Das Tagebuch von Longdale Manor - Carrie Turansky - E-Book

Das Tagebuch von Longdale Manor E-Book

Carrie Turansky

0,0

Beschreibung

Die Kunsthistorikerin Gwen Morris reist in den englischen Lake District, um die Gemälde und Antiquitäten einer alten Familienfreundin zu begutachten - und in der Hoffnung, dadurch zu höherem Ansehen bei ihrem anspruchsvollen Großvater zu kommen. Auf Longdale Manor trifft sie auf David Bradford, den Enkel der Besitzerin, der das Anwesen in ein Luxushotel verwandeln will. Als Gwen auf das einhundert Jahre alte Tagebuch einer jungen Frau namens Charlotte Harper und auf einen kunstvoll geschnitzten Hirtenstab stößt, den sie schon einmal auf einem Foto in ihrem Elternhaus gesehen hat, begibt sie sich auf die Suche nach Antworten … Eine faszinierende Geschichte, die Vergangenheit und Gegenwart auf wundervolle Weise miteinander verwebt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 534

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Über die Autorin

Carrie Turansky ist bereits mit diversen Preisen für ihre Romane ausgezeichnet worden. Ihre Freizeit verbringt die fünffache Mutter und zwölffache Großmutter am liebsten mit ihrer Familie, im Museum oder in ihrem Garten. Sie lebt mit ihrem Mann im US-Bundesstaat New Jersey.

Carrie Turansky

DAS TAGEBUCH VON LONGDALEMANOR

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Silvia Lutz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel „The Legacy of Longdale Manor“ im Verlag Bethany House Publishers,

11400 Hampshire Avenue South Bloomington, Minnesota 55438, U.S.A.

Bethany House Publishers ist ein Imprint der Baker Publishing Group,

Grand Rapids, Michigan 49516, U.S.A.

© 2023 by Carrie Turansky

© 2025 der deutschen Ausgabe

Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH,

Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Lutz

Bibelzitate folgen dem Text der Hoffnung für alle®. © 1983, 1996, 2002 by Biblica Inc.™ Hrsg. von fontis – Brunnen Basel. Alle weiteren Rechte weltweit vorbehalten.

Erschienen im August 2025

ISBN 978-3-96122-680-1

Umschlaggestaltung: Maren Habla

Umschlagfotos: Arcangel Images (Frau und Hintergrund); Shutterstock, JulieK2 (Schleife); Gert Wagner unter Verwendung bildgebender Generatoren (Tagebuch)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

www.gerth.de

Meinem Mann Scott,der mich immer beim Schreiben unterstütztund jeden Tag, den wir gemeinsam erleben,heller macht.Du bist ein Segen für mich und ich danke Gott für dich und deine Liebe.

Denn so spricht Gott, der HERR: „Von nun an will ich mich selbst um meine Schafe kümmern und für sie sorgen. Wie ein Hirte seine Herde zusammenbringt, die sich in alle Richtungen zerstreut hat, so werde auch ich meine Schafe wieder sammeln. Ich rette sie aus all den Orten, wohin sie an jenem dunklen, schrecklichen Tag vertrieben wurden.“

Hesekiel 34,11–12

1

2012

Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Gwen Morris betrat die Etage mit den Büroräumen von Hill und Morris, einem der renommiertesten Auktionshäuser für Kunst und Antiquitäten in London. Sie verspürte immer noch ein Kribbeln in der Magengegend, wenn sie auf dem Weg zu ihrem neuen Büro den Flur mit der dunklen Vertäfelung entlangging und die ausgestellten Gemälde, Schmuckstücke und Antiquitäten auf sich wirken ließ.

Als sie sich dem Empfangstresen näherte, hob die Rezeptionistin den Kopf. Die Augen der jungen Frau weiteten sich, und sie blickte schnell wieder auf ihren Schreibtisch und kramte in einigen Papieren.

Gwens Schritte verlangsamten sich. „Guten Morgen, MaryAnn.“

„Morgen.“ MaryAnn hob zögerlich den Kopf und erwiderte Gwens Blick. „Ihr Großvater – ich meine natürlich, Mr Morris – bittet darum, dass Sie sofort in sein Büro kommen.“

Ein spürbares Unbehagen erfasste Gwen, aber sie verdrängte das Gefühl. Wahrscheinlich wollte er nur mit ihr über das eine oder andere neue Objekt sprechen oder ihr eine Rückmeldung hinsichtlich ihres ersten Monats als Kunsthistorikern in seinem Auktionshaus geben.

„Danke.“ Sie setzte ihren Weg fort und warf einen Blick durch Charlenes offen stehende Bürotür. Als die ältere Frau sie bemerkte, wurde ihre Miene härter, und sie wandte den Kopf zum Fenster. Das war sonderbar. Normalerweise begrüßte Charlene Gwen mit einem freundlichen „Guten Morgen“ oder wenigstens mit einem Kopfnicken.

Sie ging weiter den Flug entlang und erntete von drei weiteren Kollegen eisige Blicke. Was hatte das zu bedeuten? Ja, das Wetter war trüb und sie alle hatten riesige Berge Arbeit auf den Schreibtischen, aber Gwen konnte sich nicht erklären, warum heute Morgen anscheinend alle übel gelaunt waren.

Sie betrat das Vorzimmer zum Büro ihres Großvaters, wo Mrs Huntington, seine fünfzigjährige Assistentin, den Kopf hob und Gwen ohne erkennbare Gefühlsregung ansah. „Mr Morris hat gesagt, dass Sie direkt hineingehen sollen.“

Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in Gwens Magengegend aus. Das klang überhaupt nicht gut! Sie straffte die Schultern, betrat das Büro und schloss die Tür hinter sich.

Ihr Großvater blickte von seiner Arbeit auf, und seine grauen Augen musterten sie kühl. Er saß an seinem großen Schreibtisch aus edlem Holz; rechts von ihm die breite, bodentiefe Fensterfront. Dunkelgraue Wolken hingen über den Gebäuden auf der gegenüberliegenden Seite der St. James’s Street, und kleine Rinnsale flossen in einem schwindelerregenden Tanz die Glasscheiben hinab. Der Platzregen draußen schien die düstere Miene ihres Großvaters perfekt zu untermalen.

Er deutete mit dem Kinn auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Setz dich, Gwen.“

Ein Schauer lief über Gwens Rücken, als sie der Aufforderung nachkam. Sie sollte ihn wohl fragen, was los war, aber sie konnte sich nicht überwinden, diese Worte auszusprechen.

„Wir haben ein Problem … Ein sehr ernst zu nehmendes Problem, möchte ich hinzufügen.“ Seine buschigen grauen Brauen zogen sich zusammen. „Eines der impressionistischen Gemälde, die wir letzten Samstag versteigert haben …“ Er warf einen Blick auf seinen Computerbildschirm. „Avenue of the Allies, das du als Kopie von Childe Hassams Gemälde mit demselben Namen aufgelistet hast …“

Gwen erinnerte sich noch gut an das Bild und nickte. Hassam war ein amerikanischer Impressionist, der in Großbritannien, Frankreich und in den USA gelebt und gewirkt hatte. Seine Gemälde waren Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts von etlichen Malern kopiert worden.

Ihr Großvater schaute sie eindringlich an. „Es war das Original.“

Schockiert sog Gwen die Luft ein.

„Der Käufer ist natürlich begeistert, dass er einen echten Hassam für ein Zehntel des tatsächlichen Werts ersteigert hat“, fuhr ihr Großvater fort. „Aber Ivan Saunders, der Verkäufer, ist außer sich. Er droht damit, überall zu verbreiten, wie inkompetent wir sind, und will uns sogar anzeigen!“

Gwen starrte ihren Großvater an und versuchte zu schlucken, aber der riesige Kloß in ihrer Kehle machte das unmöglich. Wie hatte ihr ein so schrecklicher Fehler unterlaufen können?

Ihre Gedanken rasten zur letzten Februarwoche zurück, als sie die Stelle angetreten hatte. Nach einem Jahr als Volontärin war es für sie ein großer Schritt gewesen, offiziell als Kunsthistorikerin im Auktionshaus angestellt zu werden. In derselben Woche hatte sie die schmerzliche Trennung von ihrem Freund Oliver verkraften müssen. Dieser Kummer hatte sie viele Stunden Schlaf gekostet, und ihr Verstand war wie benebelt gewesen. War das der Grund, warum ihr nicht aufgefallen war, dass sie einen original Hassam in den Händen gehalten hatte?

„Nun, Gwen, was hast du zu deiner Rechtfertigung vorzubringen?“

„Ich … Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich habe die Herkunft des Bildes geprüft. Dann habe ich es mit anderen Werken Hassams verglichen, den Stil und den Pinselduktus, die Farbwahl und die Größe des Kunstwerks untersucht. In alldem schien es sich deutlich von seinen übrigen Gemälden zu unterscheiden, und es gab keine Signatur. Deshalb nahm ich an …“

„Die Signatur kam zum Vorschein, als der Rahmen entfernt wurde. Das Bild wurde inzwischen als Original verifiziert.“ Ihr Großvater legte die Fingerspitzen aneinander und durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick. „Warum hast du den Rahmen nicht entfernen lassen und nach einer Signatur gesucht?“

„Der Rahmen wirkte so edel. Ich dachte, er könnte möglicherweise mehr wert sein als das Bild, deshalb wollte ich ihn nicht beschädigen. Und da das Bild keine sichtbare Signatur aufwies, ging ich davon aus, dass es sich um eine Kopie handelte.“

„Hast du im Werkverzeichnis nachgesehen?“

„Ja. Dort stand, dass das Original zu einer Privatsammlung gehört, die im Besitz von … irgendjemandem ist. Ich erinnere mich nicht an den Namen, aber es war definitiv nicht Ivan Saunders.“

„Wenn du Fragen hattest, hättest du mit Charlene sprechen sollen oder deine Einschätzung von jemandem, der mehr Erfahrung hat als du, bestätigen lassen müssen, bevor du das Werk katalogisierst.“

Das Brennen in ihrem Magen stieg nach oben und breitete sich in ihrer Kehle aus. „Charlene war in jener Woche krank und damit nicht verfügbar.“

Ihr Großvater nickte knapp. „Charlene und einige andere Kollegen haben die Objekte geprüft, die du seitdem bewertet hast. Sonst ist nichts Gravierendes aufgefallen, aber das entschuldigt keinesfalls den Fehler, den du bei dem Hassam-Gemälde gemacht hast.“

Gwen senkte den Blick und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sie hatte ihren Großvater schwer enttäuscht. Noch schlimmer war, dass sich das bestätigt hatte, was sie eigentlich längst wusste: Sie war nicht gut genug. Sie war dieser Aufgabe nicht gewachsen. Vielleicht würde sie es niemals sein! Sie hatte diese Stelle nur bekommen, weil sie Lionel Morris’ Enkelin war. Und jetzt, da ihr dieser schreckliche Fehler unterlaufen war, stand sie in Gefahr, die Stelle zu verlieren, die sie sich so hart erarbeitet hatte.

Ihr Herz war schwer vor Schmerz und Bedauern, als sie den Kopf wieder hob und ihren Großvater anschaute. „Du hast recht. Es gibt keine Entschuldigung dafür. Ich hätte gründlicher vorgehen und den Rat der anderen einholen müssen, statt zu versuchen, es allein zu schaffen.“

„Ich kann nachvollziehen, dass du dich beweisen wolltest, aber das Resultat war leider eine sehr kostspielige Fehleinschätzung. Ich fürchte, du hast deinen Ruf in der Kunstszene und bei deinen Kollegen von Hill und Morris erheblich geschädigt.“

Er hatte zwar nicht Und auch bei mir gesagt, aber Gwen konnte diese unausgesprochenen Worte deutlich fühlen. „Es tut mir leid.“ Ihre Stimme war nur ein leises Flüstern.

„Das ist gleich zu Beginn deiner Karriere ein herber Rückschlag.“

Das war ihr klar. „Was wird jetzt passieren …? Wegen des Bildes, meine ich?“

„Ich habe bereits mit unserer Rechtsabteilung gesprochen.“

Gwens Herz zog sich zusammen. Oliver arbeitete in der Rechtsabteilung. Jetzt war er bestimmt erst recht froh, dass er mit ihr Schluss gemacht hatte. Alle bei Hill und Morris würden sie jetzt als blutige Anfängerin betrachten, die bewiesen hatte, dass sie die Stelle, die man ihr anvertraut hatte, nicht verdiente.

„Dort arbeitet man auf Hochtouren an einer gütlichen Einigung mit Ivan Saunders“, sprach ihr Großvater weiter. „Aber die Sache wird uns teuer zu stehen kommen, und niemand wird das so schnell vergessen.“

Gwen antwortete mit einem langsamen Nicken. Wie hatte ihr so etwas passieren können? Hatte ihr Stolz oder ihre mangelnde Erfahrung zu diesem Fehler geführt? Oder beides?

Sie hob den Kopf und erwiderte den Blick ihres Großvaters. „Was kann ich tun? Wie kann ich das wiedergutmachen?“

Er tippte einige Sekunden lang die Zeigefinger aneinander und betrachtete die regennassen Fensterscheiben zu seiner Linken. „Ich habe eine alte Freundin, Lilly Benderly, die auf Longdale Manor in der Nähe von Keswick lebt. Sie möchte einige Kunstwerke und Antiquitäten verkaufen, kann sich aber das übliche Gutachterhonorar nicht leisten. Da jedoch die Möglichkeit einer künftigen Zusammenarbeit besteht – und weil wir uns schon sehr lang kennen –, möchte ich ihr helfen.“ Er richtete den Blick wieder auf Gwen. „Fahr zu ihr, begutachte die Objekte, die sie verkaufen will, und triff die nötigen Vorkehrungen, um die Kunstwerke sicher nach London zu bringen und sie für die Versteigerung vorzubereiten.“

In Gwens Innerem keimte neue Hoffnung auf. „Sicher, das mache ich sehr gern!“ Sie hatte keine Ahnung, wo Keswick lag, aber das wollte sie ihrem Großvater nicht gestehen. Das konnte sie später in Erfahrung bringen. „Hat sie gesagt, wie viele Objekte verkauft werden sollen?“

„Nein. Aber durch diese Aufgabe gewinnst du für eine Weile Abstand von London, bis sich der Sturm gelegt hat. Ich denke, das ist die beste Lösung, um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden.“

Für ihn oder für sie? Gwen schloss die Augen und verkniff sich ein Seufzen. Warum hatte sie nicht besser aufgepasst? Konnte sie denn gar nichts richtig machen? Sie verdrängte die Fragen, schlug die Augen auf und konzentrierte sich wieder auf ihren Großvater. „Wann soll ich mich auf den Weg machen?“

„Sobald die nötigen Vorkehrungen getroffen sind.“

Gwen nickte, obwohl ihr noch etliche Fragen durch den Kopf gingen. Welche Art von Kunstwerken und Antiquitäten wollte die Freundin ihres Großvaters verkaufen? Würde Gwen sein Vertrauen zurückgewinnen, wenn sie dieses Projekt erfolgreich zu Ende brachte?

„Lass dir Zeit und vergewissere dich, dass du jedes einzelne Stück richtig bewertest“, fügte er hinzu. „Lilly ist seit Kurzem Witwe und ein wenig … extravagant. Aber ich möchte sicherstellen, dass sie den bestmöglichen Verkaufspreis für die Objekte bekommt. Schaffst du das, Gwen?“

Sie nickte entschlossen. „Ich werde mein Möglichstes tun und meine Gutachten von dir und Charlene prüfen lassen.“

„In Ordnung. Mrs Huntington gibt dir Lilly Benderlys Adresse. Gib ihr Bescheid, wann du anreist. Bleib so lang wie nötig in Keswick, um die Arbeit dort gründlich auszuführen.“ Er schwieg und blickte zur Tür – ein unmissverständlicher Hinweis, dass das Gespräch beendet war.

Als sich Gwen erhob, fühlten sich ihre Beine weich wie Wachs an. Doch sie bemühte sich, stark zu sein, und wandte sich ein letztes Mal an ihren Großvater. „Ich weiß, dass dich mein Fehler in eine unangenehme Lage gebracht hat. Das tut mir aufrichtig leid! So etwas wird nie wieder vorkommen, das verspreche ich dir!“

Seine strenge Miene wurde weicher. „Wir alle machen Fehler, Gwen. Wichtig ist, dass wir aus ihnen lernen. Ich hoffe, du nimmst dir diese Lektion zu Herzen.“

Seine sanften Worte gaben ihr neuen Mut. „Jawohl, Sir. Das werde ich.“

„Du bekommst bei Hill und Morris eine große Chance. Ich hoffe, du bemühst dich nach Kräften, das Beste daraus zu machen.“

In ihrem kleinen Londoner Appartement legte Gwen ihren Koffer aufs Bett, zog den Reißverschluss auf und öffnete den Deckel. Sie verharrte einen Moment lang und ließ den Blick zum Fenster ihres Schlafzimmers schweifen, während ihr die schmerzlichen Ereignisse des Morgens erneut durch den Kopf gingen. Sie hatte ihren Großvater bitterlich enttäuscht und einen kostspieligen Fehler begangen, der sie noch Jahre verfolgen würde!

Sie blinzelte und versuchte, das Gefühl von Benommenheit und Enttäuschung zurückzudrängen, das sich in ihr breitmachen wollte. Dies war nicht das Ende ihrer Karriere. Es konnte nicht das Ende sein. Letztlich würde es ihr gelingen, ihren Ruf als Kunsthistorikerin zu retten – so hoffte sie jedenfalls.

Sie trat an die Kommode und nahm eine Bluse aus der obersten Schublade.

Die Wohnungstür ging auf, und kurz darauf vernahm Gwen Schritte auf dem Holzboden vor ihrem Zimmer. Lindsey Winters, ihre Mitbewohnerin, warf vom Flur aus einen Blick herein. „Gwen, was machst du denn um diese Zeit zu Hause?“ Ihr Blick wanderte zu dem Koffer auf Gwens Bett. „Was ist los?“

Gwen seufzte. „Das ist eine lange Geschichte. Du solltest dich lieber setzen.“

Lindsey nahm auf dem Stuhl neben Gwens Bett Platz. „Sag schon, was ist passiert?“

Gwen ließ sich auf ihr Bett fallen. „Mir ist bei der Bewertung eines Gemäldes ein schwerer Fehler unterlaufen, und mein Großvater schickt mich aus London fort, damit Gras über die Sache wachsen kann.“

„Was für ein Fehler?“

Gwen erzählte ihr die ganze Geschichte. In ihren Augen brannten heiße Tränen, als sie sich erneut in Erinnerung rief, was passiert war und wie ihr Großvater und ihre Kollegen darauf reagiert hatten.

„O Gwen, das tut mir so leid! Kein Wunder, dass du so aufgewühlt bist. Aber immerhin hat er dich nicht gefeuert. Er gibt dir die Chance, ihm zu beweisen, dass du dein Handwerk beherrschst.“

Das war typisch Lindsey, die in jeder noch so schwierigen Situation immer auf das Positive schaute.

Gwen nickte zögerlich. Lindsey hatte recht. Ihr Großvater hatte ihr die Möglichkeit gegeben, den Fehler wiedergutzumachen und zu beweisen, dass sie die Stelle bei Hill und Morris wirklich verdiente.

„Wohin schickt er dich denn?“

„Ich soll einige Objekte für eine alte Freundin von ihm bewerten, die in Keswick lebt – wo auch immer das ist.“

Lindseys Augen leuchteten auf. „Das ist im Lake District.“

Bei diesen Worten meldete sich eine ferne Erinnerung in Gwens Kopf. „Im Lake District?“

„Ja, oben im Norden. Um diese Jahreszeit ist es dort wunderschön!“ Lindsey lächelte versonnen. „Als ich sechzehn war, verbrachte ich mit meinen Eltern einen Urlaub in Windermere. Das ist ganz in der Nähe von Keswick. Wir gingen in den Bergen wandern. Dort oben nennt man die Berge und Hügel Fells. Und wir haben eine Bootsfahrt auf dem Lake Windermere gemacht und Beatrix Potters Hill Top House besichtigt.“

Der Lake District … Gwen stand auf und trat an ihren Schrank. Hatte ihre Mutter nicht erwähnt, dass sie als junge Frau im Lake District gemalt hatte? Sie streckte sich, um das oberste Schrankfach zu erreichen, zog eine große runde Hutschachtel hervor und trug sie zu ihrem Bett.

„Was ist dadrinnen?“, fragte Lindsey, als Gwen den Deckel öffnete.

„Alles, was ich im Schreibtischfach meiner Mutter gefunden habe.“ Sie warf einen Blick auf die Papiere und Fotografien, die die Schachtel fast ausfüllten, und ihre Kehle schnürte sich zusammen. „Kaum zu glauben, dass sie schon fast zwei Jahren tot ist.“

„Das tut mir so leid, Gwen“, sagte Lindsey leise. „Ich hätte deine Mutter gern kennengelernt. Nach allem, was du mir von ihr erzählt hast, muss sie ein ganz besonderer Mensch gewesen sein.“

„Das war sie. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke.“ Gwen stieß einen tiefen Seufzer aus und schob die obersten Papiere beiseite. „Wenn ich mich richtig erinnere, haben sich meine Eltern im Lake District kennengelernt.“

„Tatsächlich?“ Lindsey rutschte näher. „Du sprichst viel über deine Mutter, aber nie über deinen Vater.“

Gwen spürte ein schmerzliches Brennen in ihrer Kehle aufsteigen, und sie versuchte, ihre aufgewühlten Gefühle zu bändigen. „Das liegt daran, dass ich ihn nicht kenne. Er hat meine Mutter verlassen, bevor ich geboren wurde.“

Lindseys Augen weiteten sich. „O Gwen! Ich hatte ja keine Ahnung, dass –“

„Schnee von gestern.“ Gwen bemühte sich, so zu klingen, als wäre sie längst darüber hinweg, aber das stimmte nicht. Als Kind hatte sie ihre Mutter immer wieder nach ihrem Vater gefragt. Aber Mama hatte ihr nur knappe Antworten gegeben, und Gwen hatte danach mit noch mehr Fragen dagestanden. Als sie schließlich achtzehn gewesen war, hatte sie Mama angefleht, ihr zu erklären, warum ihr Vater sie verlassen hatte. Wusste er überhaupt, dass es sie gab? Und falls er es wusste, warum war es ihm dann offenbar egal, dass er eine Tochter hatte?

Mama hatte geantwortet, dass sie ihre Gründe habe, und Gwen hatte ihr versprechen müssen, dass sie nicht versuchen würde, ihn auf eigene Faust zu finden. Mama hatte gesagt, dass sie ihr alles genauer erklären würde, wenn Gwen mit dem Studium fertig sei, und Gwen hatte sich widerwillig gefügt. Aber drei Wochen vor ihrem Studienabschluss war Mama bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen und hatte die Antworten auf Gwens Fragen mit ins Grab genommen.

Gwen zog einen Stapel Fotos aus dem Karton und sah ihn durch. Schließlich fand sie das Bild, nach dem sie gesucht hatte: Ein junges Paar stand Arm in Arm am Ufer eines Sees, im Hintergrund waren sanft geschwungene Hügel zu sehen. Ihre Mutter musste auf dem Bild Anfang zwanzig sein. Ihr langes braunes Haar fiel ihr weich über die Schultern, und ihre hellblauen Augen leuchteten hoffnungsvoll. Der groß gewachsene Mann, der neben ihr stand, besaß eine raue Attraktivität. Er hatte hellbraunes Haar, tief sitzende graue Augen und ein markantes Kinn. Gwen schätzte ihn auf Mitte zwanzig, ein wenig älter als ihre Mutter. Seine Arme waren muskulös und sonnengebräunt, und er hielt einen großen Holzstab in der Hand, der oben gekrümmt und mit Schnitzereien verziert war.

Lindsey beugte sich tiefer über das Bild. „Sind das deine Eltern?“

„Ja.“ Gwens Stimme zitterte, während sie ihren Vater betrachtete, dem sie nie persönlich begegnet war.

Lindsey legte den Kopf schief. „Es sieht so aus, als wäre etwas auf die Rückseite des Fotos geschrieben.“

Gwen drehte das Bild um und las: 10. Juni 1985. Jessica und Landon an ihrem Hochzeitstag in Keswick. Sie blinzelte und starrte die Worte an. Ihre Eltern hatten in Keswick geheiratet?

Sie betrachtete den Mann auf dem Bild ein weiteres Mal und wog die verschiedensten Möglichkeiten ab. Lebte ihr Vater noch in Keswick oder im Lake District? Der Gedanke, ihn nach so vielen Jahren kennenzulernen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, nicht nach ihm zu suchen, aber nun lebte Mama nicht mehr, was Gwen womöglich von diesem Versprechen entband …

Sofort regten sich starke Zweifel in ihr. Es musste etwas sehr Schmerzliches passiert sein, das ihre Mutter dazu veranlasst hatte, diesen Aspekt ihres Lebens vor ihrer eigenen Tochter geheim zu halten. War Gwen tatsächlich bereit, die Wahrheit über ihren Vater zu erfahren und herauszufinden, warum er nie den Kontakt zu ihr gesucht hatte?

Sie hatte sich immer danach gesehnt, ihren Vater kennenzulernen und eine echte Vater-Tochter-Beziehung mit ihm zu führen. Jetzt bekam sie vielleicht die Chance dazu. Gleichzeitig erforderte die Suche all ihren Mut. Denn würde er sie in sein Leben lassen, falls sie ihn fand, oder würde er ihr das Herz brechen, wie er Mama das Herz gebrochen hatte?

David Bradford hielt sich an den Stufen der maroden Klappleiter fest und stieg weiter nach oben. Als er die Luke zum Dachboden von Longdale Manor aufschob, begrüßte ihn eine kühle, abgestandene Luft, begleitet von einem sonderbaren Geruch, den er nicht zuordnen konnte. Er kniff aufgrund der Dunkelheit die Augen zusammen, leuchtete mit seiner Taschenlampe zum Dach hinauf und begutachtete die staubigen Dachbalken. Etwas bewegte sich, und er hielt sich schnell an der Leiter fest.

„Was siehst du?“, rief seine Großmutter am unteren Ende der Leiter.

David richtete den Lichtstrahl auf die sich bewegende schwarze Masse zwischen den Holzbalken und unterdrückte ein Schaudern. „Ich fürchte, du hast Fledermäuse unter dem Dach, Nana.“

„Fledermäuse? Gütiger Himmel!“ Seine Großmutter zupfte an seinem Hosenbein. „Komm sofort da runter! Fledermäuse beißen und übertragen Tollwut.“

David bezweifelte, dass die Fledermäuse auf Longdales Dachboden über ihn herfallen würden, aber er wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen. Er biss die Zähne zusammen und trat den Rückzug an.

Fledermäuse! Ein weiteres Problem auf der immer länger werdenden Liste an Dingen, die er erledigen musste, bevor sie den Plan, das Anwesen in ein exklusives Hotel umzubauen, weiterverfolgen konnten.

„Das ist grauenhaft!“ Die blassgrauen Augen seiner Großmutter blickten besorgt zu ihm auf. „Wir müssen die Viecher loswerden!“

„Leichter gesagt als getan, Nana.“ Er trat neben sie und schob die Leiter wieder nach oben. „Fledermäuse gehören zu den geschützten Arten. Es ist gesetzlich verboten, ihre Brutstätten zu entfernen.“

Seine Großmutter zog die Brauen hoch. „Geschützt?“ Ihre verblüffte Miene wich umgehend einer stählernen Entschlossenheit. „Sie müssen hier weg! Ich dulde keine Fledermäuse auf meinem Dachboden!“

David bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, als er erwiderte: „Vielleicht bekommen wir die Erlaubnis, sie umzusiedeln. Wenn nicht, müssen wir diesen Bereich aussparen, damit sie ungestört dort oben leben können.“

„Wir können Longdale nicht für zahlende Gäste öffnen, solange wir Fledermäuse auf dem Dachboden haben!“

Er legte eine Hand auf ihre Schulter. Es war nicht gut für ihr Herz, wenn sie sich derart aufregte. „Keine Sorge, Nana. Ich werde ein paar Anrufe erledigen und mich darum kümmern.“ Er führte sie den Flur entlang, weg von dem leisen Rascheln, das vom Dachboden her kam.

Sie drehte den Kopf zu ihm. „Das ist wirklich lieb von dir. Ich bin so froh, dass du hier bist! Um solche Dinge hat sich immer Arthur gekümmert, aber seit er nicht mehr da ist –“ Ihre Stimme brach, und sie schüttelte den Kopf. „Ich brauche jetzt dringend eine Tasse Tee. Komm, wir gehen in die Küche.“

Er nickte, und gemeinsam gingen sie über die Dienstbotentreppe zwei Stockwerke hinab ins Untergeschoss und dann weiter durch den langen Flur zu Longdales geräumiger Küche.

Mrs Galloway – oder Mrs G., wie seine Großmutter sie gern nannte – stand am Herd und rührte in einem großen Topf, von dem ein köstlicher Duft aufstieg. David schnupperte in der Luft und stellte fest, dass es sich wohl um Hühnersuppe handelte.

Mrs G. begrüßte sie mit geröteten Wangen und einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen. Doch sobald sie den besorgten Blick seiner Großmutter bemerkte, löste sich ihr Lächeln schlagartig in Luft auf.

„Wir brauchen sofort eine Tasse Tee.“ Großmutter trat an die große Kücheninsel in der Mitte des Raumes. „David hat herausgefunden, woher diese sonderbaren Geräusche auf dem Dachboden kommen.“

Mrs G. drehte sich mit dem Wasserkocher in der Hand zu ihr um. „Und woher kommen sie?“

„Von Fledermäusen!“ Großmutters Kinn bebte vor Entsetzen. „Eine ganze Kolonie dieser Blutsauger hat sich auf unserem Dachboden eingenistet!“

Erschrocken legte Mrs G. eine Hand auf ihr Herz. „Du meine Güte! Sie können aber nicht nach unten ins Haus kommen, oder?“

„Nein, nein“, beruhigte David die beiden Frauen schnell. „Sie werden uns sicher nicht zu nahe kommen. Eine ähnliche Situation hatten wir letzten Sommer, als wir ein Anwesen in Berkshire in ein Spa umgebaut haben.“

Er behielt lieber für sich, dass es über einen Monat gedauert hatte, bis sie die Erlaubnis erhalten hatten, die Fledermäuse umzusiedeln, und dass es mehrere Hundert Pfund gekostet hatte, dieses Problem zu lösen. Die Einnahmen seiner Großmutter reichten nicht aus, um die laufenden Kosten zu decken, die Longdale Manor verursachte, und er wollte ihre finanzielle Not nicht noch größer machen. Er würde eine Lösung finden. Das musste er, wenn er ihr helfen wollte, das Anwesen zu retten!

Irgendwo im Haus läutete eine Glocke. David wandte den Kopf in Richtung Bell Board – einer Anzeigetafel, die der Kommunikation in britischen Herrenhäusern diente –, um nachzusehen, woher der Klingelton stammte. „Jemand ist an der Haustür.“

„Nancy ist oben im Salon und macht dort sauber“, erklärte Mrs G. „Sie wird die Tür öffnen.“

David schaute seine Großmutter fragend an. „Erwartest du Besuch?“

Sie blinzelte einige Male, dann weiteten sich ihre Augen. „Aber ja doch! Wir sollten wohl lieber selbst nachsehen.“

Er verkniff sich ein Schmunzeln. Das Gedächtnis seiner Großmutter war auch nicht mehr das, was es einmal gewesen war.

An der Küchentür drehte sie sich noch einmal um. „Mrs G., bringen Sie uns den Tee bitte hinauf in die Bibliothek? Und können Sie noch ein paar Zimtplätzchen und eine weitere Tasse für unseren Gast dazustellen?“

Mrs G. nickte. „Ich komme hoch, sobald der Tee fertig ist.“

David folgte seiner Großmutter die Steintreppe hinauf. „Wer leistet uns beim Tee Gesellschaft?“

„Gwen Morris. Sie ist die Enkelin eines alten Freundes aus London.“

Er konnte sich nicht erinnern, dass seine Großmutter ihm gegenüber je den Namen Morris erwähnt hätte. „Macht sie Urlaub im Lake District?“

„Nein, mein Lieber. Sie arbeitet für Hill und Morris.“

Seine Schritte stockten. „Das Auktionshaus?“

„Ja. Ihr Großvater Lionel Morris ist seit vielen Jahren ein lieber Freund von mir.“

Er starrte seine Großmutter ungläubig an. „Der Lionel Morris von Hill und Morris?“

„Richtig, das sagte ich doch gerade. Seine Enkelin ist Kunsthistorikern. Sie wird sich die Gemälde und Antiquitäten von Longdale Manor ansehen und uns bei der Entscheidung helfen, welche davon sich zum Verkauf eignen.“

David schüttelte grinsend den Kopf. Lilly Benderly steckte voller Überraschungen! Er hatte vor einigen Tagen die Idee laut ausgesprochen, dass sie doch einige Bilder und Möbel verkaufen könnten, um die finanziellen Mittel für die Reparaturen und Umbauarbeiten zu erwirtschaften. Zu jenem Zeitpunkt war sie von der Idee nicht sonderlich angetan gewesen. Aber anscheinend hatte sie es sich anders überlegt und vergessen, ihm das zu sagen. Er folgte ihr durch die Eingangshalle.

Nancy, eine freundliche Frau mittleren Alters, die zweimal in der Woche nach Longdale kam, um die Hausarbeit für seine Großmutter zu erledigen, stand in der Eingangstür und verwehrte ihm den Blick auf die Frau, die dort wartete.

Nancy drehte sich zu seiner Großmutter um. „Das ist Miss Gwen Morris, Ma’am. Sie sagt, sie würde von Ihnen erwartet.“ Sie trat beiseite.

„Willkommen auf Longdale Manor.“ Großmutter ging mit ausgestreckter Hand und einem herzlichen Lächeln auf Miss Morris zu. „Ich bin Lilly Benderly.“

Die junge Frau erwiderte die Begrüßung und das Lächeln seiner Großmutter, und David traute seinen Augen kaum. Sie war jung, hübsch und hatte langes goldbraunes Haar, das in sanften Wellen über ihre Schultern fiel. Ihre Augen hatten eine ungewöhnliche blaugrüne Farbe, die ihn an den Derwentwater an einem strahlenden Sommertag erinnerte. Sie trug einen modischen grünen Wollmantel und braune Lederstiefel, und sie … hatte einen Rollkoffer dabei.

Hatte seine Großmutter sie eingeladen, auf Longdale zu wohnen?

„Es freut mich, Sie kennenzulernen.“ Gwen hob den Blick und betrachtete die dunklen Holzvertäfelungen, das kunstvoll gedrechselte Treppengeländer und den Sims über dem Marmorkamin. „Was für ein hübsches Anwesen!“

„Vielen Dank. Es liegt uns sehr am Herzen.“ Großmutter deutete mit der Hand auf ihn. „Das ist mein Enkel David Bradford. Ich erwähnte ihn bereits.“

Er warf seiner Großmutter einen fragenden Blick zu. Was hatte sie getan?

Gwen reichte ihm die Hand. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Bradford. Es ist mir eine Ehre, Sie und Mrs Benderly beim Verkauf der Kunstobjekte zu unterstützen.“

Er drückte ihre Hand. Sie fühlte sich weich und warm an und harmonierte perfekt mit dem sanften Ausdruck in ihren Augen.

„Es besteht kein Grund, so förmlich zu sein.“ Seine Großmutter schaute von Gwen zu David. „Sie können gern Lilly und David sagen.“

Gwen nickte. „Danke. Und ich bin Gwen.“

David musterte Gwen. Sie konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein und wirkte mehr wie ein It-Girl als eine erfahrene Kunsthistorikerin. „In welcher Funktion arbeiten Sie bei Hill und Morris?“

„Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite dort als Juniorsachverständige für Kunstgeschichte und Antiquitäten.“

„Juniorsachverständige … im Gegensatz zu Seniorsachverständige?“

Sie hob das Kinn und quittierte seine Spitze mit einem betont gelassenen Blick. „Richtig. Ich habe einen Bachelor-Abschluss in Kunstgeschichte und einen Master-Abschluss in Kunst und Betriebswirtschaft. Im Februar habe ich ein einjähriges Volontariat bei Hill und Morris abgeschlossen. Seitdem bekleide ich meine aktuelle Stelle.“

Seine Großmutter warf ihm einen irritierten Blick zu. „David, wie unhöflich von dir, Gwens berufliche Qualifikation infrage zu stellen! Sie ist den weiten Weg aus London gekommen, um uns zu helfen. Wir sollten vielmehr zum Ausdruck bringen, wie dankbar wir dafür sind.“

Er akzeptierte die Schelte und nickte. „Du hast recht.“ Er wandte sich wieder an Gwen. „Bitte entschuldigen Sie. Wir freuen uns natürlich, dass Sie hier sind. Ich wollte Sie nicht kränken.“

„Das habe ich auch nicht so empfunden.“ Ihre Wangen hatten sich ein wenig gerötet und ihre Worte klangen gezwungen, doch sie wandte sich umgehend an seine Großmutter und fuhr fort: „Danke für das Angebot, dass ich auf Longdale wohnen kann, aber wenn ich Ihnen damit Umstände bereite, kann ich mir gern eine Unterkunft in Keswick suchen.“

Seine Großmutter schüttelte energisch den Kopf. „Aber nein, Sie werden bei uns wohnen. Was würde Ihr Großvater denken, wenn ich Sie fortschicke?“

Gwen warf David einen knappen Blick zu, bevor sie wieder seine Großmutter anschaute. „Wenn Sie sicher sind, dass es Sie nicht stört, würde es mir die Arbeit natürlich erleichtern.“

„Selbstverständlich sind wir sicher. Nicht wahr, David?“ Seine Großmutter schaute ihn mit hochgezogenen Brauen an.

„Natürlich. Es ist doch naheliegend, dass Sie hier wohnen. Und wir haben reichlich Platz.“

Seine Großmutter lächelte zufrieden. „Gut. Da das nun geklärt wäre, können wir in die Bibliothek gehen, um uns besser kennenzulernen. Der Tee kommt auch gleich.“

Gwen warf einen unsicheren Blick auf ihren Koffer.

David trat einen Schritt vor. „Den kann ich nehmen.“ Ohne auf ihre Antwort zu warten, rollte er das Gepäckstück zum Fuß der Treppe, dann folgte er den beiden Frauen in die Bibliothek.

Er beobachtete Gwen, als sie sich neben seine Großmutter setzte. Von ihrer Irritation über seine Rückfrage war nichts mehr zu spüren. Sie wirkte jetzt entspannt und nickte lächelnd, während seine Großmutter ihr die Geschichte von Longdale erzählte.

Sein Brustkorb zog sich zusammen, als er die Begeisterung in Großmutters Augen sah. Sie liebte jeden Balken und jedes Fenster dieses in die Jahre gekommenen Anwesens. Wenn er Longdale Manor für sie retten wollte, musste er sich mit Gwen Morris zusammentun.

Aber hatte die junge Kunsthistorikern genug Erfahrung, um den wahren Wert der Schätze seiner Großmutter zu erkennen? Und selbst wenn sie das hätte, war die eigentliche Frage: Würde der Verkauf ihnen das Geld einbringen, das für die Reparaturen und Umbauarbeiten nötig war, oder würden er und seine Großmutter das Haus verlieren, das seit Generationen in Familienbesitz war – das Haus, das eines Tages ihm gehören sollte?

2

1912

Das leise Murmeln der vielen Menschen in der Fairweather Music Hall drang durch den geschlossenen Samtvorhang und jagte Charlotte Harper ein aufgeregtes Kribbeln über den Rücken. Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht wandte sie sich ihrem Vater zu. „Es klingt, als wäre der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt.“

Ihr Vater nickte, und seine dunklen Augen leuchteten. „Damit könntest du recht haben. Es war sehr vorausschauend vom Leitungskomitee, die heutige Veranstaltung in einen Saal zu verlegen, in dem auch ein größeres Publikum Platz finden würde.“

Charlottes Herz schlug höher. Sie war so stolz auf ihren Vater und sein hohes Ansehen in der Keswick-Glaubensbewegung. Als Hauptredner der vierteiligen Veranstaltungsreihe hatten seine Worte über eine tiefere Hingabe zu Gott und den endgültigen Sieg über die Sünde bereits die Herzen unzähliger Menschen erreicht. Die Kirche war an den ersten drei Abenden aus allen Nähten geplatzt, und Hunderte Menschen hatten fortgeschickt werden müssen. Das hatte das Komitee dazu veranlasst, den vierten und letzten Abend der Veranstaltungsreihe in diesen Saal zu verlegen.

Charlottes Mutter Rose trat vor und zupfte einen Fussel vom Anzugrevers ihres Vaters. Aus ihren hellbraunen Augen sprach eine tiefe Zuneigung. „Du siehst großartig aus, Henry.“

Er schaute sie kurz an, dann wandte er mit einem leichten Stirnrunzeln den Blick ab. „Das Publikum interessiert sich hoffentlich mehr für das, was ich zu sagen habe, als für mein Aussehen.“

Seine Bemerkung verletzte Mama, aber sie bemühte sich, das nicht zu zeigen, und trat einen Schritt zurück. „Selbstverständlich, Liebling. Ich wollte damit nur sagen, dass der neue Anzug eine gute Wahl war.“

Ihren Vater in einem edlen Nadelstreifenanzug zu sehen, war ein ungewohnter Anblick für Charlotte, aber der Schneider hatte betont, dass er einem Redner seiner Prominenz angemessen sei. Sie hoffte nur, die konservativeren Gäste im Publikum würden ihn nicht für sein Aussehen kritisieren.

Vaters Blick wanderte zu den Männern, die hinter der Bühne für einen reibungslosen Ablauf sorgten, dann verzog er das Gesicht und schob einen Finger unter seinen Kragen.

Mama runzelte die Stirn. „Deine Wangen sind rot, Henry. Fühlst du dich nicht?“

„Mir geht es gut. Dieser Kragen ist einfach zu eng. Ich brauche dringend einen, der weiter ist.“

Mama nickte. „In Ordnung, Liebling. Ich kümmere mich darum.“

Charlotte betrachtete die glänzende Stirn ihres Vaters und hoffte, dass er sich nicht mit irgendeiner ernsten Krankheit angesteckt hatte. Doch diesen Gedanken verdrängte sie sogleich wieder. Papa erfreute sich bester Gesundheit! Wahrscheinlich war er vor der Veranstaltung an diesem Abend nur ein wenig nervös, oder die Wärme durch die Bühnenbeleuchtung brachte ihn zum Schwitzen.

Charlottes zwölfjährige Schwester Alice zog den Vorhang ein wenig zurück und spähte in den Saal. „Oh, schaut nur! So viele Menschen!“

Charlotte zog ihre Schwester am Arm zurück. „Alice, geh vom Vorhang weg!“

„Sie sehen mich doch nicht.“ Ein unbekümmertes Lächeln erhellte das Gesicht ihrer Schwester. „Da draußen müssen mindestens tausend Leute sein.“

Charlotte trat hinter Alice und spähte um den Vorhang herum. Ihr Atem stockte, und ihr Herz schlug augenblicklich schneller. Fast jeder Platz im Parkett war besetzt, und auf den Rängen standen noch etliche Leute, die einen Platz suchten. Alle waren gekommen, um ihren Vater predigen zu hören!

Sie drehte sich zu ihren Eltern um und wollte ihnen berichten, was sie gesehen hatte, doch gerade in diesem Moment trat Sir Anthony Fitzhugh, der Komiteevorsitzende der Keswick-Bewegung, zu ihnen.

„Guten Abend.“ Sir Anthony nickte Mama zu, dann ergriff er Vaters Hand und schüttelte sie kräftig. Er war größer als Charlottes Vater, trug einen gepflegten Vollbart und hatte freundliche blaue Augen, die ihm ein vornehmes Aussehen verliehen. Er und ihr Vater waren seit mehreren Jahren eng befreundet.

Vater lächelte. „Schön, dich zu sehen, Anthony.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Henry. Es ist gleich sieben. Bist du so weit?“

Vater nickte. „Ich freue mich auf den Vortrag.“

Sir Anthonys Miene strahlte Wärme und Wohlwollen aus. „Ich auch, mein Freund, ich auch.“ Er wandte sich an Mama und deutete nach rechts. „Ich habe für Sie und Ihre Töchter Plätze in der ersten Reihe reserviert. Wenn Sie hier die Stufen hinabsteigen und den Gang entlanggehen, finden Sie auf der linken Seite den Eingang zum Parkett. Ein Ordner wird Sie zu Ihrem Platz bringen.“

Mama lächelte. „Danke, Sir Anthony. Das ist sehr freundlich von Ihnen.“

„Gern geschehen.“ Er zog die Brauen hoch. „Wenn ich die Plätze nicht reserviert hätte, müssten Sie wahrscheinlich stehen.“

Charlotte und Alice lächelten einander an. Wie wunderbar, dass ihrem Vater der Respekt und die Anerkennung gezollt wurden, die er verdiente! Er verbrachte Tage damit, sich vorzubereiten, und zog Bibelkommentare und verschiedene andere Bücher zurate, um seiner Botschaft Tiefgang zu verleihen. In den letzten Monaten waren Einladungen von Gemeinden und Glaubensgemeinschaften aus ganz England bei ihnen eingetroffen. Vater hatte sogar eine Einladung aus New York bekommen! Seine Augen hatten geleuchtet, als er den Brief gelesen und ihnen davon berichtet hatte. Er hatte diese Einladung noch nicht angenommen, aber falls er zusagte, würden sie in einigen Monaten gemeinsam nach Amerika reisen, und Charlotte war von dieser Aussicht ganz begeistert.

Mama stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Vater auf die Wange. „Bis später.“

Er ließ ihren Kuss zu, wandte sich aber ab, ohne etwas zu erwidern.

Mama zögerte einen Moment, dann richtete sie den Blick auf Charlotte und Alice. „Kommt, Mädchen.“ Sie nahm Alice an der Hand und stieg die Stufen hinter der Bühne hinab.

Charlotte drückte ihrem Vater die Hand. „Ich werde für dich beten.“ Er zog ein Taschentuch aus seiner Jacketttasche und tupfte sich die Stirn. „Danke.“ Aber er schaute sie nicht an. Stattdessen blickte er zum Vorhang, als suche er bereits den Kontakt zum Publikum.

Sie ließ seine Hand los, drehte sich um und folgte ihrer Mutter und Alice. Mama nannte dem Ordner ihren Namen, woraufhin der Mann die Tür zum Parkett öffnete und sie zu den drei reservierten Plätzen in der Mitte der ersten Reihe führte.

Charlotte setzte sich auf den dritten Stuhl, Mama nahm den Platz in der Mitte, und Alice setzte sich links von ihr. Während Charlotte sich zurücklehnte, wurden die Lichter gedimmt, und das Publikum wurde still. Eine spürbare Erwartung lag in der Luft.

Sir Anthony trat hinter dem Vorhang hervor, schritt zum Rednerpult in der Mitte der Bühne und begrüßte das Publikum. „Guten Abend, meine Damen und Herren. Es ist mir eine große Freude, Sie zum vierten Abend unserer Vortragsreihe in diesem Frühling zu begrüßen!“ Das Publikum reagierte mit höflichem Applaus.

Charlotte warf einen Blick auf ihre Mutter. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und sie blickte mit erwartungsvoller Miene zu Sir Anthony hinauf.

Als der Applaus verebbte, wanderte Sir Anthonys Blick über das Publikum. „Der Herr ist mächtig unter uns und ermutigt uns, ihm vertrauensvoll nachzufolgen und zu dienen. Unsere Hoffnung und unser Gebet ist es, dass die Botschaft des heutigen Abends alle Anwesenden zu einer tieferen Erkenntnis und vollständigen Hingabe ihres Lebens führt. Mögen wir alle immer mehr Gottes hoher Berufung folgen.

Und jetzt begrüßen Sie bitte unseren lieben Bruder und treuen Gefährten Henry Harper.“ Sir Anthony deutete mit der Hand nach rechts.

Charlottes Vater trat hinter dem Vorhang hervor und begab sich zur Mitte der Bühne, während ein kräftiger Applaus den Raum erfüllte. Die zwei Männer schüttelten einander die Hand, dann verließ Sir Anthony die Bühne. Ihr Vater legte seine Bibel aufs Rednerpult, und seine funkelnden Augen wanderten mit einem wachen und eindringlichen Blick über die Zuhörer.

Eine starke Zuneigung zu ihm regte sich in Charlottes Brust. Seine Hingabe an Gott, seine mitreißende Art zu predigen und sein attraktives Erscheinungsbild erfüllten sie mit Stolz. Sie liebte und bewunderte ihn wie niemanden sonst auf der Welt.

Er schlug die Bibel auf und begann zu sprechen. „Heute Abend betrachten wir die Worte Jesu und seine Aufforderung, durch die enge Pforte einzutreten. Wir werden uns die Frage stellen: Folgen wir dem Heiland durch diese enge Pforte und auf dem Weg, der zum ewigen Leben führt? Oder sind wir wie so viele andere vom richtigen Weg abgekommen und haben den breiten Weg eingeschlagen, der ins Verderben führt?“

Charlotte faltete die Hände in ihrem Schoß und war von den Worten ihres Vaters erneut berührt. Schon als kleines Mädchen hatte sie ihn von dieser engen Pforte sprechen hören. Er und Mama waren mit ihrem Leben der Hingabe und des Gehorsams ein großes Vorbild für Charlotte, dem sie nacheiferte. Aber sie musste zugeben, dass es Momente gab, in denen sie nicht auf die leise Stimme in ihrem Inneren hörte und eigensinnig ihren Weg ging. Dieser Gedanke quälte ihr Gewissen. Sie verdrängte ihn und konzentrierte sich wieder auf die Worte ihres Vaters.

Er hob die Hand, und sein Blick wanderte über das Publikum. „Im Leben werden wir mit vielen Anfechtungen und … Versuchungen konfrontiert. Der Feind unserer Seele ist immer auf der Lauer und sucht eine Gelegenheit, zu stehlen, zu töten und die Menschen, die dem Herrn nachfolgen, vom richtigen Weg abzubringen. Er versucht, uns vom richtigen Weg abzubringen und –“ Die Stimme ihres Vaters brach. Er blickte nach unten und krallte sich am Rednerpult fest.

Charlotte war verwirrt. Legte er eine Pause ein, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, oder stimmte irgendetwas nicht? Sie warf einen Blick auf ihre Mutter und hoffte, sie würde sie beruhigend anlächeln. Aber auch Mama schaute mit sorgenvollem Blick zu Vater hinauf.

Er hob langsam den Kopf, und sein Blick wanderte suchend durch den Raum. Sein Gesicht war kreidebleich, und sein Kinn bebte. „Es tut mir leid. Ich kann … keine –“ Er schwankte, dann sackte er zusammen und ging hinter dem Rednerpult zu Boden.

Einige Leute im Publikum keuchten entsetzt auf. Charlotte schlug sich die Hände vor den Mund und sprang von ihrem Stuhl auf.

„Vater!“, schrie Alice und klammerte sich an Mamas Arm.

Mama löste sich schnell von ihr und eilte zur Bühne. Charlotte umklammerte Alice’ Hand und folgte ihr. Sir Anthony kam von der Seite der Bühne angelaufen. Zwei weitere Männer folgten ihm und umringten Vater, sodass Charlotte ihn nicht mehr sehen konnte.

Ein Mann schob sich hinter Charlotte durch die Menge. „Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!“ Er stieg auf die Bühne und kniete neben Vater nieder.

Charlottes Herz hämmerte, und angsterfüllte Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Die Stimmen um sie herum wurden lauter, und die Leute drängten immer dichter an sie heran. Mama beugte den Kopf, faltete ihre zitternden Hände vor ihrem Mund und bewegte die Lippen in einem stummen Gebet.

Alice blickte mit Tränen in den Augen zu Charlotte auf. „Was ist passiert? Was ist mit Vater?“

„Ich weiß es nicht.“ Charlottes Stimme zitterte. Sie lehnte sich nach links, um an den Männern, die Vater umringten, vorbeischauen zu können, aber das war unmöglich.

„Treten Sie zurück! Er braucht Luft!“, befahl der Arzt, und die Männer folgten seiner Anweisung und bildeten einen großen Kreis.

Um sie herum erhoben sich Stimmen zum Gebet, einige in einem lauten Weinen, andere in einem leisen Murmeln.

Sir Anthony richtete sich auf und blickte in ihre Richtung. „Mrs Harper? Henry verlangt nach Ihnen.“

Mama schlug die Augen auf und ging zur Seitentreppe. Mit einem tiefen Schmerz in ihrem blassen Gesicht blickte sie über ihre Schulter. „Kommt, Mädchen.“

Charlotte nahm Alice an der Hand und folgte Mama. Als sie auf der Bühne ankamen, traten die Männer, die ihren Vater umringten, ein wenig zurück und ließen sie durch. Charlottes Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und ihr wurde schwindlig. Das Gesicht ihres Vaters war aschfahl, und seine Augen wirkten glasig. Man hatte seinen Kragen gelockert und sein Hemd am Hals aufgeknöpft.

Mama kniete neben ihm nieder und griff nach seiner Hand.

„Rose …“, flüsterte er.

„Ja, ich bin hier“, antwortete sie leise.

„Es tut mir leid. Ich … wollte nicht, dass … das passiert.“ Ein tiefer Schmerz verzerrte sein blasses, schweißnasses Gesicht.

„Schon gut, Henry.“ Tränen traten in Mamas Augen. „Bitte atme ruhig weiter. Spar deine Kräfte.“

„Aber … ich …“ Sein Blick wanderte zu Charlotte, und ein herzzerreißender Ausdruck trat in sein Gesicht, als er flüsterte: „Vergebt mir.“

Charlottes Kehle schnürte sich zusammen, und sie kniete neben ihrer Mutter nieder. „Es gibt nichts zu vergeben“, sagte sie und hatte Mühe, die Worte herauszubringen.

Vater schüttelte den Kopf und schloss die Augen. „Falls dies das Ende sein sollte … müsst ihr wissen, dass es mir sehr leidtut. Ich liebe euch alle sehr.“

„Und wir lieben dich.“ Mama führte seine Hand an ihren Mund und küsste seine Fingerspitzen.

Ein Mann kam angelaufen und wandte sich an den Arzt. „Die Krankentrage und der Transport sind bereit.“

Der Arzt legte eine Hand auf Mamas Arm. „Wir bringen ihn ins St.-Luke’s-Krankenhaus.“

Mama nickte und wischte sich eine Träne von der Wange. „Wir kommen nach.“ Ihre Stimme zitterte, und ihr Blick wanderte über die Männer, die sie umringten.

Zwei Männer eilten mit der Krankentrage in den Saal. Sir Anthony und der Arzt sorgten dafür, dass die Leute ihnen Platz machten. Die Männer legten Vater auf die Trage, packten die Griffe und hoben ihn hoch.

Ein lautes Keuchen und Stimmengewirr erhoben sich aus der Menge, die sich vor der Bühne drängte.

„Henry!“, schrie eine Frauenstimme.

Charlotte drehte den Kopf und blickte sich suchend um. Eine blonde Frau stand am Rand der Bühne, ein Taschentuch vor den Mund gepresst und Tränen in den blauen Augen. Als sich ihre Blicke trafen, verzog die Frau schmerzlich das Gesicht. Dann drehte sie sich um, schob sich durch die Menge und eilte in Richtung Ausgang davon.

Sir Anthony wandte sich an Mama. „Ich fahre Sie und Ihre Töchter mit meinem Automobil zum Krankenhaus.“

„Danke.“ Mamas Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sir Anthony bot ihr seinen Arm an. Mama hakte sich bei ihm unter, und gemeinsam folgten sie den Männern, die die Trage mit Vater von der Bühne trugen.

Charlotte nahm Alice an der Hand und lief ihnen eilig hinterher, während ihr ein beängstigender Gedanke durch den Kopf schoss: Würde Vater wieder gesund werden, oder war es das letzte Mal, dass sie ihn lebend sah? Ein Frösteln erfasste sie, und sie schloss bei dieser grauenhaften Vorstellung die Augen. Sie durfte die Hoffnung nicht verlieren!

Aber die Hoffnung erschien ihr wie ein ferner Traum, als weitere beunruhigende Gedanken auf sie einstürmten. Man hatte ihr beigebracht, dass Gott über die Menschen, die ihn liebten, wachte und sie beschützte. Ihr Vater stand auf dem Höhepunkt seines Dienstes für Gott und sprach vor so vielen Menschen. Wie konnte Gott einen so hingebungsvollen und treuen Diener zu Boden werfen? Ihr angsterfülltes Herz konnte sich das einfach nicht erklären.

Charlotte trug das Tablett mit den benutzten Teetassen in die Küche und ließ die Tür hinter sich zufallen. Sie stellte das Tablett neben dem Spülbecken ab, seufzte schwer und rieb sich die brennenden Augen. Völlig ausgelaugt und vor Trauer wie gelähmt, konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen, aber sie musste sich zusammenreißen!

Hunderte Menschen waren an diesem Morgen zu Vaters Beerdigung gekommen, und Mama hatte es für richtig gehalten, ihre engsten Freunde danach zu ihnen nach Hause einzuladen. Jetzt sprang Charlotte als Gastgeberin ein, um Mama eine kurze Pause zu gönnen.

Sie schloss die Augen und lehnte sich an die Arbeitsplatte. Wenn sie nur nicht ins Wohnzimmer zurückgehen müsste, wo unzählige Gäste warteten! Sie waren gekommen, um den Hinterbliebenen ihr Beileid auszudrücken und sie zu trösten. Aber es war ein langer, schmerzlicher Tag gewesen. Die Gäste würden sich sicher bald verabschieden, damit die Familie im engsten Kreis trauern konnte.

Ihr achtzehnjähriger Bruder Daniel kam in die Küche. Sein gewelltes dunkelbraunes Haar war zerzaust, und seine braunen Augen waren betrübt. Er sah genauso müde aus, wie sie sich fühlte. Er war in Oxford gewesen, als Vater zusammengebrochen war. Mama hatte ihm ein Telegramm geschickt, und er war sofort nach Hause gekommen und hatte Vater im Krankenhaus besucht. Aber Vater war bei seinem Eintreffen schon bewusstlos gewesen. Daniel hatte sich nicht von ihm verabschieden können, und das verstärkte seine Trauer umso mehr.

Er erwiderte ihren Blick. „Wo ist Mama? Sir Anthony und Mr Walker möchten noch mit ihr sprechen, bevor sie gehen.“

Charlotte deutete zur hinteren Treppe. „Sie ist vor ein paar Minuten nach oben gegangen.“

Er nickte und runzelte müde die Stirn. „Ich gehe hinauf und hole sie.“

„Nein. Das mache ich. Könntest du den beiden Herren sagen, dass sie gleich da ist?“

Er nickte. Dann schaute er sie fragend an, und seine besorgte Miene entspannte sich ein wenig. „Ich weiß, dass es schwer für dich ist, Charlotte, aber wir schaffen das.“

Sie nickte langsam, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie ihr Leben weitergehen sollte. Vater war wie die Sonne gewesen, der Mittelpunkt ihres Universums. Und sie waren wie Planeten gewesen, die um ihn gekreist waren und seine Wärme und sein Licht aufgesogen hatten. Wie sollten sie ohne ihn weiterleben?

Charlotte verdrängte diesen schmerzlichen Gedanken und stieg die Treppe hinauf. Sie fand Mama in ihrem Schlafzimmer, wo sie vor dem Ankleidespiegel stand und sich einen Waschlappen aufs Gesicht drückte.

Sie bemühte sich, leise zu sprechen, da sie Mamas Schmerz nicht noch verstärken wollte. „Mr Walker und Sir Anthony möchten mit dir sprechen.“

Mama drehte sich um und schaute sie benommen und irritiert an. „Worüber?“

„Das weiß ich nicht. Daniel hat gesagt, dass sie sich verabschieden wollen und nach dir gefragt haben.“

Mama seufzte. Sie trocknete ihr blasses Gesicht ab und schaute noch einmal in den Spiegel. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, und die grauen Schatten darunter verrieten, dass sie in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatte.

Charlotte trat näher und legte eine Hand auf den Rücken ihrer Mutter. „Komm, ich begleite dich hinunter.“

Mama schaute sie im Spiegel an, dann drehte sie sich um und streichelte Charlottes Wange. „Danke, Liebes. Ohne dich und deinen Bruder hätte ich diese Woche wahrscheinlich nicht überstanden. Und auch Alice ist mir ein großer Trost.“

Charlotte kniff die Lippen zusammen und nickte. Mama war immer so sanft und anmutig – Eigenschaften, die Charlotte bewunderte, die ihr selbst aber oft fehlten. Sie hatte Vater nähergestanden und war ihm mit ihrer Liebe zum Lesen und zur Natur sehr ähnlich. Aber jetzt war er tot. Sie und Mama mussten sich umeinander kümmern, wenn sie diese schwere Zeit überstehen wollten.

Mama atmete tief durch und straffte die Schultern. „Ich bin so weit.“

Charlotte zwang sich zu einem schwachen Lächeln, dann folgte sie ihrer Mutter die Treppe hinab und ins Wohnzimmer. Sir Anthony und Mr Walker standen vor dem Kamin. Beide blickten auf, als Mama und Charlotte den Raum betraten und auf sie zugingen.

Mama nickte den Herren zu. „Danke für Ihr Kommen. Es ist ein großer Trost, in einer solch schweren Zeit Menschen wie Sie zur Seite zu haben.“

Sir Anthony griff in die Tasche seines Jacketts und zog einen weißen Umschlag hervor. Er hielt ihn Mama hin. „Das ist das Honorar, das wir Henry geben wollten. Ich wünschte, es wäre mehr.“

Mama nahm den Umschlag und senkte einen Moment lang den Blick. Als sie den Kopf wieder hob, glänzten ihre Augen feucht. „Danke.“

Tiefes Mitgefühl trat in Sir Anthonys Gesicht. „Bitte lassen Sie mich wissen, wenn ich Ihnen helfen kann. Es wäre mir eine Ehre, Ihnen in praktischen Angelegenheiten oder mit geistlichem Rat zur Seite zu stehen. Sie brauchen mir nur eine Nachricht zu schicken, dann mache ich mich sogleich auf den Weg.“

Mama biss sich auf die Unterlippe und wandte den Blick ab. „Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen.“

„Dann verabschiede ich mich jetzt.“ Sir Anthony nickte ihr zu und begab sich zur Tür, wo seine Frau auf ihn wartete.

Mr Walker trat einen Schritt vor. „Ich möchte mich Sir Anthonys Worten anschließen und Ihnen ebenfalls meine Unterstützung anbieten. Ich kann jederzeit herkommen und das Testament Ihres Mannes und seine finanziellen Angelegenheiten mit Ihnen durchsprechen, wenn Sie dazu bereit sind.“

Mama zog die Brauen hoch. „Sein Testament?“

„Ja. Als sein Anwalt habe ich erst vor wenigen Monaten sein Testament aufgesetzt.“

„Ich verstehe …“ Aber die Verwirrung in Mamas Gesicht war nicht zu übersehen.

„Ich werde Ihnen helfen, all diese Dinge abzuwickeln, Mrs Harper. Henry hätte es sicher so gewollt.“

„Natürlich.“ Mama warf Charlotte einen knappen Blick zu und wandte sich dann wieder an Mr Walker. „Können Sie bereits morgen wieder herkommen?“

Seine Augen weiteten sich. „So bald schon?“

„Ja. Ich halte es für das Beste, so schnell wie möglich von Henrys Letztem Willen zu wissen.“

Mr Walker verlagerte das Gewicht und wirkte, als fühle er sich ein wenig unwohl. „Wie Sie wünschen. Ich kann morgen Nachmittag vorbeikommen, wenn Ihnen das recht ist.“

„Das ist es. Vielen Dank.“

Charlotte blickte Mr Walker nach, als er das Wohnzimmer verließ. Was hatte Vater in seinem Testament verfügt? Dieses Haus gehörte ihren Eltern. Mama würde es erben, aber ansonsten wusste Charlotte nicht viel über ihre finanzielle Situation. Vater hatte doch sicher Vorkehrungen getroffen, damit es ihnen an nichts fehlte. Er liebte seine Familie und hatte für ihre Zukunft vorgesorgt, oder etwa nicht?

Charlotte starrte Mr Walker auf der anderen Seite des Esstisches an, und ihre Kehle schnürte sich zusammen. Das, was er sagte, konnte unmöglich wahr sein!

Mama wirkte ebenfalls irritiert. „Henry hat mir also das Haus und unseren Besitz vermacht, aber keine Lebensversicherung abgeschlossen?“

Mr Walker rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl umher. „Das ist korrekt.“ Er blätterte in den Papieren der aufgeschlagenen Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag. „Ich habe heute Morgen mit der Bank gesprochen. Dort hat man mir mitgeteilt, dass einhundertzweiundvierzig Pfund auf dem Konto liegen. Sobald ich die Sterbeurkunde erhalten habe, kann ich das Geld für Sie abheben.“

Mama schaute den Mann mit offenem Mund an. „Einhundertzweiundvierzig Pfund? Das verstehe ich nicht. Wo ist das Geld geblieben, das er mit seinen Lehr- und Vortragstätigkeiten verdient hat? Gibt es womöglich noch ein anderes Konto?“

Mr Walker wandte den Blick ab. „Von einem weiteren Konto ist mir nichts bekannt.“

„Aber Henry hat mich immer in dem Glauben gelassen, dass wir genügend Einnahmen und Ersparnisse hätten. Er hat nie einen finanziellen Engpass erwähnt.“

Daniel warf Charlotte einen besorgten Blick zu, den sie erwiderte. War das wirklich alles, was ihnen zum Leben blieb?

„Er hat vermutlich damit gerechnet, lang zu leben und noch mehr Geld ansparen zu können.“

Mama lehnte sich verblüfft zurück und wandte den Blick zum Fenster. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass unsere finanziellen Mittel so knapp sind.“ Dann schaute sie wieder Mr Walker an. „Aber wenigstens haben wir das Haus.“

Mr Walker verzog mitfühlend das Gesicht. „Ist Ihnen bewusst, dass das Haus mit einer hohen Hypothek belastet ist?“

Mama schüttelte den Kopf. „Sie müssen sich irren! Die Hypothek auf dieses Haus ist seit Jahren abbezahlt.“

„Das mag stimmen, aber auf der Bank hat man mir gesagt, dass Henry letztes Jahr einen Kredit aufgenommen und das Haus als Sicherheit hinterlegt hat.“

Mama blinzelte. „Wie hoch ist dieser Kredit?“

Er nannte die Summe, und Charlotte hatte Mühe, nicht laut zu keuchen. Sie warf ihrem Bruder einen weiteren Blick zu und versuchte, Mr Walkers Worte zu begreifen.

Daniel wandte sich an Mama. „Was denkst du, wofür Vater einen Kredit aufgenommen hat?“

„Ich habe keine Ahnung. Er hat mir immer ein großzügiges Haushaltsgeld gegeben, aber um alles andere hat er sich selbst gekümmert. Wir haben so gut wie nie über Finanzielles gesprochen.“

Daniels dunkle Brauen zogen sich zusammen. „Glaubst du, er hat den Kredit aufgenommen, um meine Studiengebühren in Oxford zu zahlen?“

Mama schaute ihn nachdenklich an. „Er hat mir gesagt, dass für deine Studiengebühren gesorgt ist. Vielleicht hat er das damit gemeint.“

Mr Walker klappte die Akte zu und schaute Mutter über den Tisch hinweg bedauernd an. „Es tut mir leid, Mrs Harper. Mir ist bewusst, dass Sie das in eine ziemlich schwierige Situation bringt.“

Sie senkte den Blick. „Ja … Ja, so ist es.“

Charlotte faltete die Hände in ihrem Schoß. Ohne das Geld aus einer Lebensversicherung würde es schwer für sie werden, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Daniel müsste vielleicht sein Studium in Oxford abbrechen und sich eine Arbeit suchen. Aber wer würde ihn ohne eine Ausbildung oder ein abgeschlossenes Studium einstellen?

Mama kniff die Lippen zusammen und warf Mr Walker einen verzagten Blick zu. „Das alles ist zu viel für mich! Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.“

„Das verstehe ich. Ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten.“ Mr Walker steckte die Akte in seine lederne Aktentasche. „Haben Sie möglicherweise eine andere Einnahmequelle, von der ich nichts weiß?“

Mama seufzte. „Nein, wir haben keine Einnahmen.“

Mr Walker beugte sich vor. „Sie könnten sich überlegen, das Haus zu verkaufen, um den Kredit und die ausstehenden Rechnungen zu begleichen. Damit wären Ihre Schulden getilgt, und Sie könnten schuldenfrei ein neues Leben beginnen.“

Mamas Augen weiteten sich. „Das Haus verkaufen? Glauben Sie wirklich, dass das nötig ist?“

„Ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst vorschlagen sollte.“

Charlotte verspürte ein schmerzhaftes Ziehen in der Magengegend.

„Haben Sie Verwandte, die … Sie bei sich aufnehmen könnten? Dann hätten Sie weniger Ausgaben.“

Mamas Wangen röteten sich. „Meine Mutter und mein Bruder sind beide schon gestorben. Und mein Vater und ich stehen uns … nicht sonderlich nahe.“

Mr Walker nickte. „Ich verstehe. Haben Sie Freunde, bei denen Sie vorübergehend unterkommen könnten?“

Mama rieb sich mit der Hand die Stirn. „Die meisten unserer Freunde leben in sehr bescheidenen Verhältnissen. Es wäre eine Zumutung für sie, vier weitere Personen bei sich aufzunehmen.“

Mr Walkers Miene wurde ernst. „Ich fürchte, Madam, dass Ihnen keine andere Wahl bleibt.“

Mamas Kinn zitterte, als sie aufstand. „Danke für Ihren Besuch, Mr Walker. Sie haben uns viel Stoff zum Nachdenken gegeben.“

„In der Tat … Ich werde mich melden, wenn ich die Sterbeurkunde und das Geld von der Bank habe.“ Mr Walker nahm seine lederne Aktentasche und stand auf. „Ich finde selbst hinaus.“

Charlotte stand nur sprachlos da, als er zum Abschied nickte und den Raum verließ. Dieses Haus war alles, was ihnen nach Vaters Tod geblieben war; das einzige Zuhause, das sie kannte. Wo sollten sie unterkommen, falls es verkauft werden müsste?

Mama schaute Charlotte und Daniel an, und eine neue Entschlossenheit trat in ihre Miene. „Nun, meine Lieben, so, wie es aussieht, bleibt uns nur eine einzige Möglichkeit: Ich werde einen Brief an meinen Vater auf Longdale Manor schreiben und alles dafür tun, um mich mit ihm zu versöhnen.“

3

2012

Gwen trat auf die Terrasse hinaus und schloss leise die Sprossentüren hinter sich. Ein leichter Morgenwind umwehte sie, der den Geruch von feuchter Erde und Gras nach einem reinigenden Regen mit sich trug. Auf dem Hang unterhalb der Terrasse bildeten leuchtend gelbe Narzissen fröhliche Farbtupfer. Ein Steinpfad schlängelte sich durch die Blumenbeete und führte zum Ufer eines ruhig daliegenden Sees hinab. Ein leichter Frühnebel hing über dem Wasser und verlieh ihm etwas Geheimnisvolles. Die einzigen Geräusche, die Gwen hörte, waren der Wind in den Bäumen und der Ruf eines Graureihers, der sich am Uferrand erhob und auf die Hügel auf der gegenüberliegenden Seite des Sees zusteuerte.

Sie sog tief die Luft ein und genoss die Schönheit und den Frieden des Augenblicks.

„Guten Morgen.“ Beim Klang seiner Stimme drehte sie sich abrupt um. David kam mit zwei dampfenden Tassen und einem sanften Lächeln auf sie zu. „Kaffee?“

„Danke.“ Sie nahm die Tasse entgegen, und der köstliche Duft stieg ihr in die Nase. „Schwarz?“

Er nickte und trank einen Schluck, dann wanderte sein Blick zum See. „Eine schöne Aussicht auf den Derwentwater, nicht wahr?“

„Ja, und der Anblick ist so friedlich.“

„Ich war zehn, als meine Großmutter zum zweiten Mal heiratete und hierherzog. Seitdem war ich schon oft hier, aber diese Aussicht fasziniert mich immer wieder aufs Neue.“ Er hob seine Tasse, als wolle er dem See und der schönen Landschaft zuprosten.

„Sie hat also noch einmal geheiratet, als sie schon etwas älter war?“

„Ja, sie und Großvater Benderly waren beide verwitwet.“

Gwen nickte und fand es interessant, dass Davids Großmutter Longdale Manor von ihrem zweiten Mann und nicht von ihren Eltern oder Großeltern geerbt hatte. Dann hing Lilly womöglich gar nicht so sehr an den Objekten, die Gwen bewerten sollte. Das würde sie sich merken. „Ich kann gut nachvollziehen, warum so viele Menschen im Lake District Urlaub machen“, sagte sie an David gewandt. „Hier ist es wirklich wunderschön.“

Sein Blick wanderte erneut über den See, und in seinen Augen lag eine unübersehbare Begeisterung. „Eine solche Landschaft gibt es in ganz England kein zweites Mal.“