Das Stinktier, der Sheriff und ich - Thomas Widerin - E-Book

Das Stinktier, der Sheriff und ich E-Book

Thomas Widerin

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Beschreibung

8.000 Kilometer mit dem Fahrrad durch die USA Seine Radreise durch die USA sollte etwas Besonderes werden: einmal quer durch Nordamerika. Im ersten Anlauf zwangen Thomas Widerin besondere Umstände zum Abbruch. Doch für den Flugretter, Leistungssportler und Polizisten ist Aufgeben keine Alternative. Schon bald sitzt er wieder im Sattel und fährt die restlichen 8.000 Kilometer von der kanadischen Grenze bis nach Miami – und das mitten im amerikanischen Wahlkampf. • Nordamerika mit dem Rad während des US-Wahlkampfs • Begegnungen mit Menschen, Tieren und den eigenen Grenzen • Spannender und humorvoll erzählter Reisebericht nicht nur für Fahrrad-Fans • Fortsetzung der Abenteuer aus dem ersten Band Meilenweit bis zur Kühlbox Stinktiere, Sheriffs und Schlägereien – ein Reisebericht Sein Trip durch die USA ist voller Überraschungen. Bei einer Begegnung mit drei Stinktieren auf einem Zeltplatz am Toronto Lake zieht er erwartungsgemäß den Kürzeren und hat noch Tage später mit den olfaktorischen Folgen zu kämpfen. Doch bei einem Sheriff findet er Unterstützung. Ein Frühstück in einem Diner nahe Louisiana endet in einer Massenschlägerei zwischen den Hillary- und Trump-Anhängern – ausgelöst durch seine vermeintlich harmlose Frage, wer denn wohl den Wahlkampf gewinnen würde. Ein Indianer-Häuptling lädt ihn zum Pfeiferauchen in sein Zelt ein und anschließend verliert der Tiroler jegliches Gefühl für Raum und Zeit … Seinen USA-Reisebericht beendet Thomas Widerin gewohnt humorvoll mit einer Statistik der anderen Art: Anzahl der Hundeangriffe, Reifenpannen und außergewöhnlichen Tierbegegnungen. Das Stinktier, der Sheriff und ich. Mit dem Fahrrad von Kanada nach Florida ist packend, verblüffend und lustig – und voller Informationen für alle, die ebenfalls eine Radtour planen oder von einem USA-Trip träumen!

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INHALT

Ein kurzer Rückblick

Whitehorse: Zurück an den Start

Sam und die geheimnisvolle Bar

Testfahrt mit Missgeschick

Alaska Highway: Die erste Nacht in der Wildnis

Bison voraus

Hamburg bleibt in Watson Lake

Rauferei im Pool

Baustelle

Dawson Creek: Mike, Jeff und Boomer

Rutschpartie am Gletscher

Bärenspray

Ein Tag in der Radfahrerhölle

Ein Freund mit Namen Astin

Yellowstone: Kampf um einen Zeltplatz

Rätselhaftes Rennen in den Rockies

Indianer …

Nachtfahrt

Werkstattdrama mit Folgen

Lifeguards

Angriff der Skunks

Die Amish People und ihr Geschenk

Im Radfahrerhimmel

Greyhound: Ohne Karton läuft gar nichts

Der Wachmann und das Heimweh

Angst

Wahlkampf

Schuld und Sühne

Sturm

Der Taschen-Dieb

Delfine

Familienfest mit Gartenzwergen

Missverständnis am Ziel

Danksagung

Die etwas andere Statistik

 

 

 

FÜR SIMONE:DU BIST TIEFIN MEINEM HERZEN.

EIN KURZER RÜCKBLICK

»Ich bin mir sicher, dass ich bald genau an jener Stelle des Alaska Highway wieder auf mein Fahrrad steigen werde, an der ich damals abgestiegen bin und an der mir mein Wolf den Weg in ein neues Leben gezeigt hat.« So endet mein erstes Buch Meilenweit zur Kühlbox – Mit dem Fahrrad durch Amerika.

Dies ist mein zweites Buch, und es bringt eine lange Reise zum Abschluss.

Das Schreiben meines ersten Buches begleitete eine spezielle Therapie, der ich mich ab Herbst 2012 freiwillig unterzogen hatte, nachdem ich auf einer großen Radreise mitten im kanadischen Yukon-Territorium schwer gezeichnet vom Fahrrad gestiegen war. Es berichtet von vielen Erlebnissen auf meinen davor liegenden Fahrradkilometern und dem Vorhaben, das mich schließlich so weit in die Unendlichkeit Kanadas hineinführen sollte. Aber auch von meinem harten Weg heraus aus einer tiefen Lebenskrise. Am Ende der erwähnten Therapie war auch das Buch geschrieben. Und schon damals träumte ich davon, meine abgebrochene Reise irgendwann fortzusetzen.

Und eines Tages war es wirklich so weit: Im Juni 2016 stieg ich in München in ein Flugzeug, um 15 Stunden später dort zu landen, wo ich vier Jahre zuvor schon einmal gelandet war: in Whitehorse, der größten Stadt in der Region Yukon. Zurück an den Start also. Aber dieses Mal waren die Voraussetzungen ganz andere. Ich war gut vorbereitet und konnte sowohl körperlich als auch seelisch aus dem Vollen schöpfen.

Was folgte, waren zwei Monate Abenteuer pur. Ich habe ungeheuer vieles erlebt und gesehen: Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen, eine faszinierende Tierwelt und Landschaften, die mir teilweise den Atem geraubt haben. Ich bin bewusster geradelt, nicht mehr so durch die Gegend gehetzt wie auf früheren Reisen. Ich habe diese Tour viel intensiver erlebt. Und es hat auch hier wieder Situationen gegeben, da wäre ich fast verzweifelt. Auf einem so langen Trip passiert eben einiges.

Schließlich war es geschafft. Ich habe meine damals abgebrochene Radreise zu Ende geführt. Eigentlich waren es ja zwei Reisen: Einmal eine Langstrecken-Fahrradfahrt zwischen dem kontinentalen Nordwesten des Yukon bis zum Südosten in Florida, und dann noch eine Reise zu mir selbst. Ich bin direkt hineingefahren in ein neues Leben, mit neuen, anderen Zielen. Vielleicht kann ich darin zumindest einiges von dem umsetzen, was ich unterwegs gelernt habe – ich hoffe es sehr.

Die Geschichten in diesem Buch handeln von meinen Erlebnissen zwischen Whitehorse und Miami.

WHITEHORSE: ZURÜCK AN DEN START

Die Boeing 747 neigt sich leicht auf die Seite. Wegen des Sinkfluges spüre ich einen Druck in beiden Ohren. In meinem Bauch kribbelt es: Neugierde, Vorfreude und Respekt. Eine lang gezogene Rechtskurve bringt uns in Richtung Landebahn. Bisher konnte ich von der Weite Yukons nicht viel erkennen. Unter mir befand sich während der letzten beiden Stunden eine dichte Wolkendecke. Nun sticht das Flugzeug hindurch. Mächtige Bergketten und riesige Waldflächen tauchen aus dem Nebel auf. Mein Blick trifft auf ein lang gezogenes graues Band, das sich auf der Nordseite der Stadt majestätisch durch den Wald schlängelt: der Alaska Highway! »Mein« Alaska Highway, der mich in den nächsten Wochen Richtung Süden führen wird. Nur wenige Augenblicke später setzt der Flieger auf. Mit gemischten Gefühlen bleibe ich noch für eine Weile sitzen. Ich bin wiedergekommen. Dorthin, wo sich vor wenigen Jahren mein Leben auf so dramatische Weise geändert hat.

Vier Jahre zuvor bin ich schon einmal hier gewesen. Nicht per Flugzeug, sondern mit meinem Fahrrad. Ich war auf dem Weg von der Prudhoe Bay im nordwestlichen Alaska nach New York und hatte Whitehorse als Zwischenstopp ausgewählt. Hier machte ich zwei Tage Pause, wollte mich regenerieren und meine Vorräte auffüllen. Das Zweite war kein Problem, aber die Regeneration gelang mir leider nicht. Ganz im Gegenteil: Als ich wieder auf mein Fahrrad stieg, um auf dem Alaska Highway weiter Richtung Süden zu strampeln, war mein Schicksal bereits besiegelt. Ich kann mich noch genau an das Gefühl erinnern, mit dem ich Whitehorse damals wieder verließ. Ich war leer, ausgebrannt, antriebslos und stand kurz vor dem Zusammenbruch.

Eine Stimme reißt mich aus meinen Erinnerungen. Die Flugbegleiterin schaut mich fragend an. In meine Gedanken versunken, habe ich gar nicht bemerkt, dass fast alle Passagiere den Flieger bereits verlassen haben. Ich öffne den Sicherheitsgurt, nehme das Handgepäck aus dem Fach und begebe mich zum Ausgang. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Mein gedanklicher Kurztrip zurück hat mich ein wenig verwirrt. Zu groß war das Desaster, das ich damals erlebt habe.

Das Erste, was ich im Flughafengebäude bewusst wahrnehme, ist ein mächtiger ausgestopfter Grizzly. Hoch aufgerichtet steht er da und begrüßt die Ankommenden. Ich bin im Land der Bären. Im Großraum Alaska und Yukon gibt es eine der weltweit größten Populationen von Schwarzbären und Braunbären, hier besser als Grizzlys bekannt. Vermutlich werde ich auf dem ersten Teil meiner Reise noch genügend Bekanntschaft mit beiden Arten machen. Ich habe mich darauf gut vorbereitet. Zumindest theoretisch. Dass Theorie und Praxis manchmal weit auseinanderliegen können, musste ich jedoch schon des Öfteren schmerzlich erfahren.

Mein etwas ungutes Gefühl im Magen, das ich seit der Landung verspüre, wird stärker. Das hat allerdings nichts mit dem drohend wirkenden Raubtier zu tun – etwas anderes steht mir bevor: Ich muss zur Gepäckausgabe. Der vielleicht größte Unsicherheitsfaktor der gesamten Reise manifestiert sich in jenem Teil des Flughafens, in dem sich das Förderband befindet. Hier wird das Gepäck nach dem Entladen zu den Passagieren in die Wartehalle befördert. Aber nur dann, wenn es auch tatsächlich im Flugzeug gewesen ist. Leider ist das nicht immer der Fall. Weltweit bleiben täglich Hunderte Gepäckstücke auf Umsteigeflughäfen zurück oder werden trotz modernster Computertechnik in den falschen Flieger verladen. Vor diesen Förderbändern erlebte ich schon manche kleine Katastrophe. Entweder meine Taschen waren beschädigt, waren unvollständig oder sie haben gar komplett gefehlt. Wirklich schlimm war es im Sommer 2012 in New York, anlässlich meines ersten großen Radprojektes. Drei Tage dauerte es, bis mir mein Fahrrad doch noch in das Hotel geliefert wurde. Dazwischen lagen schlaflose Nächte, einige Fahrten zum Flughafen und ein nicht enden wollender Druck in der Magengegend. Meine erste große Reise stand damals kurz vor dem Ende, noch bevor sie richtig begonnen hatte.

Das Förderband der Gepäckausgabe beginnt zu laufen, und gleich zu Beginn kann ich meine beiden Reisetaschen entgegennehmen. Zuversichtlich schiebe ich meinen Gepäckwagen in die gegenüberliegende Ecke der Halle, wo sich der Schalter für die Ausgabe des Sondergepäcks befindet. Dort muss ich meinen Fahrradkarton abholen. Niemand ist da. Ich setze mich vor die Tür, auf eine meiner Taschen. Jetzt heißt es warten. Es tut sich nichts. Das Fahrrad ist mein wichtigster Ausrüstungsgegenstand. Dieses Fahrrad und alle wichtigen Zusatzausrüstungen sind in einem extra starken Karton verpackt, gut geschützt gegen alle möglichen Gefahren. Und ich habe einen Direktflug gebucht. Also fallen die Risikofaktoren Umsteigen und Umladen weg. Langsam leert sich die Halle. Meine Anspannung steigt. Ich mag das Gefühl nicht, wenn sich Anspannung in der Magengegend bemerkbar macht. Nun begeben sich auch die letzten Passagiere zum Ausgang. Einen Moment später bin ich allein. Meine pessimistische Seite meldet sich, und ich beginne zu grübeln. Doch plötzlich geht eine Tür auf, über der ein großes Hinweisschild auf Sperrgepäck hängt. Und da ist er, der Karton mit meinem Fahrrad. Von einer Sekunde zur anderen fällt mir eine große Last von den Schultern, und sofort löst sich mein Magenproblem in Luft auf.

Die Einreiseformalitäten sind in wenigen Minuten erledigt. Auch beim Zoll habe ich keinerlei Probleme. Augenblicke später stehe ich mit dem großen Karton und meinen zwei Reisetaschen vor dem Flughafen im Freien. Von der gegenüberliegenden Wiese aus begrüßt mich eine große Werbetafel. »Welcome to Whitehorse – Capital of the Yukon«, steht auf einem bunten Holzschild, dazu Symbole für einen Raddampfer und eine Sonne vor blauem Himmel. Whitehorse ist die Hauptstadt des kanadischen Territoriums Yukon und liegt direkt am gleichnamigen Yukon River. Ab 1896, während der Zeit des Klondike-Goldrausches, war es ein wichtiger Umschlagplatz für die Versorgungsgüter der Goldsucher. Zudem bildete es einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt für die Raddampfer. Nach dem Abklingen des Goldrausches wurde es ruhig um den Ort, bis er 1942 durch den Bau des Alaska Highway wieder einen Aufschwung erlebte. 1950 wurde Whitehorse dann zur Stadt ernannt; heute leben dort knapp 28.000 Einwohner.

Ich benötige ein Taxi. Gleich die ersten beiden Taxifahrer schütteln den Kopf, als sie meinen großen Karton erblicken. Für den ist mindestens ein Van notwendig. Leichter gesagt als getan. Ein solcher Van ist unter den anwesenden Taxis nicht dabei. Jetzt kommt mir der Zufall zu Hilfe. Es spricht mich ein etwas ungepflegt aussehender älterer Mann auf meinen Karton an. Er fragt mich, ob sich darin ein Fahrrad befinden würde. Er sei nämlich auch begeisterter Radfahrer. Wir kommen sofort ins Gespräch, und der Radfahrerkollege bietet mir schließlich an, mich mit seinem Truck in mein Hotel zu bringen. Beide Reisetaschen und der große Karton werden kurzerhand auf die Ladefläche des Geländewagens geschoben. Mein Helfer stellt sich als Sam vor. Er ist in Whitehorse geboren und aufgewachsen, seine Vorfahren sind jedoch aus Deutschland. Im Großraum der Stadt leben viele deutsche Auswanderer, die sich hier in der Wildnis niedergelassen haben. So ganz nebenbei erzählt Sam, dass er 2005 eine Auszeit genommen hätte, um mit seinem Fahrrad entlang der »Panamericana« bis nach Südamerika zu fahren. Diese berühmte Straßenverbindung führt von der Prudhoe Bay im nordwestlichen Alaska durch 15 Länder immer Richtung Süden und endet 22.000 km später in Feuerland, am südlichsten Zipfel des Kontinents. Als Sam davon zu erzählen beginnt, steigt meine Herzfrequenz.

Die Fahrt zum Hotel ist rasch vorbei. Viel zu rasch, denn ich hätte gern noch mehr mit meinem freundlichen Helfer gesprochen. Vermutlich könnte er mir viele gute Tipps für meine Reise geben. Sam hilft mir noch beim Ausladen. Bevor er sich dann verabschiedet, verabreden wir uns für den nächsten Abend auf ein Bier. Oder zwei.

Der erste Eindruck meines Motels in Whitehorse ist recht positiv. Die Dame in der Lobby schaut zwar ein wenig ungläubig, als ich den großen Radkarton hereinschiebe, aber sie lächelt und ist von Anfang an sehr freundlich zu mir. Ich lege meinen Reisepass und die Reservierungsunterlagen auf den Tresen. Nach einem kurzen Blick in die Dokumente wechselt sie von Englisch zu Deutsch. Sie kommt aus Deutschland. Vor drei Jahren verschlug es sie hierher, an den Yukon. Aus einem Urlaubsaufenthalt sind mittlerweile drei Jahre geworden. Julia, so heißt die freundliche Empfangsdame, hat ihren jetzigen Ehemann in Whitehorse getroffen und wurde der Liebe wegen hier sesshaft. An ihrem Dialekt kann ich sofort erkennen, woher genau sie stammt: Sie ist Schwäbin und zelebriert die schwäbische Aussprache bis ins Kleinste. Dieser Dialekt ist mir gut bekannt, denn meine Lebensgefährtin stammt ebenfalls aus dem Schwabenland. Und so zaubert Julias Sprechweise ein wenig Heimatgefühl für mich herbei.

Die Buchung des Zimmers habe ich noch von zu Hause aus getätigt. Vor jedem Start einer Radreise halte ich mich die ersten drei Tage in einem Hotel auf, um in Ruhe vor Ort die restlichen Vorbereitungen zu treffen. Dazu gehören das Zusammenbauen des Fahrrades, die letztmalige Kontrolle der gesamten Ausrüstung, eine abschließende Testfahrt und die obligatorischen Fotoaufnahmen für meine Sponsoren. Bei der Auswahl des ersten Hotels der Reise habe ich immer einige spezielle Wünsche: Das Zimmer muss geräumig sein, damit ich dort noch einmal meine komplette Ausrüstung ausbreiten kann. Es darf sich nur im Parterre befinden oder es muss ein Aufzug vorhanden sein, damit ich den großen Radkarton nicht treppauf schleppen muss. Frühstücksmöglichkeiten im Hotel, eine eigene Bar und eine Lage nahe am Ortszentrum sind ebenfalls ein »Muss«. Diese Sonderwünsche führen zwar immer zu einem höheren Preis, aber die Mehrkosten zahle ich gern, denn ich möchte meine Reise möglichst ohne Stress beginnen.

Dieses Mal bin ich ein wenig erstaunt: Mein Zimmer liegt im dritten Stock. Ein Lift ist zwar vorhanden, aber viel zu klein für meinen großen Fahrradkarton. Es kostet mich viel Kraft, einige Nerven und zudem Trinkgeld für einen freundlichen Hotelmitarbeiter, den Karton über die Stiegen hinauf in den dritten Stock zu schaffen. Zudem ist das Zimmer auch viel zu klein. Zwar ist ein Doppelbett vorhanden, aber kaum freier Raum um das Bett herum. Mittlerweile zähle ich mich schon ein wenig zu den Radreiseprofis. Mein Ärger hält sich daher in Grenzen und ich suche stattdessen sofort nach Alternativen. Das Zimmer liegt am Ende eines Ganges. Zwischen der Zimmertür und diesem Ende liegen noch etwa drei Meter ohne weitere Türen. Genügend Platz für eine provisorische Werkstatt. Kurzerhand stelle ich den großen Fahrradkarton vor meinem Zimmer ab. Der Karton bleibt ungeöffnet, erst morgen möchte ich mit dem Zusammenbau beginnen.

Ein erstes Testliegen im Bett wird von meiner Wirbelsäule als äußerst angenehm empfunden. Ich strecke mich aus. Als ich dann gedankenverloren zur Zimmerdecke hinaufschaue, tauchen leise Fragen auf. Wirst du es dieses Mal schaffen – oder abermals scheitern? Ich sehe den Grizzly wieder vor mir und verspüre erneut einen leichten Druck in der Magengegend. Aber dann kehre ich zurück in das Hier und Jetzt. Die Voraussetzungen sind diesmal deutlich besser. Ich bin fit, top vorbereitet und verfüge über optimales Material. Ich richte mich im Bett auf und atme einige Male kräftig durch. Ich bin also tatsächlich wieder da. »Zurück an den Start,« sage ich leise zu mir.

SAM UND DIE GEHEIMNISVOLLE BAR

Die erste Nacht ist gut verlaufen. Mein Schlaf war tief und traumlos. Das ist nicht immer so. Aufregung, Zeitverschiebung oder ein zu weiches Bett sind bei mir optimale Zutaten für einen kompletten Schlafentzug. Mit Schaudern denke ich an die drei Nächte in einem New Yorker Hotel zurück, als ich auf mein verschollenes Fahrrad gewartet habe. Sie waren voller Albträume, Ängste und negativer Gedanken. Ich bin dankbar dafür, dass ich dieses Mal ruhig schlafen kann.

Nach dem Frühstück beginne ich mit meinen letzten Vorbereitungen. Zuerst gilt es, den Radkarton zu öffnen und alle gut eingepackten und gesicherten Teile von Papier, Styropor und sonstigen Schutzhüllen zu befreien. Alle Einzelteile sind heil geblieben. Sorgsam verteile ich sie so gut es geht auf Boden und Bett meines viel zu kleinen Zimmers. So habe ich einen besseren Überblick für die Bestandsaufnahme. Dann beginne ich mit dem Zusammenbau. Im Zimmer ist dies jedoch nicht möglich. Also lege ich mein mitgebrachtes Werkzeug und den Fahrradrahmen in den Hotelflur. Der ist ab jetzt meine Radwerkstatt. Der Zusammenbau benötigt zwar Zeit, aber der Vorteil dabei ist, dass ich jedes einzelne Stück noch einmal in meinen Händen halte. Besonders gut achte ich auf einen festen Sitz aller Schrauben. Dies ist etwa bei den Gepäckträgern sehr wichtig, da sie die gesamte Ausrüstung transportieren. Lockere Schrauben führen zu einem nervigen Klappern oder im schlimmsten Fall zum vollständigen Lösen der Träger vom Fahrradrahmen. Ein spezieller Schraubenkleber verhindert das selbstständige Lockern. Das Zusammensetzen meines Fahrrads ist für mich immer ein spezielles Ritual.

Bis spät in den Nachmittag hinein schraube und tüftle ich an meinem Fahrrad herum. Dazu wechsle ich ständig zwischen dem Zimmer und dem Flur hin und her. Die beiden Reinigungskräfte schauen anfangs ein wenig skeptisch, aber zu Mittag schenken sie mir sogar einige ihrer kleineren Putztücher. Eine der beiden verbringt zudem ihre komplette Mittagspause bei mir. Sie setzt sich auf den Boden und schaut mir interessiert bei der Arbeit zu. Am Ende ihrer Pause legt sie noch drei Stück der hoteleigenen Seife auf den Boden. Vermutlich hat sie aufgrund meiner völlig verölten Hände ein wenig Mitleid mit mir. Schließlich fehlen an meinem Fahrrad nur noch wenige Teile. Die restlichen Arbeiten möchte ich erst morgen erledigen. Ich bin fleißig gewesen und habe mir mein Bier heute Abend redlich verdient.

Gegen 20 Uhr warte ich in der Hotellobby auf Sam. Auf dem Programm steht ein »Bier- und Informationsabend«. Ich möchte mir vor allem noch einige wichtige Tipps geben lassen. Mein Radfahrerkollege schaut bereits nach wenigen Minuten froh gelaunt und pfeifend zur Tür herein und bedeutet mir, ihm zu folgen. Wir gehen nicht in Richtung Stadtmitte, sondern auf einem schmalen Weg durch einige Hinterhöfe. Er will mir ein ganz besonderes Lokal zeigen. Dort würden sich nur Einheimische aufhalten. Es liegt etwas außerhalb der Stadt, daher wird es nur selten von Touristen aufgesucht. Erst nach einer halben Stunde sind wir da. Von außen ist nicht zu erkennen, dass sich im Inneren des Hauses ein Lokal befindet. Sam klopft in einem besonderen Rhythmus an die Tür. Sie geht auf, und nach ein paar knappen Worten meines Begleiters werden wir eingelassen. Zielstrebig führt Sam mich hinauf in den ersten Stock.

Oben tut sich eine eigenwillige Welt vor mir auf. Die gesamte Ebene ist ein einziger offener Raum, komplett aus altem Holz bestehend. Die Decke wird von massigen Holzbalken getragen; alle sind mit kunstvollen Schnitzereien versehen. Lampen kann ich keine entdecken. Es ist so dunkel, dass ich aufpassen muss, nirgendwo anzustoßen. Der Raum wird nur vom Feuer eines offenen Kamins, von einigen Fackeln an den Holzbalken und von Tischkerzen erhellt. Interessiert blicke ich mich um. An den Wänden hängen die unterschiedlichsten Dinge: Autokennzeichen verschiedener US-Staaten, Straßenschilder und Ortsnamen ebenso wie Bilder von längst verstorbenen Hollywoodgrößen oder Köpfe ausgestopfter Wildtiere. Genau in der Mitte des Raumes stehen ein ausgestopfter Grizzlybär und ein fast ebenso großer Elch. Beide nebeneinander, als ob sie schon immer zusammengehört hätten. Sam führt mich in die dunkelste Ecke des gesamten Raums. Dort befindet sich die Bar. Die Decke oberhalb der Bar ist mit Geldscheinen und Bierdeckeln beklebt. Beim näheren Betrachten fällt mir auf, dass es sich um Geldscheine aus vielen Ländern und Bierdeckel in den buntesten Farben handelt. Nur wenige Besucher sind hier. Sie sitzen an einem runden Tisch und spielen Karten. Ich fühle mich wohl in diesem Raum. »Das ist Kanada«, denke ich und genieße das spezielle Flair.

Sam erzählt, fast täglich hier zu sein. Angeblich ist es das einzige noch bestehende Lokal in der Umgebung, das einmal den First-Nation-Leuten gehört hat und ausschließlich von diesen besucht werden durfte. Erst vor wenigen Jahren erstand ein traditionsbewusster Geschäftsmann aus Whitehorse das Lokal und ließ es bis auf einige wenige Umbauarbeiten in seinem ursprünglichen Zustand bestehen. Touristen ist der Zutritt zwar nicht verboten, aber der jetzige Besitzer schenkt das Bier lieber an seine einheimischen Stammgäste aus. Und deren Begleiter. Die hübsche Frau hinter der Bar stellt Sam und mir ein großes Glas Bier auf den Tresen. Wir stoßen an. »Welcome to Whitehorse«, sagt Sam, »good luck for your journey!« Ich habe Durst. Der erste Schluck schmeckt daher nicht nur ausgezeichnet, sondern fällt auch besonders intensiv aus. Sam setzt nur zweimal an, bevor sein Glas leer ist. Ich benötige vier Ansätze, was ja auch nicht so schlecht ist. Bevor ich noch etwas sagen kann, steht schon Nachschub auf dem Tresen. Der Großteil des kanadischen oder amerikanischen Biers hat zwar nicht den gleichen Alkoholgehalt wie das Bier im deutschsprachigen Raum, wenn man jedoch in kürzester Zeit und auf nüchternen Magen zwei große Gläser davon trinkt, spürt man auch diese schwächeren Sorten.

Sam ist mir hinsichtlich Trinkfestigkeit meilenweit voraus. Er nickt der Frau hinter der Bar zu, worauf diese ein weiteres Mal den Zapfhahn betätigt. Bevor die Gläser voll sind, greift sie unter den Tresen und holt zwei Flaschen ohne Etikett hervor. Aus jeder Flasche kommt ein kräftiger Schuss des mir unbekannten Inhaltes in die Gläser. Das Bier darin beginnt nun deutlich zu schäumen. Mit sichtlichem Stolz erklärt Sam, dass es sich hier um sein Geheimrezept handeln würde: ein Getränk für spezielle Tage. Mit diesem könne er für einige Stunden alle seine Probleme vergessen oder auch einmal einen besonders tollen Tag feiern.

Ich habe immer noch Durst. Mein erster Schluck von diesem geheimnisvollen Getränk fällt daher recht kräftig aus. Ein fataler Fehler. In Rachen und Hals brennt es fürchterlich. Erschrocken stelle ich das Glas ab und schaue Sam fragend an. Er lächelt nur. Sein Glas ist bereits wieder halb leer. Auf meine Frage nach dem, was die Bardame da unter das Bier gemischt hätte, reagiert er nicht. Nachdem sich mein Hals ein wenig erholt hat, riskiere ich einen weiteren Versuch. Dieses Mal brennt es nicht mehr so stark. Beim dritten Schluck brennt es überhaupt nicht mehr. Und dann beginnt mir dieser »Zaubertrank« sogar ein wenig zu schmecken. Sam nickt zufrieden. Ich nicke ebenfalls, aber gleichzeitig beginnt sich der Fußboden unter mir zu bewegen.

Jetzt wird es gefährlich für mich. Mit einer Hand halte ich mich an der Bar fest, mit der anderen am Bierglas. Sam durchschaut die Situation, hat dafür aber nur ein verschmitztes Lächeln übrig. Um mir zu zeigen, dass der Alkohol bei ihm noch keine Wirkung hat, hebt er ein Bein, schließt die Augen und bleibt ohne zu Schwanken auf dem anderen Bein stehen. Was der kann, kann ich auch, denke ich. Das Stehen auf einem Bein gelingt mir zwar, die Hand kann ich jedoch nicht vom Tresen nehmen. Und nach dem Schließen der Augen dauert es nur wenige Sekunden, bis ich diese wieder öffnen muss. Bei geschlossenen Augen dreht sich alles. Jetzt ist es Zeit für eine Entscheidung: Entweder weitertrinken und morgen mit einem fürchterlichen Kater halbtot im Bett bleiben oder sofort einen Schlussstrich ziehen. Normalerweise gehöre ich zur eher vernünftigen Sorte Mensch, aber auch bei mir ist mit dem Erreichen eines bestimmten Alkoholpegels das Denkvermögen schwer eingeschränkt. Noch während ich überlege, meldet sich Sam zu Wort und gibt mir zu verstehen, dass er ein Kneifen nicht akzeptieren würde. Wer mit dem Fahrrad von Whitehorse nach Miami radeln möchte, müsse erst mal seine Trinkfestigkeit beweisen. Sagt Sam und sorgt dafür, dass ich Nachschub erhalte, natürlich nach seiner Rezeptur.

Träume ich, oder hat sich der Grizzly wirklich bewegt? Ich reibe mir die Augen. Vielleicht habe ich mich getäuscht. Oder hatte der Bär wirklich mit dem Kopf genickt? Ich nehme noch einen Schluck von diesem Wundergetränk, das mir mittlerweile sogar ein wenig zu schmecken beginnt. Trotzdem ist es mir nicht ganz geheuer, dass das Raubtier ständig in meine Richtung sieht und mit seinem Kopf wackelt. Ich schaue genauer hin und nicke zurück. So als ob ich jemanden grüßen würde. Vielleicht grüßt der Bär ja zurück? Aber da tut sich nichts, also widme ich mich wieder meinem Glas und Sam. Eigentlich hatte ich mir von ihm ja noch einige Tipps für meine Reise erhofft. Leider hat er bisher noch kein einziges Wort darüber verloren. Stattdessen erzählt mir mein Begleiter, wie oft er hier in dieser Bar sei, was er hier schon alles erlebt hätte und dass man in diesem Lokal einfach trinkfest sein müsse. Ansonsten solle man lieber gleich zu Hause bleiben. Das meint zumindest Sam. Nach dem nächsten Schluck blicke ich abermals in Richtung Grizzly. Wieder sehe ich deutlich ein Kopfnicken. Ich kneife kurz meine Augen zusammen, um dann noch etwas genauer hinzuschauen. Nun fällt mir auf, dass sich mittlerweile der gesamte Körper des Bären hin und her bewegt. Offensichtlich ist inzwischen auch der Elch erwacht, denn er schunkelt mit dem Grizzlybären im Takt. Beide Tiere haben ein Grinsen im Gesicht. Ich habe das deutliche Gefühl, dass sie über mich lachen, und ich würde gern wissen, warum.

Sam steht mittlerweile ein wenig abseits. Sein Interesse gilt offensichtlich der Frau hinter der Bar. Beide sind in ein Gespräch vertieft. Da sie nur flüstern, kann ich nicht verstehen, welches Thema sie so intensiv diskutieren. Mir ist das aber auch ziemlich egal; ich möchte lieber wissen, warum sich Elch und Grizzly über mich lustig machen. Ich beschließe, sie zu fragen. Leichter gesagt als getan, denn aufrecht stehen kann ich nur deshalb noch, weil ich mich mit beiden Händen am Tresen der Bar festhalte. Ich versuche es trotzdem, und nach einem Umweg durch das halbe Lokal stehe ich vor Bär und Elch. Erst jetzt bemerke ich, wie groß die beiden Tiere sind. Sie überragen mich um mehrere Köpfe. Ich bin plötzlich nicht mehr so sicher, ob ich überhaupt mit ihnen reden sollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit werde ich mit beiden Arten in den kommenden Wochen immer wieder zu tun haben. Vielleicht stehen die beiden Tiere hier in der Bar mit ihren Artgenossen draußen in der Wildnis in Verbindung, da möchte ich es mir mit ihnen nicht verscherzen. Also beschließe ich, freundlich zu sein.

Irgendwie sehe ich inzwischen alles ein wenig verschwommen. Nicht nur Elch und Grizzly bewegen sich, sondern auch andere Dinge im Lokal. Tische und Stühle scheinen nicht mehr ruhig auf dem Boden zu stehen, und auch die Flaschen hinter der Bar bewegen sich hin und her. Mir wird schwindelig, und leichte Übelkeit steigt in mir auf. Aber ich möchte ja mit dem Bären sprechen, also muss ich mich zusammennehmen. Um auf gleiche Höhe mit dem Kopf des Grizzlys zu kommen, hole ich mir einen Stuhl herbei. Von Angesicht zu Angesicht redet es sich ja viel besser. Mein erster Versuch, auf den Stuhl zu steigen, scheitert kläglich. Noch bevor ich auch nur annähernd oben bin, stürzt dieser um.

Ich habe Glück und falle nicht gänzlich zu Boden, der Elch hat das verhindert. Der zweite Versuch gelingt. Oben angekommen, schlinge ich meine Arme um den Hals des Bären. So kann ich mich besser mit ihm unterhalten und falle vor allem nicht wieder vom Stuhl. Auf meine Frage, was er und der Elch denn über mich gesprochen hätten, erhalte ich jedoch keine Antwort. Ich versuche es noch einmal, doch wieder erfolgt keine Reaktion. Ärgerlich ziehe ich an den Ohren des Bären und schaue tief in seine Augen. Dabei habe ich wieder das Gefühl, dass sich das Tier über mich lustig macht. Irgendwie sehe ich ein Schmunzeln in seinem Gesicht. Ich brauche Hilfe von Sam und will mich umdrehen, um nach ihm zu rufen. Da ich dabei den Hals und die Ohren des Bären loslasse, komme ich aus dem Gleichgewicht und drohe, wieder vom Stuhl zu stürzen. Sofort schlinge ich meine Arme wieder um den Bärenhals. Jetzt nimmt das Schicksal seinen Lauf. Der Stuhl neigt sich nach hinten, während ich mich verzweifelt am Grizzly festklammere. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich, wie Sam auf mich zukommt. Aber noch bevor er bei mir ist, fällt der Stuhl komplett um, und ich hänge in der Luft. Langsam neigt sich das Tier nach vorn. Ich lasse aber nicht los, und so fallen wir schließlich zusammen um. Der Grizzly begräbt mich unter sich. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist der Geruch des Felles, das mein Gesicht bedeckt. Dann habe ich einen Filmriss.

Vorsichtig öffne ich meine Augen. Wo bin ich? Nach einem kurzen Rundblick erkenne ich mein Hotelzimmer. Ich liege im Bett, die Vorhänge sind zugezogen. Meine Armbanduhr zeigt 3 Uhr am Nachmittag. Meine Schuhe stehen neben dem Bett, meine Jeans hängt am Stuhl, alles andere habe ich noch an. Vorsichtig fühle ich nach meinem Kopf und überprüfe, ob dieser heute zu gebrauchen ist. Er macht mir keine größeren Probleme. Ein leichtes Kopfweh ist alles, was ich spüre. Ich versuche, mich an den gestrigen Abend zu erinnern. Ausgelöscht sind alle Erinnerungen ab jenem Zeitpunkt, wo ich offensichtlich mit einem ausgestopften Grizzly geredet habe. Ich weiß bis heute nicht, wie es dann weitergegangen ist. Ich kann mich weder an den restlichen Abend erinnern noch wie ich in mein Hotel und schlussendlich in mein Zimmer gekommen bin.

Als ich die Lobby des Hotels betrete, lächelt mir meine deutsche Bekannte hinter dem Tresen entgegen: »Wie geht es deinem Kopf?« Julia hatte gestern bis Mitternacht Dienst und daher noch mitbekommen, wie Sam mich in das Hotel zurückbrachte. Sie hat ihm geholfen, mich in mein Zimmer zu bringen. Angeblich bin ich sogar noch selbst gegangen, es musste mir nur ein wenig unter die Arme gegriffen werden. Julia erzählt mir, dass ich ständig von einem Grizzly gesprochen hätte, während die beiden mich in mein Bett legten. Sam habe ihr dann ein wenig vom Verlauf des Abends erzählt. Natürlich auch von seinem Geheimrezept. Aber auf ihre Frage, was für eine Mischung das denn gewesen wäre, hätte er nicht geantwortet.

Ich weiß bis heute nicht, um was es sich bei diesem Spezialgetränk gehandelt hat. Was vom Abend geblieben ist: leichte und schnell vorübergehende Kopfschmerzen, vor allem aber die Erinnerung an eine verrückte Begegnung mit einem außergewöhnlichen Kerl. So, wie ich es mir für meine Reise vorgenommen hatte: »Inside America« – dazu gehört auch die Begegnung mit besonderen Menschen.

TESTFAHRT MIT MISSGESCHICK

Die Gäste in der Hotellobby blicken verwundert in meine Richtung. Etwas ungeschickt schiebe ich mein Fahrrad an ihnen vorbei zur Eingangstür. Vorn und hinten sind jeweils zwei prall gefüllte Gepäcktaschen angebracht, zusätzlich eine Lenkertasche, und viele weitere Gegenstände sind mit Klettbändern überall am Rahmen befestigt. Ganz hinten ragt bis auf eine Höhe von 2,5 Metern ein biegsamer »Mast« aus Fiberglas mit der Flagge meiner Heimat Österreich. Das Öffnen der Flügeltüren des Hotels gestaltet sich ein wenig schwierig, und so neigt sich das Fahrrad gefährlich zur Seite. Das Vorderrad schlägt ein, und nur mit Mühe und zirkusreifen Verrenkung gelingt es mir, ein Chaos in der Lobby zu verhindern. Zwei der staunenden Beobachter kommen mir nun zu Hilfe. Einer stützt mein Fahrrad, der andere öffnet mir die Tür. Die Situation ist mir etwas peinlich. Hoffentlich fragt jetzt keiner der beiden, wohin ich fahren möchte. Sie würden es wohl nicht für möglich halten, dass jemand, der sein Fahrrad so ungeschickt aus der Lobby eines Hotels schiebt, lebend bis nach Florida kommt. Aber nein, ohne weitere Fragen lächeln meine beiden Helfer freundlich und wünschen mir »Good luck!«

Vor dem Hotel laufe ich Sam direkt vor die Füße. Er hat sein altes Fahrrad dabei. Auch am Gepäckträger dieses Stahlrahmenrades sind Gepäcktaschen angebracht. Wasserdicht können die aber nicht sein, denke ich. Die Taschen sind ausgeblichen, teilweise ausgefranst und haben mehrere Löcher. Überall kleben bunte Sticker mit Wappen verschiedener Länder. Ganz oben auf dem hinteren Gepäckträger liegt ein dicker Schlafsack, eingehüllt in eine durchsichtige Plastikfolie. Sam trägt kein Radtrikot. Seine Hose ist ein weites Etwas. Die Beinabschlüsse sind mit einem Band zusammengebunden, oben hält ein dicker Gürtel das Kleidungsstück zusammen. Mir fallen sofort ein großes Messer, eine Taschenlampe und das Bärenspray ins Auge, die daran hängen. Die Kratzer und Dellen an seinem Radfahrerhelm lassen ahnen, dass dieser schon einige Stürze auffangen musste.

Gegensätzlicher könnte das Zusammentreffen kaum sein: Hier stehe ich mit meinem neuen Fahrrad, der modernen Ausrüstung und von oben bis unten in beste Radklamotten gekleidet. Mir gegenüber steht Sam, der eher den Eindruck eines Obdachlosen vermittelt, mit einem klapprigen Fahrrad, das in meiner Heimat sicher schon lange im Sperrmüll gelandet wäre. Aber Sam erklärt mir, dass ihn sein alter Drahtesel noch nie im Stich gelassen hätte. Auf der gesamten Tour entlang der Panamericana musste er angeblich keine einzige größere Reparatur bewältigen. Nun will er in den Denali National Park im zentralen Alaska; dort befindet sich der Mount McKinley, mit 6.190 Metern der höchste Berg Nordamerikas. Seine Augen strahlen – es ist seine erste größere Radreise seit zehn Jahren. Wir umarmen uns und wünschen uns Glück. Sam steigt auf und fährt Richtung Norden, hinaus in die Wildnis. Und ich fahre zu meinem Fototermin.

Mein Motel liegt nur einen Block von der Hauptstraße entfernt. Diese führt in beiden Richtungen aus Whitehorse hinaus und mündet anschließend jeweils in den Alaska Highway. Richtung Norden geht es dann nach Delta Junction in Alaska, südlich führt die Straße nach Dawson Creek in British Columbia. Dort befindet sich die »Mile Zero«, also der offizielle Anfang des Alaska Highway. Ich möchte zum südlichen Stadtrand von Whitehorse, zu einem ganz besonderen Platz: dem S. S. Klondike National Historic Park mit dem letzten Überlebenden der Dampfschifffahrt in dieser Region. Der Raddampfer STERNWHEELER S. S. KLONDIKE II wurde 1937 erbaut und war bis zur Fertigstellung des Klondike Highway im Jahr 1955 das wichtigste Verkehrsmittel entlang des Yukon River.

Für mich ist dies der optimale Platz für die ersten Fotos. Ich benötige einige Aufnahmen von meinem Fahrrad und dem gesamten Gepäck. Da es heute nur um dieses Fotoshooting geht, habe ich alles nur provisorisch am Fahrrad angebracht. Das sorgfältige Befestigen der Radtaschen und der anderen abnehmbaren Ausrüstung ist recht zeitaufwendig. Zu Beginn eines jeden Reisetages benötige ich dafür mindestens eine halbe Stunde. Jetzt merke ich schon beim Aufsteigen, dass ich vorsichtig sein muss, um nichts zu verlieren.

Bereits nach ein paar Kurbelumdrehungen gerate ich in ein kleines Schlagloch, und die rechte vordere Radtasche löst sich vom Gepäckträger. Ich bin nur sehr langsam unterwegs, daher kann ich gerade noch abbremsen, bevor die Tasche unter das Hinterrad gerät. Verstohlen blicke ich mich um und hoffe, dass niemand das Missgeschick beobachtet hat. Wieder hänge ich die Tasche nur schnell zurück auf den Gepäckträger. Für die kurze Strecke bis zum Raddampfer sollte das genügen. Als ich mich der Hauptkreuzung nähere, sehe ich, dass dort eine größere Gruppe von Menschen steht. Alle blicken auf die umliegenden Gebäude, während eine vor der Gruppe stehende Frau etwas erklärt. Vermutlich handelt es sich um Touristen. Ich kann nichts Interessantes in der Umgebung der Kreuzung entdecken, schaue mich aber trotzdem noch weiter um. Das stellt sich als großer Fehler heraus. Plötzlich höre ich ein lautes Hupen, gefolgt vom Quietschen mehrerer Reifen. Ich erschrecke fürchterlich.

Nun geht es Schlag auf Schlag: Abgelenkt wie ich war, habe ich nicht bemerkt, dass ich mich bereits mitten auf der Kreuzung befinde. Während ein von links kommendes Auto gerade noch vor mir meinen Weg kreuzen konnte, muss der Lenker eines nun von rechts herannahenden Geländewagens voll in die Bremsen steigen. Ich nehme das alles nur aus den Augenwinkeln heraus wahr und bremse mit voller Kraft. Die Räder meines fahrbaren Untersatzes blockieren, ich gerate aus dem Gleichgewicht. Das Vorderrad rutscht seitlich weg, und es gelingt mir nicht mehr, meine Radschuhe aus den Klickpedalen zu lösen. Kurz vor dem Aufprall kann ich mich noch ein wenig nach links drehen und meinen Kopf heben. So falle ich nur auf meine rechte Körperseite und erspare mir vermutlich eine Gesichtsverletzung. Als der Fahrradrahmen auf den Asphalt trifft, gibt es ein kratzendes Geräusch. Alle vier Radtaschen lösen sich vom Gepäckträger und rutschen in verschiedene Richtungen davon. Beide Trinkflaschen rollen auf einen angrenzenden Parkplatz. Mein Helm fällt mir vom Kopf. Wie meine Radtaschen, habe ich auch diesen nur halbherzig verschlossen. Dann ist es plötzlich mucksmäuschenstill.

Ungläubig richte ich mich ein wenig auf. Ich sitze da wie ein begossener Pudel. Die rechte Seite meiner Radhose ist aufgerissen, mein Helm liegt vor mir auf dem Asphalt, daneben die Sportbrille. Im Umkreis von 20 Metern sind die Gepäcktaschen und ein Großteil des Inhaltes verstreut. Keine einzige Tasche ist am Rad verblieben. Wie auch? Sie waren ja nicht richtig befestigt. Den traurigsten Eindruck macht jedoch mein Fahrrad selbst. Es ist nach dem Sturz noch einige Meter weitergerutscht und liegt nun am Straßenrand. Verstört schaue ich mich um. Die gesamte Touristengruppe blickt mit weit aufgerissenen Augen zu mir herüber. Niemand sagt etwas, aber auch niemand kommt mir zu Hilfe. Offensichtlich hat es allen die Sprache verschlagen, und sie sind schlichtweg überfordert mit der Situation. Langsam stehe ich auf. Dabei versuche ich herauszufinden, ob ich verletzt bin. Außer einem leichten Ziehen am rechten Oberschenkel verspüre ich jedoch keinerlei Schmerzen. »Noch einmal Glück gehabt«, denke ich. Als ich den Straßendreck von meiner Bekleidung abzuklopfen beginne, kommen nun doch zwei Frauen auf mich zu. »Are you okay?«, fragt eine der beiden, während sie ihre Hand auf meine Schulter legt. Ich setze mich noch einmal hin, dankbar und froh, unverletzt geblieben zu sein.

Als Nächstes höre ich die typische Sirene eines Polizeifahrzeugs. Wenige Augenblicke später hält unmittelbar vor mir ein großer Geländewagen. Ich sitze noch immer am Boden und mag kaum glauben, dass ich schon wieder zu Beginn einer Reise mit der Polizei zu tun habe. Als ein finster dreinblickender, massig wirkender Officer aussteigt und auf mich zukommt, habe ich ein Déjà-vu. Schon einmal hatte ich am ersten Tag meiner Radreise in einer heiklen Situation mit zwei Polizisten zu tun: im Sommer 2006. Mein erstes großes Radreiseprojekt stand unter dem Motto: Mit dem Fahrrad von New York nach San Francisco. Um überhaupt erst einmal aus New York herauszukommen, musste ich den Hudson River überqueren. Dazu wählte ich die Brooklyn Bridge. Diese verfügt über mehrere Ebenen, die über ein Gewirr von verschiedenen Auffahrten zu erreichen sind. Ich erwischte dabei die denkbar schlechteste Rampe, nämlich jene, die ausschließlich für die Trucks vorgesehen ist. Als ich den Irrtum bemerkte, war es schon zu spät. Plötzlich befand ich mich mitten unter den riesigen Ungetümen, und in kürzester Zeit herrschte um mich herum ein heilloses Chaos. Der Lkw-Verkehr kam völlig zum Stillstand. Und so machte ich meine erste Bekanntschaft mit der New Yorker Polizei. Denn was folgte, war die Komplettsperrung der Brooklyn Bridge, das Zerlegen meines Fahrrades und das Verladen in eines der Polizeifahrzeuge. Zudem erhielt ich eine Belehrung, die sich gewaschen hatte. Sie gipfelte darin, dass man mich einzusperren drohte. Damals hat mich nur mein Internationaler Polizeiausweis gerettet, der mich als »Police Officer from Austria« zu erkennen gab.

»Nicht schon wieder!«, denke ich. Der Officer bleibt vor mir stehen. Seine beiden Arme hat er in die Hüften gestemmt. Er trägt eine schwarze Sonnenbrille mit dunklen Gläsern. Die Touristengruppe ist mittlerweile durch weitere Zuschauer zu einem stattlichen Publikum angewachsen. Noch immer ist es still. Die Blicke der Passanten wandern zwischen mir und dem Officer hin und her. Ich erwarte ein Donnerwetter und atme tief durch. Diese Suppe habe ich mir selbst eingebrockt, nun muss ich sie auch auslöffeln. Da muss ich jetzt durch. Vermutlich wissen auch alle anderen Anwesenden, was die Stunde geschlagen hat. Obwohl ich bereits seit 35 Jahren die Uniform der