Wo das Herz hingehört - Amelia Blackwood - E-Book
NEUHEIT

Wo das Herz hingehört E-Book

Amelia Blackwood

5,0

Beschreibung

Maya muss etwas in ihrem Leben ändern. So kann es nicht weitergehen. Sie ist einsam und verkriecht sich zusehends in ihrem Schneckenhaus. Die Dämonen ihrer Kindheit verfolgen sie und sie läuft Gefahr, den Halt zu verlieren. Sie sehnt sich nach der Nähe und Wärme eines Mannes, doch auch hier tut sie sich schwer. Aus einem Impuls heraus registriert sie sich auf einer Social-Media-Plattform und lernt dort Randy Thomas kennen, der in Los Angeles lebt. Während eines Jahres schreiben sie sich regelmäßig E-Mails oder treffen sich im Chatroom. Maya verliebt sich in diesen mysteriösen Mann und fliegt zu ihm nach Los Angeles. Mit dieser Reise nimmt ihr Leben jedoch einen völlig anderen Lauf. Randy Thomas hat ein Geheimnis, das ihm ein normales Leben schwer macht. Als er jedoch Maya im Internet trifft, kommt seine Welt ins Wanken. Sie berührt eine Seite in ihm, die er längst verloren geglaubt hatte, und ihm wird klar, dass er sich entscheiden muss. Soll er sich ihr offenbaren und Gefahr laufen, sie zu verlieren? Oder soll er weiterhin die Lüge leben und damit einer Zukunft mit Maya in der realen Welt den Rücken kehren? (Bei diesem Buch handelt es sich um die komplett überarbeitete Neuauflage des 2011 erschienenen Romans «@LovingDragon»)

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Anmerkung der Autorin:

Die Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen oder Situationen sind zufälliger Natur.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

GEGENWART

Maya

DIE REISE BEGINNT

VOR NEUN JAHREN …

Maya

EINIGE MONATE SPÄTER …

EINIGE TAGE SPÄTER …

MAIL-UNTERHALTUNG

MONTAG

Maya

Randy

Maya

Randy

DIENSTAG

Maya

MITTWOCH

Maya

Randy

DONNERSTAG

Maya

DIE ZEIT VERGEHT SCHNELL, WENN MAN ES NICHT WILL

Maya

Randy

NICHTS IST, WIE ES SEIN SOLLTE

Maya

Patrick

Maya

Patrick

HORMONGESTEUERT

Maya

Patrick

Maya

Patrick

Maya

Patrick

Maya

Patrick

EIGENARTIGES GEHT VOR

Maya

Bob

Patrick

Maya

Patrick

Maya

DIE RUHE VOR DEM STURM

Patrick

Maya

Patrick

DIANE UND DER DONNERSTAG

Maya

Patrick

VERRAT UND FLUCHT

Maya

Patrick

Maya

DER TAG DANACH, OHNE IHN

Maya

Patrick

DAS CHAOS BRICHT LOS

Maya

Patrick

DAS ERWACHEN

Maya

Bob

HERR MÜLLER

Maya

Patrick

VERGEBUNG

Maya

Patrick

ÜBERRASCHUNGEN

Maya

Patrick

MEINUNGSVERSCHIEDENHEITEN

Maya

Patrick

Maya

JERSEY UND ANDERE ÜBERRASCHUNGEN

Maya

Bob

EIN TRAUM WIRD WAHR

Maya

Patrick

Maya

WEIHNACHTEN

Maya

Patrick

Maya

Patrick

Maya

Patrick

Maya

DAS NEUE JAHR

Maya

Patrick

GESTÄNDNISSE

Maya

Bob

Patrick

Maya

Patrick

EIN PAAR TAGE SPÄTER …

Maya

TACHELES

Maya

LOS ANGELES

Bob

Maya

Bob

Maya

Patrick

Bob

Maya

DER BETRUG

Maya

Patrick

Maya

Patrick

Maya

Patrick

DAS UNGLÜCK

Maya

EINE HARTE ZEIT

Maya

Bob

Maya

Patrick

HERZSCHMERZ

Maya

Patrick

Bob

KEIN GEHEIMNIS

Maya

Patrick

Maya

HEIMREISE

Maya

Patrick

Maya

KURZSCHLUSS

Maya

Patrick

PATRICK KOMMT

Maya

Bob

Maya

Patrick

DER SCHRITT IN DIE ZUKUNFT

Maya

Bob

Maya

Patrick

Maya

EIN NEUES LEBEN

Maya

Patrick

Maya

Patrick

Maya

Patrick

TICK, TACK, TICK, TACK

ZEHN MONATE SPÄTER …

Maya

EPILOG: EIN FUNKEN LEBEN

Patrick

POST-EPILOG

GEGENWART

Maya

PROLOG

GEGENWART

Maya

Sie saß im Schaukelstuhl im Garten und betrachtete die Aussicht. Die Häuser der Stadt zu ihren Füßen, die Hochhäuser Downtown und der wunderschön gepflegte Garten, der zur Villa gehörte, die sie bewohnte.

Ihr Blick glitt zu den beiden Kleinkindern, die in einem Babyschwimmbad herumplantschten. Ihr Sohn und ihre Tochter: Finn, fast drei und Mia eineinhalb. Sie waren Mayas ganzer Stolz. Sie wagte nach wie vor zu behaupten, dass die zwei das Beste waren, was sie je zustande gebracht hatte.

Während sie die beiden beobachtete, strichen die Finger ihrer rechten Hand über die Narbe an ihrem linken Unterarm. Wie nahe war sie daran gewesen, dieses Glück für immer zu verlieren? Sie hatte einfach nur Schwein gehabt, in einem Moment der Verzweiflung und Unüberlegtheit.

Wenn ihr jemand vor neun Jahren gesagt hätte, dass ihr Leben einmal so aussehen würde wie jetzt, hätte sie ihm den Vogel gezeigt. Sie hatte einen langen und steinigen Weg zurücklegen müssen, um hier anzukommen, und sie würde das, was sie jetzt hatte, auf keinen Fall mehr riskieren.

Sie hatte den besten und verständnisvollsten Mann, den sie sich wünschen konnte. Maya war sich nicht sicher, ob sie an seiner Stelle die Kraft aufgebracht hätte und geblieben wäre. Gott allein wusste, was er hatte erdulden müssen, nur weil er sie liebte.

Manchmal, wenn sie zu sehr über die Vergangenheit nachdachte, schämte sie sich. Doch meistens war sie unendlich dankbar für das, was sie hatte. Zwei wundervolle Kinder, einen fantastischen Ehemann und ein Leben in Wohlstand.

Sie senkte ihren Blick auf das Notizbuch auf ihrem Schoß. Der Beginn des Manuskripts ihres neuen Buches. Schreiben war ihr Hobby und neben ihrem Mann ihr Lebensretter. Geschichten zu stricken, half ihr, ihre oft amoklaufenden Gedanken zu kanalisieren.

Die Liebe ihres Lebens war irgendwo unten in der Stadt zusammen mit seiner Schwester. Sie hatten einen geschäftlichen Termin und Maya genoss das erste Mal seit vielen Monaten das Alleinsein. Sie hatte endlich wieder zu sich gefunden und schien nach diesem elenden Kampf wieder in sich zu ruhen.

DIE REISE BEGINNT

VOR NEUN JAHREN …

Maya

Als sie sich an diesem Morgen im Spiegel betrachtete, litt sie wie üblich an ihrer Durchschnittlichkeit. Ihre dunkelbraunen, langen Haare umrahmten ein sommersprossiges, blasses Gesicht. Das Einzige, was man eventuell als schön bezeichnen konnte, waren ihre blauen Augen. Auch ihre eher mangelnde Körpergröße von einsdreiundsechzig mit den rundlichen Formen war nicht unbedingt hilfreich, um genügend Selbstvertrauen entwickeln zu können.

Sie band ihre Haare mit einem stummen Seufzer zu einem Pferdeschwanz zusammen, tuschte ihre langen Wimpern und zog die Arbeitskleidung an: schwarze Trainingshosen und das hellgraue Polo mit dem Praxislogo auf der linken Brust. Nicht gerade das, was man als sexy bezeichnete.

Sie wusste, woher diese Unsicherheit rührte. Sie lag in ihrer Kindheit begründet. Ihren Vater kannte sie nicht und ihre Mutter war seit jeher der Alkoholsucht verfallen. Alles was Maya über ihren Erzeuger wusste, war, dass er ein notorischer Fremdgänger und Lügner gewesen war.

Natürlich konnte auch der Frust aus ihrer Mutter gesprochen haben, als sie ihr all die Dinge erzählt hatte. Aber das ließ sich nicht mehr überprüfen, denn Papa König war inzwischen gestorben. Er hatte sich das Leben genommen.

Maya hatte wohl die negativen Seiten ihres Vaters geerbt. So, wie ihre Mutter in angesäuseltem Zustand immer wieder anmerkte.

»Jetzt guckst du wie er … so hat er immer reagiert … Du lügst eh die ganze Zeit. Genau wie er … Wieso hast du immer noch keinen Mann? Wahrscheinlich hast du die Gene deines Vaters. Der wusste auch nicht, wie man eine Beziehung führt …«

Maya wurde dadurch von Kindesbeinen an konstant gedemütigt und verunsichert. Das waren die Worte der diversen Psychologen, nicht ihre eigenen. Ihre Selbstzweifel waren mit den Jahren immer stärker geworden. Das alles war ihr klar, doch sie konnte nichts dagegen tun. Es gab Tage, da schrien die Stimmen in ihrem Kopf ohrenbetäubend laut. An anderen Tagen jedoch, den guten, schwiegen sie.

Maya verließ die Wohnung und fuhr zur Arbeit, wo sie sich der Alltagsroutine hingab, die ihr die nötige Sicherheit verschaffte. Sie liebte ihren Beruf. Der Kontakt zu anderen Menschen und die Möglichkeit, ihnen zu helfen, gaben ihr Kraft.

Der Mann, der später an diesem Vormittag im Wartebereich saß, hatte etwas Anziehendes und er war ziemlich attraktiv. Er war ungefähr einen halben Kopf größer als Maya und hatte schwarze Haare. Seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen funkelten sie herausfordernd an.

Als Maya ihn begrüßte und sich mit einem Händedruck vorstellte, hatte sie das Gefühl, vom Blitz getroffen zu werden. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. So etwas passierte selten bis nie. Sie hatte nie Probleme damit, sachlich distanziert zu bleiben. Doch bei ihm war das anders und sie musste sich zwingen, sich auf ihren Job zu konzentrieren.

»Nun, Herr Keller, erzählen Sie mir doch einmal, wo der Schuh drückt.« Während sie ihn das fragte, wagte sie es nicht, aufzusehen, sonst hätte sie den Faden verloren. Was war heute nur mit ihr los?

»Sag doch Marcel zu mir. Das wäre mir viel lieber«, sagte er in verführerischem Ton, so dass ihr fast die Luft wegblieb.

»Gut, Marcel. Dann kannst du Maya zu mir sagen. Also, dann erzähl mal.«

Sie hatte es immer noch vermieden, ihn anzuschauen, und war damit beschäftigt, ihren Herzschlag zur Räson zu bringen. Es war noch nie vorgekommen, dass ein Mann eine solche Wirkung auf sie gehabt hatte. Schon gar kein Patient. Wo war ihre professionelle Distanz geblieben?

»Nun ja«, begann er zögernd, »ich hatte eine kleinere Auseinandersetzung und habe mir dabei das Handgelenk gebrochen. Und jetzt, nachdem der Gips weg ist, ist es steif.«

Maya notierte alles. »Was arbeitest du? Hast du mit deiner Hand Probleme während der Arbeit?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich arbeite als Portier in einem Hotel und meine Hand kommt mir da nicht in die Quere.«

Auch diese Information schrieb sie auf ihren Fragebogen. »Wie sieht es mit Schmerzen aus?«

Sie sah aus dem Augenwinkel, dass er prüfend die Finger zu einer Faust ballte und sie dann wieder öffnete. »Wenn ich nicht zu viel mache, tut’s nicht weh.«

»Gut, dann schaue ich mir deine Hand jetzt mal an. Du kannst dich dafür bequem auf den Untersuchungstisch legen.« Maya legte ihr Schreibzeug weg und bereitete die Liege vor.

Marcel warf sich schwungvoll hin und grinste sie von der Seite her an. Sie spürte, wie ihre Wangen immer heißer wurden und das war ihr unangenehm. Sie fühlte sich in der Gegenwart dieses Patienten seltsam bloßgestellt und verwundbar.

Während sie das Handgelenk untersuchte und danach behandelte, begann Marcel mit Small Talk. »Wo trifft man dich denn so an den Wochenenden? In welche Clubs gehst du?«

Sie räusperte sich, denn Marcel flirtete schamlos mit ihr, was ihre Unsicherheit noch mehr schürte. »Ich gehe nicht aus. Abends bin ich zu müde und alleine macht es kaum Spaß.«

Ein triumphierendes Funkeln trat in seine schwarzen Augen. »Wie kommt es, dass eine hübsche Frau wie du keinen Mann hat?«

Shit! Genau diese Information wollte er mir entlocken, fluchte sie in Gedanken. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht auf der Suche nach einem Mann und es fehlt mir auch die Zeit.« Schamlose Schwindlerin! Sie lag nächtelang wach, weil sie sich die Nähe und Zuneigung eines Mannes wünschte. Sich sogar regelrecht danach sehnte.

Er lachte. Ein kräftiges, bärenartiges Lachen, das ihr durch alle Glieder fuhr. »Ach komm schon. Das ist doch eine Ausrede!«

Ihr Gesicht begann wieder zu glühen. Aus Reflex und purem Selbstschutz schaute sie auf die Uhr. Die Behandlungszeit war Gott sei Dank abgelaufen. Deshalb stand sie auf und fühlte sich seltsam wacklig auf den Beinen. Sie wollte Marcels Hand nach der Behandlung loslassen, er hielt sie aber kräftig, fast besitzergreifend, fest.

»Gehst du mit mir aus?«, fragte er geradeheraus und ohne Umschweife.

»Da muss ich dich enttäuschen. Ich gehe nicht mit Patienten aus.« Und das war die Wahrheit. Sie löste sich aus seinem Griff, faltete die Patientenkarte zusammen und nahm die Tücher von der Liege. Hoffentlich bemerkte er die Röte auf ihren Wangen nicht.

»Wir werden sehen«, entgegnete er selbstbewusst. Die Bestimmtheit, mit der er es sagte, machte sie nervös. Der Mann hatte etwas von einer Naturgewalt. So wie ein Tsunami, der einen mitriss und schließlich an der nächsten Felswand zerschmetterte.

Während der nächsten beiden Termine versuchte er es tatsächlich weiter. Er ließ nicht locker und beim vierten Termin hatte er sie überredet. Er zeigte sich von seiner charmantesten Seite und hatte Maya Blumen mitgebracht. Natürlich bekam sie ein schlechtes Gewissen, was auch der einzige Grund war, weshalb sie eingewilligt hatte.

Trotz ihrer Prinzipien, Privates und Geschäftliches zu trennen, zog er schon wenige Wochen später bei ihr ein. Vielleicht ließ sie das zu, weil sie ständig die Worte ihrer Mutter im Kopf hatte und sie ihr und der ganzen Welt beweisen wollte, dass sie eben nicht so war wie ihr Vater. Oder vielleicht war es auch ihre Einsamkeit, die sie diesen Schritt machen ließ.

EINIGE MONATE SPÄTER …

»Irgendetwas gefällt mir an Marcel nicht«, sagte Lena, ihre beste Freundin, eines Tages, während sie sich am Esstisch gegenübersaßen und Kaffee tranken.

»Was meinst du damit? Marcel ist doch ein toller Typ.« Ein ungutes Gefühl beschlich sie und das nicht zum ersten Mal. Sollte man mit seinem Partner nicht glücklich sein? Bedingungslos und ohne jeden Zweifel? Oder erwartete sie einfach zu viel? Sie hatte in den letzten Wochen vermehrt einen schalen Nachgeschmack, wann immer Marcel in ihrer Nähe war. Irgendwie fühlte sie sich nicht mehr wohl in seiner Gegenwart. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, nur, dass sie sich nicht mehr geborgen fühlte. Wahrscheinlich war es sein Temperament, welches er nicht immer im Griff hatte. Maya hatte bisher noch mit niemandem über ihre Bedenken gesprochen.

Lena wog sichtlich ihre Worte ab. »Ich weiß nicht recht. Aber er macht auf mich einen aggressiven Eindruck. Wie er dich manchmal abfertigt, passt mir auch nicht.«

»Er meint das nicht so. Er liebt mich. Er ist eben ein wenig aufbrausend«, versuchte Maya, ihn etwas lahm zu verteidigen.

Lena zuckte resigniert mit den Schultern. »Ich meine es nur gut.« Sie griff nach Mayas Hand und drückte sie kurz. »Ich will einfach, dass du glücklich bist.«

Sie wusste nicht mit Sicherheit, warum Lena sie fortwährend vor Marcel zu warnen versuchte. Bis zu dem Tag, an dem Marcel und Maya ausgehen wollten und ihm ihr Outfit nicht passte. Sie hatte eine volle Stunde im Badezimmer verbracht, denn sie hatte ihm gefallen wollen. Sie hatte sich die Haare hochgesteckt und sich geschminkt, etwas das sie sonst nie so aufwendig betrieb. Danach hatte sie ein Kleid und Stiefel angezogen. So wie es Mode war und sich viele Frauen auf diese Weise kleideten.

Als sie das Badezimmer verließ und er sie in dieser Aufmachung sah, rastete er aus. »Das kann nicht dein Ernst sein! Du siehst aus wie eine Schlampe. Geh sofort zurück und zieh dich gefälligst anständig an!« Er wirkte dabei so bedrohlich, dass sie Angst bekam. Ihr Herz schlug ihr bis zum Schädeldach und sie wusste instinktiv, dass sie seiner Aufforderung Folge leisten musste. Sie hatte bisher nie eine solche Angst vor ihm verspürt.

Sie ging geknickt und mit Tränen in den Augen zurück ins Zimmer und zog eine schwarze Hose und eine rosa Bluse aus dem Schrank. Im Badezimmer entfernte sie das Make-up und tuschte lediglich die Wimpern. Sie versuchte die ganze Zeit, ihrer Panik Herr zu werden, denn sie wollte ihm nicht das Gefühl geben, er hätte uneingeschränkte Macht über sie.

Selbst die Hochsteckfrisur löste sie und machte danach einen einfachen Pferdeschwanz. Der ganze Aufwand war umsonst gewesen. Dabei hatte sie ihm doch nur eine Freude machen wollen. Es würde ihr eine Lehre sein. So viel stand fest.

Der Abend war auf jeden Fall für sie gelaufen und ihr wurde klar, was Lena gemeint hatte. Es war ihr zuvor nie aufgefallen, aber Marcel konnte kaum ein gutes Haar an ihr lassen. Alles war verkehrt, schlecht oder unpassend. Und er stellte sie immer als dumm dar.

Auf dem Weg ins Kino wechselten sie kein Wort und das war ihr recht so. Sie hätte ihn sonst nur im Frust angeschrien.

Es lief ein neuer Film aus Hollywood mit Patrick Roderick, dem Filmstar. An den Titel erinnerte sie sich nicht mehr. Es war ein Actionfilm mit viel Explosionen und Schusswaffen. Nicht die Art von Film, die sie für sich wählen würde, denn natürlich hatte Marcel auch hier den Tyrann und Diktator gemimt.

Maya saß wie auf Nadeln neben ihm und sehnte sich das Ende des Films und des gesamten Abends herbei. Wie dumm war sie gewesen? Sie hätte sich an ihren Grundsatz, nichts mit einem Patienten anzufangen, halten sollen. Wenn es irgendwie geholfen hätte, hätte sie sich geohrfeigt. Wenn sie so zurückdachte, begriff sie, dass Marcels Schikanen mit dem Tag angefangen hatten, als er bei ihr eingezogen war.

Dumm … idiotisch … unfähig … nichts anderes verdient … Sie schloss die Augen und drängte ihre inneren Dämonen zurück in die imaginäre Box, wo sie hingehörten. Es würde ihr jetzt nicht helfen, wenn sie sich den verräterischen Stimmen hingab. Sie musste dringend etwas ändern. Aber wie? Was?

Nach dem Film gingen sie in eine Bar und Maya traf dort zufällig zwei ihrer Patienten. Die beiden Männer begrüßten sie freundschaftlich mit einer Umarmung.

»Hey, Sklaventreiberin!«, rief einer der beiden. Sklaventreiberin war ihr Spitzname, den ihr hin und wieder Patienten gaben.

»Hey«, grüßte sie zurück und hoffte, dass es irgendwie unbeschwert klang. Es wurden noch ein paar Worte gewechselt, die an Maya vorüberschwebten. Small Talk.

Plötzlich spürte sie, wie Marcel sie schmerzhaft am Oberarm festhielt und ihr so zu verstehen gab, dass sie sich verabschieden sollte. Sie sah ihn verwirrt an. Sein Blick war kalt wie die Arktis, woraufhin sich Mayas Magen verknotete und sie den beiden Männern sofort einen schönen Abend wünschte.

Dann zog Marcel sie grob hinter sich her nach draußen. »Wer waren die beiden? Was hattest du mit denen?«, keifte er sie an und verstärkte seinen groben Griff an ihrem Oberarm noch mehr, so dass Mayas Hand zu kribbeln begann, weil Marcel ihr die Nerven abdrückte.

Sie sah ihn verunsichert an. Was sollte das? Was sollte diese Eifersucht? Wieder kam diese unterschwellige Angst an die Oberfläche. »Das waren zwei ehemalige Patienten. Kunden, schon vergessen?« Wieso um Gottes willen rechtfertigte sie sich eigentlich vor ihm? Sie hatte nichts Verkehrtes getan.

Er funkelte sie immer noch böse an. »Ich frage dich noch einmal. Was hattest du mit denen? Oder muss ich mich deutlicher ausdrücken? Warst du mit denen im Bett?«

Nun wurde sie ebenfalls wütend. Wut war gut. Wut war so viel besser als Angst. »Was fällt dir eigentlich ein? Es waren Patienten. Hast du das Gefühl, dass ich mit jedem Mann gleich ins Bett steige, der mit mir redet? Du hast sie ja nicht alle!«

Das war für ihn zu viel des Guten. Voller Jähzorn packte er sie wiederum am Arm und zerrte sie zum Auto. Während sie nach Hause fuhren, sprach er kein Wort. Auch Maya vergrub sich in ihrem Ärger. Was fiel ihm ein, sie wie ein kleines Kind hinter sich herzuzerren? Dennoch hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass das Ganze Konsequenzen haben würde.

Zu Hause angekommen, floh sie regelrecht hoch ins Schlafzimmer. Sie hatte kein Bedürfnis, diesen Kerl noch einmal zu hören oder zu sehen. Am liebsten hätte sie sich eingeschlossen und gewartet, bis es in der Hölle schneite.

Marcel schlich ihr jedoch nach und umarmte sie innig. »Tut mir leid, mein Schatz. Ich hätte nicht so ausflippen sollen. Aber so, wie dich die Kerle angegrinst haben, hatte ich den Eindruck, dass mehr zwischen euch gelaufen ist.«

Sie raufte sich die Haare und hätte am liebsten laut und unflätig geflucht. Was erwartete er von ihr? Dass sie einfach vergaß, wie grob er vorhin mit ihr umgesprungen war? Sie fühlte deutlich, dass sie hier eine Grenze ziehen musste, sonst artete das Ganze noch mehr aus.

Maya baute sich vor ihm auf und sah ihm in die Augen. »Das ist ja alles schön und gut. Aber du kannst erstens nicht davon ausgehen, dass ich mit jedem Mann, der mir über den Weg läuft, etwas anfange, und zweitens, auch wenn es vor deiner Zeit so gewesen wäre, müsstest du es akzeptieren. Es gab auch ein Leben vor dir, Marcel Keller, und solche Szenen kann ich gar nicht leiden.«

Marcels Blick verfinsterte sich sofort wieder und er schob ihr seinen Zeigefinger ins Gesicht. »Wenn du solche Szenen nicht willst, rate ich dir, nicht auf solch schamlose Art mit anderen Männern zu flirten!« Er brüllte die Worte im Jähzorn und versetzte ihr einen Stoß gegen die Schulter.

Mayas Herz galoppierte vor Ärger, Frustration und auch Angst. Nachdem er polternd aus dem Schlafzimmer gestapft war, ging sie zum Bett und schlug die Decke zurück. Sie musste sich dringend ablenken, sonst würde sie die Kontrolle verlieren und schließlich als heulendes Elend in der Ecke enden. Diesen Triumph gönnte sie ihm nicht. Er durfte nicht merken, wie viel Macht er über sie besaß.

Sie zog ihre Kleider aus und streifte sich das Nachthemd über. Jede Handlung wohlüberlegt und um Ruhe bemüht. Sie würde am nächsten Tag blaue Flecken an der Schulter und am Oberarm haben. Wie lange sollte, konnte sie das noch mitmachen? Aus Erfahrung mit einigen ihrer Patientinnen wusste sie, dass es nur noch schlimmer kommen würde. So war das mit toxischen Beziehungen.

Plötzlich flog die Zimmertür auf und Marcel kam hereingestürmt. Wild wie ein Stier. Kaum menschlich. In wenigen Schritten eilte er auf sie zu. Sie stolperte im selben Maß rückwärts. Noch bevor sie sich wehren konnte, packte er sie am Arm und warf sie brutal bäuchlings auf das Bett.

Mit einer Hand drückte er ihr den Kopf auf die Matratze und drohte sie damit beinahe zu ersticken. Eiskalte Panik explodierte in ihrem Inneren und lähmte sie für wertvolle Sekunden. Sie fühlte einen massiven Druck zwischen den Schulterblättern. Kniet er etwa auf mir?, schoss es ihr durch den Kopf. Sie wollte ihn abwerfen, doch er war zu schwer.

Marcels andere Hand tastete nach ihrem Slip. Dann hörte sie ein reißendes Geräusch und kurz darauf fühlte sie einen schneidenden Schmerz auf der Haut an ihrem Becken. Er hatte ihre Unterhose zerrissen.

Sie wusste, was geschehen würde und fühlte sich seltsam entrückt. Trotzdem versuchte sie, um sich zu schlagen, sich zu wehren. Sie wollte schreien, doch dafür fehlte ihr der Atem. Die Sekunden liefen im Stundentakt an ihr vorbei. Dann kam der Moment, auf den sie unbewusst gewartet und den sie so gefürchtet hatte. Der Schmerz breitete sich in ihrem Unterleib in alle Richtungen aus. Zerrte an ihrer Seele und ihrem Verstand. Das durfte nicht passieren!

Sie widersetzte sich. Erfolglos. Er war so viel stärker als sie, dass sie resignierte, abschaltete und es über sich ergehen ließ. Ihr Bewusstsein flüchtete sich in ein sicheres Universum. Es war, als schaue sie aus großer Höhe auf sich hinab.

Sie wartete auf den Moment, dass Marcel von ihr abließ. Nach schier endloser Ewigkeit erhob er sich mit einem ekelerregenden Keuchen und verließ schweigend das Zimmer. Maya blieb regungslos liegen. Wie lange? Zwei Minuten, zwei Stunden? Sie wusste es nicht. Sie fühlte nichts mehr. Keinen Schmerz, keine Wut, einfach gar nichts.

Als sich ihr Körper endlich aus der Starre löste, stand sie stumpf auf. Der Boden schien Wellen zu schlagen und ihr die Standsicherheit zu rauben. Torkelnd fand sie den Weg ins Bad und betrat die Duschkabine. Mit zitternden Händen stellte sie das Wasser an und setzte sich unter der Brause auf den Boden. Der Wasserstrahl betäubte sie und sie verdrängte diesen Abend.

Niemals würde sie mehr daran denken, geschweige denn mit jemandem darüber reden. Sie löschte den Namen Marcel aus ihrem Verstand. Wo er war und was er machte, interessierte sie nicht. Nicht mehr. Wenn er nur aus ihrem Leben verschwand. Nachdem sie aus der Dusche gekrochen war, rief sie Lena an. Maya wollte unter keinen Umständen alleine sein und wahrscheinlich brauchte sie einen Arzt.

EINIGE TAGE SPÄTER …

Marcel ließ sich selten blicken oder kam immer später nach Hause. Wenn sie ihn danach fragte, meinte er nur, dass sie das nicht zu interessieren habe. Eigentlich war es ihr auch recht. Je weniger sie ihn sah, desto besser. Sie sollte sich von ihm trennen und ihn mit seinem ganzen Kram vor die Tür setzen, aber ihr fehlte bis jetzt der Mut.

Eines Abends erschien Lena an ihrer Haustür und als Maya aufmachte, fragte Lena, ob das »Arschloch« da sei. Maya schüttelte stumm den Kopf und bat Lena hinein.

»Was führt dich zu mir, Lena?«

Lena rutschte auf dem Sofa nach vorne und sah Maya an. In den Augen ihrer Freundin erkannte Maya Kummer. »Wo ist Marcel heute Abend?«

Was sollte diese Frage? »Ich weiß es nicht. Er hat nur gesagt, dass es heute spät werde. Warum fragst du?«

Lena lehnte sich zurück und faltete ihre Hände in ihrem Schoß. »Ich habe ihn in den letzten Wochen mehrmals mit einer anderen Frau gesehen.«

Maya wusste nicht, was sie auf diese Aussage hin empfinden sollte. »Was meinst du, mit einer anderen Frau? Wann und wo?«, fragte sie, obwohl sie eigentlich die Antwort nicht hören wollte.

»Vorgestern zum Beispiel konnte ich ihn in einem Restaurant beim Abendessen beobachten. Die beiden wirkten sehr vertraut. Zu vertraut, falls du verstehst, was ich meine.«

Ihr Herz begann zu bluten und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das ist bestimmt nicht so, wie es aussah.«

Lena nahm Mayas Hand und drückte sie. »Glaub mir, es ist so, wie es aussah. Es war immer dieselbe blonde Frau, mit der ich ihn gesehen habe. Er betrügt dich, Maya.«

Sie schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Er hatte ihr doch immer versichert, wie sehr er sie liebte. Er hatte völlig überzogen eifersüchtig reagiert, als sie mit anderen Männern gesprochen hatte. Würde jemand, der so eifersüchtig ist, selbst fremdgehen? Vermutlich. Wahrscheinlich wusste so jemand, was er in einer vergleichbaren Situation machen würde.

Kurz nachdem Lena gegangen war, kam Marcel nach Hause. Er schien bester Laune zu sein. Bis er sie ansah. »Was ist denn mit dir los? Ist jemand gestorben?«, fragte er beiläufig, während er seine Jacke aufhängte. »Was gibt es zum Abendessen? Ich habe Kohldampf.«

Maya nahm ihren ganzen Mut zusammen und sah ihn fest an. »Wo warst du, Marcel?«

»Mit einem Freund was trinken. Ich hab dir gesagt, es geht dich nichts an, was ich mit wem treibe«, brummte er.

»Klar geht es mich etwas an, wenn du mich hintergehst!« Sie hatte nicht laut werden wollen, aber sie war mit den Nerven am Ende. Erst die Vergewaltigung und dann das.

»Wer behauptet, dass ich dich hintergehe!« Seine Gesichtsfarbe wechselte akut von Weiß in Dunkelrot. »Du lässt dir immer nur Flausen in den Kopf setzen.«

»Flausen!«, rief sie aus, weil sie mit der Situation einfach nicht mehr zurechtkam. »Lena hat dich mehrmals mit einer blonden Frau gesehen! Willst du etwa behaupten, dass da nichts ist?«

Er begann mit geballten Fäusten auf und ab zu gehen. Dann kam er auf sie zu und blieb wenige Zentimeter von ihr entfernt stehen. Er strahlte mit jeder Faser Boshaftigkeit aus und schien allen Sauerstoff zu vernichten.

Maya versuchte, die aufkeimende Angst zu unterdrücken. Würde er so ausflippen wie schon einmal?

»Lena soll sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern und dir nicht Flöhe ins Ohr setzen!« Seine ganze Körperhaltung strahlte Aggression aus und Maya fürchtete sich vor ihm. Dieser Mann war gefährlich und sie hatte gerade das Monster von der Kette gelassen.

Marcel hob die Hand und Maya duckte sich instinktiv. Doch er griff nur nach dem Stuhl, der neben ihm stand, und warf ihn mit großer Wucht um. Der laute Knall echote in ihren Knochen und auch wenn er sie nicht wirklich geschlagen hatte, hatte die Misshandlung des Stuhls dieselbe Wirkung auf sie. Ihr Herz donnerte in ihrer Brust und ihre Knie zitterten, als stünde sie im Epizentrum eines Erdbebens. Aber sie konnte sich nicht zwingen, sich abzuwenden oder auch nur die Klappe zu halten. »Warum streitest du dann ab, dass du dich mit dieser Blonden triffst, wenn da nichts ist?« Sie wich seinem Blick keinen Millimeter aus. Wieso tat sie das? Wieso provozierte sie ihn, obwohl sie wusste, wohin das führen konnte?

Du bist nichts wert … hast nichts anderes verdient … dumm … unfähig. Sie drängte diese zerstörerischen Gedanken in den Hintergrund. Dafür war jetzt keine Zeit. Die Selbstvorwürfe und -zweifel mussten warten, bis sie allein war und genug Gelegenheit hatte, daran zu zerbrechen.

Sie lieferte sich mit ihm ein Blickduell und war nicht bereit klein beizugeben. Sie würde das später bereuen, aber sie wusste gleichzeitig, dass es kein Zurück mehr gab.

»Pass einfach auf, Maya!«, war alles, was er darauf entgegnete. Für ihn schien mit diesem Satz die Diskussion beendet und sie stand da, wie bestellt und nicht abgeholt. Er würdigte sie keines Blickes mehr, drehte sich um und verließ mit einem lauten Knall die Wohnung.

Der Alltag zog sich in vertrauten Mustern dahin. Maya arbeitete sich in der Praxis bucklig und Marcel spielte den Pascha. Er sprach nicht mit ihr, ließ sich jedoch von vorne bis hinten bedienen. Manchmal kam er nachts nicht nach Hause, machte aber regelmäßig Kontrollanrufe, um zu sehen, ob sie zu Hause war. Er misstraute ihr. Warum schaffte sie den Absprung nicht? Sie war früher schon alleine gewesen, also konnte es daran nicht liegen. Sie wusste, dass diese Beziehung Gift war, doch sie war nicht fähig, den Schlussstrich zu ziehen. Sie war ein Feigling, wie er im Buche stand.

Ein Jahr zuvor hatte sie ihren Mitarbeiter Toni Schäfer kennengelernt und angestellt. Als Tonis Jahrestag in der Physiotherapie am See anstand, beschloss Maya, mit ihm essen zu gehen. Sie fragte sich, wo dieses Jahr geblieben war. Das Gefühl, dass es in privaten Dingen ein verlorenes Jahr gewesen war, füllte sie zunehmend aus, doch sie schob es resolut beiseite und konzentrierte sich auf den bevorstehenden Abend.

Toni hatte sich als wertvoller Mitarbeiter entpuppt und sie wollte ihm bei dieser Gelegenheit Danke für seine Hilfe sagen. Maya wusste, dass Marcel an diesem Abend anderweitig beschäftigt war und ebenfalls spät nach Hause kommen würde. Während sie sich im Bad für den Abend richtete, drängten sich ungewollt die Erinnerungen an diesen Morgen wieder an die Oberfläche, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie abends mit Toni essen gehen und ein Qualifikationsgespräch führen würde. Marcel war wie zu erwarten durchgedreht und hatte sie mit scharfem Ton gefragt: »Willst du das heute Abend wirklich durchziehen?«

Sie zog instinktiv den Kopf ein. »Du bist doch heute Abend auch nicht da und es handelt sich hier um eine geschäftliche Besprechung. Du kennst doch Toni inzwischen.« Sie hatte diese ewigen gleichen Diskussionen satt.

»Der will etwas von dir. Ich kann das sehen.« Die nächste alte Leier.

Maya musste sich zusammenreißen, damit sie nicht die Augen genervt verdrehte. »Hör auf damit, Marcel. Darüber haben wir oft genug gestritten. Er ist mein Mitarbeiter. Mehr nicht.«

Sie nahm sich vor, sich nicht vom miesepetrigen Verhalten ihres Partners die Laune verderben zu lassen. Als sie nun im Restaurant saßen und ein belangloses Gespräch führten, fiel Maya auf, dass sie Toni kaum kannte. Sie war ihm immer distanziert entgegengetreten aus Sorge, Marcel könnte einen Eifersuchtsanfall bekommen.

Nach dem Essen gingen sie noch in eine Bar, um den Abend gebührend abzuschließen. Maya genoss diese ungezwungenen Stunden in vollen Zügen. Wann war sie das letzte Mal so entspannt gewesen? Keine Angst, dass sie zu lange mit einem fremden Mann sprach oder sich zu euphorisch benahm, nur weil ihr danach war. Sie konnte für einmal freier atmen und war dewegen fast den Tränen nahe.

Toni und Maya setzten sich an die Theke und bestellten zwei Proseccos. Als die Gläser vor ihnen standen, nahm sie ihres und hielt es hoch. Sie stießen schweigend an und nahmen einen Schluck. Das Prickeln der Gasbläschen an ihrem Gaumen brachte sie zum Lächeln. Ein Gefühl, das ihr fremd geworden war.

»Ich möchte dir für die gute Zusammenarbeit danken. Ich bin sehr zufrieden und hoffe, es gefällt dir bei mir.«

Toni hob sein Glas noch einmal und grinste. »Ich danke dir, Maya, dass ich bei dir arbeiten darf.«

Sie winkte ab. »Ach was, ich habe zu danken«, ergriff sie noch einmal das Wort. »Ich bin sehr froh, dich in meinem Team zu haben und deshalb bekommst du ab nächstem Monat eine Lohnerhöhung. Du hast es dir mehr als verdient.« Sie lächelte ihn an und hoffte, dass er im schummrigen Licht der Bar nicht sah, dass ihre Wangen glühten.

Er begann über das ganze Gesicht zu strahlen und sie stießen zum zweiten Mal an. »Vielen Dank, Boss. Ich weiß gerade nicht, was ich dazu sagen soll.«

Warum konnte sie nicht einen Mann haben, der ein bisschen so wie Toni war? Anständig, kultiviert und humorvoll. »Ich habe noch eine Neuigkeit. In zwei Monaten werden wir für ein halbes Jahr einen Praktikanten bekommen. Danach werden wir alle sechs Monate einen neuen Praktikanten haben. Ich hoffe, du kannst damit leben.«

Toni nickte und schien begeistert. »Ja klar. Das wird spannend und wir lernen wieder Neues, da …«

Plötzlich erklang hinter ihr eine ihr nur allzu bekannte Stimme und ihr gefror das Blut in den Adern. »Guten Abend.«

Toni und Maya drehten sich gleichzeitig um. Sie sah sich Marcel gegenüber, der sie mit zusammengekniffenen Lippen anstarrte.

Sie suchte verunsichert nach den richtigen Worten. »Hallo Schatz, was machst du denn hier? Komm, setz dich zu uns.«

Marcel funkelte sie beide böse an. »Nein. Ich gehe nach Hause. Komm mit!«

Wut durchfuhr sie von Kopf bis Fuß. Wut war gut, denn sie gab ihr Kraft. Er wollte sie am Ellbogen packen, doch sie riss sich los. Was fiel dem Kerl ein! »Nein. Ich komme nicht mit. Ich habe mit Toni noch ein paar Dinge zu besprechen.« Sie hatte genug von dem ganzen Theater. Woher sie den Mut für die Widerrede hatte, war ihr schleierhaft und sie würde das höchstwahrscheinlich später büßen.

»Dann muss ich also alleine nach Hause und dort auf dich warten?« Seine Stimme war drohend leise und so kalt wie Trockeneis.

»Ja, so wird es wohl sein.« Ihr Groll brodelte weiter hoch, doch Marcel drehte sich überraschend auf dem Absatz um und stakste davon.

Toni starrte sie verwirrt an und sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas. »Sorry, Maya, wenn ich dir jetzt zu nahe trete, aber hast du das nötig?«

Sie verschluckte sich und Toni klopfte ihr fürsorglich auf den Rücken. Als sie wieder zu Atem gekommen war, antwortete sie ihm knapp: »Wer braucht das schon? Mir fehlt momentan die Kraft, es zu ändern.«

»Wie du meinst.« Toni nahm einen Schluck von seinem Prosecco und sah weg. Maya schämte sich für ihre Feigheit bis in die Haarspitzen. Zum Glück beließ es Toni dabei und wechselte zu unverfänglicheren Themen.

Als sie zwei Stunden später nach Hause kam, schlief Marcel tatsächlich schon. Sie war so lange geblieben, weil sie Angst davor hatte, dass Marcel wieder Hand an sie legen würde. Als sie am nächsten Morgen aufstand, war Marcel bereits weg und als sie nach Feierabend heimkam, fand sie auf dem Esstisch eine Notiz von Marcel. Er teilte ihr auf diesem Weg mit, dass er zu seiner Exfrau zurückgegangen sei. Er wollte es noch einmal mit ihr versuchen.

Maya ließ sich auf den Stuhl sinken und wusste nicht, was sie in dem Moment empfinden sollte. Nach knapp zwei Jahren buchstäblicher Knechtschaft verließ er sie einfach so. Auch seine Sachen waren schon weg.

Obwohl Maya eigentlich hätte froh sein müssen, diesen Mistkerl endlich los zu sein, fühlte sie sich vor den Kopf gestoßen und konnte sich erst gar nicht rühren. Wäre sie ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte sie lange vorher schon gespürt, dass etwas im Busch war. Sie hatte jedoch auf blind und taub gestellt. Eigentlich hatte ihr Marcel einen Gefallen getan. Er hatte die Entscheidung getroffen, für die sie selbst zu feige gewesen war.

Die Art und Weise, wie sie von Marcel sitzen gelassen worden war, machte ihr zu schaffen. Der verletzte Stolz war ein Fluch für sich. Wegen Marcels Verhalten vertraute Maya niemandem mehr, konnte nicht mehr schlafen und agierte wie ferngesteuert. Einzig Lena und Toni bewahrten sie vor dem totalen Absturz.

Die Monate zogen dahin und Maya trauerte Marcel trotz allem nach. Vielleicht war es nicht einmal so sehr der Mensch Marcel, den sie vermisste. Wahrscheinlich war es das Alleinsein, das ihr Mühe bereitete. Irgendwann beschloss sie, dass sich etwas ändern musste. Aufhören mit Trübsal blasen. Deshalb schaltete sie eines Abends ihren Computer ein, ging ins Internet und gab die Adresse einer Website ein, die schon lange in aller Munde war.

Nachdem sie sich registriert hatte, definierte sie ihr Profil, schaute sich auf der Site um und begab sich auf die Suche nach Freunden.

MAIL-UNTERHALTUNG

(von Englisch auf Deutsch übersetzt)

13. März: Hallo Maya König. Ich bin Randy Thomas und lebe in Los Angeles. Ich habe dein Profil gesehen. Hättest du Lust, mir zu schreiben?

14. März: Lieber Randy. Es hat mich gefreut, dass du Kontakt mit mir aufgenommen hast. Es wäre schön, wenn wir Freunde sein könnten. Was machst du so in deiner Freizeit? Und was arbeitest du? Ich lebe in der Schweiz.

16. März: Randy? Bist du noch da? Wenn du nicht mehr schreiben willst, sag es einfach. Okay?

18. März: Guten Morgen, Maya. Entschuldige, dass ich erst jetzt antworte. Aber ich war geschäftlich unterwegs. Ich arbeite als Lichttechniker bei einem der Filmstudios in Hollywood, daher ist mein Leben, sagen wir, etwas unstet.

In meiner Freizeit lese und koche ich gerne. Am liebsten italienisch oder asiatisch.

Was treibst du so die ganze Woche? Was arbeitest du?

19. März: Hi Randy. Es ist schön, von dir zu hören. Holla, du bist Lichttechniker beim Film? Das klingt spannend. Die vielen Reisen und die vielen aufregenden Leute.

Ich bin Physiotherapeutin und besitze eine eigene Praxis. Wenn ich mal nicht arbeite, lese ich ebenfalls gerne und, bitte nicht lachen, schreibe an einem Buch. Mehr gibt es eigentlich bei mir nicht zu berichten. Ganz schön langweilig, im Vergleich zu dir.

21. März: Liebe Maya. Warum sollte ich darüber lachen, dass du ein Buch schreibst? Das ist doch toll. Wo in der Schweiz wohnst du? Nächste Woche muss ich wieder einmal für zwei Wochen beruflich verreisen. Wir drehen in Mexiko. Du wirst aber bei nächster Gelegenheit von mir hören. Großes Ehrenwort. Ich muss zugeben, dass es Spaß macht, mich mit dir zu unterhalten.

22. März: Randy. Ich beneide dich. Du kannst, während du arbeitest, die ganze Welt bereisen. Das klingt so aufregend! Wollen wir die Plätze tauschen?

Ich wohne circa eine halbe Autofahrstunde von Zürich entfernt, am linken Zürichsee-Ufer. Du kannst das ja mal in einem Atlas nachschlagen oder Dr. Google fragen.

Wenn du von Mexiko zurück bist, musst du mir unbedingt alles erzählen und ich weiß jetzt schon, dass es sich dann so anfühlen wird, als wäre ich selbst dort gewesen.

30. März: Maya. Mexiko ist unbeschreiblich. Wenn du einmal die Gelegenheit bekommen solltest, dahin zu reisen, nutze die Chance. Die Landschaft, die Geschichte, einfach unglaublich. Ich werde auf jeden Fall einmal in meiner Freizeit nach Mexiko fahren.

Ich glaube kaum, dass du mit mir tauschen möchtest. Mein Job ist stressig, schlecht bezahlt und die unregelmäßigen Arbeitszeiten erlauben kaum ein Leben neben der Arbeit.

Ich habe tatsächlich im Atlas nachgeschaut. Es war mir bisher nie bewusst, wie klein die Schweiz eigentlich ist. Vielleicht werde ich auch einmal bei dir in der Nähe drehen. Das wäre toll, dann könnten wir uns vielleicht treffen.

Darf ich fragen, wie du aussiehst? Die Katzen auf deinem Profilbild sind ja schön, aber nicht sehr hilfreich. ;-)

3. April: Lieber Randy. Irgendwie tut es mir gut, mich mit dir zu unterhalten. Danke, dass du dir Zeit für mich nimmst. Jetzt habe ich wieder etwas, worauf ich mich freuen kann: Nachrichten von dir! Ich bin froh, dass in Mexiko alles glattläuft.

Und im Übrigen: Gleichfalls! Du mit deinem Profilbild eines Ford Mustangs … ;-) Pass auf dich auf. Bitte.

4. April: Liebe Maya. Was ist los mit dir? Du scheinst niedergeschlagen zu sein.

Aber in einem Punkt hast du recht. Auch du hast die Freude in mein Leben zurückgebracht. Vergiss eines nicht, ich werde immer Zeit für dich haben. Und mach dir ja keine Sorgen um mich. Bitte! Ich pass gut auf mich auf. Versprochen.

6. April: Lieber Randy. Entschuldige bitte, dass ich letztes Mal so down war. Es wird nicht mehr vorkommen. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich mir keine Sorgen um dich machen werde. Das passiert eben automatisch, wenn man befreundet ist.

Übrigens, ich habe kürzlich einen Reisebericht über die Kanalinsel Jersey gesehen. Da ist es ja wunderschön! Warst du schon einmal da? Dahin würde ich echt gerne mal reisen. Da ist es so kitschig wie in einem Rosamunde Pilcher-Roman.

9. April: Hallo Maya, Freundin ;-). Sind wir denn Freunde, Maya?

Ja, natürlich sind wir das. Du musst dich für deine Stimmungen niemals bei mir entschuldigen. Auch dafür sind Freunde da. Oder nicht? Ich mag dich, wie du bist. Punkt.

Ja, ich kenne Jersey. Sehr gut sogar. Ich war schon oft da. Sagen wir es mal so: Jersey ist meine Oase.

12. April: Randy, Freund :-). Du machst mich neidisch. Erstens lebst du im sonnigen L. A. Zweitens kannst du beruflich durch die ganze Welt reisen und drittens kennst du Jersey.

Das Leben ist manchmal ganz schön fies. Nicht, dass du mich jetzt falsch verstehst. Ich freue mich für dich. Ich fühle mich einfach zurzeit gefangen in meinem eigenen Leben.

13. April: Liebe Freundin. Ich muss immer lachen, wenn du schreibst. Dein Englisch ist manchmal ziemlich lustig. Aber ich glaube, ich verstehe dich schon richtig. Sorry, sei mir bitte nicht böse! Es ist schön, zu sehen, wie du dich bemühst. Im Übrigen bist du schon besser geworden.

Du musst überhaupt nicht neidisch auf mich sein. Glaub mir, dazu besteht absolut kein Grund. Ich würde liebend gerne mit der langweiligen Gefangenschaft von dir tauschen. Aber irgendwann, das verspreche ich dir jetzt, nehme ich dich mit nach Jersey. Dann werde ich dir alles zeigen und glaube mir, wenn ich sage, dass ich immer zu meinem Wort stehe.

3. Juni Liebe Maya, ich bin unterwegs nach Brasilien. Wieder ein Dreh, der mich vier Wochen lang aus dem Koffer leben lässt. Ich bin es langsam müde, ständig allein in einem anonymen Hotelzimmer einzuschlafen. Rio ist zwar eine pulsierende Stadt, aber ich fürchte, sie wird nie meine Stadt des Herzens.

30. Juni: Hi Randy! Hier der inzwischen zur Routine gewordene Wochenbericht *LOL*. Es geht mir gut und bei der Arbeit herrscht der übliche Wahnsinn des Alltags.

Wie geht es dir? Wie kommt ihr in Brasilien voran? Schon bald sind die gefürchteten vier Wochen vorbei. Meldest du dich, wenn du wieder zu Hause bist?

2. Juli: Hallo Maya-Maus! Heute geht’s ab nach Hause. GsD. Ich bin froh, dass dieser Job endlich vorbei ist. Ich sitze gerade am Flughafen in Rio. Da steht ein Flugzeug, das nach Zürich fliegt. Am liebsten würde ich einsteigen und mich danach für Wochen bei dir verkriechen. Ich würde dich so gerne einmal umarmen. Würdest du mir das erlauben?

2. Juli: Lieber Randy! Ja, komm. Ich gebe dir jederzeit Asyl. Es ist so eigenartig mit dir. Je mehr wir Kontakt haben, desto mehr scheine ich dich zu vermissen …

31. August: Liebste Maya, ich weiß nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören soll. Wo führt das mit uns hin? Ich stehe morgens nur auf, weil ich hoffe, eine Nachricht von dir in der Mailbox zu haben. Wie kann es sein, dass diese Freundschaft, nur in der Cyberwelt gepflegt, so intensiv werden kann?

2. September: Lieber Randy! Ich habe auch keine Ahnung. Aber das, was ich empfinde, kann ich nicht in Worte fassen. Ich hatte noch nie mit einem Mann eine so schöne und vertraute Art der Verbindung.

Du bildest da wohl die exklusive Ausnahme, Hollywood-Boy.

5. September: Hollywood-Boy? Du wirst langsam frech, kleine Maya.

6. September: Woher willst du wissen, dass ich klein bin? Wir haben immer noch keine Fotos ausgetauscht.

6. September: Das ist wahr. Aber ich fühle, dass du schön bist und zart und … sorry… sexy. Wie oft wünsche ich mir, dich zu berühren und zu fühlen. Und im Gegenzug deine Hände auf mir zu spüren? Ich glaube, es ist jetzt besser, die Klappe zu halten.

Schlaf gut, schöne Maya.

10. September: Maya? Was ist los? Ist es wegen meiner letzten Nachricht? Ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen. Es hat da wohl der schwanzgesteuerte Idiot aus mir gesprochen. Ich werde mich aber nicht dafür entschuldigen, dass ich die Wahrheit ausgesprochen habe.

14. September: Keine Bange, Randy. Ich bin dir nicht böse. Du hast mich nur etwas erschreckt. Weißt du, ich kommuniziere nicht ohne Grund mit dir, einem Mann, über das Internet. Ich bin nicht gut in solchen Dingen.

14. September: Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehnsüchtig ich auf eine Antwort von dir gewartet habe. Ich war in diesen Tagen nicht zu gebrauchen. Das Letzte, was ich will, ist dir Angst zu machen, Maya-Maus.

Trotzdem möchte ich dich aber fragen: Hast du Probleme mit Sex und allem was dazugehört? Hat man dir wehgetan, liebste Maya?

15. September: Lieber Randy. Dieses Thema besprechen wir vielleicht ein anderes Mal. Okay? Aber ja, es gibt einen Grund, weshalb es keinen Mann in meinem Leben gibt.

16. September: Was, keinen Mann?!?! Bin ich etwa kein Kerl? Ich kann dir versichern, dass ich einer war, als ich das letzte Mal nachgesehen habe. Alles dran und voll funktionsfähig ;-).

Übrigens, die haben jetzt eine Chatfunktion auf der Seite eingerichtet. Jetzt könnten wir uns in Real Time unterhalten. Ohne ständig auf das Antwortmail warten zu müssen …

MONTAG

Maya

Montag, halb sieben in der Früh. Schlaftrunken schaute Maya zur Holzdecke ihres Schlafzimmers und versuchte, sich an die reale Welt zu gewöhnen. Sie hatte wieder einmal geträumt. Doch die Bilder des Traumes waren bereits flüchtig wie Gas und nicht zu greifen.

So, Maya, komm hoch. Langsam bewegte sie sich in die Dusche und das heiße Wasser weckte ihre Lebensgeister. Immer wenn sie so wirres Zeug geträumt hatte, fühlte sie sich am Morgen wie erschlagen.

Als sie die Küche betrat, warteten bereits Hemingway, der British Shorthair-Kater, und Luna, die Birma-Kätzin, auf sie. Die zwei Fellnasen schauten sie aufmerksam an und hofften, dass Maya ihre Futternäpfe auffüllte. Was würde sie ohne die beiden machen? Sie waren ihre Anker im schnöden Takt ihres Lebens.

Sie warf einen kurzen Blick auf die Wanduhr. Sie musste sich dringend auf den Weg machen, sonst standen die ersten Patienten vor der verschlossenen Tür. Sie stieg in ihren blauen VW Eos. Die Sonne schien bereits warm vom Himmel, weshalb sie das Cabrio-Dach runterließ. Offen zu fahren, weckte in Maya das Gefühl von Abenteuer und sie wähnte sich frei und sorgenlos.

Ihre Gedanken wanderten während der Fahrt zu Randy. Diese eigenartige, wunderbar intensive Freundschaft hielt sie über Wasser. Er war ihr Fels in der Brandung und irgendwie das, was ihrem der Mann der Träume am nächsten kam.

In der Praxis machte sie sich zuerst einen großen Kaffee, um dem chronischen Schlafmangel Paroli zu bieten. Währenddessen ließ sie das Klingeln des Telefons hochschrecken. Sie stellte die Tasse ab und ging zum Telefonapparat. »Physiotherapie am See, König.«

»Hey, guten Morgen, Süße. Hast du gut geschlafen?«

Die überlebendige Stimme, die vom anderen Ende der Leitung zu ihr herüberschwappte, kannte sie in- und auswendig. Ihre beste Freundin Lena hatte sie schon durch viele dunkle Stunden begleitet und wusste, was bei Maya im Argen lag.

»Guten Morgen«, entgegnete Maya und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, weshalb du in so frühen Stunden so fit bist. Ich habe gut geschlafen, aber zu wenig.«

»Warst du wieder bis tief in die Nacht am Computer?«, fragte Lena leicht vorwurfsvoll.

»Mmmh. Es wurde drei.«

»Maya, du musst mehr schlafen.«

Maya verdrehte die Augen. »Ja, Mutter.«

»War es wieder Randy?« Noch eine Frage, die mit Mayas Seufzen quittiert wurde.

Der einzige Nachteil bei der Sache mit Randy war der enorme Zeitunterschied von neun Stunden. Randy war ungezwungen, easy. Diese Beziehung bedeutete Sicherheit für ihr emotionales Korsett. Wie sah Randy wohl aus? Er hatte ihr bis heute kein Foto geschickt. Sie hatte seinem Drängen vor ein paar Wochen nachgegeben und ihm ein etwas älteres Bild von sich gezeigt. Insgeheim hegte sie die Hoffnung, dass er diese Gefälligkeit erwiderte. Doch bis jetzt hatte er nichts dergleichen getan. Vielleicht hätte sie das nachdenklich stimmen sollen. Sie ließ hier aber keine Zweifel zu. Dafür war ihr diese Freundschaft zu wichtig.

»Hallo Maya, bist du noch da?«, riss sie Lenas Stimme aus den Gedanken.

»Ja! Was willst du eigentlich in aller Herrgottsfrühe von mir?« Eine kurze Stille trat ein. Maya war ein Morgenmuffel und das würde sich wahrscheinlich nie ändern.

»Ich wollte dich fragen, ob du morgen mit mir zum Squash spielen kommst. Ich habe Lust, mich wieder einmal auszupowern.«

Maya fühlte sich hin- und hergerissen. Sie wusste, dass es ihr guttun würde, etwas in der realen Welt zu unternehmen. Es war viel zu lange her und es war auch wichtig, die Freundschaft mit Lena zu pflegen. Ihr gesamtes soziales Leben hatte sich in den letzten Monaten nur noch auf den Chat mit Randy beschränkt. »Wann wolltest du denn gehen?«

»Ich habe den Platz für zwanzig Uhr reserviert. Danach könnten wir noch was trinken gehen. Ein richtiger Mädelsabend.«

Eigentlich hatte sie sich mit Randy im Chatroom verabredet. Sie wusste aber, dass Lena es ihr übelnahm, wenn sie ihr seinetwegen einen Korb gab. Noch bevor Maya antworten konnte, hörte sie ein verärgertes Schnauben am anderen Ende. »Lass mich raten. Du kannst nicht kommen, weil du dich mit Randy verabredet hast. Stimmt’s?«

Oh, Mann. Sie rieb sich über das Gesicht. Wie kam sie hier unbeschadet wieder heraus? »Nein, Lena. Es ist nur …« Erst wollte sie flunkern, doch dann besann sie sich, denn Lena kannte sie zu gut. »Ja. Du hast recht. Aber ich werde ihm eine E-Mail schreiben, dass ich morgen nicht kann. Okay?«

»Maya, das wird langsam zu einer Besessenheit. Such dir doch endlich einen Mann aus Fleisch und Blut. Nicht so einen Cybertypen, von dem du noch nicht einmal weißt, wie er aussieht.«

»Randy ist aus Fleisch und Blut!« Ihr Magen zog sich vor Ärger zusammen, aber nur, weil ein kleiner Teil von ihr wusste, dass Lena recht hatte.

»Du weißt, was ich meine, Maya. Ich rede von einem Mann, den du anfassen kannst. Einen zum richtig küssen und fühlen. Im Vergleich zu deiner sterilen Beziehung mit Randy ist Safer Sex geradezu waghalsig.«

»Lena, lass das. Du weißt, wie ich für Randy empfinde. Ist es meine Schuld, dass er am anderen Ende der Welt lebt und wir beide keine Möglichkeit haben, uns zu besuchen? Momentan zumindest. Ich kann nicht von der Praxis weg und er hat kein Geld für ein Flugticket. Glaubst du etwa, wir hätten nie über die Möglichkeit gesprochen? Im Moment geht es einfach nicht.«

Lena schnaubte erneut in den Hörer. »Alles Ausreden«, warf sie erbost ein, »ihr drückt euch! Ihr habt beide Angst davor, den anderen zu enttäuschen. Du hast Schiss, dass er dich für genauso unscheinbar hält wie du dich selbst. Und was ihn betrifft, kann ich nur spekulieren. Er schickt dir ja kein Foto. Aber wahrscheinlich geht es ihm auch so. Überhaupt, im Zeitalter von Skype und FaceTime müsste man meinen, dass man sich auch mal auf diese Weise unterhält. Daher sage ich es dir offen und ehrlich. Ihr beide seid Feiglinge!«

Hatte Lena neuerdings den Master in Psychologie? Sie hatte nämlich genau ins Schwarze getroffen. Maya hatte sich auch schon gewundert, weshalb sich Randy bisher geweigert hatte, ihr ein Foto zu schicken. Dennoch fühlte sie sich in der gegenwärtigen Situation einfach sicher vor Verletzungen und Missbrauch.

»Lassen wir das Thema. Okay? Wann treffen wir uns morgen?«, wich sie dem Thema resignierend aus und hörte, wie Lena angespannt Luft ausblies.

»Ich meine es ja nur gut. Aber in Ordnung, treffen wir uns morgen so gegen Viertel vor acht. Passt das für dich?«

»Ja. Dann bis morgen.« Auch Lena schien sich geschlagen zu geben.

Maya legte seufzend auf. Sie wusste, dass sich Lena nur Sorgen machte. Sie hatte Angst, dass Maya irgendwann zu einem internetsüchtigen Zombie mit fettigem Haar und Flaschenbodenbrille auf der Nase mutierte. Aber was sollte sie tun. Randy hatte es ihr angetan und sie konnte nicht erklären, woran das lag. Wenn sie doch nur über ihren eigenen Schatten springen und zu jemand anderem werden könnte. Jemand der mutig war und genügend Selbstvertrauen hatte.

Sie öffnete ihren E-Mail-Account und begann, eine Nachricht an Randy zu verfassen. Sie berichtete ihm von den Plänen ihrer Freundin und schlug ihm vor, dass sie sich am Abend darauf verabreden könnten. Sie las die Mail noch einmal durch und hoffte, dass er es ihr nicht übelnahm. Nun musste sie sich aber wirklich beeilen, bald trudelte Toni ein und sie hatte noch gar nichts zuwege gebracht.

»Guten Morgen, Boss!«, sagte dieser knappe zwei Minuten später und für ihren Geschmack viel zu laut mit einem breiten Grinsen.

»Morgen«, murmelte sie leise und blinzelte ihn an.

Toni sah sie kurz an und grinste weiter. »Oh, oh. Wieder eine kurze Nacht gehabt?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Sie nickte zur Antwort. Toni wusste auch von Randy. Er ersparte ihr aber jegliche Kommentare diesbezüglich. Er hatte die schwere Zeit ihrer Beziehung mit Marcel und die Trennung von ihm miterlebt. Auf seine Art nahm er Rücksicht und dafür war sie ihm dankbar.

»Was steht heute an? Wie viele Köpfe dürfen wir abreißen?« Tonis Humor war legendär und er war vor allem bei den weiblichen Patienten sehr beliebt. Er hatte ein Talent, angespannte Situationen zu entschärfen und seine Mitmenschen aufzumuntern.

»Der Plan ist voll. Kein Plätzchen mehr«, sagte sie unter einem ausgedehnten Gähnen.

Kaum hatte sie einen Punkt hinter diese Aussage gesetzt, erklang auch schon die Türglocke, welche den ersten Patienten ankündigte.

Toni schielte vorsichtig um die Ecke und meinte: »Ist deine.«

»Okay. Dann mal los«, sagte sie mehr zu sich selbst, als die Klingel ein zweites Mal ertönte. Sie zwinkerte ihm zu und sagte: »Ist deiner.« Worauf sich Toni ebenfalls erhob. Sie verließen nacheinander das Büro und nahmen die beiden Patienten mit.

Der nächste Kunde ließ eine halbe Stunde später noch auf sich warten und Maya nutzte die Zeit für einen Blick in die Mailbox. Sie staunte nicht schlecht, als sie sah, dass Randy bereits geantwortet hatte. Es war immerhin nach Mitternacht in Los Angeles und er musste ebenfalls früh aufstehen.

Liebste Maya-Maus, schade, ich habe mich schon auf das Gespräch mit dir gefreut. Aber es freut mich, dass du endlich mal ausgehst. Du sitzt viel zu oft alleine zu Hause. Obwohl ich hier wahrscheinlich eine Mitschuld trage.

Leider bin ich am Mittwoch verhindert, da ich beruflich in Las Vegas bin. Wie wäre es, wenn wir uns heute sprechen?

Liebe Grüße und einen Kuss

Dein Randy

Die Aussicht, ihn heute schon wieder online zu treffen, hob ihre Stimmung beträchtlich. Sie antwortete ihm und teilte ihm mit, ab wann sie erreichbar war.

Gut gelaunt nahm sie noch den letzten Schluck Kaffee, bevor es mit der Arbeit weiterging. Draußen wartete Herr Daniel bereits. Er litt an einer Arthrose im Kniegelenk und kam für ein präoperatives Aufbautraining. Maya mochte Herrn Daniel gern. Er war wie ein lieber Vater und er hatte sie schon von der ersten Therapiesitzung an durchschaut. Normalerweise war sie eine gute Schauspielerin und ihre Kunden merkten nichts von ihren Stimmungen. Herr Daniel jedoch brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen, wie die Wetterlage war.

»Guten Morgen, Herr Daniel. Sind Sie bereit für die nächste Folter-Session?« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie und antwortete gleichzeitig: »Ich werde bereit sein müssen. Wie mir scheint, ist Ihr Morgen heute besonders gut. Aber ich sehe verräterische Schatten unter Ihren Augen. Wieder zu wenig geschlafen?«

Ihr Gesicht begann verräterisch zu brennen. Dieser Mann konnte so entwaffnend sein, dass es beinahe ungesund war. Er stand grinsend auf und sie gingen gemeinsam in den Trainingsraum. Maya enthielt sich vorsorglich einer Antwort.

»Zuerst wärmen Sie sich sechs Minuten auf dem Fahrradergometer auf.«

Ihr Patient stieg auf und begann in die Pedale zu treten. Maya ging unterdessen noch einmal ins Büro, um den Trainingsplan zu holen, den sie dort liegengelassen hatte. Als sie den Raum betrat, saß dort Daniela, die Praktikantin, und las in aller Ruhe die Zeitung, obwohl deren Patient bereits wartete. Als sie Maya sah, tippte sie auf ein Foto und begann zu schwärmen: »Patrick Roderick, dieser Schauspieler, ist so süß.« Maya musste ihr ausnahmsweise recht geben. Patrick Roderick sah wirklich gut aus, aber man ließ einen Kunden deswegen nicht warten.

»Daniela, draußen wartet dein Patient. Er sieht vielleicht nicht so gut aus wie Roderick, aber er verdient trotzdem eine gute Behandlung. Los, an die Arbeit!« Daniela sah sie mürrisch an und stand mit einem lauten Seufzer auf.

Maya schnappte sich Herrn Daniels Unterlagen und warf beim Rausgehen noch einmal einen Blick auf das Foto von Patrick Roderick. Er war ein echter Adonis. Das dunkle Haar trug er im Out-of-Bed-Look und die blauen Augen funkelten neckisch in die Kameralinse. Sein großer, muskulöser Körperbau verlangte beinahe nach einem Waffenschein. Unwillkürlich dachte sie daran, dass Randy durch seine Arbeit tagtäglich mit Stars wie Roderick zu tun hatte. Beeindruckend! So dachte sie zumindest. Randy schien weniger glücklich damit zu sein.

Die sechs Minuten waren bestimmt schon vorbei und Maya eilte zurück zu ihrem Patienten. Herr Daniel war noch immer am Strampeln. »So, schon am Schwitzen?«, fragte sie ihn mit einem Zwinkern, als sie zurückkam.

»Ja, schon ein wenig. Womit werden Sie mich heute quälen?« Der ältere Mann grinste sie breit an, wodurch sich feine Fältchen um seine fröhlichen Augen bildeten.

Sie lachte auf und führte ihn zuerst zur Leg-Press, wo er sich hinsetzte und sie stellte das Gewicht ein. Er kannte die Übung bereits und begann sofort. Sie zählte laut bis zwanzig und gönnte ihm dann eine kurze Pause. Herr Daniel begann zu plaudern und kleine Schweißperlen traten auf seine Stirn.

»Nun erzählen Sie mal, weshalb Sie a) so gute Laune und b) zu wenig geschlafen haben.«

Sie schaute verlegen zu Boden. Normalerweise besprach sie keine privaten Dinge mit Patienten. Doch Herrn Daniel umgab eine väterliche Aura und er traute sich, relevante Fragen zu stellen. Bei ihm hatte sie nie eine große Wahl gehabt. »Randy und ich haben uns lange im Chatroom unterhalten und es ist wieder einmal spät geworden«, fasste sie die Geschichte schlicht zusammen.

Eine kleine Falte bildete sich zwischen Herrn Daniels Augenbrauen. Dann begann er mit dem zweiten Satz der Übung. Nachdem er die zwanzig Wiederholungen gemacht hatte, schaute er sie an.

»Frau König, darf ich Sie einmal etwas ganz Persönliches fragen?« Maya nickte kommentarlos. »Wie stellen Sie sich das in der Zukunft vor? Ich meine, Sie sind eine hübsche junge Frau und Sie scheinen diesen Randy zu lieben. Wo, haben Sie gesagt, lebt er?« Sie wollte gerade antworten, als er sich selbst bereits die Antwort gab. »Ach ja, Los Angeles.« Er machte eine kurze Pause, als müsste er sich die folgenden Worte zurechtlegen. »Wollen Sie für immer so weitermachen?«

Sie zuckte nur mit den Schultern. Maya überkam das Gefühl, Opfer eines Komplotts geworden zu sein. »Wissen Sie, über so etwas mache ich mir momentan keine Gedanken. Ich kann mir zurzeit nicht vorstellen, eine richtige Beziehung zu führen. Das mit Randy ist einzigartig. Wir haben keine Erwartungen aneinander und genießen einfach die Zeit, die wir zusammen verbringen.« Weil du ein Feigling bist. Du bist eh nicht fähig, einen Mann glücklich zu machen! Die Stimme in ihrem Kopf war ihr nur allzu bekannt und sie schob sie resolut beiseite.

»Aber haben Sie sich nie gewünscht, ihn einmal zu sehen, zu hören oder, verzeihen Sie, wenn ich etwas unverschämt bin, zu fühlen?«

Was war denn heute nur los? »Sie kennen nicht zufällig meine Freundin Lena?« Herr Daniel sah sie verwundert an. »War ein Scherz. Ich hatte gerade heute Morgen mit Lena eine ähnliche Diskussion. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen. Natürlich wünsche ich mir so was. Aber …«

»Aber was?«, half er ihr auf die Sprünge.

»Ich habe Angst davor, dass das, was wir jetzt haben, zerstört wird. Es ist eben etwas kompliziert.« Nix ist kompliziert! Man müsste nur mutig sein.

Herr Daniel machte sich an den dritten und letzten Satz auf der Leg-Press. Er schien nachzudenken und sie fragte sich, worüber.

Nachdem er fertig war, setzte er sich auf und sah sie noch einmal eindringlich an. »Ich verstehe, was Sie meinen, aber manchmal muss man über den berühmten eigenen Schatten springen. Sich dabei zu seinem Glück zwingen«, meinte Herr Daniel wohlwollend.

»In dieser Hinsicht haben Sie recht. Es gibt jedoch ein winziges Problem, das man nicht außer Acht lassen kann. Er lebt am anderen Ende der Welt. Wir könnten uns nur wenige Wochen im Jahr sehen und jedes Mal, wenn wir uns wieder verabschieden müssten, würde mein Herz aufs Neue brechen.«

Herr Daniel schwieg kurz. Maya nutzte die Chance, um ihm die nächste Übung zu zeigen und sich insgeheim etwas zu fangen. »Herr Daniel, sind Sie hergekommen, um mein Liebesleben zu durchforsten oder um etwas für Ihr Knie zu tun?« Sie unterstrich die scherzhafte Frage mit einem Augenzwinkern und erntete ein warmes Lächeln ihres Patienten. Sie holte die Langhantel mit jeweils einer 2,5 kg-Scheibe an beiden Enden. Zusammen mit der Hantelstange ergab das eine Last von 15 Kilogramm.

»Setzen Sie die Hantel hinter dem Kopf auf Ihren Schultern ab. Dann gehen Sie in die Knie. Bitte nicht über die Schmerzgrenze. Danach wieder hoch.«

Der ältere Herr übernahm die Langhantel und begann mit dem sogenannten Squating