidenberg war bei Malins Worten aschfahl geworden. Wortlos nahm sie ihr Besteck wieder zu Hand und fuhr mit dem Essen fort.

Marie schaute von der Mutter zur Tochter. »Ist es denn nicht möglich, dass ihr beide ein einziges Mal an einem Tisch sitzt, ohne euch gleich in die Haare zu kriegen? Malin, bitte setz dich wieder. Und du, Constanze, es hat doch keinen Sinn, immer wieder auf diesem Thema herumzureiten.« Maries Augen funkelten.

Zögernd setzte sich Malin. Nach einer Weile begann Constanze ein belangloses Gespräch über eine neue Kunstausstellung.

Froh, der angespannten Atmosphäre zu entkommen, verabschiedete sich Malin nach dem Dessert. Sie beschloss, zum Jungfernstieg zu gehen. Von dort aus konnte sie dann die U-Bahn nehmen. Nach wenigen Minuten hatte sie die Uferpromenade erreicht. Trotz des ungemütlichen Wetters kamen ihr zahlreiche Spaziergänger entgegen. Malin schaute zu einem Paar, das eng umschlungen auf einer der Parkbänke saß. Wehmütig wandte sie sich ab. Sie musste an Ben denken, den Mann, den sie drei Monate zuvor aus ihrem Leben geworfen hatte. Ben mit seinen strahlenden Augen und dem umwerfenden Lachen.

Sie hatten sich auf einer Party kennengelernt. Malin hatte sich mit einem Cocktail durch die Menge gedrängt und war ins Stolpern geraten. Der gesamte Inhalt des Glases hatte sich über Bens hellen und, wie sie erst später erfuhr, nagelneuen Kaschmirpul­lover ergossen. Mit hochrotem Kopf hatte sie vor ihm gestanden und nur noch zusammenhanglose Worte gestammelt. Und dann hatte er gelacht – schallend gelacht, bis ihm die Tränen kamen. Seit dem Abend waren sie ein Paar gewesen und Malin hatte das Gefühl gehabt, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Bis er eines Tages von ihrer Freundin Suse in inniger Umarmung mit einer rassigen Schwarzhaarigen gesehen worden war.

Malin hatte ihn umgehend zur Rede gestellt. Er hatte noch nicht einmal versucht zu leugnen. Sie hatte die Beziehung noch am gleichen Abend beendet und am nächsten Morgen die Bewerbung für die ausgeschriebene Funktionsstelle bei der Mordkommission eingereicht.

Tief in Gedanken versunken erreichte Malin den Jungfernstieg am südlichen Ufer der Binnenalster.

Sie setzte sich auf eine der tribünenförmigen Treppen des Anlegers und beobachtete das An- und Ablegen der weiß-roten Alsterdampfer. Ein Mann setzte sich unterhalb ihres Platzes auf die Stufen und zog eine Zeitung aus der Tasche. Der Torhausmord dominierte noch immer die Schlagzeilen.

Augenblicklich begannen ihre Gedanken wieder um die Mordkulisse zu kreisen. Obwohl sie und ihr Opa Tag für Tag unermüdlich die Krimis in ihren Bücherregalen durchforstet hatten, hatten sie bisher keinen Treffer gelandet. An spektakulären Kulissen mangelte es nicht gerade – Opfer an Bäume gebunden, Tote an bekannten historischen Gebäuden, aber keines dieser Szenarien stimmte mit dem Torhausmord im Detail überein.

Malin schloss frustriert die Augen. Sie beschloss, nach Hause zu fahren und ihre Wohnung aufzuräumen, das würde sie auf andere Gedanken bringen.

Schon von Weitem konnte sie den sperrigen Gegenstand vor ihrer Haustür erkennen. Verdammt, sie hatte vergessen, Suse zurückzurufen! Malin griff nach der weißen Sporttasche, die ihre Freundin demonstrativ quer vor die Tür gestellt hatte, und beförderte sie über die Schwelle. Sie würde sich später darum kümmern. Jetzt war sie müde und erschöpft.

Obwohl die Mitarbeiter der Mordkommission im Allgemeinen geregelten Bürozeiten nachgingen, schienen diese seit dem Auffinden der Leiche außer Kraft zu sein. Malin hatte fast rund um die Uhr gearbeitet. Die Medien übten bereits jetzt starken Druck aus und jeder aus ihrem Team schien sich bewusst, dass dieser Mord alles andere als alltäglich war.

Als sie sich aus dem Kühlschrank einen Joghurt nahm, fiel ihr Blick auf die Küchenuhr. Es war bereits nach sieben. Sie beschloss, das Aufräumen zu verschieben und sich lieber etwas zu gönnen. Der Joghurt wanderte zurück in den Kühlschrank, stattdessen zog sie aus dem Brotkasten die letzten beiden Franzbrötchen, beschmierte sie dick mit Butter und machte es sich dann auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich. Sie zappte erst durchs Fernsehprogramm, verfolgte dann die Nachrichten und schaute anschließend beim Sonntagskrimi den Kommissaren bei der Arbeit zu. Teils amüsiert, teils verärgert über die klischeehafte Darstellung der Polizeiarbeit stellte sie den Fernseher vor Ende des Filmes ab.

Malin hatte ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Freundin. Dass Suse die Tasche einfach so vor die Tür stellte, passte so gar nicht zu ihr.

Susanne Bremer, von allen stets Suse genannt, war Grundschullehrerin und Malins älteste Freundin. Sie waren gemeinsam in den Kindergarten gegangen, hatten die gleichen Schulen besucht und zusammen die schwierige Zeit der Pubertät durchlebt.

Malin fiel ein, dass sie Suses Nachricht auf dem Anrufbeantworter bisher nicht einmal komplett abgehört hatte. Sie griff nach dem Telefon, um das nachzuholen.

»Malin, ich bin es. Ich wollte dich nur erinnern, dass Tanja nächste Woche Geburtstag hat. Und du könntest bei Gelegenheit mal deine Sporttasche abholen, bevor die Sachen anfangen zu gammeln. Ach ja, ich habe die beiden Krimis, die du mir geliehen hast, mit reingepackt. Also, wenn du nicht willst, dass deine Bücher anfangen zu müffeln, hol die Tasche ab. Und ruf mich an wegen Tanjas Geschenk, ich will das morgen besorgen.«

Malin starrte auf das Telefon in ihrer Hand. Dann flog ihr Blick zur Sporttasche im Flur. In Sekundenschnelle kniete sie neben der Tasche und zerrte zwei Taschenbücher heraus. Auf beiden Buchumschlägen prangte der Name Charlotte Leonberger. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie das erste Buch durchblätterte. Es war nicht das richtige. Ungeduldig las sie die Zusammenfassung auf der Rückseite des anderen Buches. Das Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein, bescherte ihr einen Adrenalinstoß nach dem anderen.

Dann fand sie es. Sie atmete tief durch und begann hochkonzentriert die entsprechenden Seiten durchzulesen. Als sie fertig war, legte sie das Buch beiseite. Sie hatte es ja gewusst!

Die Krimis der Autorin spielten in einer anderen norddeutschen Stadt, doch die Details stimmten überein. Die männliche Leiche, an allen vier Gliedmaßen gespannt in einem Torbogen, nur bekleidet mit einem weißen Stück Stoff. Der Tatort im Buch war ein Gutsanwesen, gebaut Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, und ebenfalls ein traditionsreiches Bauwerk.

Malin begann zu frösteln. Die Ungeheuerlichkeit ihrer Entdeckung wirbelte ihre Gedanken durcheinander. Sie griff nach dem Telefon und hinterließ ihrem Großvater eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Anschließend wählte sie die Privatnummer von Hauptkommissar Fricke. Nach dem ersten Freizeichen überlegte sie es sich jedoch wieder anders und legte auf.

Schnell schlüpfte sie in ihre Regenjacke, klemmte sich das Buch unter den Arm und verließ das Haus. Susanne Bremer war vergessen.

Zwanzig Minuten später parkte Malin ihren Mini vor einem Reihenhaus in Niendorf. Es war weiß verputzt und hatte einen kleinen Vorgarten mit frisch gestutzter Grünfläche. Das Haus lag im Dunkeln.

Sie klingelte und es dauerte einige Minuten, bis Fricke im Bademantel die Tür öffnete. Die Haare standen wild von seinem Kopf ab, seine Augen waren klein und verquollen. »Brodersen, was wollen Sie denn hier? Ist etwas passiert?«

»Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich habe da eine ungeheuerliche Entdeckung gemacht. Es geht um den Torhausmord. Hier, in diesem Buch wird der Mord beziehungsweise der Tatort exakt so beschrieben wie bei unserer Leiche.« Aufgeregt wedelte Malin mit dem Taschenbuch vor Frickes Gesicht herum.

»Und, steht auch drin, wer der Mörder ist? Dann können Sie ihn ja gleich verhaften.«

»Es geht da eher um die Zurschaustellung der Leiche. Die ist detailgetreu wie an unserem Tatort«, beteuerte Malin.

»Im Wellingsbüttler Torhaus?«

»Das nicht, aber …«

»Und deshalb wecken Sie mich mitten in der Nacht? Wegen eines Buches, in dem ein Mord geschieht, der gewisse Ähnlichkeiten mit unserem hat? Sie haben eindeutig zu viele Krimis gelesen.« Fricke hatte schon die Hand an der Tür.

»Aber vielleicht finden wir nach eingehender Analyse des Buches Hinweise auf den Täter«, beharrte Malin.

»Na, dann analysieren Sie mal und lassen mich schlafen.« Fricke schlug die Haustür zu.

6

Der Tag begann besser als erwartet.

Es war Viktoria gelungen, das Bett zu verlassen. Nach einem starken Kaffee kleidete sie sich langsam an. Dabei fiel ihr Blick auf den großen Spiegel. Sie wusste, dass sie allgemein als schön galt, schließlich hatte man es ihr schon oft gesagt. Doch sie selbst empfand anders. Kritisch betrachtete sie die Schatten, die sich unter den geschwollenen Augen auf der blassen Haut abzeichneten. Das dunkle Haar, einst ihr größter Stolz, fiel strähnig und glanzlos über ihren schmalen Rücken. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, zurück ins Bett zu gehen und wieder Zuflucht im schützenden Schlaf zu finden.

»So kann es nicht weitergehen, Viktoria Steiner«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. Es wurde Zeit, ins Leben zurückzukehren. Und sie musste es alleine schaffen. Helfen würde ihr dabei sicherlich niemand. Sie hatte alle vor den Kopf gestoßen.