Das Tao des Kapitals - Mark Spitznagel - E-Book

Das Tao des Kapitals E-Book

Mark Spitznagel

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was verbindet die Österreichische Schule und den Taoismus? Und was kann man als Anleger aus dieser Verbindung lernen? Mark Spitznagel gibt Antworten. Regierungen, die überregulieren, Zentralbanken, die Wirklichkeiten am Markt verzerren. Der Investment-Ansatz der Österreichischen Schule meint seit 150 Jahren: Die Menschen verdienen etwas Besseres. Er befürwortet sich selbst regulierende Märkte, in denen freie Menschen in einer freien Gesellschaft interagieren. Mark Spitznagel, einer der bekanntesten und erfolgreichsten Investoren unserer Tage, verbindet in "Das Tao des Kapitals" die zentralen Elemente des zeitlosen Investment-Modells "Privateigentum, freie Märkte, stabile Währung und eine liberale Gesellschaft" mit den Gedanken des Taoismus. So wie sich der Mensch im Taoismus an die Gegebenheiten anpassen soll, so sollte auch der Investor den Märkten freien Lauf lassen - und die Früchte seiner Geduld ernten. Spitznagel weist in seinem Ansatz des Austrian Investing den Weg.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 581

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Dao of Capital: Austrian Investing in a Distorted World

ISBN: 978-1-118-34703-4

© der Originalausgabe 2013:

Copyright © by Mark Spitznagel. All rights reserved.

Published by John Wiley & Sons, Inc., Hoboken, New Jersey.

Artwork by Tim Foley.

All Rights Reserved. This translation published under licensewith the original publisher John Wiley & Sons, Inc.

Copyright der deutschen Ausgabe 2016:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Egbert Neumüller

Gestaltung Cover: Jürgen Hetz, Denksportler Grafikmanufaktur

Layout und Satz: Jürgen Hetz, Denksportler Grafikmanufaktur

Herstellung: Daniela Freitag

Lektorat: Volkmar Gronau

ISBN 978-3-86470-294-5eISBN 978-3-86470-295-2

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbankenoder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: 0 92 21-90 51-0 • Fax: 0 92 21-90 51-44 44

E-Mail: buecher@boersenmedien.de

www.boersenbuchverlag.de

Für meine Kinder,Edward und Silja –Meine Strategie des großen Shi

Inhalt

Vorwort

Einführung

Kapitel 1: Der weise Tao-Gelehrte

Das Klipp’sche Paradox

Der alte Meister

Das Weiche, Schwache obsiegt über das Harte, Starke

Ab in die Grube

Die Privilegien eines Händlers

Robinson Crusoe in der Anleihe-Pit

Angeln in „McElligots Teich“

Auftritt der Österreicher: ein Karajan-Moment

Ein Zustand der Ruhe

Führt in die Leere …

Etwas anderes machen

Die Weisheit der Weisen

Kapitel 2: Der Wald im Kiefernzapfen

Der Umweg und die Logik des Wachstums

Der Wald und die Bäume

Der langsame Setzling

Waldbrände und Umverteilung von Ressourcen

Der Nadelbaum-Effekt

Eine Logik des Wachstums

Kapitel 3: Shi

Die intertemporale Strategie

Das Tao des Sun Wu

Shi und die Armbrust

Li – der direkte Weg

Shi und Li auf dem Weiqi-Brett

Ein gemeinsamer Faden von Ost nach West

Angriff des Missverstehens

„Vom Kriege“ – eine indirekte Strategie

Shi, Ziel, Mittel und Zweck

Kapitel 4: Das Gesehene und das Vorhergesehene

Die Wurzeln der österreichischen Tradition

Was vorhergesehen werden muss

Am Wiener Scheideweg zwischen Ost und West

Die Teleologie von Baers Schmetterling

Menger begründet die Österreichische Schule

Der Hauslehrer des Prinzen

Der Methodenstreit

Die Österreichische Schule

Kapitel 5: Umweg

Der Umweg, den der Unternehmer beschreitet

Das „Positive“ fordern

Produktionsumweg

Böhm-Bawerk, der bourgeoise Marx

Faustmanns Forstökonomie

Kapitalringe

Henry Ford: Der Umweg-Unternehmer

Der Umweg des Lebens

Kapitel 6: Zeitpräferenz

Das Menschliche an uns überwinden

Der „Radikale“ Böhm-Bawerk und die Psychologie der Zeitpräferenz

Der merkwürdige Fall des Phineas Gage

Das Shi- und das Li-Gehirn

Die Subjektivität der Zeit

Der Kompromiss eines Süchtigen

Die Wall Street – nicht zielstrebig zum Ziel

Anpassung an das Intertemporale

Kapitel 7: „Der Markt ist ein Prozess“

Der Mann, der die Große Depression vorhersagte

Flucht vor den Nazis

Human Action

Unternehmer im Land der Nibelungen

Im Nibelungenland ist ein echter Wandel im Gange – ein vom Markt induzierter Zinsverfall

Eine Verzerrung betritt das Nibelungenland – die Notenbank senkt die Zinsen

Zeitliche Inkonsistenz und das Zinsgefüge

Der Tag der Abrechnung kommt ins Nibelungenland

Die österreichische Sicht

Der Marktprozess behält die Oberhand

Kapitel 8: Homöostase

Die Suche nach Ausgewogenheit in der Verzerrung

Die Teleologie des Marktes

Der Yellowstone-Effekt

Lehren aus dem verzerrten Wald

Marktkybernetik

Wie die Dinge „richtig laufen“ könnten

Spontane Ordnung

Verzerrung

Der Sandhaufen-Effekt

Die Botschaft der Verzerrung: „Nichts tun“

Das Shi des Kapitals

Kapitel 9: Österreichische Geldanlage I:Der Adler und der Schwan

Die Verzerrung mit den Werkzeugen von Mises ausnutzen

Homöostase en force

Zeuge der Verzerrung

Eine erste Mises-Anlagestrategie

Der Adler und der Schwan

Fallstudie: prototypisches Tail-Hedging

Das Ziel und der Zweck: Zentralbank-Hedging

Der Umweg-Anleger

Kapitel 10: Österreichische Geldanlage II: Siegfried

Den Böhm-Bawerk’schen Umweg ausnutzen

Siegfried, der Drachentöter

Fallstudie: Die Siegfrieds kaufen

Value-Investing: Der entfremdete Erbe der Österreicher

Ein Zweck, der schließlich erreicht wurde

Epilog:

Das Sisu des borealen Nadelwalds

Die Welt lernt von den siegreichen Finnen sisu

Sisu – Vom Charakter und von der Charakterbildung

Anmerkungen

Danksagungen

Über den Autor

Vorwort

Im Jahr 1971 machte ich an einem arbeitsreichen Tag eine längere Mittagspause, um die knapp 100 Kilometer zur University of Houston zu fahren und mir dort eine der letzten offiziellen Vorlesungen des großen Vertreters der österreichischen Schule der Ökonomie Ludwig von Mises anzuhören. Er war damals 90 Jahre alt, aber immer noch so leidenschaftlich und eloquent wie immer. Die Schriften dieses Mannes waren meine hauptsächliche Inspiration gewesen, die Ansätze der Österreichischen Schule aufzusaugen und zu verfechten, die mein Denken seither beherrschen.

Zum ersten Mal kam ich mit den Österreichern in Berührung, als ich an der Duke University Medizin studierte und auf ein Exemplar von „Der Weg zur Knechtschaft“ von F.A. Hayek stieß. Danach verbrachte ich viel Zeit damit, alles zu lesen, was ich von der Österreichischen Schule finden konnte. Neben Hayek und von Mises verschafften mir die Werke von Murray Rothbard und Hans Sennholz einen „neuen“ Blick auf die Ökonomie.

Bevor ich die Österreichische Schule entdeckte, verstand ich den Prozess, nach dem die freie Marktwirtschaft funktioniert, nicht vollständig. Die Österreicher veranschaulichten mir die Vorzüge der freien Marktwirtschaft gegenüber interventionistischen Planwirtschaften. Je mehr ich las, desto mehr wurde mir klar, dass dies die Art ist, wie wahrhaft freie Individuen in einer wahrhaft freien Gesellschaft miteinander interagieren sollten. Die österreichischen Volkswirte traten außerdem zu einer Zeit für die freie Marktwirtschaft ein, als die meisten Intellektuellen den Kollektivismus und den Sozialismus priesen. Bis zum heutigen Tag schulde ich den Österreichern große Dankbarkeit.

Was ich für neue Gedanken über die Beziehung zwischen wirtschaftlichen und persönlichen Freiheiten hielt, gab es in Wirklichkeit schon lange, bevor ich sie entdeckte. Rothbard schrieb in „An Austrian Perspective on the History of Economic Thought“, die alten Taoisten seien die „ersten Libertaristen“ gewesen1, und machte den Taoismus und die Österreichische Schule zu Buchstützen, die mehr als zwei Jahrtausende in der Geschichte des wirtschaftsliberalen und politischen Denkens umspannen. In „Das Tao des Kapitals“ macht mein Freund und Mit-Österreicher Mark Spitznagel Rothbards aufschlussreichen Zusammenhang zu einem Thema von einzigartiger Bedeutung.

Was die jüngere Vergangenheit angeht, kann man die zentralen Prinzipien der Österreichischen Schule – vom Privateigentum, von der freien Marktwirtschaft, vom soliden Geld und der liberalen Gesellschaft insgesamt – einige Jahrhunderte bis zum klassischen Liberalismus zurückverfolgen, der sich um die einfachsten Grundsätze aller freien Gesellschaften drehte. Der Volkswirt Ralph Raico schrieb dazu:

„Der klassische Liberalismus – den wir hier der Einfachheithalber nur als Liberalismus bezeichnen wollen – basiertauf der Vorstellung von der Zivilgesellschaft als imWesentlichen selbst regulierend, wenn ihre Mitgliederinnerhalb sehr weiter Grenzen ihrer IndividualrechteHandlungsfreiheit besitzen. Darunter genießt das Rechtauf Privateigentum einschließlich der Vertragsfreiheitund der freien Verfügung über die eigene Arbeitskrafteinen sehr hohen Vorrang ... man nennt diese Schule derÖkonomie die Österreichische Schule ... und sie wurdeoft – von Verfechtern wie auch von Gegnern – mit derliberalen Doktrin in Verbindung gebracht.2

Im Laufe der Jahre trat ich mit vielen Freunden und Studenten von Mises in enge Verbindung, und für uns alle blieb sein Beispiel von herausragender Bedeutung. Er versuchte nie, seine Haltung aufzuweichen oder seine Philosophie zu dämpfen, um so für die konventionellen Wirtschaftskreise akzeptabler zu werden. Hätte er sich dazu entschlossen, wäre ihm zu Lebzeiten zweifellos mehr Anerkennung zuteil geworden. Doch nicht Anerkennung, sondern das Streben nach ökonomischer Wahrheit war sein Ziel.

Außerdem war Mises ein freundlicher, taktvoller Gentleman, und in vielerlei Hinsicht versuchte ich ihn nachzuahmen. Ich wandte mich immer dann den weisen Worten von Mises zu, wenn die Welt (und insbesondere die Volkswirte) mir am wahnsinnigsten schienen: „Niemand sollte erwarten, dass irgendein logisches Argument oder irgendeine Erfahrung den fast schon religiösen Eifer derjenigen erschüttern könnte, die an das Heil durch Ausgaben und Kreditwachstum glauben.“ 3

Kernstück der Österreichischen Schule ist die Unberechenbarkeit des menschlichen Handelns und der enorme Einfluss, den die Entscheidung des Einzelnen auf die Funktionsweise der Wirtschaft hat. Sie erkennt die Subjektivität des Wertes an, die Rolle des Unternehmers und das Streben nach Kapitalbildung, um die Gesellschaft als solche voranzubringen. Heute ist es genauso wichtig und vielleicht noch wichtiger, diese Wahrheiten zu begreifen, als in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als diese Schule langsam aufkam.

Mit „Das Tao des Kapitals“ unternimmt Mark Spitznagel eine umfassende Studie der Österreichischen Schule und des damit verbundenen Denkens im Laufe der gesamten Geschichte. Als höchst erfolgreicher Anleger holt Mark die Ökonomie der Österreichischen Schule aus dem Elfenbeinturm heraus und bringt sie in das Investmentportfolio ein, indem er demonstriert, dass man ihre Prinzipien von Kapital, Produktion auf Umwegen und freier Marktwirtschaft auf unternehmerische Investitionen anwenden kann und auch sollte. Marks „Österreichisches Investing“ ist in seiner Klarheit und praktischen Durchführbarkeit faszinierend, und es zeigt, wie schwierig es ist, gegen den Strom der interventionistischen Mainstream-Ökonomie und der Kultur der Wall Street zu schwimmen.

Als Anhänger der Österreichischen Schule frustriert es mich, ständig zusehen zu müssen, was die Zentralisierer und die staatlichen Planer unserer Wirtschaft antun – sie ersinnen ein Katastrophenrezept nach dem anderen. Wir müssen lernen, dass die Märkte von Natur aus belastbar und rückstellfähig sind. „Das Tao des Kapitals“ veranschaulicht, dass die natürlichen Marktkräfte ohne die verzerrenden Auswirkungen der zentralen Planung und des Interventionismus von alleine zu einer Homöostase führen – was der heutigen Bailout-Kultur ein Gräuel ist.

Anstatt durch ihre Maßnahmen die Märkte zu beruhigen, erzeugen die Notenbanken dadurch ein stetig wachsendes Maß an Verzerrung. Sie klammern sich an Strohhalme und meinen, wenn sie die Welt mit Geld überschwemmen, würde das die Probleme lösen, die der Interventionismus überhaupt erst geschaffen hat.

Die Menschen haben etwas Besseres verdient. Lassen wir den Kapitalismus so funktionieren, wie er sollte, ohne die Manipulation durch Bürokraten. Als Arzt, der fast 35 Jahre lang praktiziert hat, habe ich den Hippokratischen Eid abgelegt, der mich verpflichtet, niemandem zu schaden und die natürliche Selbstheilungskraft des Körpers nicht zu behindern. Der Staat muss das Gleiche tun und zulassen, dass der natürliche Gleichgewichtsprozess des Marktes sein Werk tut. Dies berührt die Kernbotschaft von „Das Tao des Kapitals“, das den Menschen zeigt, wie man mit dem Marktprozess – ob verzerrt oder nicht – zur Harmonie gelangt.

Während ich im Laufe der Jahre mein Verständnis der Bedeutung der freien Marktwirtschaft vertiefte, erkannte ich die Notwendigkeit, durch politische Maßnahmen dafür zu kämpfen. Solche Maßnahmen können verschiedene Formen annehmen, von der politischen Bildung bis hin zur Revolution. In den Vereinigten Staaten kann man notwendige Veränderungen durch Bildung, Überzeugung und den demokratischen Prozess erzielen. Unser Recht auf freie Meinungsäußerung, das Versammlungsrecht, die Religionsfreiheit, das Petitionsrecht und das Recht auf Privatsphäre sind im Wesentlichen immer noch intakt. Doch bevor wir unsere Rechte verlieren, müssen wir die politischen Maßnahmen ändern, die aus Jahrzehnten des staatlichen Interventionismus hervorgegangen sind.

Ich war schon immer der tiefen Überzeugung, dass die Gründerväter es richtig machten – auf jeden Fall richtiger als ihre Nachfolger, die seit der Verabschiedung unserer Verfassung fieberhaft gegen die Individualrechte arbeiten. Unsere Nation wurde auf dem Grundwert der Freiheit gegründet und man brauchte mich nie von den Vorzügen der persönlichen Freiheit zu überzeugen. Andere Kräfte forderten meine natürlichen, auf Freiheit gerichteten Instinkte heraus – das etablierte Bildungswesen, die Medien und der Staat. Sie predigten ständig, wir bräuchten den Staat, damit er uns vor so gut wie allem schützt, auch vor uns selbst. Ich wankte jedoch nie in meiner Überzeugung, dass nur ein unregulierter Markt mit der Freiheit des Individuums einen Gleichklang bildet.

Diese Freiheit geht Hand in Hand mit einer stabilen Währung, einem grundlegenden Konzept der Österreichischen Ökonomie. Die Mainstream-Volkswirte spielen ihre Bedeutung ständig herunter oder lehnen sie ab. Die ständigen, unaufhörlich schlechten Resultate der dominierenden Wirtschafts-„Experten“ sprechen für sich.

Laut Mises muss Geld am Markt als nützliche Massenware entstehen, damit es richtig funktioniert. Die wichtigste Funktion des Geldes ist die eines Tauschmittels. Außerdem fungiert es als Maßeinheit und als Wertaufbewahrung.

Leider sind Politiker überzeugt, Geldmengenwachstum würde uns Wirtschaftswachstum bescheren. Sie sind gegenüber der Tatsache blind, dass der Staat überhaupt nichts schaffen kann. Der Staat kann den Menschen nicht reicher machen, aber er kann ihn ärmer machen. Anders zu denken ist äußerst naiv. Wir sollten alle die Lehre aus dem scharfsinnigen Essay „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ des Ökonomen Frédéric Bastiat aus dem 19. Jahrhundert beherzigen und hinter das Unmittelbare auf die weniger direkten Auswirkungen blicken, die man vorhersehen kann und vorhersehen sollte – ein weiteres von Marks großen Themen in „Das Tao des Kapitals“.

Die Federal Reserve kann zwar am Markt intervenieren und sich in die Zinsen einmischen, aber letztendlich entkommt sie der unveränderlichen Natur der freien Marktwirtschaft nicht. Die Politiker mögen ein Währungssystem nach ihrem Gutdünken zurechtbiegen, aber sie können die ökonomischen Gesetze nicht aufheben, die die Natur des Geldes bestimmen. Wie ich schon früher gesagt habe und noch heute betone, können Verzerrung und Verfälschung durch monopolistische Kontrolle über lange Zeit den Wenigen auf Kosten der Vielen zugute kommen, doch am Ende obsiegen die unaufhebbaren Naturgesetze. Die freie Entscheidung am Markt ist die einzige Möglichkeit, wie wirtschaftliche Berechenbarkeit zustande kommen kann.

Das Geld wurde immer als neutral betrachtet. Die Geldmenge solle bei der Bestimmung konkreter Preise keine entscheidende Rolle spielen. Vielmehr galt es als Tatsache, dass der Preis eines Produkts nur von Angebot und Nachfrage abhängt. Dies akzeptierten sogar die ersten Österreicher stillschweigend und es brauchte Mises, um die Nichtneutralität des Geldes zu beweisen. In seinem Meisterwerk „Human Action“ schrieb er:

„Da Geld niemals neutral und hinsichtlich seinerKaufkraft stabil sein kann, kann staatliche Planung derGeldmenge nie unparteiisch und für alle Mitglieder derGesellschaft gerecht sein. Was immer ein Staat tut, umdie Höhe der Kaufkraft zu beeinflussen, hängt notwendigerweisevon den persönlichen Werturteilen des Herrschersab. Es befördert immer die Interessen bestimmterGruppen von Menschen auf Kosten anderer Gruppen. Esdient niemals dem, was man als Gemeinwohl oderAllgemeinwohl bezeichnet.“ 4

Wenn man am Geld einer Nation herumdoktert, doktert man an allen wirtschaftlichen Aspekten des Lebens von Menschen herum: Verdienst, Ersparnisse, wie viel man nominal für jeden getätigten Kauf bezahlt. Wenn das Geld von Politikern willkürlich manipuliert wird, führt das immer zu Chaos, Arbeitslosigkeit und politischen Umwälzungen. Deshalb müssen wir unbedingt ein Geld identifizieren, das nicht missbraucht werden kann, das Inflation verhindert und verantwortungsvollen, arbeitenden Bürgern zu Wohlstand verhilft.

„Das Tao des Kapitals“ zeigt eindeutig, dass eine inflationäre Fiat-Währung Kapitalinvestitionen in einer Marktwirtschaft sehr erschwert. Wenn Geld vernichtet wird, wachsen die Macht des Staates und seine Einmischung in die Märkte als Versuch, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Offizielle Staatsvertreter weigerten sich im Laufe der gesamten Geschichte zuzugeben, dass volkswirtschaftliche Planung nicht funktioniert, bevor es zu spät ist. Und wenn Regierungen zu kompensieren versuchen, dass „zu viel Geld gedruckt wird“, machen sie es nur noch schlimmer. Das dürfte sich für die Amerikaner bezüglich der Funktionen der Federal Reserve nur allzu vertraut anhören.

Ironischerweise ist man in den Vereinigten Staaten einmütig gegen staatliche Preiskontrollen und für die freie Marktwirtschaft, außer was den wichtigsten Preis von allen angeht – den Preis der Zeit beziehungsweise die Zinsen. Über sie kontrolliert der Staat den Wert des Geldes. Durch diese Preiskontrolle verzerrt der Staat außerdem die ausgefeilte Koordinierungsfunktion des Marktes zwischen Verbrauchern und Erzeugern. Dank der Arbeiten der Österreichischen Volkswirte wissen wir, dass uns der Verlust dieser Koordinierung den Konjunkturzyklus aus Aufschwung und Abschwung beschert – er ist ausschließlich der Manipulation der Geld- und Kreditmenge durch die Notenbank geschuldet. Deshalb spiegeln die Arbeitslosenquote und der allgemeine Lebensstandard weitgehend die Geldpolitik wider, die eine Nation betreibt.

Mises war klar, dass Geld dadurch zu einer ebenso politischen wie ökonomischen Angelegenheit wird. Seine Einsichten halfen mir dabei, die Ausreden für Defizite, die aus dem rechten und dem linken Lager kommen, einander gegenüberzustellen. Unabhängig von ihrer jeweiligen Rhetorik bauen beide Fraktionen darauf, dass das Fiat-Währungssystem und die Inflation erhalten bleiben und den Staat finanzieren, während sie gleichzeitig ihren jeweiligen speziellen Interessen dienen.

Die Österreicher erklären ausführlich, weshalb staatliche Eingriffe der Feind sind und weshalb die individuelle Freiheit für die Verwirklichung wahrer Freiheit von entscheidender Bedeutung ist. Die Gewissheiten, die ich aus diesen Gedanken bezog, und das Vorbild des Charakters von Mises versetzten mich in die Lage, meine Zeit in Washington und im Kongress zu ertragen.

Ich hätte nie gedacht, dass der Begriff „Österreichische Ökonomie“ breit verwendet würde. Doch seit 2008 ist er auf der populären Ebene in unseren politischen Wortschatz eingedrungen – was mich, der ich die Österreichische Schule über lange Zeit studiert habe, immer noch riesig freut. Für die Gegenwart lassen ihre Lehren zwar finstere Dinge erwarten, aber wir haben auch Grund zu Optimismus – weil sie bei der jüngeren Generation Fuß fassen und an Potenzial gewinnen. Es macht mich enorm stolz zu sehen, dass Tausende Menschen zu meinen Kundgebungen kommen, denn daran sieht man, dass sich die Jugend Amerikas der Freiheit verschreibt, in wirtschaftlichen und anderen Dingen.

In dem Maße, in dem diese Grundsätze immer populärer werden und andere die ökonomischen Wahrheiten entdecken, für die von Mises und seine Studenten eintraten – auch durch „Das Tao des Kapitals“ –, werden wir am Ende unser Land auf ein solides finanzielles Fundament stellen können.

Die Freiheit ist wirklich beliebt. Aber sie vollständig zu verwirklichen bedeutet auch, sich die Österreichische Ökonomie zu eigen zu machen.

Ron Paul

Einführung

Zunächst einmal müssen wir „Kapital“ auf eine neue Art denken, nämlich als Verb und nicht als Substantiv. Es ist kein unbelebter Vermögensgegenstand oder Eigentum, sondern es stellt eine Handlung dar, ein Mittel zum Zweck – um die Werkzeuge und Instrumente einer voranschreitenden Volkswirtschaft zu bauen, voranzubringen und zu verbreiten. Kapital ist in der Tat ein Prozess oder eine Methode oder ein Pfad – das, was die alten Chinesen als Tao bezeichneten.

Das Kapital hat eine intertemporale Dimension: Seine Positionierung und sein Vorteil zu verschiedenen künftigen Zeitpunkten ist von zentraler Bedeutung. Die Zeit ist sein Milieu – sie definiert es, unterstützt und behindert es. Wenn wir uns das Kapital auf neue Art vorstellen, müssen wir uns auch die Zeit auf neue Art vorstellen, um uns auf diesen Prozess einzulassen – auf unseren Pfad, auf unser Tao des Kapitals.

Dieser Pfad ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er in hohem Maße und absichtlich umständlich ist – das Schlüsselwort, das sich durch das gesamte Buch zieht, ist Umweg –, und er besteht darin, „nach rechts zu gehen, um nach links zu gelangen“, was zunächst zu den Mitteln führt, also zu Zwischenstationen, von denen aus man leichter und effektiver zu den am Ende stehenden Zielen gelangt. Obwohl uns dieser Prozess offenkundig überall umgibt – vom nördlichen Nadelwaldgürtel bis hin zur Geschäftswelt des Unternehmers –, nehmen wir ihn allzu oft gar nicht wahr. Wir sehen meistens zwar den Zielort, verfehlen aber irgendwie oft den Weg dorthin. Und darum spielen wir am Ende das falsche Spiel.

Diese Lehre zieht sich durch das strategische Denken und die Entscheidungsfindung in vielen Lebensbereichen. Aber das vorliegende Buch handelt von der Geldanlage, die ich deshalb vor allem ins Auge fasse. Ich hoffe, auf diesen Seiten eindeutig klarstellen zu können, dass Investieren eine angeborene menschliche Handlungsweise ist, die sich nicht von anderen unterscheidet. Vielleicht aber ist diese Lehre auf dem Gebiet der Geldanlage am dringendsten nötig. Die blinkenden Lichter der Bloomberg-Terminals und der Broker-Monitore locken uns mit sofortigen Gewinnen und lenken uns so sehr ab, dass wir außer ihnen nichts sehen. Unsichtbar bleiben die teleologischen Mechanismen hinter dem Sichtbaren, sozusagen die ewig rotierenden „Zahnräder der Welt“. Sogar die Wall Street, dieser großartige Nebenschauplatz, der von seinen zeitlichen Beschränkungen in die dringende Gegenwart gezwungen wird, ist für diese wirtschaftlichen Mechanismen blind und kann lediglich den Schatten des tatsächlichen Geschehens nachjagen.

Die gute Nachricht ist allerdings, dass diese Mechanismen im Kern sehr einfach sind und bereits enthüllt wurden, nämlich von einer volkswirtschaftlichen Denkschule, die nach ihrem Geburtsort, dem kulturellen und intellektuellen Knotenpunkt des 19. Jahrhunderts, (etwas abschätzig) als Österreichische (oder Wiener) Schule der Ökonomie bezeichnet wird. Damals etablierten die Begründer Carl Menger und Eugen von Böhm-Bawerk eine neue Ansicht des Kapitals als Mittel, das über einen Umweg zu produktiveren Zwecken führt. Ihr intellektueller Nachfahr, der große Ludwig von Mises, hat mehr zum Vorankommen der Österreichischen Schule beigetragen als irgendjemand sonst und in seinem Namen wird noch heute ihre Fackel hoch gehalten.

Die Österreicher sind allerdings nicht unsere einzigen Ahnen. Tatsächlich finden wir eine Säule des strategischen Denkens, die 25 Jahrhunderte bis ins Alte China und zu den Taoisten zurückreicht, laut deren Konzept der Umkehrung alles aus seinem Gegenteil hervorgeht und dessen Ergebnis ist: das Harte aus dem Weichen, das Fortschreiten aus dem Rückzug. Aus diesen östlichen und westlichen Wurzeln lernen wir, über Zeitscheiben zu „intertemporalisieren“ und uns niemals ausschließlich auf das Objekt unserer Begierde zu fokussieren. Durch den Einsatz umständlicher Mittel machen wir uns eine umfassende Schärfentiefe zu eigen.

Den großen Strategen dieser Welt brauchte niemand beizubringen, ihre Aufmerksamkeit auf die Mittel zu richten, die ihnen später Vorteile einbringen. Henry Ford, die Verkörperung des Umweg-Unternehmers, wusste das aus dem Bauch heraus. Doch als Anleger sind wir völlig von dem Mittel-Zweck-Prozess der Produktion und des ökonomischen Fortschritts abgekoppelt und stattdessen einer scheinbar unendlichen Komplexität ausgeliefert. Mit den Worten des finnischen Komponisten Jean Sibelius hoffe ich, hier anstatt „(Orchester-) Cocktails aller Sorten und Farben zu fabrizieren“ das „reine Quellwasser“ des ungeschminkten Ansatzes in seiner Urform zu servieren.1

Indem wir dem „Tao des Kapitals“ folgen, gewöhnen wir uns eine neue Wahrnehmung der Mechanismen des Kapitals und der kapitalistischen Investitionstätigkeit an – der Mittel und Methoden des Marktprozesses an sich. Indem wir uns an diesen Mechanismen ausrichten, stoßen wir auf eine geistige und (was noch viel wichtiger ist) praktische Disziplin, die ich „Österreichische Geldanlage“ nenne und die nicht direkt auf Profit abzielt, sondern eher „ein umständliches Mittel zum Profit“ ist.

Als der Verlag zum ersten Mal auf mich zukam und mich am Ende davon überzeugte, ein Buch zu schreiben, begann ich meinen kühnen Feldzug, bei dem am Anfang Innenschau und Gliederung standen und erst am Schluss das Schreiben kam (Ersteres war die reine Freude, Letzteres überhaupt keine – ich bin professioneller Investor, kein professioneller Schriftsteller). In dem Versuch, meine zentrale Anlagemethode zu erklären und zu veranschaulichen, unternahm ich eine Reise auf Umwegen, die vom nördlichen Nadelwaldgürtel über die Zeit der Streitenden Reiche in China, das napoleonische Europa, das pulsierende industrialisierte Amerika und natürlich über die großen ökonomischen Köpfe im Österreich des 19. und 20. Jahrhunderts führte. Der rote Faden ist, dass ich mich die ganze Zeit immer an den Mitteln ausrichte, nicht an den Zwecken – ich strebe keine Profite, sondern Harmonie mit dem Marktprozess an. Das Ergebnis meiner Bemühungen, die ich in den letzten zwei Jahren zwischendurch einschob, weil ich in erster Linie Hedgefonds verwaltete, ist „Das Tao des Kapitals“. (Nebenbei bemerkt: Wenn man ein Buch geschrieben hat, ist das Schlimmste der Vorwurf der Werbung in eigener Sache. Ich beschreibe hier zwar in allgemeinen Begriffen das, was ich als aktiver Investor und Hedgefondsmanager praktiziere, doch hoffe ich dies erstens durch die Erwähnung der Tatsache etwas dämpfen zu können, dass meine Gesellschaften im Endeffekt aufgelöst sind, und zweitens dadurch, dass ich sämtliche Einkünfte aus dem Buch für wohltätige Zwecke spende. Und wenn ich es mir recht überlege, sollte man jeden, der ein Investmentbuch schreibt und nicht das Gleiche von sich behaupten kann, weitgehend ignorieren.)

Und schließlich bietet das vorliegende Buch einen Einblick in die „österreichische Geldanlage“. Ich führe dafür Informationen ins Feld, die veranschaulichen, wie effektiv meine Methode ist. Aber diese Enthüllungen kommen erst in den beiden letzten Kapiteln des Buches. Größtenteils behandle ich die wichtigsten Denkweisen, die hinter der Österreichischen Geldanlage stehen. Dass ich das Buch in dieser Weise aufgebaut habe, ist durchaus passend, denn wie wir noch sehen werden, geht es bei meiner Anlagemethode vor allem darum, dass wir bereit sein müssen, den indirekten Weg einzuschlagen, um unsere Ziele zu erreichen.

Ich gebe Ihnen nun einen Überblick über unsere Reise. Ich beginne in Kapitel 1 damit, wie ich selbst durch die sorgsame Anleitung eines weisen alten Getreidehändlers am Chicago Board of Trade namens Everett Klipp in den Marktprozess eingeführt wurde. In Klipps Lehren hallt ohne sein Wissen die alte Weisheit der Taoisten, von Lao Tse und dem Taodejing wider. Auch heute lerne ich immer noch aus meinen Erinnerungen an „Klippismen“. Von da aus gehen wir zur Natur und zu der zentralen Pädagogik über, die auf der Strategie der Natur und auf der Logik des produktiven und opportunistischen Wachstums aufbaut – und zu dem Leitmotiv der Konifere, die, wie wir in Kapitel 2 sehen werden, im Generationenwechsel einen Umweg geht: Zuerst zieht sie sich an steinige, ungastliche Orte zurück, an denen Konkurrenten nicht wachsen können, und streut von da aus ihre Samen in die fruchtbaren Gebiete aus, die von Waldbränden gelichtet wurden. Diese Strategie der Nadelbäume lag auch bei den klassischen Militärstrategen offen zutage – originellen strategischen Köpfen und Entscheidungsträgern. Das werden wir in Kapitel 3 sehen, zunächst bei Sun Wu beziehungsweise Meister Sun, dessen oft nur oberflächlich zitierte Lehren aus „Die Kunst des Krieges“ uns das zentrale Konzept des Shi liefern, das zahlreiche Bedeutungen hat, das man sich aber als strategischen Stellungsvorteil vorstellen kann. Die gleiche Denkweise findet sich auch in dem oft fehlgedeuteten „Vom Kriege“ von Carl von Clausewitz, der dafür eintrat, entscheidende strategische Punkte anzuvisieren, an denen man den Feind schwächen kann, um so die Endziele Sieg und Frieden schneller zu erreichen. In Kapitel 4 finden wir strategisches Denken auf Umwegen bei Menschen, die ideologische Kämpfe fochten: bei dem vor-österreichischen Ökonomen Frédéric Bastiat, der gegen die Marxisten antrat und uns das Sichtbare und das Vorhersehbare schenkte, und bei dem Begründer der Österreichischen Schule Menger, der eine aprioristische Haltung vertrat, als er gegen die deutschen Vertreter des Historizismus anritt, die sklavisch dem Empirismus verhaftet waren. Nach Menger kommen wir in Kapitel 5 zu dem Mann, der die Österreichische Schule auf die ökonomische Landkarte brachte: Böhm-Bawerk schenkte uns Erkenntnisse über die Beziehung zwischen Sparen, Geldanlage und der Akkumulation von Kapital und liefert somit dem Anleger von heute ein theoretisches Verständnis des Marktprozesses. Seine Kapitaltheorien veranschaulichen den sogenannten Produktionsumweg zur Anhäufung tieferer und immer effizienterer, produktiverer Kapitalstrukturen (als Beispiel dient Ford, der Kohle und Stahl in Autos für die Massen verwandelte). Wie wir in Kapitel 6 sehen werden, darf man jedoch die Schwierigkeit des Umwegs nicht unterschätzen, weil uns die Zeitpräferenz und kurzsichtige zeitliche Inkonsistenzen angeboren sind (zusammenfassend kann man von Ungeduld jetzt/Geduld später) sprechen. Offenbar diskontieren die Menschen in der Praxis die unmittelbare Zukunft viel stärker (pro Zeiteinheit) als die fernere Zukunft. Man bezeichnet dieses Phänomen manchmal als „hyperbolische Diskontierung“. Dieses Merkmal der Welt spielt in meinem Verständnis der Preise von Vermögenswerten eine entscheidende Rolle und Böhm-Bawerk war damit seiner Zeit voraus, denn er schrieb schon vor über einem Jahrhundert über solche Themen. Dank der Eigentümlichkeiten unseres allzu menschlichen Strebens nach sofortiger Belohnung sind wir vorgewarnt, dass es eine Täuschung sein könnte, wenn etwas leicht und geradlinig erscheint. In der Praxis leuchtet der Umweg – um durch Nachteile in einem früheren Stadium Vorteile in einem späteren Stadium zu gewinnen – nicht unmittelbar ein und es ist so gut wie unmöglich, ihn zu beschreiten. Lao Tse schreibt: „Der helle Pfad scheint dunkel/Voranschreiten scheint Rückzug/Der leichte Weg scheint schwer/Die höchste Tugend leer ... Große Begabungen reifen spät.“ 2

In Kapitel 7 lehrt uns der große Mises, dass „der Markt ein Prozess“ ist. Dabei schöpft er aus seinen Erkenntnissen vom Anfang und der Mitte des 20. Jahrhunderts, als er das Unternehmertum in der Realität sowie die Auf- und Abschwünge des Konjunkturzyklus erklärte. Das Werk von Mises konzentriert sich auf das Handeln des „tätigen Menschen“, und darin schlägt sich laut einer Bemerkung des Österreichischen Ökonomen Murray Rothbard „die ursprüngliche Tatsache“ nieder, dass „Menschen Ziele und Zwecke haben und dass sie handeln, um sie zu erreichen. Und diese Tatsache ist nicht nur vorläufig und zögerlich bekannt, sondern absolut und apodiktisch.“ 2 Dass sich Mises auf diesen entscheidenden Aspekt des Sozialen konzentrierte – dass Menschen sich Mittel zu eigen machen, um ihre subjektiven Ziele zu erreichen –, leitete seine Interpretation sowohl des Marktprozesses als auch breiterer historischer Entwicklungen. Mises behauptete, ohne zuerst ein solides ökonomisches Gebäude zu errichten, stehe der Wirtschaftshistoriker bei der Analyse empirischer Belege auf verlorenem Posten und sehe überall falsche „Beziehungen“.

Wie wir in Kapitel 8 sehen werden, umgeht die Verzerrung des Interventionismus die natürlichen Regelkräfte von Systemen, seien es Wälder oder Märkte. Und doch bleiben die Kräfte, die das System wieder in Homöostase versetzen, bestehen und behalten letztlich die Oberhand, auch wenn eine solche Rückkehr fast schon per Definition äußerst chaotisch ausfällt. Daher dürfen wir den Marktprozess als großen „teleologischen“ Mechanismus betrachten, in dem negative Rückkopplungsschleifen auftreten, während er sich in Richtung eines natürlichen Gleichgewichts tastet, nachdem die Zentralbank seine natürlichen Bewegungen verzerrt hatte.

Im Verlauf dieser acht Kapitel legen wir das Fundament für das „Tao des Kapitals“, die durch Umwege gekennzeichneten Mittel zum von uns gewünschten Zweck. Nur wer bereit ist, das unmittelbare Ziel aufzuschieben und etwas über Themen zu lesen, die zunächst scheinbar nur lose damit zusammenhängen, kann aus den beiden letzten Kapiteln und aus der Diskussion der als Österreichische Anlage bekannten kapitalistischen Anlagestrategien Nutzen ziehen. Aus österreichischer Sicht ist dies bedeutendes Neuland. Die Tradition der Österreicher beschränkt sich weitgehend auf die wissenschaftliche Analyse der Wirtschaft und entsprechende politische Empfehlungen, das heißt, sie erklärt, was getan werden sollte – und vor allem, was nicht getan werden sollte –, damit der unternehmerische Prozess und der Marktprozess frei und vollständig funktionieren können. In den beiden letzten Kapiteln des Buches kommen wir von der staatlichen Politik zur Anlagepraxis, wobei wir uns durch eine stark verzerrte, sehr reale Welt bewegen. Ich bezeichne meine Methode als Österreichische Methode, weil sie so massiv auf die Erkenntnisse zurückgreift, die ich diesen großen Ökonomen im Laufe der Jahre abgelauscht habe. Eine der Hauptabsichten des Buches besteht darin, anderen Anlegern ihre Bedeutung zu erklären, damit auch sie von der österreichischen Perspektive profitieren können.

Anleger müssen heute mehr denn je die Verzerrung des Systems erkennen, die beinahe beispiellose Ausmaße erreicht hat. Ungesundes Wachstum von Anlagen, das es ohne den tödlichen Dünger der Intervention nicht geben würde, erzeugt eine Zunderbüchse, die in nicht allzu ferner Zukunft einen Flächenbrand entfachen wird. Angesichts der sichtbaren Verzerrung am Aktienmarkt (die ich in Kapitel 9 besprechen werde) sollten wir auf jeden Fall mit schweren Börsenverlusten rechnen – sehr gut möglich, dass sie schon innerhalb des nächsten Jahres kommen. (Das kann ich einfach so leichtsinnig dahinsagen und ich habe einen großen Teil des Buches unter anderem darauf verwendet zu erklären, weshalb dem so ist.) Diese Dringlichkeit verleiht den vorliegenden Seiten eine düstere, aber auch kritische Note der Warnung.

In „Österreichische Geldanlage I“ (Kapitel 9) erfahren wir, wie man die Verzerrung des Systems anhand einer Kennzahl messen kann, die ich in Anlehnung an die Prinzipien von Mises als Stationäritätsindex nach Mises bezeichne. Wir können uns vor der Verzerrung schützen, wenn wir wissen, wann wir uns vom Markt fernhalten und wann wir drinbleiben sollten, oder wann wir die Verzerrung durch den Einsatz einer ausgefeilten Strategie namens „Tail Hedging“ ausnutzen sollten (die leider über die Fähigkeiten von Privatanlegern und sogar vieler Profis hinausgeht). (Ich bin zwar für diesen Investmentansatz bekannt, aber ich möchte an dieser Stelle die Karten auf den Tisch legen: Was Marktereignisse angeht, hat es bisher keine schwarzen Schwäne mit großen Auswirkungen – sogenannte „Tail-Ereignisse“ – gegeben. Was die meisten nicht sahen, war in Wirklichkeit höchst vorhersehbar.) In „Österreichische Geldanlage II“ (Kapitel 10) verwenden wir die Prinzipien von Böhm-Bawerk, um auf Umwegen basierende Kapitalstrukturen zu finden, in die wir investieren können. Dabei suchen wir Unternehmen, die nicht zum Schattenspiel der Wall Street gehören, weil sie verheißungsvoll sind, obwohl ihre Gewinne nicht sofort steigen. (Die Österreichische Geldanlage ist eine ältere und gestaltlichere Version dessen, was heute als Value-Investing bekannt ist; die Österreichische Geldanlage ist nicht nur älter, sondern auch verfeinert und konzentrierter.) Im Epilog fasse ich den Umweg zusammen, indem ich auf eine entscheidende Zutat hinweise, die nötig ist, um ihn mühsam zu beschreiten, eine Lektion, die direkt aus dem borealen Nadelwald abgeleitet ist – Sisu.

Mein Ansatz bezieht nicht nur theoretische Erkenntnisse der Österreicher über die Natur des Marktprozesses ein, sondern spiegelt auch die Herangehensweise der Österreicher an die Wirtschaft selbst wider. Anders als die meisten Wirtschaftswissenschaftler des Mainstreams, die ihre Disziplin nach dem Vorbild der Physiker gestalten wollen, sehen die Österreicher in der Tradition von Mises keinen großen Nutzen darin, Kurven anzupassen und ökonometrische Backtests durchzuführen.

Wenn man die Stärke der Argumente von Mises zu schätzen weiß, versteht man, dass man nicht einfach „die Tatsachen für sich sprechen lassen“ darf, wenn man wirtschaftliche Phänomene (wie den Konjunkturzyklus) verstehen will – vor allem nicht bei dem Versuch, Aktienkurse vorherzusagen. Wir brauchen vorher eine Theorie, die uns leitet, damit wir unterscheiden können, welche Fakten relevant sind und welche man getrost ignorieren darf – damit wir uns nur auf das konzentrieren, worauf es ankommt. Nachdem uns unsere logischen Herleitungen zu einer Anlagephilosophie geführt haben, können wir natürlich mittels empirischer Nachforschungen „unser Werk überprüfen“ – und werden das auch wirklich tun.

In „Das Tao des Kapitals“ lade ich Sie zu meinem Prozess ein, allerdings nicht in Form einer gebrauchsfertigen Strategie, sondern – und das ist viel wichtiger – in Form einer Denkweise, die man auf die Geldanlage und auf viele andere wichtige Aktivitäten anwenden kann, bei denen man sorgfältig zwischen verschiedenen zeitlichen Bereichen wählen muss, um später auftretende (oft bessere) Chancen nicht zu gefährden oder zunichte zu machen. Ohne das Denken hat das Handeln keine Grundlage. Die Denkweise ist von größter Bedeutung.

Als ich als junger Trader in der Pit anfing (und der Jüngste in der Anleihe-Pit war), sorgte Klipp dafür, dass ich wusste, weshalb ich am Chicago Board of Trade war – nämlich nicht um zu lernen, wie man Geld verdient (das erzähle ich in Kapitel 1). Er sagte mir, wenn dem so wäre, „stündest du gar nicht hier. Du stündest in einer langen Schlange, die bis zur LaSalle Street reicht, und würdest immer noch darauf warten, hereinzukommen.“ Und deshalb sage ich Ihnen: Wenn es ein Buch gäbe, das Ihnen beibringen kann, wie man Geld verdient, stünden Sie in einer langen Schlange vor einem Buchladen (einem der wenigen, die es noch gibt).

Die Absicht dieses Buches ist, Ihnen beizubringen, wie Sie denken sollten, und Ihnen die Disziplin des Umwegs vorzustellen. Ebenso, wie Sie als Erwachsener Golfspielen oder Skifahren lernen, müssen Sie die zugrunde liegenden Mechanismen verstehen, damit Sie Ihr Handeln entsprechend koordinieren können. Auf dieser Grundlage können Sie sich auf die notwendigen durch Umwege gekennzeichneten Aspekte, die für diese Strategie erforderlich sind, und auf den eng damit verbundenen Kapitalprozess einlassen. Sollte es passieren, dass wir vom Weg abkommen, orientieren wir uns mithilfe unseres österreichischen Kompasses neu, der uns nach rechts lenkt, wenn wir nach links gehen wollen, und uns somit auf einen gewundenen Pfad schickt, der so alt ist wie das strategische Denken selbst.

Mit den Worten von Lao Tse: „Eine Reise von tausend Meilen beginnt unter den Füßen.“ 4 Beginnen wir nun mit unserem ersten Schritt entlang des „Tao des Kapitals“.

Mark SpitznagelNorthport, MichiganJuli 2013

Der Weise und sein Schüler – mit Everett Klipp am Chicago Board of Trade (© 1994).

Kapitel 1 – Der weise Tao-Gelehrte

Das Klipp’sche Paradox

„Man muss gerne Verlust machen, ungern Gewinn machen, gerne Verlust machen, ungern Gewinn machen. […] Aber wir sind eben Menschen, wir machen gern Gewinn und ungern Verlust. Deshalb müssen wir dieses Menschliche an uns überwinden.“

Das ist das „Klipp’sche Paradox“ – das der weise alte Chicagoer Getreidehändler Everett Klipp unzählige Male wiederholte und durch das ich zum ersten Mal auf eine archetypische Anlagemethode stieß, die ich mir schnell zu eigen machte. Das war die Umweg-Methode (die wir später als Shi und am Ende als „Österreichische Geldanlage“ bezeichnen werden), die den Mittelpunkt der Aussage des vorliegenden Buches bildet: Anstatt den direkten Weg zum Sofortgewinn zu beschreiten, suchen wir den schwierigen Umweg des sofortigen Verlusts auf – ein Zwischenschritt, der uns einen Vorsprung auf dem Weg zu größerem potenziellen Gewinn verschafft.

Das ist die uralte Strategie des Generals und des Unternehmers – des Zerstörers und des Schöpfers von Zivilisationen. Tatsächlich ist dies die Logik des wirksamen organischen Wachstums in unserer Welt, doch wenn man sie übereilt oder erzwingt, ruiniert man sie.

Wegen dieser Schwierigkeit wird sie der gewundene, am wenigsten begangene Weg bleiben, der unserer Veranlagung und unserer Wahrnehmung der Zeit so sehr widerspricht (und an der Wall Street so gut wie unmöglich ist). Und letztlich ist er gerade deswegen so effektiv. Trotzdem liegt er im Bereich der Fähigkeiten von Anlegern, die bereit sind, ihre Denkweise zu ändern, um das Menschliche an sich selbst zu überwinden und dem Tao des Kapitals zu folgen.

Wie lösen wir dieses Paradox auf? Wie kommt es, dass der Umweg irgendwie effektiver sein könnte als der direkte Weg, dass es irgendwie am effektivsten sein könnte, nach rechts zu gehen, wenn man nach links will? Soll einen das bloß verwirren? Leere Worte, die sich weise anhören sollen? Oder verbirgt sich darin eine universelle Wahrheit?

Um dies zu beantworten, müssen wir die Zeit und unsere Wahrnehmung der Zeit von Grund auf neu betrachten. Wir müssen die Dimensionen verändern – vom Sofortigen zum Mittelfristigen (in ungebräuchlichen Fremdwörtern vom Immediaten zum Intermediären), vom Atemporalen zum Intertemporalen. Dafür muss man entschlossen den Blick vom jetzigen Geschehen, also vom Sichtbaren, lösen und auf das richten, was da kommen wird und noch nicht sichtbar ist. Ich werde diese neue Perspektive als Schärfentiefe bezeichnen (und diesen optischen Begriff im zeitlichen statt im räumlichen Sinne verwenden) – unsere Fähigkeit, eine lange Spanne künftiger Augenblicke deutlich wahrzunehmen.

Dabei geht es nicht – wie manche annehmen mögen – um eine Verlagerung des Denkens vom Kurzfristigen auf das Langfristige. Die Langfristigkeit ist irgendwie ein Klischee und häufig nicht innerlich konsistent: Langfristiges Handeln zieht im Allgemeinen eine sofortige Verpflichtung nach sich, die auf dem unmittelbaren Blick auf die sich bietende Gelegenheit beruht, und dann wartet man über einen längeren Zeitraum auf das Ergebnis – dies häufig ohne die intertemporalen Gelegenheiten, die innerhalb dieses längeren Zeitraums auftreten könnten, gebührend zu betrachten oder zu differenzieren. (Überdies ist die Aussage, man handle langfristig, ganz oft nur eine Rationalisierung, mit der man etwas rechtfertigt, das momentan nicht so funktioniert wie geplant.) Langfristig heißt weitsichtig, kurzfristig heißt kurzsichtig; die Schärfentiefe hält den Fokus zwischen diesen beiden Enden. Deshalb sollten wir weder langfristig noch kurzfristig denken. Denken wir uns die Zeit lieber, wie es das Klipp’sche Paradox verlangt, vollkommen anders, nämlich als intertemporal – als aus einer Reihe von koordinierten „Jetzt-Momenten“ bestehend, wobei sich wie bei einem großartigen Musikstück oder auf einer Schnur aufgereihten Perlen jeder aus dem vorigen ergibt.

Wir können das Klipp’sche Paradox noch weiter abschälen, sodass es den eigentlichen Kern vieler großer Gedanken der Menschheit offenbart. Auch wenn es Klipp nicht wusste, so reicht sein Paradox doch mehr als zweieinhalb Jahrtausende in ein fernes Zeitalter und in eine ferne Kultur zurück – zum wesentlichen Thema des „Lao Tse“ (später „Taodejing“ genannt, aber ich benutze den Originaltitel, der sich auf seinen angeblichen Verfasser bezieht), einer alten chinesischen politischen und militärischen Abhandlung und zugleich Ursprungstext und Summe der chinesischen Philosophie des Taoismus.

Laut „Lao Tse“ führt der beste Weg zu etwas über sein Gegenteil: Man gewinnt durch Verlust und verliert durch Gewinn; den Sieg erringt man nicht, indem man die eine entscheidende Schlacht schlägt, sondern über den Umweg, abzuwarten und sich jetzt vorzubereiten, damit man später einen größeren Vorteil hat. Das „Lao Tse“ bekennt sich zu einem fundamentalen, universellen Prozess der Abfolge und des Wechsels zwischen zwei Polen, zwischen Ungleichgewicht und Gleichgewicht; in jedem Zustand liegt sein Gegenteil. „Dies nennt man das Subtile im Offenkundigen. Das Weiche, Schwache bezwingt das Harte, Starke.“ 1

Sowohl für Klipp als auch für Lao Tse ist die Zeit kein exogener, sondern ein endogener Hauptfaktor der Dinge – und Geduld der größte Schatz. Tatsächlich war Klipp ein taoistischer Weiser und hatte eine einfache archetypische Botschaft, die prägnant aussagte, wie er über fünf Jahrzehnte lang an den gefahrvollen Märkten des Chicago Board of Trade überlebte und gedieh.

DER ALTE MEISTER

Der Taoismus kam im alten China in einer Zeit schwerer Konflikte und Umbrüche auf. In der fast zwei Jahrhunderte dauernden Zeit, die man als Zeit der Streitenden Reiche bezeichnet und die von 403 bis 221 v. Chr. reichte, wurden die Ebenen Zentralchinas zu Schlachtfeldern, auf denen Blut und Tränen flossen. In dieser Zeit gab es auch Fortschritte in militärischen Methoden, Strategien und Technologien, zum Beispiel effektive Truppenformationen, die Einführung der Kavallerie und der Armbrust als Standardausrüstung. Mit diesen neuen Instrumenten eroberten die Armeen befestigte Städte und stürmten Grenzen. Krieg und Tod beherrschten das Leben. Oft wurden ganze Städte ausradiert, obwohl sie sich ergeben hatten2, und Mütter, die Söhne geboren hatten, rechneten nicht damit, dass diese das Erwachsenenalter erreichen würden.3

Die Zeit der Streitenden Reiche war auch eine prägende Phase für die alte chinesische Kultur. Die philosophische Vielfalt blühte auf und der taoistische Gelehrte Zhuangzi sprach von den „Hundert Schulen“. Aus diesem fruchtbaren Boden gingen berühmte taoistische Texte hervor wie „Lao Tse“ und „Sun Tzu“ („Die Kunst des Krieges“), wobei Ersterer der im alten China anerkannteste war und bis heute einer der weltweit bekanntesten ist. Sein angeblicher Verfasser, dessen Name sich als „Meister Lao“ oder „der Alte Meister“ übersetzen lässt, mag wirklich gelebt haben oder auch nicht und kann ein Einzelner oder eine Reihe von Verfassern über einen gewissen Zeitraum gewesen sein.

Laut Überlieferung war Lao Tse Archivar der im sechsten Jahrhundert v. Chr. herrschenden Dynastie, auch wenn manche Gelehrte und Sinologen behaupten, der Alte Meister sei aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. hervorgegangen. Von der Legende erfahren wir, dass er als älterer Zeitgenosse von Kongzi (Konfuzius) galt, der von 551 bis 479 v. Chr. lebte, angeblich Lao Tse um Rat fragte und ihn (obwohl sich Lao Tse über ihn als arrogant mokierte) als „Drachen“ pries, „der auf Wind und Wolken reitet“. 4 Des Weiteren sind die schriftlichen Formen des Buches „Lao Tse“, die von Schreibern auf Bambusrollen festgehalten wurden (vor allem für Militärstrategen, die verfehdete Kriegsherren berieten), wahrscheinlich Abkömmlinge einer älteren mündlichen Überlieferung (da der größte Teil in Reimen verfasst ist). Ob er nun Wahrheit oder Legende ist, Fleisch und Blut oder ein reiner Mythos, eine Person oder viele – der Alte Meister gab eine dauerhafte, zeitlose und allgemeine Weisheit preis.

Für die meisten Menschen scheint „Lao Tse“ ein überwiegend religiöser oder gar mystischer Text zu sein, und diese einseitige Interpretation erwies dem Buch vielleicht einen Bärendienst. Tatsächlich wurde im Laufe der Geschichte der Begriff „Laoismus“ verwendet, um das philosophische „Lao Tse“ vom späteren religiösen Taoismus abzugrenzen. In letzter Zeit sind neue bedeutende Übersetzungen erschienen, nachdem archäologische Funde ans Tageslicht kamen, 1973 in Mawangdui und 1993 in Guodian (Bambusstreifen und Fragmente von Bambusrollen). Die Funde belegen, dass es anfänglich ein philosophischer Text war 5 – nicht mystisch, sondern unmittelbar praxisorientiert. Und diese Praxis bezieht sich insbesondere auf Konfliktstrategien (konkret auf politische und militärische Konflikte, damals aktuelle Themen), und zwar auf die Möglichkeit, sich ohne Zwang und ohne den stets entscheidenden offenen Zusammenprall der widerstreitenden Kräfte einen Vorteil zu verschaffen. „Das Tao des Kapitals“ bleibt diesen Wurzeln treu.

Das „Lao Tse“ besteht aus nur 5.000 chinesischen Schriftzeichen und 81 Kapiteln, die so kurz wie Verse sind und das Tao skizzieren – den Weg, den Pfad, die Methode, „die Art, wie man etwas tut“,6 oder einen Prozess, der die Harmonie mit der Natur der Dinge anstrebt und bei dem man sich jedes Schrittes auf dem Weg bewusst ist. Die Sinologen Roger Ames und David Hall beschreiben das Tao als „wegbereitend“, „prozessual“ (sie sprechen vom „Gerundivum“), als intertemporales „auf einen Punkt und einen Bereich konzentriertes Bewusstsein“ – eine Schärfentiefe –, mithilfe dessen wir das Potenzial ausschöpfen, das in Anordnungen, Umständen und Systemen liegt.7

Das zentrale Konzept, von dem das „Lao Tse“ durchdrungen ist, wird im vorliegenden Buch als Wu wei bezeichnet, was sich wörtlich als „Nichthandeln“ übersetzen lässt, aber sehr viel mehr bedeutet. Im Gegensatz zur passiven Untätigkeit, als die Wu wei gerne fehlinterpretiert wird, bedeutet es Handeln ohne Zwang – und hier sehen wir die überwältigenden Ursprünge des Laissez-faire, des Libertarismus und sogar des Anarchismus im Lao Tse. Manche meinen, sie fänden sich hier zum ersten Mal in der Weltgeschichte.8 (Ein Beispiel: „Man soll ein Land so regieren, wie man einen kleinen Fisch brät; in Ruhe lassen und sich nicht in seine Angelegenheiten einmischen“ 9 – ein sehr bedeutendes politisches Credo des Lao Tse, auf das sich US-Präsident Ronald Reagan in einer Rede an die Nation berief.) Das „Lao Tse“ wurde auch als charakteristische Form der Teleologie gelesen, die den Schwerpunkt auf die Entfaltung des Individuums ohne Eingreifen äußerer Kräfte legt. Das bringt uns zu dem Paradox, das man als Wei wu wei kennt (wörtlich „tun/nichts tun“ oder „handeln, indem man nicht handelt“ oder „ohne Aufhebens handeln“ 10). „Man verliert und verliert wieder/Bis man alles ohne Zwang tut (Wu wei)./ Man handelt ohne Zwang/Und doch bleibt nichts ungetan.“ 11

In Wu wei ist enthalten, wie wichtig es ist, einen objektiven Prozess abzuwarten und bis zu intertemporalen Gelegenheiten Verluste zu erleiden. In „Lao Tse“ steht auch: „Wer kann ruhig abwarten, bis sich der Staub gelegt hat? Wer kann bis zum Augenblick der Tat untätig bleiben?“ 12 Das sieht nach einer Lektion in Demut und Duldsamkeit aus, doch indem wir warten, opfern wir willentlich den ersten Schritt einem größeren späteren Schritt. In seiner höchsten Form geht es beim Warten nur darum, sich einen Vorteil zu verschaffen. Deshalb ist die zum Prozess gehörige scheinbare Bescheidenheit in Wirklichkeit eine falsche Bescheidenheit, welche die Kunst der Manipulation verhüllt. Der französische Sinologe François Jullien hat einmal geschrieben: „Der Weise verschmilzt mit dem Manipulator“, der sich in taoistischen Begriffen „selbst erniedrigt, um sich in eine bessere Position für den Aufstieg zu bringen; wenn er sich zurückzieht, nur damit er mit noch größerer Gewissheit nach vorne gezogen wird; wenn er vordergründig sein ,Ich‘ zurücknimmt, dann nur, um es in der Zukunft umso machtvoller durchzusetzen.“ 13 Das ist die Wirksamkeit der Überlistung, die als Weichheit getarnt ist. Und in dieser zeitlichen Anordnung ist es in den Worten von Ames und Hall die „korrelative Beziehung zwischen Antinomien“ des „Lao Tse“ 14: Durch falsche Bescheidenheit sind wir absichtlich jetzt weich und schwach, um später hart und stark zu sein – genau aus diesem Grund heißt es im „Lao Tse“ später: „Wer gut darin ist, seine Feinde zu besiegen, lässt sich nicht auf eine Auseinandersetzung ein.“ 15

In diesem Sinne kann man das „Lao Tse“ einfach als Handbuch betrachten, wie man sich durch Unaufrichtigkeit oder dadurch, dass man die Kraft eines Gegners gegen ihn selbst richtet, einen Vorteil verschafft, indem „das Übermaß zu seinem Gegenteil führt“.16

DAS WEICHE, SCHWACHE OBSIEGT UBER DAS HARTE, STARKE

Die womöglich greifbarste Darstellung von Wu wei ist in dem Wechselspiel zwischen Hartem und Weichem in der chinesischen Kampfkunst Taijiquan zu sehen – was nicht überrascht, da sie sich direkt aus dem „Lao Tse“ ableitet. Gemäß der Legende wurde Taijiquan im 13. Jahrhundert von dem taoistischen Priester Zhangsanfeng erfunden. Als er in einem Kloster auf dem Wudang-Berg lebte, beobachtete er den Zusammenstoß zwischen einer Elster und einer Schlange, und da begriff er vollständig die taoistische Wahrheit, dass das Weiche das Harte überwindet.17 Die Schlange bewegte sich mit der Elster – sie ergänzte sie regelrecht – und entging so ihren wiederholten entschlossenen Angriffen, sodass sie auf eine Lücke, ein Ungleichgewicht, warten und es mit einem tödlichen Biss ausnutzen konnte. In dieser fortlaufenden Geduld, im Rückzug, um irgendwann zuzuschlagen, lag die profunde, unkonventionelle militärische Kunst des Lao Tse:

„Die Soldaten haben ein Sprichwort:Ich wage es nicht, den ersten Zug zu machen,Spiele lieber den Gast,Ich wage es nicht, einen Zoll vorzurücken,Lieber ziehe ich mich einen Zoll zurück.

Das nennt man marschieren,Scheinbar ohne sich zu bewegen,Die Ärmel hochkrempeln, ohne den Arm zu zeigen,Den Feind gefangen nehmen, ohne ihn anzugreifen,Ohne Waffen bewaffnet sein.“ 18

Wie der Taoismus selbst driftete auch Taijiquan in das eher mystische neue Zeitalter, aber seine Wurzeln liegen nach wie vor in seiner kriegerischen Anwendung. Das sieht man noch heute eindeutig in den mächtigen Schlägen des Chen-Stils des Taijiquan, der in dem Dorf Chen in der Provinz Han in Zentralchina immer noch praktiziert wird. Laut dem maßgeblichen Taijiquan-Kanon der Familie Chen von Chen Xin (aus dem gleichnamigen Chen-Klan) ist eine täuschende, rotierende und kreisförmige Kraft – die man die „seidenspulende Kraft“ nennt – „das Hauptziel der Taijiquan-Bewegungen, die auf den zentrifugalen Prinzipien eines ,Kreisels‘ beruhen.“ 19 Die Rotation – oder der Wechsel – besteht zwischen Rückzug und Vorrücken, zwischen weich und hart. (Wenn diese qinna-Manöver von Meistern wie meinen Lehrern Quichen Guo und Jwing-Ming Yang vollführt werden, finde ich mich oft am falschen Ende wieder, und diese kunstvolle Hinterlist ist höchst verunsichernd, fast schon betrüblich.)

Taijiquan ist eine physische Manifestation der Tatsache, wie wichtig es ist, bei einem Zusammenstoß die Eile des anderen abzuwarten und auszunutzen. Am deutlichsten tritt dies in einer Wettkampfübung des Taijiquan namens Tuishou oder „schiebende Hände“ zutage, die für den zufälligen Beobachter aussieht wie eine choreografierte Abfolge gleichzeitiger Bewegungen. In Wirklichkeit ist Tuishou ein geschickter Wettkampf mit sehr strengen Regeln, bei dem jeder versucht, den anderen im Laufe einer Abfolge subtil wechselnder Finten und Angriffe zu Boden zu werfen oder über eine Linie zu drängen. Die wahre Kraft liegt nicht im Schieben, sondern im Nachgeben. (Im Tuishou liegt eine ideale Metapher für den Umweg und für die Geldanlage, auf die ich immer wieder zurückkommen werde.)

Das „Lied der schiebenden Hände“ überliefert diese Kunst in Chen seit Jahrhunderten mündlich und weist den Wettkämpfer an, „die Kraft [des Gegners] ins Leere zu leiten und dann sofort zuzuschlagen“. 20 Den Gegner ins Leere zu leiten oder zu locken und so sein Gleichgewicht zunichte zu machen, ist das indirekte Ziel – eine vorteilhafte Position erringen –, auf das das direkte Ziel des Angriffs folgt. Das ist die wesentliche Tuishou-Abfolge aus Nachgeben, Neutralisieren und Dranbleiben. Nachgeben und Neutralisieren – zou oder zouhua, „durch Weglaufen die Führung übernehmen“ – ist die heimtückische Niederlage durch Rückzug, gefolgt von der Umwandlung und Umlenkung einer Kraft zum eigenen Vorteil; diesen Vorteil nutzt man durch Dranbleiben und Nachsetzen – nian oder niansui –, sodass man im Endeffekt in einem entschlossenen Gegenangriff wieder vorrückt. (Wie wir in Kapitel 3 sehen werden, beschreibt diese Abfolge insgesamt Shi, die Strategie des Wu wei.)

Tuishou: Zouhua und Niansui

Dieser Wettkampf ist ein subtiles Wechselspiel zwischen trügerischen einander ergänzenden – nicht gegensätzlichen – Kräften zwischen Gegnern, zwischen Hartem und Weichem, wobei jeder die kluge Strategie sucht, geduldig das Gleichgewicht statt der Kraft anzugreifen und sich nach rechts zu wenden, um letztlich entschlossen nach links zu gehen.

Das ist auch die heimtückische Strategie des Guerilla-Kriegs. Er wurde beispielsweise im 18. Jahrhundert effektiv von den zusammengewürfelten amerikanischen Kolonisten gegen die Briten und später, im 20. Jahrhundert, geschickt von den viel schwächeren Vietcong gegen die mächtigen Vereinigten Staaten eingesetzt: Wenn die US-Soldaten vorrückten, flohen die Vietcong in die Berge (zouha) und zogen dadurch die US-Truppen so weit auseinander, dass diese sich übernahmen; und dann starteten die Vietcong einen Gegenangriff, verfolgten die US-Soldaten (nian) und brachten ihnen eine vernichtende Schlappe bei. Das überaus Frustrierende – Unfaire – daran ist, dass man umso härter fällt, je stärker man geschoben hat. Der Vorsitzende Mao kannte diese Worte aus dem Lao Tse: „Wenn sich ein kleines Land einem großen Land unterwirft/ Kann es das große Land erobern. Wer erobern will, muss darum nachgeben/Und wer erobert, tut das, weil er nachgibt.“ 21 (Dem werden wir bei den Guerilla- Kämpfern des Nordens im Epilog wiederbegegnen.)

Beim Wu wei des Taijiquan kommt der Vorteil nicht daher, dass man Kraft anwendet, sondern durch kreisförmiges Nachgeben, indem man den Lauf der Ereignisse eher dirigiert, anstatt ihn mit Kraft oder Zwang zu verändern. Aus „Lao Tse“: „Deshalb wird eine unnachgiebige Armee vernichtet. Ein unnachgiebiger Baum bricht.“ 22 Die Geduld der Zwischenschritte Verlust und Vorteil besiegt die Ungeduld des sofortigen Gewinns; die unmittelbare Kraft wird von der Gegenkraft besiegt. Somit werden immer im zeitlichen Verlauf zwei Spiele gegen zwei verschiedene Gegner gespielt, eins jetzt und eins später. Zheng Manqing, der große Praktiker des Tuishou, sagte dazu einmal: Man muss zuerst „lernen, in den Verlust zu investieren“, indem man „eine Kraft des Gegners so umleitet, dass sie nutzlos wird“, sodass sie sich „in ihr Gegenteil verkehrt und sich in den größten Gewinn verwandelt“.23 Im Taijiquan steckt die Essenz des „Tao des Kapitals“.

Wenn man in diesem Maße abwartet und die momentanen Umstände ignoriert; wenn man bereit ist, in einer unbequemen Lage zu sein, dann versteht man die Abfolge, anstatt nur das Unmittelbare zu sehen. Hinter dem Lao Tse steht eine ganz bestimmte Erkenntnistheorie. Demnach ist ein großer Teil der äußeren Welt nur eine äußere Ablenkung und ein großer Teil der Wahrnehmung lenkt von der verborgenen Wirklichkeit ab – auch wenn diese Wahrnehmung sorgfältige Aufmerksamkeit erfordert. Am deutlichsten wird das in diesen Zeilen ausgesagt: „Wage dich nicht aus deiner Tür hinaus, um die Welt zu erkennen/Spähe nicht aus deinem Fenster, um den Weg zu erkennen […] Je weiter man geht/ Umso weniger erkennt man.“ 24

Paul Carus ging 1913 in „The Canon of Reason and Virtue: Being Lao-tze’s Tao Teh King“ so weit, die Erkenntnistheorie des „Lao Tse“ mit Immanuel Kants Philosophie des 18. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen: Das „Lao Tse“ „pflichtet Kants Lehrsatz des a priori bei, wonach man gewisse Wahrheiten a priori aussagen kann, das heißt vor der tatsächlichen Erfahrung. Nicht der Weltenbummler erkennt die Menschheit, sondern der Denker. Um die chemische Zusammensetzung der Sonne zu erkennen, brauchen wir nicht zur Sonne zu fliegen; wir können das Sonnenlicht mittels Spektralanalyse untersuchen. Wir brauchen kein Maßband zum Mond auszurollen, um seinen Abstand von der Erde zu messen, sondern können ihn mit den Methoden einer A-priori-Wissenschaft (der Trigonometrie) berechnen.“ 25

In der Tat steckt hier eine fast schon antiempirische Ader im „Lao Tse“, eine Gegenposition zur positivistischen Sicht, wonach Erkenntnis ausschließlich aus sinnlichen Wahrnehmungen hervorgeht. Jacob Needleman interpretiert das „Lao Tse“ so: „Wir sehen nur Dinge, Entitäten, Ereignisse; wir erfahren nicht unmittelbar die Kräfte und Gesetze, die in der Natur herrschen.“ 26 In ähnlichem Sinne schreibt Ellen Chen, das „Lao Tse“ sei „in seinem Geiste nicht pro-wissenschaftlich“, es „lehnt die Erkenntnis der Vielen ab, weil sie die Erkenntnis des Einzelnen nicht fördert“ 27 (was die Induktion für ungültig erklärt). Man erkennt die Wahrheit, indem man grundlegende natürliche und logische Konstruktionen versteht – einen Baum, der sich unter der Kraft des Windes biegt, das Wechselspiel zwischen Schlange und Vogel. Die Erscheinungen enthalten viele Täuschungen, es herrscht eine Tyrannei der Sinne und der empirischen Daten – eine Weisheit, die in der Geldanlage einen speziellen Kontext und eine besondere Bedeutung bekommt.

AB IN DIE GRUBE

Ich kam mehr oder weniger durch Zufall mit der Geldanlage in Berührung. Als ich 16 Jahre alt war (und meine einzige Erfahrung mit der Börse in einer Aktie der zweitklassigen Baseballmannschaft Rochester Red Wings bestand, die seit drei Generationen stolz weitergereicht wurde), begleitete ich meinen Vater einmal, als er seinen guten Freund (und Mais-Futures-Händler, was immer das auch sein mochte) Everett Klipp am Chicago Board of Trade besuchte. Ich stand auf dem Besucherbalkon und überblickte die Pits, in denen der Getreidehandel stattfand – ich überblickte ein Kaleidoskop aus leuchtenden Trading-Jacketts, rudernden Armen und torkelnden Körpern. Ich hatte eine Art protziges Kasino erwartet (vielleicht wie aus einem James-Bond-Film), aber es war ganz anders. Ich war elektrisiert. Das erinnerte mich an einen Vogelschwarm, eine aus zahllosen einzelnen Teilen bestehende Wolke, die wie ein einziger unscharfer Organismus wirkt, der scheinbar ruht und mitten in der Luft schwebt, bis etwas Unsichtbares wie ein Energiestoß durch sie fährt und eine plötzliche ruckartige Wende in rasender Geschwindigkeit hervorruft. Der Schwarm stößt hinab, pausiert, steigt wieder auf – mit einer mechanischen und doch organischen Koordination und Präzision, wobei der außenstehende Beobachter nur staunen kann, welcher Antrieb dahintersteckt. In der Pit – der „Grube“ – war das gleiche Mysterium zu beobachten, es gab Pausen, die von plötzlichen Lärmkaskaden und einer Energie unterbrochen wurden, die von etwas nicht Wahrnehmbaren stammte. Das war ein finanzieller Sturm und Drang, jedoch enthielt er unverkennbar eine innere Kommunikation und Synchronisation. Sofort trat ich meine hart erarbeiteten Juilliard-Pläne in die Tonne (meine Mutter war natürlich entsetzt) und wollte nichts lieber, als Trader in einer dieser „Gruben“ zu sein.

Nach diesem schicksalhaften Abstecher war ich von den Märkten für Getreide-Futures besessen. Schon bald schmückten Kursdiagramme die Wände meines Zimmers und ich baute aus Blumentöpfen ein Mais- und Soja-Laboratorium (aus Setzlingen, die ich im Dunkel der Nacht von Farmen stibitzt hatte), in dem ich den Niederschlag und den Wachstumsfortschritt beobachtete. Ab da löcherte ich Klipp bei jeder Begegnung mit Fragen (und oft hatte ich kleine Diagramme und USDA-Berichte dabei) zur Preisentwicklung, zum weltweiten Getreideangebot, zur Nachfrage aus der Sowjetunion, zum typischen Wetterverlauf im Mittleren Westen – im Grunde wollte ich wissen, in welche Richtung sich die Märkte bewegen würden. Seine Antworten waren immer Variationen der folgenden Aussage: „Der Markt ist eine vollkommen subjektive Angelegenheit, er kann machen, was er will. Er hat immer recht, aber auch immer unrecht!“ Seine abschätzige Verachtung für Zahlen und Informationen irritierte mich und machte mich sogar skeptisch gegenüber diesem sturen alten Chicagoer Getreidehändler mit der heiseren Stimme, der immer Glückskeks-Sprüche von sich gab. Wie konnte jemand als Spekulant so erfolgreich sein, ohne zu wissen – und sich überhaupt darum zu kümmern –, in welche Richtung der Markt tendierte? Wie konnte es sein, dass „Leute, die wissen, wohin der Markt geht, nicht mehr am Board of Trade sind. Die haben sich entweder zur Ruhe gesetzt oder sind pleite. Mir fällt aber keiner ein, der sich zur Ruhe gesetzt hat.“ Ein klassisches Klipp-Zitat.

Aber wenn es beim Trading nicht darum ging, Preisbewegungen vorherzusagen, um was ging es dann? Man gewann ja schließlich dadurch, dass man zu einem bestimmten Preis kaufte (oder verkaufte) und irgendwann später zu einem höheren (oder niedrigeren) Preis verkaufte (kaufte). Wie konnte man das schaffen, ohne dass man etwas Vorhersagen konnte? Die Antwort, die der erwähnte Teenager erst nach einiger Zeit begriff, lautete, dass der Vorteil beim Pit-Handel im Orderfluss lag – in der Abfolge von Mini-Kumulationen, wie ich sie immer nannte –, und in der Disziplin, in einer geduldigen Reaktion auf die Ungeduld oder Eile eines anderen. Der Vorteil war ein Prozess – ein intertemporaler Prozess – ein Zwischenschritt, um sich einen Vorteil zu verschaffen, kein irgendwie gearteter unmittelbarer analytischer Scharfsinn oder analytische Informationen. Und diesen zu Geld zu machen – der Produktionsumweg –, erforderte Zeit.

Das eigentliche Geschehen fand in der Anleihe-Pit statt (und dort waren die Händler im Schnitt 20 bis 30 Jahre jünger als die in der Mais-Pit). Als ich Klipp irgendwann fragte, welches Fach ich am College am besten studieren sollte, um mich auf eine Karriere in der Anleihe-Pit vorzubereiten, riet er mir: „Alles, was dich nicht glauben lässt, du wüsstest zu viel.“ Daher musste es mein schmutziges Geheimnis bleiben, dass ich mich für Wirtschaftswissenschaften entschieden hatte. Im Sommer und in den sonstigen Semesterferien (ich erinnere mich, dass ich dabei ständig das Buch „The Treasury Bond Basis“ bei mir trug und immer noch so stur war, mich selbst auf den Handel vorbereiten zu wollen) arbeitete ich als kleiner Gehilfe für einen von Klipps Händlern. Und dann, nach dem Studium, mietete ich mit Unterstützung von Oma Spitznagel (meiner ersten und besten Investorin) eine Mitgliedschaft im Chicago Board of Trade und nahm meinen Platz in der Anleihe-Pit ein, wo ich mit 22 Jahren der jüngste Trader war.

Der lieferbare Wert des Anleihe-Futures-Kontrakts ist die 30-jährige US-Schatzanleihe (oder eine ähnliche CTD-Anleihe), auf der (zusammen mit der 10-jährigen Anleihe) der Leitzins für langfristige Kredite basiert. Anfang der 1990er-Jahre war die Anleihe-Futures-Pit der Mittelpunkt des Finanzuniversums, diese Futures waren die am aktivsten gehandelten Kontrakte und der geometrische Ort des weltweiten Präsenzhandels. In dieser Pit strömten alle zusammen, die langfristige in US-Dollar notierte Zinsrisiken trugen, ob es nun Sparer, die sinkende Zinsen, oder Kreditnehmer waren, die steigende Zinsen befürchteten.

Die Trading-Pits sind konzentrische Kreise (genau genommen Achtecke), die in Stufen nach innen tiefer werden, wie eine umgedrehte Hochzeitstorte. Die oberste und äußerste Stufe war von den größten und gerissensten Tradern besetzt (die den größten offenen Orderfluss und die besten Blicklinien in die Pit hatten – ein unschätzbarer Vorteil). In meinem ersten Monat stand ich natürlich definitiv nicht dort, sondern am anderen Extrem, ganz unten auf dem Boden der Grube, wo nur sporadisch Kontrakte auf spätere Monate gehandelt wurden.



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.