Das Spiel ist aus - Holger Gertz - E-Book

Das Spiel ist aus E-Book

Holger Gertz

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  • Herausgeber: DVA
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Hier geht es einmal nicht um die Sieger

Der Verlierer ist spannender als der Gewinner, er muss darüber nachdenken, was die Niederlage mit ihm macht. Und er ist uns näher, wir erkennen uns leichter in ihm wieder als im strahlenden Sieger. Holger Gertz, Autor der Süddeutschen Zeitung, beschäftigt sich in seinen Reportagen, Porträts und Essays oft mit Verlierern und Verlorenen. Ob der tragische 54er-Weltmeister Werner Kohlmeyer, die Bayern nach dem verlorenen »Finale dahoam«, der Doping-Betrüger Lance Armstrong oder der in Deutschland inzwischen so geschmähte Boris Becker – es ist vor allem die genaue Beobachtung des Geschlagenen, die die Texte zu einem Erlebnis macht. Gertz fällt nicht über den Verlierer her, verklärt ihn aber auch nicht zur tragischen Gestalt. Er nähert sich behutsam, bringt Details zum Sprechen, ignoriert das scheinbar Offensichtliche und holt ihn von der Showbühne ins Leben zurück.

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Seitenzahl: 310

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Das Buch

»Schweinsteiger läuft an, verzögert leicht. Sein rechter Fuß, der Ball. Der Pfosten … War nicht drin. Schweinsteiger zieht sein Trikot über den Kopf. Wie Kinder es tun, die glauben, wenn sie niemand sehen, würden sie selbst nicht gesehen.«

Der Verlierer ist spannender als der Gewinner, er muss darüber nachdenken, was die Niederlage mit ihm macht. Und er ist uns näher, wir erkennen uns leichter in ihm wieder als im strahlenden Sieger. Holger Gertz, Autor der Süddeutschen Zeitung, beschäftigt sich in seinen Reportagen, Porträts und Essays oft mit Verlierern und Verlorenen. Ob der 54er-Weltmeister Werner Kohlmeyer dem ein Rezept für das Leben danach fehlt, die Bayern nach dem verlorenen »Finale dahoam« oder der in Deutschland inzwischen so geschmähte Boris Becker – es sind vor allem die genauen Beobachtungen des Geschlagenen, die die Texte zu einem Erlebnis machen. Gertz fällt nicht über den Verlierer her, verklärt ihn aber auch nicht zur tragischen Gestalt. Er nähert sich behutsam, bringt Details zum Sprechen, ignoriert das scheinbar Offensichtliche und holt ihn von der Showbühne ins Leben zurück.

Der Autor

Holger Gertz,1968 in Oldenburg geboren, schreibt seit zwanzig Jahren für die Süddeutsche Zeitung, vor allem als Reporter der Seite Drei, als Kolumnenautor und als Tatort-Kritiker. Er berichtet von den großen Sportereignissen und zeichnet feinsinnige Porträts, etwa von Udo Jürgens, Egon Bahr oder Franz Beckenbauer. Für seine Reportagen wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Axel-Springer-Preis, dem Georg-Schreiber-Preis sowie (als Teil des Streiflicht-Teams) dem Deutschen Sprachpreis und dem Henri-Nannen-Preis. 2010 war er Reporter des Jahres.

HOLGER GERTZ

DAS SPIEL

IST AUS

GESCHICHTEN

ÜBER DAS

VERLIEREN

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Abdruck der ausgewählten Reportagen, die ursprünglich in der Süddeutschen Zeitung erschienen sind, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2016 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: imago Sportfotodienst GmbH

Gestaltung und Satz: DVA/Andrea Mogwitz

Gesetzt aus der Plantin

ISBN 9783-641-19601-1

www.dva.de

V001

INHALT

VOR DEM SPIEL

Meine Verlierer – Vom Glück, dass ein Leben länger dauert als neunzig Minuten

I – GLÜCKSSUCHER

Zweiter Aufschlag

Angst vorm Fliegen

Über Leben

Goleadors Erbe

Zettels Traum

II – KAMPFPLÄTZE

Gnade

Vorwärts Soweto

Lebenslauf

Tor in Pjöngjang

Celle, angolanisiert

Sechster Ring aus Sachsen

Mit Sternchen

IN DER PAUSE

Unsere Verlierer – Warum wir hinschauen, wenn jemand untergeht

III – VERFÜHRTE

Das 1. Buch Mateus

Gruß vom Mausezahn

Prügelstrafe

Ein Mensch

Fuck you

Denkmalpflege

IV – GESCHLAGENE

Heldendämmerung

Morgengrauen

Die blaue Stunde

Ende Legende

Über das Verlieren

NACH DEM SPIEL

Auf der Bühne stirbt man nicht … und wenn doch?

Textnachweis

VOR DEM SPIEL

Meine Verlierer – Vom Glück, dass ein Leben länger dauert als neunzig Minuten

Im Rückblick zerfällt jedes Ereignis in tausend Einzelbilder, und natürlich erinnert sich jeder an etwas anderes, wenn er gefragt wird: Weißt du noch? Wenn ich mich ans Weltmeisterschaftsfinale 2014 erinnere, das große Spiel zwischen Deutschland und Argentinien, erinnere ich mich zuerst an den Geruch von Schweiß und Rauch auf der Pressetribüne des Maracanã-Stadions von Rio de Janeiro. Das Internet war down, ohne Internet würde keiner der Reporter seine Berichte senden können. Ein Schockmoment. Die Reporter schwitzten, sie rauchten ihre letzten Turnierzigaretten, obwohl die Fifa die Raucherei verbietet. Aber egal. Das Internet ging nicht, und das ist meine erste Erinnerung: wie wir auf der Pressetribüne alle Verlierer waren, Ausgelieferte.

Irgendwann hatten wir dann ein Netz, schwach, aber stabil. Das Spiel lief, ich sah es aus der zweigeteilten Arbeitsposition des Reporters, halbe Aufmerksamkeit auf dem Platz, halbe Aufmerksamkeit beim Text. Wenn man live schreiben muss, legt man sich innerlich irgendwann auf einen Sieger fest, man versucht zu erahnen, wie das Spiel ausgeht, und an dieser Ahnung tackert man den Verlauf der eigenen Story fest. Weil meine Geschichte, während sie entstand, eine Tendenz in Richtung des Weltmeisters Deutschland entwickelte, war ich kein bisschen euphorisch, aber komplett erleichtert, als Mario Götze die Vorlage von André Schürrle tatsächlich annahm und ins Tor zwirbelte. Wir Pressemenschen saßen etwas links vom Mittelkreis, die entscheidende Szene vor dem Tor der Argentinier sahen wir aus der Distanz. Aber das Netz, wie es sich bauschte, sahen wir sehr deutlich. Wenigstens mit dem inneren Auge der Phantasie.

Dann war das Spiel vorbei, ich schickte die Geschichte in die Redaktion und stand von meinem Platz auf, weil alle standen, und weil man stehen muss, wenn man gerade Fußballweltmeister geworden ist. Die Stadionregie spielte irgendwas von Calvin Harris, scheußliche Gebrauchsmusik als Soundtrack eines historischen Moments. Auf dem Rasen lachten die Deutschen, umarmten sich, wurden zum Knäuel aus kleinen, großen Jungs. Sie waren jetzt alle in der Nähe des Mittelkreises, deshalb konnte ich sie von meinem Platz aus gut sehen. Und dann verdichtete sich ein Bild zu einem Moment, der bleibt und bleiben wird, und den ich immer nenne, wenn einer fragt: Weißt du noch? Ich sah Miroslav Klose.

Er saß auf dem Rasen, das Getümmel um ihn herum berührte ihn für den Moment nicht, die johlenden Deutschen, die weinenden Argentinier, die Wichtigtuer von der Fifa mit den Akkreditierungsmarken vorm Bauch. Er saß auf dem Rasen, Miroslav Klose, ein dünner Mann, sechsunddreißig Jahre, eigentlich zu alt, eigentlich zu oft verletzt, eigentlich zu spät dran. Einer von denen in der deutschen Mannschaft, die einen großen Titel immer knapp verpasst hatten. Verlorene Generation, schreiben dann die, die wie ich immer nur auf der Tribüne sitzen. Ein Schlagwort. Ein Urteil. Früher konnte einer, der nichts Großes gewann, trotzdem zur Legende werden, Uwe Seeler zum Beispiel. Heute ist einer, der nichts Großes gewinnt, am Ende eben doch ein Verlierer.

Ein Verlierer, oder ein Unterschätzter, der sich auf den allerletzten Metern und im allerletzten Länderspiel in einen Gewinner verwandelt und sich von vielem befreit, was in ihm frisst und nagt. So was muss wie ein Traum sein.

Weltmeister Klose. Ich erinnere mich, dass ich in Gedanken dieses Begriffspaar aufsagte, es schien noch nicht richtig zusammenzupassen. Weltmeister Klose saß auf dem Rasen. Er stützte sein Gesicht in beide Hände und betrachtete das Gras. Er schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht, was passiert war. Er war, auf eine sehr stille Art, fassungslos.

Sie hätten, ihm zu Ehren, Jimmy Cliff spielen sollen in diesem Stadion: »You can get it if you really want«. Das wäre sein Lied gewesen.

Ich hatte Miroslav Klose bei der Weltmeisterschaft 2002 zum ersten Mal länger gesprochen, es war seine erste WM und auch meine. Er verlor im Finale. Mir wurde ein Aufnahmegerät geklaut. Danach folgte ich seinen Spuren und sprach mit ihm bei mehreren großen Turnieren. Bei der Weltmeisterschaft in Südafrika 2010 – er verlor im Halbfinale – traf ich ihn im Mannschaftsquartier in Pretoria, danach gelang mir ein recht federnder Einstieg zu einer Klose-Geschichte. »Es ist nicht leicht, Miroslav Klose zu verstehen, er spricht so leise, dass man ihn sich gerne ans Ohr halten würde.« Ich näherte mich ihm auch bei geringfügigeren Anlässen. Wenn es für Werder Bremen um etwas ging, fragte ich gern Klose. Werder ist mein Lieblingsverein. Einmal saß ich mit Klose in einem Restaurant beim Weserstadion, Café Ambiente, Tisch 36, eine Nische gleich rechts hinterm Eingang. Der Laden war voll, die anderen schauten zu ihm rüber, aber keiner wollte ein Autogramm, und Klose sagte: »Ich bin so oft hier – die haben bestimmt alle schon eins.« Er war Ende zwanzig damals, ungefähr zu der Zeit hat er damit angefangen, sich nach Spielen in eine Eiswanne zu legen, kleine Faserrisse in der Muskulatur werden dadurch angeblich nicht zu größeren Faserrissen.

Wie lange kann ein Stürmer versuchen, das Schicksal zu drehen? Wenn es gut läuft, bis zweiunddreißig, dreiunddreißig. Klose legte sich in die Wanne, um die Karriere um ein paar Jahre zu dehnen, er kalkulierte ein paar Hoffnungsläufe ein, er hat schon früh damit angefangen, seine Weltmeisterschaft zu gewinnen, die anderen bekamen davon nur nichts mit.

Er spielte nie in der Jugendnationalmannschaft, er war nicht in den tollen Internaten, die es inzwischen gibt. Er hat nicht viel gewonnen, seine Klubs Kaiserslautern und Bremen waren keine Siegerteams. Die Zeit bei Bayern München war ergiebiger, aber 2011 reichten sie ihn weiter, zu Lazio Rom, ablösefrei. Die Bayern haben ihn verschenkt. Seine Laufbahn wurde beschienen von der milden Sonne des Nachsommers. Aber in der Nationalmannschaft wurde er gebraucht, er fuhr als einziger echter Stürmer mit nach Brasilien zur WM2014. Und rettete die Deutschen im Spiel gegen Ghana. Und wurde Rekordschütze aller WM-Stürmer, besser als Pelé, Gerd Müller, besser als Ronaldo. Und wurde Weltmeister.

Weltmeister Klose. So können Verlierergeschichten enden. In der schönsten aller Pointen.

In der englischen Popkultur gibt es eine Art ungeschriebenes Gesetz: Eine Band wird uninteressant, wenn sie Erfolg hat. Auch mich haben Verlierer immer mehr interessiert als Gewinner, nicht nur, wenn ich von Sportereignissen berichtet habe. Faszinierend zu sehen, wie der gerade abgewählte Bundeskanzler Schröder 2005 in der sogenannten Elefantenrunde rumpöbelte, weil er die Niederlage gegen Angela Merkel nicht ertrug. Etwas gerät außer Kontrolle, wenn einer verliert, und das zu beschreiben ist spannender, als zu versuchen, für den Triumph immer neue Begriffe zu finden, was eh nie hinhaut. Bilder eines Siegers sind stärker als Texte über einen Sieg. Pat Conroy schreibt in seinem Buch My losing season: »Verlieren ist ein finsterer, kompromissloser Lehrer. Kaltblütig, aber auch klarsichtig in seinem Verständnis, dass das Leben oft mehr Verhängnis als Spiel ist.« Während der Sieg das herrliche Ende einer Geschichte ist, kann die Geschichte des Verlierers in Gedanken weitergesponnen und -erzählt werden. Wie fühlt der sich jetzt? Diese Frage stelle ich mir nicht, wenn ich einen sehe, der sich ans Triumphieren gewöhnt hat. Diese Frage stelle ich mir, wenn einer am Rand so eines Kampfplatzes steht und sich auf die Lippe beißt, damit er nicht anfangen muss zu heulen.

Als Journalist muss man manchmal an Orte, an denen Trost nicht günstig zu kriegen ist. Die holländische Stadt Enschede nach der Explosion einer Feuerwerksfabrik, das österreichische Amstetten, nachdem der Wahnsinn in der Familie Fritzl entdeckt worden war. Man nähert sich bei solchem Anlass Menschen, die im Schock sind, oder in Trauer, und es ist immer ein unangenehmes Gefühl, weil man spürt, dass man übergriffig zu werden beginnt. Allein dadurch, dass man da ist. Was beim Sport geschieht, ist verwandt mit solchen existenziellen Momenten, aber es ist doch harmloser, in der Regel stirbt ja keiner im Stadion. Man hat es mit Verlierern zu tun, die deswegen nicht Verlorene sein müssen. Man kann sie beschreiben, ohne sich wie ein schnüffliger Voyeur vorzukommen. Wer Sportler bei großen Wettbewerben betrachtet, schaut in wahrhaftige Abgründe hinein, aber oft gibt es nach einer Niederlage auch die Aussicht auf einen Twist, eine Wendung. Ein Verlierer, der Gewinner geworden ist nach tausend Niederlagen, hat eine größere Tiefe als einer, dem immer alles zufällt.

Ich bin selbst keiner von denen, die zu den großen Checkern und Preisabräumern und Menschenfängern gehören, schon gar nicht zu den großen Sportlern. Ich habe in meiner Jugend ein paar Jahre beim VfB Oldenburg Fußball gespielt, in der Abwehr, ich hatte einen guten Blick für die Situation, aber ich war zu langsam. Mein Trainer sagte: »In den Fünfzigern wärst du ein Großer geworden«, was vielleicht ein Trost sein sollte, sich aber wie das Gegenteil anfühlte. Ich habe nicht nur in dieser kurzen aktiven Fußballzeit öfter verloren als gewonnen, ich fühle mich solidarisch mit dem, der verliert, er geht mir nahe. Ich bestaune die wie aus schwerem Stein geschlagenen Körper der Schwimmer, wie man sie bei Olympischen Spielen sieht. Aber ich werde berührt von Figuren wie der des Schauspielers Philip Seymour Hoffman, der in der Komödie Jack goes boating einen verschlossenen Mützenträger spielt; einen Nichtschwimmer, der Schwimmunterricht nimmt, um eine Frau für sich zu gewinnen. Die Tiefe macht ihm Angst, aber er wagt sich raus in dieses Becken, das ihm vorkommt wie das Meer.

Der Schauspieler Matthias Brandt hat einmal in einem Interview gesagt: »Ich finde, wir haben ein gestörtes Verhältnis zum Scheitern. Es ist ein zu Unrecht vernachlässigter wesentlicher Teil des Lebens, oder? Mich rührt es total an, wenn Menschen etwas versuchen und es nicht glückt.«

Geschichten über das Verlieren also. Über den kongolesisch-österreichischen Boxer Biko Botowamungu, der aussieht wie der Sieger Ali, ohne der Sieger Ali zu sein. Über Fans, die mitleiden. Über den Fußballer Hans Krankl, gezeichnet von einem alten Triumph. Den Reporter Marcel Reif, der nach Nordkorea reist und nur Verlorenen begegnet. Die Schwimmerin Karen James, die einmal im Leben am falschen Zaun gewartet hat. Die Fans in Soweto, für die die Eintrittskarte zu teuer ist, und die trotzdem feiern. Den Helden Werner Kohlmeyer, der auf der Linie steht und die deutsche Mannschaft 1954 vor dem Verlieren rettet. Was leichter ist, als sich selbst vor dem Verlieren zu retten. Ein Leben dauert länger als neunzig Minuten.

Einige meiner Verlierer haben versucht, aus dem Verlieren zu lernen, einige sind daran zerbrochen, einige haben sich Niederlagen schöngeredet. Einige haben verloren, weil sie betrogen haben. Einige haben verloren, weil sie nicht betrogen haben. Einige haben Niederlagen selbst kassiert, einige haben verloren – oder gewonnen – allein dadurch, dass sie anderen beim Verlieren zugesehen haben. Einige haben resigniert. Einige haben es wieder versucht. Einige haben begriffen, dass die Niederlage nichts anderes ist als eine kurze Zwischenstation auf einer Reise, die man Leben nennt.

Ich hatte, in der Weltmeisternacht in Rio, ein paar Zitate im Notizbuch, ich wollte gewappnet sein für ein möglicherweise stattfindendes Kurzgespräch mit Weltmeister Klose. Karl Popper zum Beispiel hat gesagt, dass »der Erfolg im Leben weitgehend eine Glückssache ist. Erfolg hat wenig mit Verdienst zu tun, und es hat in allen Lebensbereichen viele Menschen von großen Verdiensten gegeben, die keinen Erfolg hatten.«

Klose hatte im Endspiel nicht nur Popper widerlegt, sondern auch alle anderen, die ihn für den Alterspräsidenten der verlorenen Generation gehalten hatten. Ich hoffte, in den Katakomben des Maracanã würde es einen halbwegs ruhigen Moment geben, um dieses oder jenes zu erörtern, aber das kann man vergessen. Vielleicht hätten die Reporter aus Uruguay 1930 mit ihren Leuten in Ruhe reden können, jetzt ist das nicht mehr möglich. Klose war umstellt von Journalisten aus aller Welt, vor allem von den sehr lebhaften Menschen aus Italien, er spielte da ja schon seit Längerem in Rom, und als ich mich zu ihm durchgekämpft hatte, standen die Italiener immer noch da.

Miroslav Klose sprach mit den Italienern. Er sprach auch auf Italienisch sehr leise, die Italiener lauschten ihm wie einem weisen Asketen, einmal hob er seinen Blick. Seine Augen waren die Augen eines Mannes, der gerade geweint hat. Er schaute in meine Richtung, aber er sah mich nicht.

Ich war ihm über ein Jahrzehnt lang gefolgt, ohne dass er es gemerkt hatte. Ich war mir sicher, dass er mich erkennen würde, seine Reise war ja auch meine. Wo er gewesen war, war auch ich gewesen, Bremen, München, Südkorea, Südafrika, Brasilien. Irgendwie waren wir beide angekommen. Aber ich hatte bei Weltmeister Klose keine Spuren hinterlassen, und wahrscheinlich ist auch das eine Verlierererkenntnis. Dass einer seine Illusionen verliert: damit fängt es an. Und damit hört es auf.

I – GLÜCKSSUCHER

»Am schlimmsten ist es, wenn einem die Leute zu Hause auf die Schulter klopfen und sagen: Macht nichts, Ron, Pech gehabt. Vielleicht klappt’s nächstes Mal.«

Ron Hill, Marathonläufer

Zweiter Aufschlag

Als Boris Becker Wimbledon gewann, erdrückten ihn die Deutschen fast mit ihrer Liebe. Die Zuneigung hat er gründlich verloren. Gewinnt er sie zurück?

Alles hängt ja mit allem zusammen, und wer die aktuelle Bedeutung eines Menschen wiegen und messen will, muss sich noch mal klarmachen, wie hoch dieser Mensch früher eingehängt worden ist. Der Tennisspieler Boris Becker zum Beispiel hat das Turnier in Wimbledon gewonnen, eine kleine Ewigkeit her, aber was mal wahr gewesen ist, bleibt wahr. 7. Juli 1985, 17:26 Uhr Ortszeit: der Matchball. Becker war 17. In den Tagen, Monaten, Jahren danach haben sich viele Seelenleser Gedanken über diesen Boris Becker gemacht und sich die Frage gestellt, ob der eigentlich noch Mensch ist oder doch schon etwas anderes, Höheres, weniger Fassbares.

Der Schriftsteller Martin Walser sah an der Vorderseite des Mischwesens Becker die ewig aufgeschürften Schienbeine, wollte aber nicht ausschließen, dass an dessen Rückseite Flügel angebracht seien. Walser schrieb, er fühle sich bei Beckers Anblick an Heiligenfiguren erinnert, an Malereien von Fra Angelico. Um Boris-Altarbilder hinzukriegen, müsse man »Wimpern malen können, rötliche und rein blonde; und die oberen verhaken sich fast in die unteren«.

Das Format des Augenblicks steht in einem Verhältnis zu dem, was war. Und Boris Becker war also mal ein Engel.

Er kommt runter zum Pool des Hotels Molitor in Paris, die Tennisplätze im Stade Roland Garros liegen so nah, dass man sich wenigstens einbilden kann, die Bälle ploppen zu hören. Boris Becker, siebenundvierzig, ist seit anderthalb Jahren Trainer des Weltranglistenersten Novak Djokovic, er war lange raus aus dem Tennis, aber er ist wieder da. Melbourne, Paris, Wimbledon, New York, die Grand Slam-Turniere sind die Highlights, der Terminkalender im Tennis ändert sich so wenig wie das Tennis selbst. Wer vor zwanzig Jahren im Mai das letzte Mal auf den Plätzen in Paris war, wird feststellen: Sieht aus und fühlt sich an wie damals. Überall federnde Werbung für Perrier. Überall leichte weiße Hüte gegen die Hitze. Was neu ist: auf den Tribünen starren alle ständig in ihre Smartphones. Was unverändert ist: die Gestalt der Spieler; Athleten mit ausgezehrten Tour-de-France-Fahrer-Gesichtern. Im Fernsehen berichten ehemalige Spieler über aktuelle Spieler, die von ehemaligen Spielern trainiert werden. Erinnerungen, Ergebnisse, Menschen. Beim Tennis kommt nichts weg.

Becker also auf dem Weg zum Pool, es dauert. Künstliche Hüfte, stabilisiertes Sprunggelenk. Dass er vergleichsweise gemächlich vorankommt, gibt anderen am Pool die Gelegenheit, sich auf die Begegnung vorzubereiten. Eine Frau reißt fast ein Glas vom Tisch, während sie ihm entgegenläuft. Becker ist zum Selfie gern bereit, achtet aber darauf, dass das dann auch nach was aussieht. Landet ja eh alles im Netz. Er sagt, und es ist ein etwas hilfloser Versuch, die Bilder zu kontrollieren: »The picture better not against the sun.« Dann machen sie ihr Handyfoto, die Sonne nicht im Rücken.

Boris Becker setzt sich. Selber Tennis spielen? Wenn, dann am besten gegen erkennbar unbegabte Nullen. Er sagt: »Ich behaupte mal: Gegen Sie hätte ich noch ’ne Chance. So gut treffe ich die Kugel noch.« Er gilt als alter Trainerfuchs und hat inzwischen auch die Färbung dieses scheuen Tieres angenommen. Rötlich-grau schimmert sein Kinnbart. Davon, dass Beckers obere Wimpern sich fast in die unteren verhaken, kann allerdings – so aus der Nähe betrachtet – keine Rede mehr sein.

Ein Wasser zum Anfang, ein Kaffee. Gegenüber testet schon wieder jemand, ob die Handykamera funktioniert. Für den Fall des Falles. Becker sagt: »Ich habe mit 17 die Queen getroffen, später den Papst, den Bundespräsidenten. Hätte ich damals Selfies gemacht – was hätte ich da jetzt für eine Riesensammlung.«

Beckers Geschichte ist auch eine Bildergeschichte. Er sah in einer sehr kurzen Lebensphase so aus wie James Dean, später wie Westernhagen. Am Anfang seiner Karriere war er bullig, ein Botero-Jesus. Am Ende trug er kurze Bärte, die Stoppeln wie hineingetupft ins hagere Gesicht. Der Genussmensch verwandelte sich in einen Schmerzensmann und wieder zurück. Mal schleckte er im Webefernsehen Nuss-Nougat-Creme vom Messer, mal zwickte eine Sehne im linken Knie. Ein Mann zwischen Nutella und Patella. Und immer spielte er mit den Bildern, die Leute sollten sich fragen, warum er auf einmal aussah wie van Gogh. Sie sollten darüber grübeln, warum er auf einmal beim Aufschlag spitzmäulig Luft holte wie ein Fisch – als habe das Mischwesen Becker vorübergehend auf Kiemenatmung umgestellt.

Aber es gibt Bilder, die haben kein Geheimnis mehr. 2013 trug Becker im Billigfernsehen, es war in einer Spielshow, einen Witwe-Bolte-Hut, aus dem links und rechts je eine Fliegenklatsche rausschaute. Am Ende einer langen wilden Fahrt, Steuergeschichten, Frauengeschichten, Kindergeschichten, stand da der Weltstar Becker mit dieser dämlichen Mütze.

Jemandem beim Untergehen zuzusehen, ist grauenvoll und gleichzeitig faszinierend. »Mein Ruin ist, was mir bleibt, wenn alles andere sich zerstäubt.« Nicht das beste Zeichen, wenn einem beim Anblick eines alten Helden ausgerechnet eine Textzeile von Tocotronic einfällt.

Becker erwartet die Fragen nach dem Foto, er sagt, dass so ein Foto nicht unbedingt die Wahrheit wiedergibt. »Wenn ich in eine Unterhaltungssendung gehe, und der Medientenor ist negativ mir gegenüber, wird gerne ein schlechtes Foto gemacht und wahrscheinlich auch noch ein wenig unvorteilhaft bearbeitet. Da ist vieles möglich.«

Natürlich hat jeder Mensch die Freiheit, sich einen Fliegenklatschenhut aufzusetzen. Aber er wird lächerlich aussehen damit. Man muss an so einem Foto dann gar nicht mehr viel nachbearbeiten: Es gibt keine Wahrheit neben einem Fliegenklatschenhut.

Becker nippt am Wasser, hört zu, nickt sachte, spricht leise. Er kennt die Kritik. Aber die ihn kritisieren – was wissen die schon von seinem Leben? »Wenn die deutsche Medienlandschaft nicht weiß, was ich beruflich mache, und ich dann alle zwei Monate in Unterhaltungssendungen auftauche: Dann macht man sich darüber lustig, dann wird man auf das Unterhaltungsfernsehen reduziert.«

Er wappnet sich und seine Interpretation seiner Geschichte. Man hört heraus, dass er mit den einfachen Leuten weniger Schwierigkeiten hat, schon gar nicht mit denen im Ausland. Problematisch wird es mit Menschen aus Deutschland, und da besonders mit den Medien. Denen hat er sich ausgeliefert, mit denen hat er über Bande gespielt, von denen ist er aber auch oft genug bei 180 Grad im Schleudergang gewaschen worden, er ist ein Befangener seitdem. Viele Prominente sind Befangene, sie haben Oscars gewonnen oder den Iffland-Ring verliehen bekommen oder Gelbe Trikots geholt oder sind in der ganzen Welt Bum Bum genannt worden, während die wenigsten Reporter überhaupt wissen, was der Iffland-Ring ist. Und Bum Bum genannt worden sind sie auch nicht.

Und vor denen sollen sich die Prominenten also rechtfertigen, wegen eines Fliegenklatschenhuts? Es ist vor allem eine Illusion, dass es zwischen Journalist und Star Gespräche auf Augenhöhe geben kann.

Aber Boris Becker hat sich auch verändert. Nicht mehr dieser Lauerblick aus zusammengekniffenen Augen. Er hat abgestraft und gedemütigt, früher. Den Spieler Nicolas Kiefer, der als Nachfolger gedacht war, hat er 1999 in Wimbledon in drei Sätzen gefressen und die Reste lächelnd ausgespuckt. Becker hatte einen fast schon Kohl’schen – und damit ja sehr deutschen – Ehrgeiz, darauf hinzuweisen, dass es einen Nachfolger für ihn nicht geben kann. Er konnte wie aus Eis und Eisen sein. »Denn nur durch Kälte und Distanz verleih ich mir den Lorbeerkranz.« Schon unheimlich passend, was Tocotronic über ihn gesungen hat, ohne von ihm zu singen.

Inzwischen ist Becker imstande, Aggregatzustände miteinander zu versöhnen, er ist hart und weich zugleich. Er kommt den Kritikern einen Schritt entgegen: »Ja, ich habe Fehler gemacht. Schmeiße der den ersten Stein, der keine gemacht hätte. Ja, und jeder Fehler wird öffentlich diskutiert, das ist der Preis, den der 17-jährigste Leimener zu zahlen hat. Ja, ich bin ein Mensch, eine Person mit Stärken und Schwächen. Aber die Kritik an mir hatte eine Wucht erreicht, wo ich sage: Jetzt geht’s deutlich zu weit.«

Der 17-jährigste Leimener, sagt er. Eine Steigerungsform, die nur seinetwegen existiert. Einen 17-Jährigsten gibt es ein einziges Mal. Da sitzt er ja. Der Begriff ist auch ein Schlüssel.

Dreißig Jahre Wimbledon. Als Becker am 7. Juli 1985 den Center Court in Wimbledon betrat, ging er unter einem Schild durch, in das zwei Zeilen aus einem Gedicht von Rudyard Kipling eingelassen sind. Das Schild hängt schon immer da, im Tennis kommt ja nichts weg. »If you can meet with triumph and desaster / and treat those two impostors just the same.« Also, sehr frei übersetzt: »Wenn du dem Triumph und dem Desaster begegnest / und beide Blender als Gleiche nimmst.« Wer wäre dazu imstande?

Zuerst war die deutsche Öffentlichkeit nicht imstande, mit diesem Triumph umzugehen. Er überrollte sie. Ein paar Wochen zuvor hatten die Leute den Unterschied zwischen Wimbledon und Wembley kaum gekannt, aber was nach Beckers Sieg losbrach, war einzigartig. Niemandem haben sich die Nachkriegsdeutschen so hingegeben wie ihm. Becker war für die Heldenrolle geschaffen, weil er nicht wie ein Held aussah. Man durfte sich ihm ausliefern, ohne sich verdächtig zu machen. Er kam aus Leimen, war bullerbüartig frisiert und hatte einen russischen Vornamen. Ein Kunstwerk, eigenartig international in seiner Provinzialität. Seine Mutter Elvira hatte eine Lockenfrisur und sah sehr nett aus, wie sie auf der Tribüne saß, manchmal hatte sie auch eine kleine Kamera dabei. Mutter Becker ähnelte Mutter Beimer, die dann Ende 1985 aus den Kulissen der Lindenstraße trat.

Becker war ein neuer Typ Star, kein Fußballer, der den Druck mit den Teamkollegen hätte teilen können. Kein Rennfahrer wie später Schumacher, der seine Angst und Euphorie in einem Helm versteckte. Kein Boxer wie Maske, zu dessen perfekter Inszenierung gehörte, dass er gegen die großen Amerikaner nicht antrat. Becker nahm jeden, wie er kam. Den grimmigen Lendl, den sonderbaren Halbintellektuellen McEnroe, die ganzen stillen Schweden und wiederaufladbaren Spanier. Und bevor die Welt sich neu ordnete, gab er den Städten und Plätzen, die er bereiste, schon mal neue Farben, Aromen, Gerüche. London roch jetzt für die Deutschen nach frisch geschnittenem Gras und war ein schöner Ort, weil Becker dort immer gewann. Paris war sandig und heiß, Paris war ein Vorort der Wüste. Er war immer rot im Gesicht, in Paris, und nirgendwo warf er beim Aufschlag längere Schatten. Aber in Paris gesiegt hat er nie.

Becker war ein Unfertiger, der jeden im unfertigen Deutschland einlud, an seiner Vervollständigung teilzunehmen. Schon die Babys hätten seinen Spitznamen aussprechen können, Bum Bum Boris. Bum Bum passte zu seinem Aufschlag, Bum Bum passte auch in die Schlagzeilen der Bild. Bum Bum passte aber bald schon nicht mehr zu ihm, sagt Becker. »Als Teenager war ich der Erste, der diese Power hatte, aber dann kamen schon welche nach, die hatten auch Power. Und ich musste haushalten lernen, ich musste auf meinen Körper hören. Es war viel Disziplin, die Bereitschaft, Opfer zu bringen. Die Leute sagten ja immer: Bei dem ist alles Emotion, bei dem kommt alles aus dem Bauch. Der kann sich verschwenden. Aber es war eigentlich genau umgekehrt.«

Boris Becker sitzt an einem Hotelpool in Paris, denkt nach über ein Turnier in England und spricht über Deutschland. »Ich bin nicht mehr der 17-jährigste Leimener, und das zu begreifen, fällt vielen schwer.« Er benutzt die Gegenwartsform. Es ist dreißig Jahre her, aber es ist nicht abgeschlossen. Becker spricht viel von fehlendem Respekt, wenn er von Deutschland spricht, von den Medien in Deutschland, aber Respekt ist irgendwie auch nur eine sehr abgeklärte Umschreibung von etwas Tieferem. Und Respekt einzuklagen ist so unmöglich, wie Liebe zu fordern. Wenn das eine weg ist, kriegt man es so schwer zurück wie das andere.

Er will auf die Dachterrasse des Hotels rüberwechseln, man sieht von dort über die halbe Stadt, man sieht auch den Eiffelturm. Es gibt einen Fahrstuhl, Becker steigt ein, sein Manager Sascha Rinne ist auch dabei, außerdem zwei Asiatinnen, die Becker nicht beachten, aber den Manager, der riesig ist. Becker sagt, dass das Hotel ziemlich runtergekommen war, aber dann hat man es renoviert. »Ich war praktisch der erste Gast.« Oben organisiert er einen schönen Tisch weiter hinten, man hört dort den Sound aus dem Stadion. Die Zuschauer toben, offenbar hat ein Franzose einen Punkt gemacht, Tsonga, Gasquet oder Monfils. Es ploppt. Neue Schreie, es ploppt noch mal, dann Applaus wie Meeresrauschen. »Tsonga«, sagt Becker.

Es ist noch früh im Turnier, sein Mann, der Serbe Djokovic, wird erst am nächsten Tag spielen. Er träumt Beckers Traum: in Paris zu gewinnen. Er wird, wie Becker, lernen, dass es zum Wesen von Träumen gehört, dass sie Träume bleiben.

Träumen Sie eigentlich auf Deutsch oder auf Englisch?

»Meine Muttersprache ist Deutsch, aber meine Familiensprache ist Englisch, meine Berufssprache ist Englisch. Es liegt nah, dass ich auf Englisch träume.«

Er spricht sehr gesetzt manchmal, so wie Menschen sprechen, die keine Fehler machen wollen. Er sagt, er habe schließlich genug Doppelfehler gemacht, das ist geschickt, weil man es auf die Karriere genauso beziehen kann wie auf die Zeit danach. Alles hängt ja mit allem zusammen. Man muss angekommen sein, um ein Trainer sein zu können, sagt er, der Applaus unten von den Plätzen passt sehr gut dazu. Hört sich fast so an, als hätte er den bestellt. Also, Djokovic: »Vielleicht war ich selber vor zehn Jahren noch auf der Suche nach meinem zweiten Leben. Ich gönne ihm heute das Rampenlicht. Vor zehn Jahren hätte ich vielleicht gesagt: Möchte ich selber noch mal erleben.«

Aber wenn es vorbei ist, kommt die echte Prüfung für jeden Sportler, erst recht für jeden Sportler, der die letzten Meter auf dem Weg zum Helden geschafft hat. Maradona, Tyson, Graf, diese Liga. Aber Diego Maradona wurde sehr dick und ist beinahe gestorben, Mike Tyson wurde gefragt, ob er in einem Porno mitspielen würde, Steffi Graf ist verschwunden, nach Las Vegas. Sie hat den Spruch von Kipling über der Tür in Wimbledon oft genug gelesen, vielleicht hat sie einfach besser verstanden, was er bedeutet. Sie war immer anders als Becker. Kein Wunder, dass die beiden damals nicht geheiratet haben. Das war ja auch so eine deutsche Sehnsucht: Steffi und Boris spielen nicht nur ein Mixed beim Hopman Cup.

Von Beckers Begegnung mit dem Papst, Johannes Paul II., gibt es ein Bild, ein Tennisschläger ist gut zu sehen. Der Papst hält den Schläger.

Becker sagt: »Der Papst sollte meinen Tennisschläger segnen, ich war ja Ministrant früher. Das war meiner Mutter ganz wichtig, dass ich den Tennisschläger mitnehme und dass er ihn segnet. Hat er auch gemacht.«

Und, hat es was gebracht?

»Ich habe danach weiter Tennisturniere gewonnen.«

Becker ist heiliggesprochen worden, da war er noch ein halbes Kind. Der Papst ist heiliggesprochen worden, da war er schon tot, was natürlich der bessere Zeitpunkt ist, man hält dem Erwartungsdruck dann leichter stand.

Immerhin könnte die Kraft dieses gesegneten Schlägers in die Gegenwart hineinreichen. Beckers Auftritt damals mit dem Fliegenklatschenhut ereignete sich in einer Sendung mit Oliver Pocher, dessen Manager Rinne sich seitdem auch um Becker kümmert. Er steuert ihn sanft und schaut wie ein lächelnder Mond auf ihn runter. Es ist ruhig geworden um den Trash-Star Becker, seit Rinne da ist. Und dass Djokovic ihn in sein Trainerteam geholt hat, war ein weiterer Glücksfall, so sieht es jedenfalls aus.

Djokovic hatte einen Durchhänger, aber Becker hat ihm noch mal einen Twist verpasst. Reize setzen, nennen das Sportler. Djokovic hat in Melbourne gewonnen und 2014 auch in Wimbledon. Es gibt ein Foto mit den beiden, aufgenommen in der Kabine. Djokovic und Becker sitzen auf einer Holzbank, zwei Männer mit einem Pokal aus geschliffenem Glas. Beide legen eine Hand an die Trophäe. Keine Pose, sie sitzen da. Becker sieht müde aus und irgendwie zufrieden. Djokovic sieht durchtrainiert aus und irgendwie stolz.

In Deutschland hatten sie ihr Urteil längst gesprochen. Es war wie ein Wettlauf: Als Becker noch ein Star gewesen war, hatte er sich allen Interpretationsversuchen entzogen. War er van Gogh? War er ein Fisch? Als er kein Star mehr war, gewann die Öffentlichkeit die Deutungshoheit zurück. Becker war ein peinlicher Verlierer. In Deutschland waren also nicht nur die Experten überrascht, dass ein so Großer wie Djokovic so jemanden wie Becker noch mal aus der Kiste holt.

Becker scrollt jetzt auf seinem Smartphone rum, »einen Moment noch, bin gleich da«, es sind sehr viele Fotos darauf, aneinandergeschmiegte und in die Linse schauende Menschengesichter. Becker gewährt so gern Selfies, wie er sie selbst macht, es dauert ewig, dann hat er das Bild. Djokovic und er und der Wimbledon-Pokal, als Trainer durfte er mit zum Champions-Dinner im Jahr 2014, da hat er den Pokal, den er selbst damals gewonnen hat, endlich wieder berührt. Er hält das Smartphone schräg, better not against the sun, manches kann man ja nicht oft genug ansehen.

Wimbledon? »Ich habe in Wimbledon als Qualifikant angefangen, das Finale dann gewonnen, den Sieg mehrmals wiederholt, das Finale zwölfmal für die BBC kommentiert«, sagt er. »Ich trainiere den aktuellen Wimbledonsieger, mein erster Grand-Slam-Titel als Coach war Wimbledon. Bis hin zu der Tatsache, dass ich da seit einigen Jahren lebe. Mehr Wimbledon in einer Person geht eigentlich nicht.«

Boris Becker, der Held von Wimbledon, lebt jetzt tatsächlich in Wimbledon. Dort, wo alles am schönsten war. Als wäre Helmut Rahn nach Bern gezogen. Oder Muhammad Ali nach Kinshasa.

Er hat gerade ein Buch rausgebracht, Boris Becker’s Wimbledon heißt es. »Das Buch ist so was wie mein Glückwunsch an mich selber.« Keinen Ort kenne er besser als Wimbledon, schreibt er, auch seine Heimat Leimen bedeute ihm nicht so viel, obwohl seine Mutter noch immer da lebt. Seine Ankündigung, er könne sich vorstellen, Brite zu werden, hat in Deutschland nicht so richtig interessiert. Die Deutschen sind durch mit Boris Becker. Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass. Das Gegenteil von Liebe ist Gleichgültigkeit.

»Where have you gone, Joe DiMaggio / a nation turns it’s lonely eyes to you.« Das haben nicht Tocotronic gesungen, sondern Simon & Garfunkel, aber lange vor Beckers Zeit, die ja abgeschlossen ist, aus deutscher Sicht. Eine deutsche Ausgabe seines Buchs gibt es nicht. Das Jubiläum rauscht an der Heimat vorbei.

In England wird es gefeiert. Sondersendung auf BBC Radio 5, der Vorspann, sie legten Klaviermusik drunter, und Becker las vor: »Als Kind habe ich davon geträumt, Wimbledon zu gewinnen. Aber ich habe nicht davon geträumt, Wimbledon als Kind zu gewinnen.« Das ist ja fast schon die ganze Geschichte.

Becker trommelt für das Buch, er twittert auch, manchmal twittert und trommelt er zu laut, manchmal twittern aber auch andere. Er war in der The One Show auf BBC, die große Sängerin Leona Lewis war da, sie hat ein Selfie mit Becker gemacht. Das Bild landete bei Twitter. Englischer Kommentar zu Beckers Auftritt: »Great Interview on The One Show.« Deutscher Kommentar: »Ich kann seine Gedanken lesen: Wo ist hier die Besenkammer?«

Becker hat sich viel selbst zuzuschreiben, aber die Deutschen können sehr unversöhnlich sein. Man muss das aushalten können. Das Selbstverschuldete, und das Zugefügte. Triumph und Desaster. Die Verherrlichung. Diese sehr deutsche Häme.

Als alles soweit gesagt ist auf der Dachterrasse in Paris, steht Boris Becker auf. War doch sehr schön, sagt er und meint es vielleicht so. Der Fahrstuhl ist zwei Ecken weiter. Die Leute sagen manchmal, er bewege sich so gravitätisch. Dabei ist man mit künstlicher Hüfte und versteiftem Sprunggelenk zum Schlendern gar nicht mehr imstande. Wenn Boris Becker nicht humpeln will, muss er schreiten. Anders kommt er nicht durchs Leben.

Angst vorm Fliegen

Die Fans von Borussia Dortmund leben für ihren Verein und leiden an ihrem Verein. In der Krise ist das Leben und Leiden am schönsten.

Jürgen Kohler hat sich am Gitter festgekrallt, und wenn man näher rangeht, sieht man, wie sehr sein Körper bebt. Kohler hat Angst. Plötzlich war dieser Fotograf da, deswegen ist der Teufel los, vor allem in der Abwehr. Júlio César hat auf der Flucht einen Haufen Federn verloren, Matthias Sammer kreischt, Wolfgang Feiersinger kreischt auch, nur Andi Möller sitzt auf der Hand von Manfred Rakowski. »Brav, Andi«, brummelt Rakowski, und dann ruft er: »Sehnse, der ist der Zutraulichste.« Aber bevor der Fotograf sein Bild schießen kann, ist Möller schon entwischt, und Rakowski muss sich ducken, weil Stefan Chapuisat vor lauter Aufregung zu koten beginnt und sich ein großer, bunter Vogel flatternd auf den Weg macht. Wie heißt der? »Dat is’ einer aus dem Vorstand«, brüllt Rakowski, »kuckense mal, ob der links beringt ist.« Ist links beringt. »Dann isset der Präsident, der Dr. Niebaum!« Dr. Niebaum täuscht links an und fliegt rechts vorbei. Draußen ist von dem Krach schon die Nachbarin angelockt worden. »Ist nur die Presse. Die woll’n unsere Vögel sehen«, ruft Annegret, Manfreds Frau, und wahrscheinlich bemerkt sie nicht, dass man das mit den Vögeln auch so verstehen könnte, als tickten die zwei nicht mehr richtig.

Dabei sind die Rakowskis aus Bochum-Wattenscheid, er dreiundvierzig, sie sechsundvierzig Jahre alt, ein Ehepaar wie du und ich. Vielleicht mal davon abgesehen, dass sie ihren dreißig Sittichen die Namen von Fußballern und Offiziellen des Bundesligavereins Borussia Dortmund gegeben haben, dass sie am liebsten schwarz-gelbe Pullover tragen und schwarz-gelbe Mützen, Borussias Farben. Wenn man eine Inventur machte in ihrer Wohnung, würde man zutage fördern: Autogrammkarten, sogar aus den Siebzigerjahren, als die Fußballer noch nicht aussahen wie italienische Dressmen, sondern wie Bottroper Hausmeister; mit Koteletten, buschig und breit wie Eichhörnchenschwänze. Man fände Hunderte Schals und Poster, schwarz-gelbe Momentaufnahmen eines Fanlebens mit Borussia Dortmund und für Borussia Dortmund, und an einem Tag wie diesem findet man in ihrem Wohnzimmer zwischen all den Erinnerungen an die Vergangenheit auch Angst um die Zukunft.

Die Angst ist nicht greifbar wie die draußen bei den Vögeln. Aber sie hat sich längst unter die Pullis von Manfred und Annegret geschlichen, und sie begegnen ihr, wie man einer schlimmen Krankheit begegnet, jedenfalls am Anfang: mit einer Mischung aus Verdrängung und Trotz. »Meister werden die nicht diesmal, aber dass sie gleich absteigen – nee«, sagt Manfred. »Und wenn sie absteigen, macht es auch nichts. Dann fahren wir halt in die zweite Liga nach Meppen, da war’n wir noch nicht«, sagt Annegret, und dann sagt erst mal keiner mehr was, man hört nur, wie Annegret an ihrer Zigarette zieht.