Das Tagebuch der McDonell-Frauen - Amelia Blackwood - E-Book

Das Tagebuch der McDonell-Frauen E-Book

Amelia Blackwood

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Beschreibung

Kyleen McDonell hat sich nach ihrer Flucht aus Schottland in Manhattan eine Existenz als Journalistin aufgebaut. Ihre alte Heimat, die für sie nur noch mit Schmerz verbunden ist, hat sie zehn Jahre lang nicht mehr besucht. Als sie jedoch erfährt, dass ihre Großmutter im Sterben liegt und sich nichts sehnlicher wünscht, als ihre Enkelin ein letztes Mal zu sehen, packt Kyleen ihre Koffer und reist in das Land, in dem sie aufgewachsen ist. Auf dem Sterbebett bittet ihre Großmutter sie, das Unmögliche zu tun: Den Tod ihrer eigenen Eltern aufzuklären, der zwanzig Jahre zurückliegt. Kyleen stößt auf eine unglaubliche Familiengeschichte und ein Geheimnis, das ihre Welt ins Wanken bringt. In Iain McGregor, von allen Pferdeflüsterer genannt, findet sie zudem einen treuen Begleiter. Er gilt als Eigenbrötler, der es besser mit Pferden als mit Menschen kann. Bis Kyleen es schafft, seine Schutzmauern niederzureißen, und sie beide sich in einer Spirale aus Liebe, Mord und dunklen Machenschaften wiederfinden.

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Für meine liebe Freundin. Vielen Dank für Deine jahrelange Unterstützung und Deinen Glauben an und in mich. Deine kritische, lobende und aufbauende Stimme wird mich stets begleiten und zu Größerem antreiben. Ich trage Dich allzeit in meinem Herzen.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

SEHNSUCHT

IAIN MCGREGOR

AILIS

KYLEEN

REISE INS UNGEWISSE

KYLEEN

KYLEEN

IAIN

KYLEEN

ISOBEL MCDONELL

KYLEEN

ISOBEL

BEGEGNUNGEN

IAIN

KYLEEN

KYLEEN

IAIN

CRAIG

KYLEEN

ISOBEL

IAIN

KYLEEN

ISOBEL

KYLEEN

EINE NEUE ÄRA

IAIN

KYLEEN

IAIN

KYLEEN

AILIS

AM ABGRUND

KYLEEN

IAIN

KYLEEN

AILIS

KYLEEN

AILIS

KYLEEN

CRAIG

EILIDH

IAIN

KYLEEN

AILIS

IAIN

KYLEEN

AILIS

FREUNDSCHAFTEN – FEINDSCHAFTEN

IAIN

KYLEEN

AILIS

KYLEEN

GRAIG

DIE SCHLINGE ZIEHT SICH ZU

IAIN

KYLEEN

AILIS

KYLEEN

EILIDH

KYLEEN

AILIS

KYLEEN

FINLAY

KYLEEN

AILIS

KYLEEN

IAIN

CRAIG

KYLEEN

FINLAY

IAIN

KYLEEN

AILIS

KYLEEN

CRAIG

KYLEEN

IAIN

KYLEEN

AILIS

KYLEEN

EPILOG

IAIN

KYLEEN

POST-EPILOG

PROLOG

Loch Arkaig, Schottland, Ende 19. Jahrhundert

Sie schaute über das dunkle Wasser. Der Wind peitschte die Oberfläche des Sees zu Wellen auf und biss sie in die tränennassen Wangen. Ihr Leben lag in Scherben zu ihren Füßen und sie wusste, dass sie nie wieder froh sein würde.

Wie hatte die schönste Zeit ihrer Existenz so abrupt enden können? Er war ihre große Liebe und sie hatte geglaubt, dass er dasselbe für sie empfand. Oh, wie hatte sie sich in ihm getäuscht! Nun stand sie allein da. Entehrt und schwanger von einem Mann, der in diesem Moment einer anderen das Jawort gab. Und das alles nur des Geldes und der Macht wegen.

Ihr Vater hatte getobt, als sie ihm ihre Schande gebeichtet hatte. Er war zur Familie ihres Geliebten gegangen und hatte Genugtuung gefordert. Dabei hatte er sie wie eine Verbrecherin hinter sich hergezogen. Sie hätte sich vor Scham am liebsten in einer Erdspalte verkrochen.

Sein Vater hatte nur gelacht und behauptet, sein Sohn habe nichts mit dem Balg zu tun, das unter ihrem Herzen heranwuchs. Schließlich habe er seinen Spross zu Anstand und Ehre erzogen. Wer konnte schon sagen, wen sie sonst noch zwischen ihre Beine gelassen hatte und jetzt ihren Liebhaber mit in ihr Verderben zu stürzen versuchte. Seine Worte hatten sie hart getroffen. Vor allem da ihre große Liebe tatenlos danebengestanden hatte.

Sie wünschte sich nichts mehr, als dass ihre Ehre wiederhergestellt wurde. Sie war so dumm gewesen. Er hatte ihr alles genommen: ihr Herz, ihr Ansehen und ihre Zukunft. Weil sie sich ihm hingegeben und sein Kind empfangen hatte, war sie nicht mehr an einen anderen Mann zu vermitteln. Ihr Vater hatte schon Vorbereitungen getroffen, sie in ein Kloster zu stecken. Himmel, sie lebten doch nicht mehr im Mittelalter!

Inzwischen rannen die Tränen unablässig und liefen ihr über den Hals ins Dekolleté. Sie war erfüllt von grauenhafter Verzweiflung. Wenn sie nur die Zeit zurückdrehen könnte. Sie würde nur eine einzige Entscheidung anders treffen. Sie würde dem Ball fernbleiben, auf dem sie ihm das erste Mal begegnet war.

Sie schloss für einen Moment die Augen und ließ ihr junges Leben Revue passieren. Dabei legte sie die Hände auf ihren gewölbten Bauch. Bisher hatte sie ihn erfolgreich unter ihren Röcken verbergen können. So wie die Dinge jetzt standen, hatte dieses Kind, als Bastard geboren, kaum eine Chance. Wie sie selbst keine Möglichkeit auf ein Leben ohne Schande hatte. Die Ablehnung in seinem Gesicht zu sehen, hatte sich angefühlt, als hätte man ihr ein glühendes Messer ins Herz gestoßen.

Nein, es war genug. Sie hatte keine Kraft, unter solchen Umständen weiterzumachen. Zu wissen, dass ihr Kind chancenlos war und sie selbst in der Gefangenschaft des Klosters dahinvegetieren musste, überstieg alles.

Sie hob die Lider, holte tief Luft und raffte ihre Röcke aus purer Gewohnheit, denn es spielte keine Rolle mehr, was mit ihrer Kleidung geschah. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, bis das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug. Sie spürte weder Kälte noch Angst. Die nasse Wolle ihrer Kleider zog sie unnachgiebig nach unten. Sie hörte auf zu fühlen und zu denken. Stattdessen überkam sie eine Ruhe, wie sie sie noch nie empfunden hatte.

Ben Nevis, Schottland, 2003

Das Wetter war gut und eigentlich hätte der Flug ruhig verlaufen sollen. Dennoch fühlte er sich eigenartig. »Cailin, irgendetwas stimmt nicht.« Angus drehte sich auf dem Pilotensitz wie in Zeitlupe zu seiner Frau um. Sein Verstand war schwammig und benommen und die Kopfschmerzen verursachten ihm Schwindel und Übelkeit.

Seine Frau reagierte nicht und er stellte fest, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. Was war hier los? Er schüttelte den Kopf, um zu seiner Konzentration zurückzufinden. Doch alles half nichts. In immer kürzeren Abständen wurde ihm schwarz vor Augen. Auch als er sich mehrmals mit der flachen Hand auf die Wangen schlug, verspürte er nur kurz Erleichterung.

Er musste es schaffen, die Cessna 172 zu landen, bevor er flugunfähig wurde. In höchster Verzweiflung versuchte er einen Notruf abzusetzen, doch er bemerkte mit seinem schwindenden Verstand, dass er keinen vernünftigen Satz zustande brachte. Seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr und schien mit einem Mal tonnenschwer. Hoffentlich verstand derjenige, der den Hilferuf hörte, etwas von seinem Kauderwelsch.

Die Anzeigen von Höhe, Motorendrehzahl und Geschwindigkeit waren unleserlich und es war für ihn auch nicht möglich zu sagen, in welche Richtung sie flogen. Seine Augen weigerten sich zu fokussieren. Das alles ergab keinen Sinn.

Er bemerkte, dass sein Kopf nach vorne kippte, weil er kurz das Bewusstsein verloren hatte. Instinktiv richtete er sich auf und straffte die Schultern. Als er geradeaus schaute, erstarrte er. Vor ihm ragte die Westflanke des Ben Nevis auf. Doch weil seine Reflexe aus einem ihm unerfindlichen Grund träge und langsam waren, konnte er die drohende Bruchlandung nicht vermeiden. Aber kampflos würde er nicht vom Himmel fallen. Er dachte an seine kleine Tochter zu Hause, griff nach der Hand seiner geliebten Frau, die ohnmächtig neben ihm saß, und drückte sie kurz. Dann versuchte er, das Unvermeidliche abzuwenden.

Es gelang ihm nicht, genug Höhe zu gewinnen, um den Absturz zu verhindern. Als die Felswand zum Greifen nah war, ließ er das Steuer los, nahm erneut die Hand seiner Frau und schloss die Augen. Sein letzter Gedanke galt seinem Mädchen und tiefes Bedauern erfüllte ihn, weil er sie nicht aufwachsen sehen würde.

SEHNSUCHT

Manhattan, Ende September 2021

Kyleen McDonell riss die Augen auf und sah auf den Wecker. Der hatte sie schändlich hintergangen, indem er beschlossen hatte, über Nacht den Geist aufzugeben. »Scheiße!«, rief sie laut. »Wie spät ist es?« Sie führte ständig Selbstgespräche, was wahrscheinlich ein Überbleibsel ihrer einsamen Kindheit war. Sie weigerte sich zu denken, dass das ein Symptom eines beginnenden Dachschadens war.

Hastig sprang sie aus dem Bett und rannte in die Küche, auf der Suche nach einer zuverlässigen Uhr. Der Backofen bestätigte ihre Befürchtung. Sie hatte verschlafen, was bedeutete, dass sie zu spät zur Redaktionssitzung kam.

»Fuck!« Wenn sie die im Raum stehende Beförderung und die damit verbundene Lohnerhöhung an sich reißen wollte, durften Fehltritte dieser Art nicht passieren. Sie hatte nicht einmal Zeit für eine Dusche und den nötigen Kaffee. Heute mussten eine Katzenwäsche und die schwarze Pampe in der Redaktion reichen. Ein Glück, dass sie sich auch sonst nie mit tonnenweise Make-up herumschlug.

Keine fünf Minuten später schwang sie sich berucksackt auf ihr Rennrad und kämpfte sich durch den allgegenwärtigen Verkehr, der die Straßen Manhattans verstopfte wie eine chronische Arteriosklerose. Sie fluchte leise vor sich hin, wohl wissend, dass das nichts brachte und ihr nur die dringend benötigte Luft zum Radeln nahm.

Es waren verrückte Zeiten. Kaum hatte die Welt gelernt, mit den konstanten Terrorbedrohungen umzugehen, kam ein neuer Feind. Einer, den man weder sah, roch, spürte noch hörte. Ein Virus hielt seit bald zwei Jahren die ganze Gesellschaft in Schach: SARS-CoV-2, Corona. Nichts und niemand weckte eine solche weltumfassende, kollektive Angst. Eben diese Furcht war der Grund, weshalb Kyleen schon seit Monaten Überstunden schob. In Zeiten wie diesen kamen sämtliche menschlichen Abgründe ans Licht: Hamsterkäufe, Demonstrationen, Randale, Aggression und Gewalt. Sie hatten gerade eine Reihe von Lockdowns und Reiseverboten hinter sich. Doch endlich war Licht am Ende des Tunnels in Sicht. Nicht zuletzt dank der Massenimpfungen.

Von rechts tauchte plötzlich ein Yellow Cab auf und hätte sie um ein Haar umgefahren. »Dumme Kuh!«, brüllte der Taxifahrer zu Recht.

Kyleen war so in Gedanken vertieft gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie sie über ein Stoppschild gefahren war. »Sorry!«, rief sie zurück und hob entschuldigend die Hand.

Vor Schreck polterte ihr Herz in seinem Käfig aus Rippen und ihre Knie wurden weich wie Gummi. »Du nützt niemandem etwas, wenn du als Kühlerfigur endest, K«, schalt sie sich laut und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr.

Bei der Big Apple City Paper oder der BACP, wie die Zeitung auch genannt wurde, sprang sie vom Sattel, hob das Fahrrad hoch und joggte durch die Eingangshalle zum Aufzug. Sie nahm ihr Bike immer mit ins Büro, denn in dieser Stadt bekam alles Füße, was nicht niet- und nagelfest war.

Die Räumlichkeiten der Redaktion waren schmucklos wie der Rest des Gebäudes. So verwittert die Außenfassade war, so abgelebt präsentierte sich das Innenleben. Fleckige Wände, ausgetretener Teppichboden und an allem hing ein leicht modriger Geruch.

Kyleen war vor knapp zwölf Jahren in den Big Apple gekommen, um Journalismus zu studieren und hatte nach dem Uniabschluss gleich die Stelle bei der BACP angetreten. Hin und wieder vermisste sie die schottischen Highlands, ihre Heimat. Doch dort gab es nur ihre Granny, wechselhaftes Wetter und massenhaft Schafe.

Ihre Eltern waren gestorben, als Kyleen elf Jahre alt gewesen war. Sie wurde von ihrem Onkel und dessen Frau aufgenommen und großgezogen. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, eine Pflicht für das Ehepaar gewesen zu sein. Sie hatte von ihnen weder Wärme noch Liebe erfahren und zog es vor, nicht an die beiden zu denken. Denn die Dinge, die sie in deren Haus erlebt hatte, wollte sie ein für alle Mal vergessen. Vor allem ihr Onkel war der Stoff, aus dem ihre Albträume waren.

Als Kind hätte sie es bevorzugt, bei ihrer Großmutter zu leben. Die alte Dame war aber damals schon gesundheitlich angeschlagen gewesen und das Familiengeschäft hatte die Frau zusätzlich über alle Maßen beansprucht. Deshalb hatte Kyleen bei erster Gelegenheit die Flucht ergriffen und war in den Flieger Richtung New York gestiegen.

An ihrem Schreibtisch warf sie die Jacke über den Stuhl und schnappte sich die Unterlagen für die Sitzung. Sie rannte den Gang hinunter und betrat, so still wie möglich mit gesenktem Kopf, das Konferenzzimmer. In diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als die Zeit zurückdrehen zu können. Dann hätte sie vorsorglich die Batterie des Weckers gewechselt und sich damit dieser Situation entzogen.

Verschwitzt und außer Atem glitt sie auf den letzten freien Platz. Weshalb tat sie sich das überhaupt an? Sie hätte sich auch krankmelden können. Doch sie war bisher selten eine Drückebergerin gewesen. Sie stand zu ihren Fehlern.

»Nun seht mal, wer sich bequemt hat, zu uns zu stoßen.« Der hämische Tonfall des Chefredakteurs machte sie wütend. Schließlich war sie gestern bis spätabends in seinem Büro festgesessen und hatte diverse Artikel mit ihm ausgewertet. Danach hatte sie noch das Layout der nächsten Ausgabe kontrollieren müssen. Sie fand es deshalb unfair, dass er sie jetzt vor allen auf diese Art an den Pranger stellte.

Auch wenn sie ihm am liebsten eine bissige Entgegnung an den Kopf geworfen hätte, stammelte sie ein lahmes »Sorry« und senkte den Blick. Das unangenehme Pochen in den Wangen ärgerte sie zusätzlich. Es machte den Anschein, dass es Zeit für eine Veränderung war. Die latente innere Unruhe, die sie seit geraumer Zeit erfasst hatte, nahm zusätzlich Fahrt auf. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel. Der allgegenwärtige Tumult und Muff der Stadt schienen ihr Herz und ihren Verstand zuzukleistern.

»Miss McDonell, Sie werden eine Story für die letzte Seite verfassen. Sie kennen die Vorgaben.«

Kyleen tauchte aus ihrer Trance auf. »Wie bitte?« Die letzte Seite? Das konnte nicht wahr sein! Sie war keine Praktikantin mehr, Herrgott nochmal!

»Sie haben mich schon richtig verstanden, Miss McDonell. Das hat man davon, wenn man unzuverlässig ist.«

Der Kugelschreiber in ihrer Hand brach in der Mitte entzwei und es kostete sie größte Mühe, ihrem Chef nicht die beiden Hälften in die Augen zu rammen. Woher nahm er sich das Recht, sie so zu behandeln? Nachdem sie all die Extrastunden unbezahlt auf sich genommen hatte. »Wie Sie meinen«, antwortete sie schnippisch. Sie erhob sich, packte ihre Sachen zusammen und verließ hocherhobenen Hauptes das Sitzungszimmer.

Was war eben passiert? Ihr Boss hatte sie vor versammelter Mannschaft degradiert, weil sie das erste Mal in ihrer Karriere zu spät gekommen war. Und das, obwohl sie inzwischen mehr als hundert Überstunden angehäuft hatte.

An ihrem Schreibtisch angekommen, blieb sie erst einmal stehen. Ihr Büro – die Bezeichnung Arbeitsecke traf es eher – bildete eine der zwanzig Schreibkojen des Großraumbüros, in welchem sie wirkte. Alle getrennt durch Stellwände, die einen nur verbargen, wenn man saß. Ihr Pult war kahl und aufgeräumt. Keine Fotos von Freunden, Familie oder Partnern waren aufgestellt. Der Anblick drückte Kyleens Herz zusammen. Etwas musste sich ändern, denn mit einem Schlag fühlte sie sich mehr entwurzelt als in dem Moment, wo man ihr mitgeteilt hatte, dass ihre Eltern gestorben waren. Sie sollte sich ein paar Tage freinehmen, um sich über einiges im Klaren zu werden. Denn eines war sicher, sie befand sich an einem Scheideweg und musste sich entscheiden, wie es mit ihr weitergehen sollte.

»Hey, Kylie!«, rief Dylan Carter, ihr Mitarbeiter und bester Kumpel. Er war ein Schürzenjäger, der regelmäßig mit seinen Errungenschaften prahlte. Doch Kyleen mochte ihn. Er war eine Augenweide, humorvoll und sich für nichts zu schade. Die braunen Haare im Undercut geschnitten, verliehen seinem Gesicht markante Züge. Seine braungrünen Augen blitzten sie schelmisch an. Wenn er nicht jedem Rock hinterherrennen würde, könnte sie sich vorstellen, etwas mit ihm anzufangen.

Sie lachte, das erste Mal seit gefühlten hundert Jahren, und drehte sich um. »Wie oft, Dylie, habe ich dir schon gesagt, dass ich KylEEN heiße?« Dylan hatte ebenfalls an der Besprechung teilgenommen und war Zeuge ihres tiefen Falls geworden. Das wiederum ließ ihr das Blut erneut ins Gesicht schießen.

»Sorry, ich leide anscheinend an juveniler Demenz«, scherzte er und legte ihr freundschaftlich den Arm um die Schultern. »Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam an der Titelstory arbeiten und danach helfe ich dir mit der schändlichen letzten Seite?«

Dylan war ein Schatz und deshalb konnte sie seine Hilfe nicht annehmen. »Ich habe einen besseren Vorschlag«, begann sie, »wie wäre es, wenn du deinen Job machst und ich meinen und wir treffen uns danach auf einen Drink im O’Keefe?«

Das O’Keefe war ein irisches Pub um die Ecke, in welchem sich oft die gesamte Belegschaft nach Büroschluss traf. Dort wurden auch Kontakte zu Polizisten geknüpft, was wiederum wertvoll für jeden Journalisten war. Hatte man einen Cop als Ass im Ärmel, bekam man wichtige Informationen exklusiv und als Erster.

Dylan lachte jetzt seinerseits. »Du hast ein Date, Babe.« Er schlug ein und stolzierte gespielt machohaft davon. Kyleen sah ihm kopfschüttelnd nach und setzte sich an ihren Schreibtisch.

Letzte Seite? Was, zum Teufel, sollte sie dafür produzieren? Ihre Gedanken waren unstet und drifteten in alle Richtungen ab, nur um immer wieder bei ihrer Großmutter zu landen. Wie ging es der Matriarchin der Familie?

Kyleen fühlte sich auf einmal schuldig. Sie hatte die alte Lady schon lange nicht mehr gesprochen. Sie musste sie unbedingt anrufen. Doch der hohe Arbeitsdruck und der Zeitunterschied machten es schwierig. Es war ihr klar, dass das alles nur Ausreden waren. Und um ehrlich zu sein, wollte sie nicht an ihr erfolgreich unterdrücktes Heimweh erinnert werden, das ihr stetig die Seele zerfraß.

Weshalb sonst hörte sie sich immer wieder den Song Caledonia an und brach dabei regelmäßig in Tränen aus? Das schottische Blut in ihren Adern sehnte sich nach den kargen Highlands, den grünen Weiden, den Glens und Lochs, dem Heidekraut, den Ginsterbüschen und Disteln.

Sie vermisste den unverkennbaren Akzent und die kehligen gälischen Worte. Ihr fehlten der trockene Humor der Schotten, die Gastfreundlichkeit, der allgegenwärtige Nebel und Nieselregen und der kristallklare blaue Himmel, wenn er mal nicht wolkenverhangen war. Wie war es möglich, dass ihr all das fehlte, wenn sie es doch so fluchtartig verlassen hatte? Ja, sie musste etwas ändern in ihrem Leben, denn sie kam sich plötzlich vor wie eine Heuchlerin.

Am Ende hatte sie die verhasste letzte Seite erstellt und an den Boss geschickt. Just in dem Moment, in dem sie ihren PC abgestellt und die Jacke angezogen hatte, kam ihr Chef angeschlendert. Kyleens Magen zog sich bei seinem Anblick schmerzhaft zusammen. Der schlecht sitzende Anzug, das Hemd, das sich über seinen feisten Bauch spannte und die zerknitterte Krawatte rundeten, zusammen mit dem ungewaschenen Haar, das Bild eines Tyrannen ab.

»Miss McDonell, wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich Sie gerne bitten, die Beiträge für die morgige Ausgabe zu kontrollieren.«

Ihr Unterkiefer verselbständigte sich und klappte auf. Tickte der Kerl im richtigen Takt? Nach allem, was er heute vom Stapel gelassen hatte, sollte sie ihm aufs Neue außerhalb der normalen Arbeitszeit zur Hand gehen? Das konnte er vergessen.

Sie schulterte ihren Rucksack, griff ihr Fahrrad und sah ihrem Vorgesetzten in die Augen. »Tut mir leid, Mr. Sutherland, aber ich habe heute bereits etwas anderes vor. Das lässt sich nicht verschieben.« Dann stolzierte sie davon. Wohl wissend, dass sie vielleicht morgen schon keinen Job mehr hatte. Doch das war ihr egal. Womöglich war das die Chance, oder besser gesagt, der Tritt in den Hintern, den sie brauchte.

Das O’Keefe war wie immer zum Bersten voll und es roch dementsprechend nach Rauch, Bier und Mensch. Im Hintergrund lief Irish Folk Music. An den Wänden hingen Fernsehgeräte, auf denen irgendein europäisches Fußballturnier übertragen wurde.

Kyleen bahnte sich ihren Weg zum hinteren Teil der klebrigen Bar. Dylan hatte seinen Stammplatz dort. Der Barhocker, auf dem er immer saß, musste bereits die Form seines Hinterns haben. Bei diesem Gedanken konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Als er sie entdeckte, winkte er ihr zu und bestellte sofort ihren Lieblingsdrink: Laphroaig ohne Eis, mit einem Schuss Wasser. Wenn Dylan ein bisschen weniger er selbst wäre, würde sie sich in ihn verlieben. Doch das war die Krux am Ganzen. Dann wäre er nicht mehr der Dylan, den sie ins Herz geschlossen hatte.

Sie ließ sich neben ihm auf dem Barhocker nieder. Kaum hatte sie ihren Hintern geparkt, stand schon das Glas mit dem bernsteinfarbigen Segen darin vor ihr.

»Du bist ein Geschenk des Himmels, Dylie«, schnurrte sie und hob das Trinkgefäß an ihre Lippen. Das volle, warme Aroma nach Gerste und Torf ließ sie aufatmen und wärmte ihr sowohl den Magen als auch die Seele.

»Das hat schon so manche Lady von mir behauptet«, frotzelte er, »nur dass diese Damen dabei bei weitem weniger anhatten.« Sie spuckte um ein Haar den Whisky auf den Tresen vor Lachen. »Ich ändere sofort meine Meinung. Du bist wohl eher des Teufels Abgesandter!«

Kyleen ließ sich von der unbekannten, dennoch so vertrauten Musik treiben und schloss einen Moment verzückt die Augen. So sehr sie es sich einzureden versuchte, sie fühlte sich in Manhattan nicht mehr zu Hause. Möglich, dass sie es nie getan hatte. Der Sog nach Osten wurde im Stundentakt stärker und raubte ihr beinahe den Atem. Was war nur los mit ihr? Wieso gerade jetzt?

»Wo bist du gerade, Babe?« Dylan hatte ihre Gemütslage wie üblich erspürt. Sie rieb sich über das Gesicht, um die Melancholie wegzuwischen, denn er hatte keinen abwesenden Zombie verdient.

»Ich … ach … ich weiß nicht recht. Es ist alles verstörend zurzeit.«

Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie brüderlich an seine Brust. »Was ist los?«

Sie genoss die plötzliche Nähe und vergrub die Nase in seinem Hemd. Der Aromacocktail aus Mann, Waschmittel, Aftershave und Büro drang an ihr Bewusstsein. Er beruhigte und erdete sie. »Ich glaube, ich habe Heimweh«, begann sie und hob den Kopf, um ihn anzusehen. Er lächelte sie sanft an. »Ist das kindisch?«, fragte sie, weil sie nicht anders konnte.

Dylan fuhr ihr zärtlich mit der Hand über den Oberarm. »Nein, natürlich nicht. Wann warst du das letzte Mal bei deiner Familie?«

Familie? Die vermisste sie nicht. Mit Ausnahme ihrer Granny. Aber sie korrigierte Dylan nicht, weil es keine Rolle spielte. »Seit ich hierhergekommen bin«, antwortete sie stattdessen ausweichend.

Er hob überrascht eine Augenbraue. »Moment«, begann er analytisch, »du meinst, um hier auf die Uni zu gehen?« Sie nickte stumm. »Aber Süße, das sind mehr als zwölf Jahre.« Wieder ein Nicken ihrerseits. »Und du wunderst dich, dass du Heimweh hast?«

Kyleen nahm einen tiefen Zug vom Whisky und verschluckte sich leicht. Nachdem sich der Husten gelegt hatte, sah sie ihren Kumpel an. »Wahrscheinlich hast du recht. Es ist an der Zeit, Urlaub zu nehmen und über den großen Teich zu fliegen.« Und sie hatte den Verdacht, dass sie morgen keinen Job mehr hatte. Das erwähnte sie jedoch nicht. Dylan sollte sich nicht um sie sorgen. Sie glaubte nicht an Schicksal oder eine höhere Macht, dennoch spürte sie jetzt deutlich, wie sich etwas Grundlegendes veränderte, und das ängstigte sie ein wenig.

Dylan hatte keine Ahnung, warum sie ihre Heimat wirklich verlassen hatte. Das Studium war nur ein Vorwand. Sie hätte auch in Edinburgh oder Glasgow ihren Beruf lernen können.

IAIN MCGREGOR

Seine Hand glitt sanft über den Rücken des schwarzen Friesenhengstes bis zu seiner Kruppe. Dort verharrte er einen Moment, um dem Pferd zu zeigen, dass nichts Beängstigendes geschah. Er kannte den Hengst noch nicht so gut wie die anderen vierbeinigen Bewohner des Gestüts. Midnight war erst vor ein paar Tagen für die Zucht zu ihnen gestoßen und dementsprechend noch etwas scheu.

Iain McGregor hatte in der Gegend den Ruf eines Pferdeflüsterers. Er selbst empfand das nicht so. Er mochte die Tiere einfach mehr als Menschen. Pferde waren für ihn leichter zu verstehen, im Gegensatz zu seinen eigenen Artgenossen.

Er hatte aufgehört, Nachrichten zu schauen beziehungsweise Zeitung zu lesen. Die Medien waren vollgepackt mit Sensationsjournalismus oder Fake News. Sein Leben war der Stall und seine vierbeinigen Bewohner und das war alles, was für ihn zählte und ihn erfüllte.

Iain nahm den Striegel von der Ablage und begann in langen, ruhigen Strichen das Fell des Hengstes zu bürsten. Diese Tätigkeit war für ihn besser als jede Meditation. Nebenbei war es wichtig, um eine Vertrauensbasis bei einem Neuankömmling zu schaffen.

Er summte leise vor sich hin und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Er war hier groß geworden und arbeitete schon viele Jahre für das Kincaid-Gestüt. Wie sein Vater vor ihm hier gearbeitet und gelebt hatte. Die Familien Kincaid und McGregor waren seit Generationen auf diese Art verbunden.

Iain war mit diesen edlen Geschöpfen aufgewachsen. Er hatte nie an seiner Berufung gezweifelt. Doch er misstraute seinem Arbeitgeber. Finlay Kincaid junior hatte etwas zu verbergen. Er konnte zwar keinen Finger darauf legen, aber irgendwas stank zum Himmel.

Die Geschichte des Gestüts reichte weit zurück. Es wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von Matthew Kincaid gegründet und von Generation zu Generation weitergeführt. Der jetzige Besitzer war ein Charakterschwein und Iain fragte sich zum wiederholten Mal, was er hier eigentlich verloren hatte. Sein Chef hatte keine Ahnung von Pferden und deren Zucht. Er war brutal zu den Tieren und nur am Geld interessiert, das sie lieferten. Er verbrachte seine Zeit lieber im Pub oder beim Glücksspiel.

Iain hatte ihn schon mehr als einmal betrunken am Boden liegend in den Ställen gefunden, als er früh morgens seine Arbeit begonnen hatte. Der Bastard konnte sich glücklich schätzen, dass ihn bis jetzt keines der Pferde totgetrampelt hatte.

Midnight schnaubte und holte Iain aus der Welt der Gedanken. »Was ist, mein Schöner? Habe ich etwas getan, was dir nicht gefällt?« Er legte den Striegel beiseite und nahm stattdessen den Kamm, um die volle, lange Mähne des Tieres zu frisieren. Das lackschwarze Haar glänzte im Licht der Sonne, die nur durch einen dünnen Wolkenschleier verhangen war.

Friesen waren mit Abstand die herrlichsten Pferde der Welt. Wunderschön und von gutem Charakter. Iain kraulte die weichen Nüstern Midnights und dessen heißer Atem strich über seine Haut und kitzelte ihn am Unterarm.

Plötzlich schlug eine Tür mit lautem Knall zu und Midnight tänzelte nervös auf der Stelle. Iain drehte sich um, um zu sehen, wer der Vollidiot war, der nicht wusste, wie man sich in Gegenwart von Pferden verhielt. Er entdeckte Kincaid, der mit wütender Miene zu seinem Auto stapfte. Gleich darauf fuhr dieser mit durchdrehenden Reifen vom Hof, was die Tiere zusätzlich beunruhigte.

Dafür, dass sein Boss das Pferdebusiness im Blut hatte, führte er sich auf wie ein unwissender Trampel. Wenn er die nötigen Finanzen hätte, hätte er Kincaid längst ein Angebot unterbreitet, das dieser nicht ablehnen würde können.

Er träumte seit Jahren von einem eigenen Gestüt: Zucht und Reitschule. Er würde nicht selbst unterrichten, denn, wie gesagt, er ertrug keine Menschen. Eine angeschlossene Reitschule brachte aber Mehreinnahmen für den gesamten Betrieb. In Iains Fall waren Träume jedoch tatsächlich nur Schäume.

»Alles gut, mein Junge«, sprach er beruhigend auf das Pferd ein, »Arschlöcher werden nie aussterben, wir lernen aber, mit ihnen zu leben. Nicht wahr?« Der Hengst nickte mit seinem großen Kopf, als hätte er Iains Worte verstanden.

AILIS

Sie legte den Füllfederhalter beiseite und rieb sich über das Gesicht. Ihre Augen brannten und ihr Rücken schmerzte. Doch das war nichts im Vergleich zu dem tosenden Sturm, der in ihrem Inneren wütete. Der Brief, den sie soeben verfasst hatte, würde seine Wirkung nicht verfehlen. Genauso wie die Tatsache, dass ihre Pläne für die Zukunft des Familiengeschäfts das Leben einer jungen Frau komplett verändern würden.

Sie faltete den Bogen Papier zweimal quer und schob ihn in einen passenden Umschlag. Wann das Kuvert wieder geöffnet wurde, stand in den Sternen. Allzu lange würde es jedoch nicht mehr dauern. Das fühlte sie tief in ihren Knochen.

Seufzend lehnte sie sich im gut gepolsterten Bürosessel zurück und betrachtete die Reihe der Fotos, die auf dem Schreibtisch standen. Ihre Familie. Die meisten von ihnen hatte sie bereits verloren. Ein Umstand, der ihr auch jetzt noch das Herz in Stücke riss.

Ihr Ehemann fehlte ihr am meisten. Wie sehr hatte sie ihn geliebt. Sie hatten viele wunderbare Jahre miteinander verbracht und dafür war sie unendlich dankbar.

Ihr Blick wanderte zum Foto ihres Sohnes. Neben ihm stand seine Ehefrau und deren kleine Tochter abgelichtet. Er und seine eigene kleine Familie waren Ailis’ ganzer Stolz gewesen. Immer wenn sie an ihn dachte, nahm ihr die Trauer um den Tod dieser jungen Menschen die Luft zum Atmen. Keine Mutter und kein Vater sollte das eigene Kind überleben.

Das Klopfen an der Tür ließ sie hochfahren. »Herein.«

Einer der beiden Flügel öffnete sich und Martin Smith trat ein. Der Butler kam zu ihr und verneigte sich knapp. »Mrs. McDonell, verzeihen Sie bitte, aber Miss Donovan hat mich gebeten, Sie an die Einnahme Ihrer Medikamente zu erinnern.«

Die gute Mary dachte selbst an ihrem freien Tag an alles. »Ist gut, Martin. Können Sie mich hoch in mein Zimmer bringen? Die Pillen sind dort und ich möchte mich bei dieser Gelegenheit ein wenig hinlegen.«

Der Butler nickte und kam um den Tisch herum, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Der Schmerz, der durch ihren tumorzerfressenen Körper fuhr, war scharf und führte ihr die eigene Endlichkeit wieder einmal deutlich vor Augen.

Smith setzte sie sanft in den Rollstuhl und vergewisserte sich, dass sie es bequem hatte. Bevor er sie aus dem Büro fuhr, zeigte sie auf den Brief, den sie eben geschrieben hatte. »Bitte geben Sie diesen Umschlag meinem Anwalt. Sagen Sie ihm, er gehört zu den testamentarischen Unterlagen.«

»Aber natürlich, Mylady.«

Ailis beobachtete ihn dabei, wie er das Kuvert nahm und einsteckte. Danach brachte er sie schweigend hoch in ihr Schlafzimmer.

Nachdem sie ihre Medikamente genommen und sich hingelegt hatte, schloss sie die Augen. Ihre Gedanken wanderten zu dem kleinen, rothaarigen Mädchen, das vor vielen Jahren durch die Gänge dieses alten Gemäuers gerannt war und dabei wie ein Engel gelacht hatte.

KYLEEN

Drei Tage nach dem Eklat während der Redaktionssitzung saß sie immer noch an ihrem Schreibtisch und machte wie gewohnt ihre Arbeit. Die befürchtete Kündigung war ausgeblieben.

Sie war gerade damit beschäftigt, Korrektur zu lesen, als Dylan breit grinsend angeschlendert kam. Ihr schwante Böses. Der Typ hatte etwas ausgeheckt.

»Hallo, Hübsche«, begann er in singendem Tonfall, was ihre Vorahnung bestätigte.

»Was kann ich für dich tun?« Sie lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine braungrünen Augen schimmerten verschwörerisch.

»Du kannst mir helfen, indem du kurz Ja sagst.« Er wackelte dabei herausfordernd mit den Augenbrauen.

»Aha und wozu sollte ich Ja sagen?« Sie liebte diese Spielchen mit ihrem Kollegen.

Er lehnte sich lässig gegen ihr Pult und funkelte sie schelmisch an. »Zu meinem Heiratsantrag, natürlich. Wozu sonst?«

Ihr klappte einen Moment der Mund auf, doch dann fand sie ihre Schlagfertigkeit schnell wieder. »Ja, klar, weil du die beste Partie bist. Also im Ernst jetzt.«

Er griff sich dramatisch an die Brust. »Ich habe auch Gefühle, Frau!« Sie sah ihn herausfordernd an und er wurde wieder ernst. »Nun«, er holte theatralisch Luft, »heute Abend ist meine Schwester mit ihrem Macker in der Stadt und ich wollte dich bitten, mich zum Essen mit den beiden zu begleiten.«

Sie konnte sich ein Prusten nicht verkneifen. »Dylan, du willst mich auf ein Doppeldate mitnehmen? Und überhaupt, wie redest du eigentlich von deinem Schwager?«

Der Angesprochene lief rot an und sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. Sie lachte laut und erntete dafür verwunderte Blicke der anderen Mitarbeiter.

»Nun ja, Doppeldate würde ich es nicht nennen. Es ist eher eine Rückendeckung. Meine Schwester will mich ständig mit irgendwelchen Frauen verkuppeln. Sie hat das Gefühl, ich müsste dringend unter die Haube.«

Nachdem sich der Lachanfall gelegt hatte und sie den Hundedackelblick Dylans sah, fiel es ihr erneut schwer, ernst zu bleiben. »Sie ist wahrscheinlich nur darum bemüht, einen ehrbaren Mann aus dir zu machen.« Sie räusperte sich, weil sich schon wieder ein Lachen aus ihrer Kehle stehlen wollte. Doch sie hatte Mitleid mit ihrem Kumpel. »Also gut. Aber versprich dir nichts davon. Ich habe jetzt schon Angst um meinen Ruf, wenn wir bei einem gemeinsamen Dinner gesehen werden.« Sie zwinkerte ihm zu, um ihren Worten die Härte zu nehmen.

»Süße, ich werde auf ewig in deiner Schuld stehen.« Er klatschte einmal in die Hände und wirkte dabei so erleichtert, dass Kyleen sich ernsthaft wunderte. Dylan war sonst nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen.

»Ich werde dich bei Gelegenheit daran erinnern«, hänselte sie ihn noch einmal zum Schluss.

Als sie Feierabend hatte, schwang sie sich auf ihr Fahrrad. Regen tauchte alles in eine düstere Einöde und bald war sie nass bis auf die Knochen. Doch das spielte keine Rolle. Sie war Regenwetter gewohnt. Das Gefühl der Tropfen im Gesicht ließ ihr Heimweh erneut aufflammen, ihr Herz zog sich zusammen und ihre Kehle wurde eng. Es war, als würden die Regentropfen ihren Schutzschild Schicht für Schicht herunterwaschen und sie am Ende nackt und schutzlos den Elementen ausliefern.

Es war an der Zeit, dass sie einen Entschluss fasste, denn so konnte es nicht mehr weitergehen. Tief in ihrer Seele wusste sie, dass es nur einen Weg gab. Sie musste sich freinehmen, nach Schottland fliegen und sehen, wie sie mit ihren Vorbehalten der Familie gegenüber umging.

Kyleen nahm sich vor, am späteren Abend ihre Granny anzurufen. Sobald sie dieses schreckliche Pseudo-Doppeldate hinter sich hatte. Es war viel zu lange her, dass sie ihre Oma gesprochen hatte. Ehe sie sichs versah, stieg sie die Treppe zu ihrer Altbauwohnung hoch. Sie war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie kaum etwas vom Heimweg mitbekommen hatte.

Dylan holte sie eine Stunde später ab, geputzt und gestriegelt wie ein echter Gentleman. Er trug sogar Anzug und Krawatte und Kyleen fühlte sich in ihrer schwarzen Hose und der schlichten blauen Bluse underdressed. Hätte sie besser doch das kleine Schwarze anziehen sollen? Sie hatte sich eigentlich dagegen entschieden, weil sie Dylans stille Hoffnung nicht noch mehr hatte schüren wollen.

»Bist du soweit?«, fragte er und hielt ihr dabei galant den Ellbogen hin. Er machte den Eindruck, als verspräche er sich trotz allem mehr von diesem Abend, als gut für ihn war. So wie sie befürchtet hatte. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, obwohl sie wusste, dass das nicht nötig war. Sie hatte ihm klargemacht, dass das für sie kein echtes Date war. Oder hatte sie sich zu wenig deutlich ausgedrückt? Sie stiegen schweigend in ein Yellow Cab. »Wohin entführst du mich eigentlich?«, fragte sie, weil sich die Stille im Wagen mit einem Mal unangenehm anfühlte.

Dylan, der sie nach wie vor auf seltsame Weise begutachtete, fing an zu lächeln. »Ins Steakhouse unten im Meatpacking District, von dem alle momentan sprechen.«

Kyleen sah zum Fenster hinaus und betrachtete das geschäftige Treiben. Wochenlang waren die Straßen wie leergefegt gewesen. Sie fragte sich, wie lange sie in dieser neuen Freiheit leben durften. Die Reisebeschränkungen, Ausgangssperren und das Social Distancing hatten deutlich sichtbare Spuren bei allen hinterlassen. Dennoch erschien ihr diese Freiheit fragil. Die Situation konnte sehr schnell kippen. Sie befürchtete, dass das eher die Ruhe vor dem Sturm war.

»Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass du umwerfend aussiehst, Kylie?«

Sie zuckte bei Dylans Worten zusammen. Es war allem Anschein nach ein Fehler gewesen, sich auf diesen Abend einzulassen. Doch sie schüttelte das unangenehme Gefühl ab und schenkte ihm ein Lächeln. Er war ein netter Kerl und hatte es verdient, dass man ihn mit Anstand behandelte.

»Danke. Du aber auch. Du solltest öfter einen Anzug tragen. Dann bekommst du vielleicht auch mal eine anständige Frau.«

Er verdrehte die Augen. »Jetzt fängst du auch schon an. Du klingst wie meine Sis’. Eigentlich habe ich dich mitgenommen, um genau dieses Thema zu vermeiden.«

Sie betraten schweigend das Restaurant. Kyleen war sich Dylans Hand in ihrem Kreuz nur zu deutlich bewusst. Einerseits tat ihr die Aufmerksamkeit eines Mannes gut. Andererseits war er ihr bester Freund, weshalb sich die Situation irgendwie seltsam anfühlte.

Er lenkte sie zu einem Tisch, an dem bereits ein Paar saß. Seine Schwester und deren Mann. Die Geschwister begrüßten sich herzlich, dann wurde sie vorgestellt. »Das ist Kyleen. K, das sind Judith und Marc.«

Dylans Schwester begann entzückt zu strahlen und Kyleen sah sich veranlasst, die Lage klarzustellen. »Wir sind Arbeitskollegen und nichts weiter als gute Freunde.«

Das Lächeln wurde etwas matter, aber nicht unfreundlich. Dylan hingegen rief frustriert aus: »Oh Mann, Kylie! So war das nicht abgemacht.«

Daraufhin prustete Marc los und alle verfielen in gelöstes Gelächter. »Er hat dich als Rückendeckung engagiert, nicht wahr?«, spöttelte der Schwager augenzwinkernd.

Ein paar Stunden später ließ sie sich von Dylan aus dem Taxi helfen. Seine Schwester und ihr Partner waren nette, humorvolle Menschen und sie hatte sich in ihrer Gegenwart wohlgefühlt. Aufgehoben und akzeptiert.

Er begleitete sie, ganz Gentleman, bis zu ihrer Wohnungstür. Er war wirklich galant, wenn er sich mal nicht wie der größte Schürzenjäger aufführte.

»Vielen Dank für den schönen Abend«, sagte sie aufrichtig. Sie hatte die Neckereien unter den Geschwistern genossen. Es war seit Wochen das erste Mal, dass sie von ihrer Melancholie abgelenkt gewesen war.

Dylan trat einen Schritt näher und sah sie unergründlich an. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie er die Hand hob und eine ihrer Haarsträhnen in seine Finger nahm. »Du hast die unglaublichste Haarfarbe, die ich je gesehen habe. Je nach Licht schimmert es golden, kastanienbraun oder feurig rot.«

Kyleen hörte eine leise Sehnsucht hinter seinen Worten. Ihr Herz fing an, unerklärlich über seine eigenen Schritte zu stolpern. Es war zu lange her, dass ihr ein Mann so nahegekommen war. Ehe sie sichs versah, streiften seine Lippen über ihre. Aus purem Reflex erwiderte sie seine Bemühungen, bis ihr bewusst wurde, was sie tat. Es kostete sie eine große Portion Überwindung, ihm und sich selbst Einhalt zu gebieten. Dylans Zuwendung tat gut, doch ihr war klar, dass es nicht das Richtige war. Dass er nicht der Richtige war.

Sie löste sich vorsichtig von ihm, indem sie ihre Hände auf seine Brust legte und ihn sanft von sich schob. »Nicht«, hauchte sie atemlos und hoffte, dass er durch ihre Abfuhr nicht verletzt wurde.

Er sah sie an und senkte dann seine Stirn gegen ihre. »Du hast recht, K. Entschuldige bitte.«

Der Kerl machte es ihr echt nicht leicht und eben dieser Umstand stimmte sie traurig. »Ich mag dich und du bist mir ein guter Freund. Deshalb dürfen wir hier nicht weitermachen.«

Er nickte und umarmte sie. »Dann bis morgen im Büro«, flüsterte er an ihrem Ohr, trat zurück und ging mit gesenktem Kopf davon. Kyleen sah ihm schweren Herzens nach. Das Letzte, was sie gewollt hatte, war ihrem einzigen Freund wehzutun. Dennoch war sie sich bewusst, dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte. Sie hatte immer mit offenen Karten gespielt.

Im Wohnzimmer legte sie ihre Handtasche auf den Salontisch, streifte die hochhackigen Schuhe ab und ließ sich seufzend auf die Couch fallen. Was war da gerade eben passiert? Wie hatte sie den Kuss nicht kommen sehen können? Fühlte sie sich so einsam, dass ihr Unterbewusstsein nach jedem Strohhalm griff? Sie lehnte sich zurück und bedeckte die Augen mit ihrem Unterarm. Es hatte angefangen, verräterisch in ihrem Schädel zu pochen und kündigte die drohende Migräne an.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, nach dem Essen ihre Großmutter anzurufen, doch diesen Plan verwarf sie. Erstens war es in Schottland noch zu früh und zweitens fühlte sie sich nach der Szene mit Dylan nicht in der Lage. Ihre Oma kannte sie zu gut, um nicht zu merken, dass bei ihr etwas nicht stimmte.

Langsam, aber sicher hatte sie das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Was war nur los mit ihr? Sie konnte nicht sagen, wann dieser Prozess eingesetzt hatte, nur dass er in den letzten Tagen deutlich an Fahrt gewonnen hatte. Dieses innere Reißen füllte sie inzwischen komplett aus.

Sie würde noch diese Woche bei Mister Sutherland um Urlaub bitten. Sie brauchte eine Auszeit, um sich im Klaren darüber zu werden, wo ihre Bedürfnisse lagen und wie sie wieder glücklich werden konnte. Eines war ihr bewusst: Sie war unglücklich, ohne zu wissen weshalb. Sie hatte sich in Manhattan ein Leben aufgebaut, auch wenn es zurzeit im Job nicht rundlief. Arbeitsstellen konnte man wechseln. Daran konnte es demnach nicht liegen.

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus dem Schlaf. Sie sah sich verwirrt um. Couch … Wohnzimmer … Sie musste sich während ihrer Grübelei ins Land der Träume verabschiedet haben. Mit der einen Hand rieb sie sich über das Gesicht, um die Benommenheit loszuwerden. Mit der anderen angelte sie sich die Tasche und griff hinein, um nach ihrem Mobiltelefon zu suchen.

Wie spät war es eigentlich? Drei Uhr nachts? Himmel, reichlich spät für einen Anruf. Sie warf einen Blick auf das Display und erstarrte. Die Nummer, die angezeigt wurde, hätte sie im Tiefschlaf, betrunken oder sogar komatös aufsagen können.

Es war der Anschluss ihrer Granny. Ein ungutes Ziehen erfüllte sie. Ihre Großmutter würde sie nie mitten in der Nacht anrufen. Es war jetzt in Schottland acht Uhr morgens. Es musste etwas passiert sein.

Während sie den Anruf entgegennahm, wurde ihr schlecht. »Hallo, Granny?«

»Bitte verzeihen Sie die späte Störung, aber spreche ich mit Kyleen McDonell?«

Sie kannte die Stimme am anderen Ende der Verbindung nicht. Was hatte das alles zu bedeuten? Ein grausamer Gedanke nahm in ihrem Kopf Gestalt an und sie musste ihren Lungen befehlen, sich mit Luft zu füllen. »Ist etwas mit meiner Großmutter?« Ihre Worte waren nur gehaucht und ihre Finger zitterten. Sie wollte nicht hören, dass sie zu lange gezögert hatte.

»Ich fürchte ja. Es geht ihr nicht gut und die Ärzte gehen davon aus, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt.« Die Frau klang aufrichtig betroffen, was Kyleen noch mehr verunsicherte. Doch wer war sie?

Sie musste erst wissen, mit wem sie es zu tun hatte. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

Ein Räuspern erklang. »Oh, entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit. Ich bin die Pflegerin Ihrer Großmutter. Mein Name ist Mary Donovan.«

Kyleen hatte nicht gewusst, dass es so dramatisch um die Gesundheit ihrer Oma stand. Sie bekam schlagartig Gewissensbisse. »Was ist mit ihr?«

»Sie hat Krebs im Endstadium«, antwortete Mary Donovan traurig.

Kyleens Herz rutschte ihr in die Hose. Das konnte nicht wahr sein. Dieser verdammte Krebs war also wieder zurückgekehrt. Ihre Augen begannen zu brennen. »Ich verstehe nicht ganz«, stammelte sie. »Wieso hat Granny nie etwas gesagt?« Weil du eine treulose Enkelin bist!, schalt sie sich im Stillen.

»Sie wollte nicht, dass Sie sich Sorgen machen.«

Kyleen fuhr sich mit der freien Hand über die Augen. Eine alles umfassende Müdigkeit ergriff sie und sie fühlte sich schwach. »Das ist typisch Granny.«

Die Pflegerin lachte leise. »Da haben Sie recht.« Dann wurde sie wieder ernst. »Mrs. McDonell möchte Sie sehen und mit Ihnen ein paar wichtige Dinge besprechen, bevor …« Sie brach ab und Kyleen wusste auch so, was ungesagt geblieben war. Ailis McDonell wollte sich von ihr verabschieden und sie würde diesem Wunsch so schnell wie möglich nachkommen.

»Natürlich. Ich komme umgehend. Wie viel … ähm … wie lange …?«

Mary atmete laut aus. »Sie hat nur noch wenige Wochen. Maximal zwei Monate, meinen die Ärzte.«

Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie hatte zu lange gezögert. »Kann ich mit meiner Großmutter sprechen?«

Die Pflegerin räusperte sich kurz. »Da muss ich Sie leider enttäuschen. Ihre Oma schläft noch und nachher kommt der Arzt.«

Kyleen holte geräuschvoll Luft. »Okay, ich sehe zu, dass ich so schnell wie möglich kommen kann. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich die Details habe.«

»Ja, ist gut. Ich gebe Ihnen meine Mobilnummer. Unter der können Sie mich jederzeit erreichen. Und bitte beeilen Sie sich, Miss McDonell.«

Nachdem die Pflegerin ihre Telefonnummer genannt hatte, legte Kyleen auf. Ihr ganzer Körper schmerzte vor Trauer. Sie würde in ein paar Wochen den einzigen Menschen verlieren, den sie je gehabt hatte und von dem sie bedingungslos geliebt wurde.

Als sie vor so vielen Jahren den Entschluss gefasst hatte, Schottland zu verlassen, hatte Granny sich verständnisvoll gezeigt. Was waren ihre Worte nochmal gewesen? Ach ja: »Breite deine Flügel aus, mein Mädchen. Geh dahin, wo du glücklich wirst. Vergiss aber nie, wo deine Wurzeln liegen. Du wirst hier in Arkaig Manor immer offene Türen vorfinden.« Dann hatte die Seniorin sie auf die Stirn geküsst und an ihre Brust gedrückt. Mehr als ein Jahrzehnt war seither vergangen und Kyleen war nie wieder dort gewesen, weil sie zu feige gewesen war.

Heiße Tränen tropften von ihrem Kinn. Der Schmerz über den bevorstehenden Verlust raubte ihr den Atem und sie stand auf und tigerte unstet auf und ab, um die Taubheit loszuwerden, die sie erfasst hatte.

Als ihr Verstand seine Arbeit wieder aufgenommen hatte, holte sie sich eine Tasse Tee und setzte sich an den Computer. Sie organisierte ein One-Way-Ticket für den folgenden Mittag und verfasste einen Brief, der schon ewig überfällig war. Danach machte sie sich ans Packen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie in Schottland bleiben würde. Auf jeden Fall so lange, bis ihre Großmutter den letzten Weg beschritten hatte. Kyleen hatte die alte Frau zu lange allein gelassen und das wollte sie nun ändern. Auch wenn es zu spät war.

Nachdem sie alles so weit erledigt hatte, legte sie sich einen Augenblick hin, bevor sie zur Arbeit musste. An Schlaf war nicht zu denken, doch die Ruhe tat ihr gut und sie konnte ihre Gedanken ordnen. Sie war über alle Maßen froh, dass sie ihre beiden Impfdosen bereits vor Wochen bekommen hatte und deshalb von den nervigen Test- und Quarantänevorschriften befreit war.

REISE INS UNGEWISSE

KYLEEN

»Wie stellen Sie sich das vor, Miss McDonell?«, fragte Mister Sutherland mit arrogantem Grinsen auf dem Gesicht. »Urlaub auf unbestimmte Zeit?«

Kyleen atmete tief durch, um Haltung zu bewahren. Sie war müde, ihre Nerven lagen blank und in drei Stunden ging ihr Flieger vom Flughafen JFK. »Ich habe genug Resturlaub und Überstunden, um drei Wochen freinehmen zu können und den Rest können Sie mir vom Lohn abziehen.«

Sutherland verschränkte die Finger und blickte sie herablassend an. Er wirkte dabei wie eine hässliche, unförmige Kröte. »Und Ihre Arbeitskollegen sollen Ihre Arbeit erledigen, während Sie sich in den Ferien amüsieren?«

»Amüsieren?«, platzte es aus ihr heraus. »Ich habe Ihnen gesagt, dass es sich um einen familiären Notfall handelt. Ich muss dringend nach Schottland und ich kann nicht sagen für wie lange.« Wie schwer war das zu verstehen?

Mr. Sutherland erhob sich und stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab. »Da gibt es von meiner Seite aus nichts mehr zu diskutieren. Sie können jetzt keine Ferien nehmen. Vor allem keine unbegrenzten.«

Kyleen richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Nicht, dass diese beachtlich gewesen wäre. »Meine Großmutter liegt im Sterben und sie möchte mich noch einmal sehen, verdammt nochmal. Wollen Sie mir das wirklich verwehren?« Ihr Chef nickte und sie hätte ihm das angedeutete Grinsen am liebsten mit dem Briefbeschwerer aus der Visage geprügelt. »Weshalb? Es ist ja nicht so, dass Sie mir unaufschiebbare Aufträge geben.« Das hatte er nicht mehr, seit sie ihn abgewiesen hatte.

Sutherland schickte sich an, um den Tisch herumzukommen und Kyleen trat instinktiv einen Schritt zurück. Sie ertrug ihn nicht in ihrer Nähe.

»Wollen Sie Ihre Kollegen im Stich lassen?«

Was für ein A-loch! Sie hatte genug von diesem eingebildeten Mistkerl. Er behandelte sie schon seit Monaten wie ein Schuhabtreter, nur weil sie seinen Avancen nicht nachgegeben hatte. Das war ein klarer Fall von Mobbing. Dieser Mensch war ihr ein Klotz am Bein und jetzt der richtige Moment, sich dessen zu entledigen. Sie griff in ihre Tasche und zog die vorbereitete Kündigung heraus.

»Wenn Sie es so sehen, Boss«, sagte sie und warf ihm den Umschlag hin. »Da ich in Ihren Augen eine derart unfähige Mitarbeiterin bin, werden Sie meine sofortige Kündigung sicher akzeptieren.«

Sein Mund klappte auf und er wirkte dabei wie ein Fisch, der auf dem Trockenen liegt. Kyleen drehte sich um, bevor er die Gelegenheit bekam, etwas darauf zu entgegnen. Sie verließ hocherhobenen Hauptes das Büro, ging zu ihrem Schreibtisch und packte ihre wenigen persönlichen Sachen zusammen.

Dylan trat alarmiert zu ihr und sah sie fragend an. »Was ist da gerade passiert?«

Tief seufzend wandte sie sich zu ihrem Freund um. Als sie das Gefühl hatte, dass ihre Stimme ruhig und gefasst war, erzählte sie ihm alles. Vom nächtlichen Anruf der Pflegerin, der bevorstehenden Reise und der Kündigung bei der Big Apple City Paper.

»Oh Fuck! K, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Dylan wirkte ehrlich betroffen und ehe sie sichs versah, fand sie sich an seine Brust gedrückt wieder.

»Ich auch nicht«, flüsterte sie in sein Hemd. Sie vermisste ihren Kumpel schon jetzt fürchterlich. Schließlich hatte sie ihn bereits am NYU Journalism Institute kennengelernt und er war ihr ans Herz gewachsen. Sie waren sozusagen vom ersten Tag an Freunde gewesen und hatten so manchen Kampf zusammen durchgestanden.

»Komm Süße, ich bringe dich zum Flughafen.« Er drückte sie sanft von sich und führte sie weg von dem Ort, der ihr lange eine Art Zuhause gewesen und doch in letzter Zeit fremd geworden war.

»Danke«, entgegnete sie leise schniefend.

KYLEEN

Edinburgh, Schottland

Das Wetter in Schottland hielt, was es verspricht. Grauer Himmel, Nieselregen und Wind. Die feuchte Kälte kroch einem in die Knochen, aber es war ja auch schon fast Oktober.

Sie war total erschlagen und hatte nach einem siebzehnstündigen Flug, inklusive umsteigen, eine Fahrt von mehr als drei Stunden mit dem Mietwagen vor sich. Im Flugzeug hatte sie zwar ein bisschen geschlummert, aber erholsam war das nicht gewesen. Die Sorge um ihre Großmutter hatte sie zu sehr beschäftigt.

Bevor sie losfuhr, kaufte sie sich einen Coffee-to-go, ein IRNBRU und Wasser. Ohne einen extra Schub Koffein schaffte sie es nicht bis Ardechive am Loch Arkaig, wo das Anwesen ihrer Großmutter lag. Die nächste größere Ortschaft war Fort William, circa zwölf Meilen südlich von Ardechive.

Schon bald hatte sie die urbane Region um Edinburgh hinter sich gelassen und fuhr jetzt Richtung Norden. Zum Glück herrschte nicht viel Verkehr, so dass sie schnell Pitlochry passierte, wo sie sich nach Westen wandte.

Die Landschaft zog an ihr vorbei und je länger sie unterwegs war, desto besser ging es ihr. Mit einem Mal fiel ihr das Atmen leichter und die stets latent anwesenden Kopfschmerzen zogen sich langsam zurück. Wie hatte sie ihre Heimat vermisst. Die verschlafenen Dörfchen, die grünen Glens und die torffarbenen Flüsse. Der ganze Stress, der sie in letzter Zeit erfüllt hatte, fiel mit jeder Meile von ihr ab. Auch wenn der Grund für ihren Besuch traurig war, sie war froh, hier zu sein. Sie realisierte, dass die Großstadt sie krank gemacht hatte. Während der Fahrt betrachtete sie die Hügel und Berge. Grüne Hänge mit gelben und violetten Sprenkeln. Ginsterbüsche und Heidekraut wechselten sich farbenfroh mit Moos und Gras ab. Ihre Seele wurde bei dem Anblick leichter.

Als Spean Bridge in Sicht kam, machte ihr Herz einen aufgeregten Hüpfer. Jetzt war es nicht mehr weit. Selbst das Wetter wurde angenehmer. Der Nieselregen hatte aufgehört und ab und zu blitzte ein Stück blauer Himmel durch die Wolkendecke.

Im Dorf passierte sie einen Kreisel, als ihr ein Land Rover den Vortritt nahm. Sie war gezwungen, voll in die Bremsen zu treten, um einen Zusammenstoß zu verhindern.

»Verdammter Idiot!«, platzte es aus ihr heraus. »Hast du keine Augen im Kopf?« Eine halbe Sekunde später realisierte sie, was auf der Autotür des Geländewagens stand. KINCAID STABLES. War ja klar, dass sie als Erstes mit diesem Deppen die Wege kreuzte.

Die Kincaid Stables war eine Pferdezucht, die seit Generationen durch den Kincaid-Clan geführt wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Gestüt von einem gewissen Matthew Kincaid gegründet. Momentan führte Finlay Kincaid junior die Friesenzucht.

Für Kyleen waren das die schönsten Pferde der Welt. Mit ihren langen, wallenden Mähnen, den Fesselbehängen und dem glänzenden schwarzen Fell. Wie ein Kerl wie Kincaid junior solche liebenswerten Tiere züchten konnte, war ihr schleierhaft. Junior war schon als Kind ein Tyrann gewesen und was sie mitbekommen hatte, hatte er sich diesbezüglich nicht geändert. Er war etwa fünfzehn Jahre älter als sie, doch sie hatte genug Geschichten über ihn gehört. Er war der Anführer einer Jugendbande gewesen, die jüngere Kinder schikaniert hatte. Es war so weit gegangen, dass der Sohn des damaligen Stallmeisters in ein teures Internat geschickt werden musste, nur damit er aus dem Einflussbereich von Finlay kam. Was aus dem Jungen geworden war, wusste sie nicht.

Als sie in Ardechive die Abzweigung zum Anwesen ihrer Granny nahm, fing ihr Herz nervös an zu flattern. Vielleicht lag es daran, dass sie aufgeregt war. Nach ihrer buchstäblichen Flucht vor vielen Jahren war es seltsam, wieder hier zu sein. Oder es lag am Grund ihrer Rückkehr.

Die Straße, oder besser gesagt, die Auffahrt war fast eine Meile lang und gewunden. Als Arkaig Manor in Sicht kam, verschwand die Anspannung schlagartig und machte einer kindlichen Freude Platz. Das Haus im Scottish Baronial-Stil war dreistöckig. Die Zinnenkränze und die Stufengiebel verliehen dem Gebäude eine Wehrhaftigkeit und wilde Romantik. Es schien der Schauplatz eines Regencyromans zu sein.

Sie parkte den Wagen neben der Treppe, die zur Haustür hochführte. Bevor sie jedoch ausstieg, schloss sie kurz die Augen, um etwas zur Ruhe zu kommen und ihre Gedanken zu ordnen. Wie würde sie ihre Großmutter vorfinden und wie würde die Matriarchin auf Kyleens plötzliches Erscheinen reagieren?

Plötzlich klopfte jemand an die Scheibe der Fahrertür und sie zuckte zusammen. Eine Frau mittleren Alters sah sie besorgt an. Die Fremde trug die braunen Haare, in denen sich deutlich graue Strähnen zeigten, zu einem Dutt frisiert. Ihr freundliches Gesicht wirkte trotz der feinen Linien jugendlich. Warme braune Augen schienen sie bis in den Kern zu lesen. Kyleen löste den Sicherheitsgurt, worauf die Frau einen Schritt zurücktrat.

Als sie ausgestiegen war, sog sie die frische und vertraute Luft ein. Sie roch das Laub des nahen Waldes, den Torf im Boden und das Wasser des Loch Arkaig. Mit einem Schlag wusste, nein, fühlte sie bis in ihr Innerstes, dass sie zu Hause war und diese Erkenntnis ließ ihre Augen tränen.

»Entschuldigen Sie, Miss«, holte sie die unbekannte Frau in die Realität zurück. »Ist alles in Ordnung?«

Kyleen erkannte die Stimme sofort und sie nickte. »Ich bin okay. Sie müssen Mary Donovan sein.« Sie hielt ihr zur Begrüßung die Hand hin.

Mary nahm ihre Hand. Ihr Griff war warm und fest. Das war ihr sympathisch. »Ja, ich bin Mary. Dann sind Sie Kyleen?«

»Das bin ich.«

Die Krankenschwester strahlte über das ganze Gesicht. »Dann kommen Sie rein. Sie müssen müde und hungrig sein.«

Sie wandte sich um, damit sie ihr Gepäck aus dem Kofferraum holen konnte, wurde aber von Mary abgehalten. »Es wird sich jemand darum kümmern.«

Kyleen stieg langsam, sich jedes Schrittes bewusst, die Treppe zum Haupteingang des Hauses hoch. Die hohe und breite Eichenholztür hatte sich nicht verändert. Sie trug immer noch dieselben Distelranken-Schnitzereien und die gleichen Saltire-Flag-Bleiglasfenster. Alles wirkte extrem vertraut und seltsam fremd zugleich.

In der Eingangshalle ließ sie ihren Blick herumschweifen. Hier schien die Zeit ebenfalls stehen geblieben zu sein. Dunkles Eichenholz, wohin man sah. Gegenüber dem Eingang wand sich die Treppe in sanftem Bogen in die oberen Stockwerke. Die Stufen waren mit dem Clan-Tartan bezogen. Das leuchtende Grün und Rot, welches durch Schwarz, Blau und Weiß durchzogen wurde.

Über allem lag das Aroma von Möbelpolitur und Kerzenwachs und sie fühlte sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt. Für sie war dieser Duft der Atem der unzähligen Generationen, die hier gelebt und gelacht, gelitten und geliebt hatten. Erneut wurde sie vom starken Gefühl von Zuhausesein erfasst.

»Möchten Sie mir Ihre Jacke geben?« Wieder war es Mary, die sie auf den Boden der Gegenwart zurückholte.

Sie nickte und übergab der Pflegerin ihre Daunenjacke. »Ich möchte so schnell wie möglich zu meiner Großmutter.«

Mary lächelte und wies mit der freien Hand Richtung Wohnzimmer. Die Tür zu dem Raum war nur angelehnt und Kyleen schob sie vorsichtig auf. Bevor sie jedoch eintrat, ließ sie die Atmosphäre auf sich wirken.

Nichts hatte sich verändert. Der große Gobelin hing rechts neben dem offenen Kamin. Die schweren Chesterfieldsofas und -sessel waren um die Feuerstelle herum aufgestellt. An den Wänden mit den Holzpaneelen standen mehrere Stühle im Barockstil und kleine passende Teetischchen. Es roch sogar noch so wie früher. Nach Holz und Kaminfeuer.

Ailis McDonell saß in einem Rollstuhl in der Nähe des Feuers und las. Kyleen trat einen Schritt ins Wohnzimmer. Dabei knarzte der Parkettboden unter ihren Füßen und ihre Großmutter hob den Kopf. Der freudige Ausdruck im Gesicht ihrer Großmutter brannte sich tief in ihren Verstand und sie würde sich immer daran erinnern. An das Leuchten in ihren überraschend jugendlichen Augen und das strahlende Lächeln auf den Lippen.

»Mein Mädchen.«

Diese beiden Worte rissen in Kyleen die letzten Reste der Vorsicht nieder. Sie rannte zu ihrer Oma hin und fiel vor ihr auf die Knie. Ailis sah sie mit den klaren Augen an, an die sie sich immer erinnert hatte. Ihre Großmutter machte nicht den Eindruck, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, doch das konnte täuschen. Ailis war immer darauf bedacht gewesen, gepflegt auszusehen. Auch jetzt trug sie ein dezentes Make-up und ihr volles weißes Haar hatte sie hochgesteckt. Hatte sie keine Chemotherapie über sich ergehen lassen müssen? Das war doch die gängige Behandlung bei Krebs? Kyleen schüttelte den verstörenden Gedanken ab und betrachtete die alte Dame erneut.

Sie war in eine blaue Bluse und einen grauen Tweed-Rock gekleidet. Ihre Großmutter war immer eine schöne Frau gewesen und war es noch jetzt.

»Sei nicht albern, mein Engel«, ergriff die Granny das Wort, »du brauchst doch nicht zu weinen.«

Kyleen stutzte. Weinen? Ihre Hand berührte ihre eigene Wange und in der Tat, sie stieß auf Tränen. Ihre Großmutter drehte sich um und zog ein Taschentuch aus der Box, die auf dem Tisch neben ihr stand. Sie trocknete damit ihr Gesicht, wie damals, als sie noch ein Kind gewesen war.

»Es tut mir leid, dass ich so lange nicht hier gewesen bin.« Sie schluckte schwer. »Ich habe dich im Stich gelassen.«

Ailis schüttelte liebevoll lächelnd den Kopf. »Du bist nur den Weg gegangen, den du gehen musstest, um dich selbst zu finden, Liebes. Das müssen wir alle, denn so soll es sein.«

IAIN

Es klopfte laut und fordernd an die Tür des kleinen Cottage, das er am Rand des Grundstücks, auf dem sich das Gestüt befand, bewohnte. Er hatte hier als Kind gelebt und war nach dem Tod seines Vaters wieder eingezogen.

Sein Dad war viel zu früh gestorben. Er war unter einen Pferdeanhänger geraten. Die fragwürdigen Umstände des Unfalls wurden nie aufgeklärt. Doch für Iain war klar, dass damals etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war.

Er hatte dadurch sein Veterinärstudium abgebrochen und war nach dem Tod seines Vaters in die Fußstapfen der McGregor-Männer getreten, wie er es seinem alten Herrn versprochen hatte. Ihnen beiden war klar gewesen, dass sie es im Interesse der Pferde taten. Denn die Kincaids waren zwar seit Generationen Züchter, doch sie hatten keine Ahnung, wie man mit den empfindsamen Tieren umging.

Es klopfte ein weiteres Mal vehement. Iain wusste, dass es nur sein verfluchter Boss sein konnte. Er schob seinen Teller mit dem Abendessen von sich weg, stand auf und ging zur Tür.

»Was ist los mit dir? Weshalb dauert das so lange?! Eines der Fohlen kommt«, bellte Finlay junior ihn an, kaum hatte er aufgemacht. In seinen Eingeweiden begann es zu grummeln, doch er verkniff sich einen bissigen Kommentar.

Iain zog sich sofort Schuhe und Jacke an und sprang in seinen Wagen. Kincaid war bereits wieder verschwunden. Wäre eigentlich nett gewesen, wenn der Kerl auf ihn gewartet hätte. Wenn er sich schon die Mühe gemacht hatte, hier rauszufahren. Schließlich hätte er auch anrufen können. Kincaid hatte neben mangelndem Verstand auch keine Manieren. Wieso regte er sich eigentlich immer über diesen Idioten auf? Er kannte ihn inzwischen gut genug, um es besser zu wissen.

Gott sei Dank dauerte die Fahrt zum Gehöft nur knappe fünf Minuten. Als er die Stallung der Stuten betrat, hörte er sofort das aufgeregte Scharren von Hufen und das nervöse Schnauben. Er hatte das schon oft erlebt, dennoch durchströmte ihn jedes Mal große Aufregung. Er ging zur Box von Skye, die Stute, die gemäß Plan als Erste abfohlen sollte und wieder einmal hatte er recht behalten. Das Pferd schwitzte und stampfte wiederholt auf.

Weil er vermutet hatte, dass Skye bald fällig war, hatte er ihr schon am Vortag den Schweif geflochten und hochgebunden.

»Hallo, Mädchen«, sagte er leise und betrat die Box. »Schön ruhig. Du schaffst das, meine Große.«

Er griff nach dem Knotenhalfter, das sie trug und führte sie langsam, aber bestimmt zur runden Abfohlbox. Sie war mit frischem Stroh ausgelegt und bereit. Skyes Fell glänzte vor Schweiß und Iain hatte das Gefühl, ihren Stress am eigenen Leib zu erfahren, denn sein Innerstes zog sich ebenfalls zusammen. Er litt jedes Mal mit, wenn eine seiner Pferdedamen zu fohlen begann.

Nachdem er sie sicher wusste, ging er zum Schrank, wo er alles fand, was bald benötigt wurde: Einweghandschuhe, Desinfektionsmittel und Stricke. Auf der Ablage daneben standen zwei Wasserkocher, ein Seifenspender und diverse kleine Eimer. Es war weiß Gott nicht das erste Mal, doch er war nervös, als wäre es das. Als alles bereit war, rief er den Stallknecht an. Meistens verlief eine solche Geburt ohne Komplikationen. Doch sollte ein Problem auftauchen, brauchte er ein zweites Paar kräftige Hände.