Das Theater leben - Julian Beck - E-Book

Das Theater leben E-Book

Julian Beck

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Beschreibung

Theater und Leben – nicht zu trennen für Julian Beck! Der amerikanische Aktivist und Poet, Maler und Anarchist war vor allem eins: ein Mann des Theaters. Zusammen mit seiner Frau, der Schauspiel-Ikone Judith Malina, gründete er das weltberühmte The Living Theatre, eine Institution gegenkulturellen Aufbegehrens. Mit ihren Stücken trat die Gruppe auf den Straßen New Yorks, in Gefängnissen und Krisengebieten in Amerika auf, um mit ihrem revolutionären Theater aufzurütteln. In seinen gesammelten Schriften – Miniaturen, Briefe und Gedichte, entstanden in den Jahren des Exils zwischen Brasilien und der Schweiz, Brooklyn und Marokko – entwickelt Beck einen ganzheitlichen Theaterbegriff, übt radikale Kritik an der Gesellschaft und scheut auch philosophisch-spirituelle Gedanken nicht. Julian Beck – das ist der legitime Nachfolger Erwin Piscators und der Bruder im Geiste von Allen Ginsberg. Mit "Das Theater leben" liegt ein Klassiker des politisch-aktivistischen Theaters mit dem Vorwort von Judith Malina erstmals in deutscher Übersetzung vor. Das Buch enthält darüber hinaus ein Vorwort von Thomas Oberender, einen Beitrag von Judith Malina, ein Nachwort von Milo Rau sowie bislang unveröffentlichen Fotos des Living Theatre von Bernd Uhlig. Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel. In Zusammenarbeit mit den Berliner Festspielen.

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Julian Beck war ein Künstler, der unnachahmlich revolutionär lebend gearbeitet und unaufhörlich arbeitend gelebt hat. Der amerikanische Aktivist und Poet, Maler und Anarchist gründete zusammen mit seiner Frau Judith Malina das später weltberühmte Living Theatre. Mit ihren Stücken trat die Gruppe auf den Straßen New Yorks, in Gefängnissen und Krisengebieten Amerikas auf, um mit ihrem revolutionären Theater aufzurütteln.

In seinen parallel zur künstlerischen Arbeit entstandenen Schriften entwickelt Beck einen ganzheitlichen Theaterbegriff und philosophisch-spirituelle Gedanken, die seine radikale Kritik an der Gesellschaft mit einem bis heute berührenden Entwurf von Positivität verbinden. Sowohl ästhetisch wie auch politisch sucht Julian Beck alternative Ausdrucks- und Praxisformen im Leben der Marginalisierten, der Schwarzen, der Frauen, der Indigenen und Outsider, denen er in seinen Schriften eine eigene Form von Schönheit, Eigensinn und Unbändigkeit zurückerstattet.

Becks Miniaturen, Briefe und Gedichte entstanden in den Jahren des Exils der Kompanie zwischen Brasilien und der Schweiz, Brooklyn und Marokko. Sie geben Einblicke in die Entstehungsgeschichte des Freien Theaters, wie wir es heute kennen, aber auch in den intellektuellen und künstlerischen Stoffwechsel eines der folgenreichsten Theaterkünstler des 20. Jahrhunderts. Mit Das Theater leben liegt ein Klassiker des politisch-aktivistischen Theaters erstmals in deutscher Übersetzung vor.

„Julian Beck hat den Willen zur Totalität, er sucht den Moment, der das ganze System aufbricht.“ Milo Rau

DAS THEATER LEBENDer Künstler und der Kampf des Volkes

Julian Beck

Herausgegeben von Thomas OberenderAus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel

Mit Texten von Thomas Oberender, Judith Malina und Milo Rau Mit Fotos von Bernd Uhlig

Wir danken den Berliner Festspielen für die Zusammenarbeit an dieser Publikation.

Julian Beck

Das Theater leben

Der Künstler und der Kampf des Volkes

Herausgegeben von Thomas Oberender

Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel

© 2021 by Theater der Zeit

Originalausgabe: the life of the theatre. the relation of the artist to the struggle of the people © 1972 by Julian Beck

Wie danken Garrick Beck für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Texte von Judith Malina und Julian Beck.

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Müller

Winsstraße 72, 10405 Berlin, Germany

www.theaterderzeit.de

Übersetzung: Beate Hein Bennett, Anna Opel

Lektorat: Nicole Gronemeyer

Umschlagfotos und Bildstrecke: Bernd Uhlig

Gestaltung: HIT

ISBN 978-3-95749-343-9 (Paperback)

ISBN 978-3-95749-378-1 (ePDF)

ISBN 978-3-95749-379-8 (EPUB)

Thomas OberenderMessianismus und RevolutionÜber Das Theater leben von Julian Beck

Julian BeckDas Theater leben: DIE HANDLUNG

1 Elend, Theater, Aufstand und Revolution

2 Ich bin ein Sklave

3Frankenstein, III. Akt

4 Die Kreatur

5 Die Fantasie als Notausrüstung

6 Meditation. 1961. New York City

7 Meditation. 1962. New York City

8 Meditation I. 1963. New York City

9 Meditation II. 1963. New York City

10 fragen. 1963

11 fragen. 1968

12 Ai. Aiee. Vordringen. Schlitzen

13 Drei Meditationen über Strategie

14 ATMEN: Notizen für die erste Lektion

15 Meditation. 1966

16 Die Struktur zerlegen. Polizei Theater I

17 Vertikal sein, sich aufrichten, Homo erectus

18 Wenn die sexuelle Energie der Menschen befreit ist

19 Kleinliche Zusammenstöße

20 Die große Fliegenklatsche

21 Polizei Theater II

22 Polizei Theater III

23 Polizei Theater IV

24 Liberale Besserwisserei

25 Meditation. 1969

26 Meditation über Schauspiel und Anarchismus

27 Und dann wurde Mogador unsicher, und die ganze Welt war unsicher

28 „Revolutionen kommen wie Diebe in der Nacht“

29 Nomaden

30 Notizen zur Erklärung von Anarchismus und Theater

31 Schauspiel-Übungen: Notizen für die ersten Lektionen

32 Körper

33 Den Widerstand von Zuschauer und Schauspieler brechen

34 Der Trancezustand des Performers

35 Reflexionen über Aufführungen

36 Fernsehen

37 Stars

38 Warum wir die Mise en Scène ändern müssen

39 Die Heldenreise der Performer

40 Die sieben Imperative des zeitgenössischen Theaters

41 Bühnenbild

42 Heiligkeit

43 Brief über Revolution. Judith Malina an Carl Einhorn

44 Die dringende Arbeit

45 Improvisation: Freies Theater

46 Kollektive Schöpfung

47 „Auf Inspiration ist kein Verlass.“

48 Alchemie

49 Die Bourgeoisie

50 Kann Kunst die Welt verändern?

51 „1968 markiert den Tod einer Kultur.“

52 Meditation I. 1970

53 Das absolute Kollektiv

54 Der Stamm

55 Das Ritual

56 Candomblé

57 Religiöses Theater

58 Faschistisches Theater

59 Sexuelles Theater

Fotostrecke Bernd Uhlig

60 Jugend und Alter sind im Volk vermischt

61 Rinne aus fleisch im fleisch

62 Populäres Theater

63 Das Ritual (II)

64 fragen. 1969

65 Einträge im Arbeitsbuch

66Antigone

67 Brief an eine Wunde

68 Kurz vor Beginn einer neuen Produktion

69 Gemeinschaft

70 Meditationen über Theater I

71 Die sieben Leuchter der Baukunst

72 Der bürgerliche Instinkt

73 Die Philosophie des Klassischen Theaters – ein Schlag ins Gesicht

74 Meditation II. 1970

75 Dämmerlicht

76 Selbstzerstörung

77 Das große Theater unserer Zeit

78 Der Schrei der Menschen

79 Die Abteilung für politische und soziale Ordnung

80Die Zofen

81 Meditationen über das Theater II

82 Meditationen 1967–1971 (1930–1971)

83 Avignon. 1968

84 Dokument: Eric Gutkind über das Was ist zu tun

85 Utopische Rhetorik

86 Dieses Buch

87 Aufzählung

88 Was sind die Bedingungen für ein kreatives Ereignis?

89 Techniken für Konfrontationspolitik: New York City 1969

90 Die Woodstock Nation

91 Die Besetzung des Odéon

92 Der Genius des Volkes

93 Das Konzept des Sündenfalls

94 Eine Massenbewegung bilden

95 Wie bildet man eine Massenbewegung?

96 Meditation. 1988

97 Meditation. 1998

98 Meditation. 2008

99 Meditation. 1970

100 Bomb Culture

101 Brief über die Frauenbewegung (Judith Malina an Carl Einhorn)

102 Meditationen über Revolution

103 Meditationen über Gewalt

104 Projekt: Ein Film: WIE MAN SICH AUFLEHNT

105 Meditation über Anarchie

106 In Schönheit zu enden, darum geht es

107 Das Große Stück Schönheit

108 Meditation über Selbstverteidigung. Fragen. 1971

109 Das Theater ist das Hölzerne Pferd

110 Aus zwei Konversationen über Revolutionäre Theorie

111 Die Theatralisierung des Lebens

112 In der Kunst, die die Menschen anspricht, wird es keine Herablassung geben

113 Alle Macht dem Volk

114 Nach der Revolution

115 FACTA NON VERBA

116 Welche Maßnahmen können wir ergreifen

117 Meditation. Von New York nach Berlin. 1964–1970

118 für judith

119 wir müssen/wie man sagt/organisieren

120 Arbeitsbuch Notizen: Wörtlicher Bericht. Probe #151

121 Notizen. Aktionspläne

122 Das maximale Glück jedes Einzelnen hängt am maximalen Glück aller

123 Nacht

Judith MalinaFeuertaufen in Berlin

Milo RauJulian Beck oder Theorie und Praxis der Unreinheit

MESSIANISMUS UND REVOLUTIONÜBER DAS THEATER LEBEN VON JULIAN BECK

Thomas Oberender

Die Idee und Praxis des „totalen Theaters“, von der Julian Becks Buch erzählt, ist bei ihm unlösbar verbunden mit der Praxis der friedlichen Revolution. Und wenn ich darüber nachdenke, so fallen mir, neben Milo Rau, von dem das Nachwort zu dieser deutschen Erstübersetzung von The Life of the Theatre stammt, dem Peng! Kollektiv oder dem Zentrum für Politische Schönheit kaum zeitgenössische Performancekünstlerinnen und -künstler ein, deren Kunst zugleich auf einen Zustandswandel „draußen“ zielt. Christoph Schlingensief war wie Julian Beck ein Künstler, der aus dem Theater ausgezogen und wieder in das Theater zurückgekehrt ist, um dort eine selbstbezügliche Kunst hinter sich zu lassen und eine soziale Situation zu erschaffen, in der die Magie der Kunst verwandelnd wirken kann.

Dass die Ideen und Praktiken der friedlichen Revolution von 1989 wirklich revolutionär waren, ist mir erst Jahrzehnte nach ihrem Ende bewusst geworden. Als ich Julian Becks The Life of the Theatre gelesen habe, fühlte ich mich an die Monate eines gesamtgesellschaftlichen Lächelns in Deutschland erinnert – ein gutes halbes Jahr, bevor die Mauer geöffnet wurde, und ungefähr ein halbes Jahr danach war alles veränderbar, stand im Ostteil des Landes alles zur Disposition und wurde der Kampf auf den Straßen, in den neu gegründeten Parteien, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Zeitungen und dem erstmals wieder frei gewählten Parlament belohnt. Unabhängig von der Arbeit des Living Theatre wirkt dieses Buch auf mich als ein eigener Kosmos der Veränderungsideen und des Aufbruchs in etwas Positives – seine Gedanken und Konzepte erzeugen noch heute ein freundliches Vorwärts, das wir in Ostdeutschland ungefähr zwanzig Jahre nach dem Ende dieser Aufzeichnungen tatsächlich im Alltag erlebt haben.

Wie wirksam der Entwurf von Positivität mit Protest zusammengeht, ist noch immer verblüffend. Vielleicht berührt Julian Becks und auch Judith Malinas hartnäckige Gewaltfreiheit durch ihren eigentümlichen Messianismus: Im Nest der Gruppe und ihrer Arbeit kann gelebt werden, was als Revolution draußen noch ansteht – als eine Revolution der Körper, der Sexualität, der lebendigen Spiritualität. Diese messianische Note des Denkens und Schaffens von Julian Beck, wie sie sein Buch zeigt, ist mit einer Konstruktion von Positivität verbunden, die bei ihm offenkundig jüdische Quellen hat, aber keiner Partei und Glaubensbewegung folgt. Es ist nicht die Positivität des Kunstheiligen wie bei Botho Strauß, nicht die Positivität des Katholizismus wie bei Paul Claudel, nicht die gnostische Positivität von Jon Fosse oder gottesunmittelbar wie in Peter Handkes Über die Dörfer. Julian Becks Positivität wirkt synkretistisch und anarchistisch.

Obwohl Das Theater leben eine Begleiterscheinung von Julian Becks praktischen Erfahrungen ist, seiner unausgesetzten Lektüre, der Begegnung mit Künstlern und Künstlerinnen, Armut, neuen Produktionsformen, anderen Kulturen oder politischen Ereignissen, kristallisiert sich in diesem Buch doch etwas Bleibendes: der komplizierte Wunsch nach einfacher Wahrhaftigkeit, einer Kunst, die mit den Jahren immer deutlicher eine Art von temporärer autonomer Zone bildet, in der, frei nach Hakim Bey, das andere Leben schon jetzt passiert.

Beinahe wäre dieses Buch von Julian Beck nie erschienen. „Das Theater leben wurde zweimal geschrieben“, berichtet Judith Malina, Becks Ehefrau und Mitgründerin des Living Theatre im Vorwort der amerikanischen Neuauflage von 1991. „In der Stadt Fontainebleau fiel die erste Version in die Hände eines Diebs; er schnappte es in einem kleinen Garten vor unserm Hotel – in einem Moment war die Arbeit von fünf Jahren weg. ‚Ein glücklicher Zufall‘, sagte der optimistische Julian, ‚denn jetzt kann ich es so schreiben, wie es sein soll … Ich weiß so viel mehr.‘ Und er begann von Neuem, Notizen aufzuschreiben: ‚Mach eine Pause und beginne nochmal‘ … Sein Leben war so voll und reich, dass da nur gestohlene Momente für die Notizbücher blieben – schnell unterwegs geschrieben, aber auf den langen Straßen kreuz und quer durch Europa meditiert oder in den Zellen oder den Garderoben …“

In Julian Becks amerikanischem Wikipedia-Eintrag heißt es, dass er am 31. Mai 1925 in Washington Heights geboren wurde und am 14. September 1985 in New York starb. „Er war ein US-amerikanischer Schauspieler, Regisseur, Dichter und Maler und wurde bekannt als Mitbegründer und Regisseur des Living Theatre sowie für seine Rolle als Kane, der böswillige Prediger im Film Poltergeist II: The Other Side von 1986.“ Julian Beck hat so ziemlich jede Ordnung der bürgerlichen Welt verlassen, von der klassischen Universität über die klassische Ehe bis hin zur klassischen Theaterinstitution oder gesellschaftlichen Bewegung. Nach einem kurzzeitigen Besuch der Yale University veröffentlichte er als Teenager Gedichte, von denen einige bereits anarchistische Ideen enthielten, und begann dann zu malen.

Zwischen 1944 und 1958 schuf Julian Beck an die 1500 bis heute erhaltene Werke. Seine frühen Gemälde sind Spielarten des abstrakten Expressionismus der in den beginnenden 1940er Jahren entstandenen New York School, zu der auch Willem de Kooning und Jackson Pollock zählen. Peggy Guggenheim zeigte Julian Beck 1945 in ihrer Galerie Art of This Century und bis heute werden Ausstellungen mit den Werken des jungen Julian Beck organisiert. 1943 lernt er, noch Maler und Student an der Yale University, die damals 17-jährige Schülerin Judith Malina in New York kennen und heiratet sie fünf Jahre später. Ihre Ehe führten sie offen – Beck war bisexuell und gemeinsam mit Judith Malina der langjährige Lebenspartner von Ilion Troya, einem Schauspieler der Gruppe, oder Lester Schwartz, dem späteren Ehemann der Performancekünstlerin Dorothy Parker aus dem Warhol-Umfeld.

Piscator

Für die Gründung des Living Theatre spielte Erwin Piscators New Yorker Dramatic Workshop eine bedeutende Rolle. An der Schauspielschule des deutschen Exilregisseurs war Judith Malina von 1945 bis 1947 regulär eingeschrieben, und wie prägend diese Jahre waren, kann man an ihren mehr als sechzig Jahre später veröffentlichten Seminaraufzeichnungen The Piscator Notebook erkennen. Auch Julian Beck belegte einzelne Workshops an Piscators Schule, allerdings ohne ein komplettes Studium zu absolvieren. Zu den später namhaften Studenten und Studentinnen zählten neben Judith Malina auch der Schriftsteller Tennessee Williams oder Harry Belafonte, Marlon Brando, Walter Matthau oder Tony Curtis. Erwin Piscator war einer der folgenreichsten Hochschullehrer seiner Zeit, vergleichbar vielleicht mit dem in Gießen wirkenden polnischamerikanischen Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth. An seiner Schule arbeiteten in und nach den Weltkriegsjahren viele Migranten der ehemals europäischen Theateravantgarde wie Kurt Pinthus, Carl Zuckmayer oder Hanns Eisler, aber auch Lee Strasberg, der mit seinem 1931 gegründeten „Group Theatre“ das Konzept des Method Acting entwickelte und 1947 das „Actors Studio“ gründete.

In ihrem Living Theatre knüpften Beck und Malina an die Gedanken von Deutschlands politischstem Regisseur der Zwischenkriegsjahre an. Ihre Aufführungen von Werken der literarischen Avantgarde produzierten sie in den 1950er Jahren zunächst in wechselnden kleinen Spielstätten und trugen so entscheidend zur Entstehung eines Off- und Off-Off-Broadway-Theaters bei, etwas, das Piscator in den späten Vierzigern in New York nicht geglückt war.

Erwin Piscator war der Regisseur, der das industriell-technische Zeitalter ins Theater geholt hat. Seit 1924 wirkte er in Berlin als Oberspielleiter der „Volksbühne“ im „Theater am Bülow-Platz“, später Horst Wessel-Platz, später Rosa Luxemburg-Platz. Nach dem Zerwürfnis mit der Volksbühne gründete er 1927 die „Piscator-Bühne“ im Theater am Nollendorfplatz. Er verwendete in seinen Inszenierungen Laufbänder und Lifte, Simultanbühnen und motorisierte Brücken, seine Aufführungen wurden von Bildprojektionen als erzählerische Mittel geprägt und seit 1925 auch durch die Verwendung von dokumentarischen Auftragsfilmen. Zwischen 1927 und 1931 entstanden drei „Piscator-Bühnen“ – zunächst im Theater am Nollendorfplatz, 1928 im Lessing Theater als zweiter Spielstätte und 1930 die „Piscator Bühne“ im Wallner Theater, die in den Jahren der Weltwirtschaftskrise allerdings allesamt wirtschaftlich nicht tragfähig wurden. Gemeinsam mit Walter Gropius entwickelte er am Bauhaus Weimar 1927 die architektonische Vision eines „Totaltheaters“, das die Präsenz des Publikums ins räumliche Theatergeschehen mit einbeziehen sollte. Eine ganz andersartige Auflösung der vierten Wand sollte ein halbes Jahrhundert später auch für das Living Theatre der 1970er Jahre wichtig werden – es baute dafür keine speziellen Theaterräume, sondern zog aus den Theatern aus in Schulen, Fabriken, die brasilianischen Favelas oder den Berliner Sportpalast. Über Julian Becks Buch sagt Judith Malina, dass es „mit dem Sklavendasein in Ägypten beginnt“, der Geschichte von einem Gefängnisausbruch, und mit „dem Ausbruch aus dem Gefängnis, dem Theater, dem Ausbruch in die Welt“ schließt.

Die entscheidenden zwanzig Jahre

Das Living Theatre begann sprichwörtlich im Living Room, im New Yorker Wohnzimmer von Julian Beck und Judith Malina, was an das Entstehen des Theaters des Künstlerduos Vegard Vinge und Ida Müller in den frühen 1990er Jahren in Berlin erinnert, die für sich, Freunde und Freundinnen Stücke in ihrem Badezimmer aufgeführt und dabei die handmade-Ästhetik ihrer späteren Produktionen erfunden haben. Das Theater leben handelt von Julian Becks und Judith Malinas Ausbruch in die Welt – es hält die geistigen Bewegungen dieser entscheidenden Zeit fest und denkt die nächsten Schritte vor.

1964 wurden Beck und Malina von einem New Yorker Gericht wegen Steuervergehen zu einer Gefängnishaft verurteilt. Darauf folgte ein rund zwanzig Jahre währendes, selbst gewähltes Exil als nomadisches Tourneetheater, das in 28 Ländern auf fünf Kontinenten fast hundert Stücke in acht Sprachen gezeigt hat. Dieses Exil wurde erst 1984, kurz nach der Magenkrebs-Diagnose Julian Becks, durch ihre Rückkehr nach New York und die Eröffnung eines kleinen Theaters in der 3rd Street beendet. Julian Beck starb mit sechzig Jahren. Aber diese Zeit des Tournee-Exils der 1960er und -70er Jahre war jene entscheidende Epoche nicht nur in seinem persönlichen Werk, sondern auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der die wesentlichen Liberalisierungen der westlichen Welt errungen und die Weichen für eine zweite, globale Moderne gestellt wurden.

Es war eine Zeit, in der George Harrison Lieder wie „The Inner Light“ schrieb, eine Zeit der spirituellen Wende, der Gurus und Ashrams, aber auch der Politisierung, der Black-Power-Bewegung von Malcolm X, der Studentenrevolten oder Proteste gegen den Vietnam-Krieg. Für die Hippie-Bewegung schien Flower Power nicht nur Power im Sinne von politischer Kraft zu bedeuten, sondern das wörtliche Naherücken an die Kraft der Pflanzen – „fünffingrige cannabis weißes coca der träge mohn die geheimnisse des kaktus die magischen formeln der erde sind unsere chemischen waffen gegen die mörder“, schrieb Julian Beck. Die ersten Ansichten der Apollo-Mission vom fragilen, blau leuchtenden Planeten Erde inmitten des Alls waren Teil eines erwachenden planetarischen Bewusstseins. Es führte zum kalifornischen Aufbruch ins 21. Jahrhundert, der Faszination für die Wüste, Computer und LSD, dem Whole Earth Catalog, der Entstehung von Umwelt- und Friedensbewegungen, der Utopie des Cyberspace und schließlich zum Ende des Kalten Krieges, dessen Symbol die Öffnung der Berliner Mauer wurde.

Die Mission des Living Theatre beschrieb Julian Beck 1969 als ein „Anti-Gewalt-Theater. Theater als Fürsprecher für Anarchie, für gewaltlose Revolution, für Revolution“ – weshalb es naheliegt, dass die Öffnung der Mauer für sie eine besondere Bedeutung besitzen würde. 1991, sechs Jahre nach Julian Becks Tod, war Judith Malina auf Einladung der Berliner Festspiele wieder in Berlin. Sie nahm die friedliche Revolution im Ostteil der Stadt, im Osten Deutschlands und Osteuropas, an der viele Künstler und Künstlerinnen beteiligt waren, die an der Entstehung und Ausweitung der Bürgerbewegung zur Volksbewegung entscheidenden Anteil hatten, kaum zur Kenntnis. In ihrer Festspielrede fragt sie lediglich, ob nun, nach der Öffnung der Grenze, die Frage nach der Freiheit mit Waschmaschinen und McDonald‘s beantwortet werden könne. Mehr als dieses Bild der übernommenen Gesellschaft kam von der Revolution im Osten auch in New York nicht an. Ihr zu entkommen war die Essenz von Julian Becks Buch.

Über den Rand hinaus

Das Theater leben dokumentiert die Dekade eines unablässigen geistigen Stoffwechsels – mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, dem undogmatischen Feminismus oder den Folgen der brasilianischen Militärdiktatur. Prägend war Becks Neugier auf ausgegrenzte Lebensformen, mit denen er die revolutionäre Hoffnung verband, dass sich im Leben dieser Ausgegrenzten der Vorschein eines anderen Lebens entdecken und fördern ließe, das schließlich das Leben der Mehrheitsgesellschaft zum Besseren verändern könne. Daher sein Studium der spirituellen Außenseiter, der Lage der Frauen, Schwarzen, Arbeiter und Arbeiterinnen, Landlosen, der Nachfahren der Sklaven und Sklavinnen. Beck genderte lange vor dem Entstehen der Political Correctness und folgte auch darin seiner anarchistischen Hoffnung, dass die friedliche Revolution von den Marginalisierten ausgehe. Damit verbunden ist in Becks Notizen natürlich die drohende Überfrachtung der Kunst, wenn sie zum Vehikel der Revolution oder zu ihrem Labor wird, in dem als verwirklicht erlebt werden darf, worauf die Gesellschaft draußen noch wartet, ohne es zu wissen.

Mit fast ethnologischer Neugier lässt sich Julian Beck auf seinen Reisen auf die jeweilige Kultur ein und sucht die Nähe zu ihr. In Berlin fällt ihm die Angst der Deutschen vor seiner eindringlichen, sie emotional überwältigenden Theaterform auf, die Angstreflexe heraufbeschwört, zwanzig Jahre nach dem Ende des Faschismus schon wieder durch den Verlust der Distanz auch die mit ihr verbundene Vernunft zu verlieren. Oder sein Staunen über den Karneval und die Tanz- und schamanistischen Zeremonien in Brasilien, den Samba, die Gilden der blocos in den Favelas. In all dem sieht Beck „Theater“ und durch das Theater hindurch das Engagement von Menschen, gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihnen Leid zufügen, zu widerstehen.

Becks Studien sind Suchbewegungen am Rand des bürgerlichen Gesellschaftsmodells, bzw. Expeditionen über es hinaus. So schreibt er über die Praktiken schwarzer Magie in São Paulo und die Kultur der Roma und Sinti, der „Gypsies“, wie er sie im Gestus seiner Zeit im englischen Original nennt – eine Sprechweise, die wir in unserer Übersetzung in ihrer historischen Form beibehalten haben, auch wenn wir sie heute mit Distanz zur Kenntnis nehmen. Julian Beck nennt einige seiner Textblöcke in diesem Buch „Meditationen“, und in diesem Sinne sind sie Versuche, zur Welt zu kommen – an konkreten Orten, mit dem eigenen Körper mittendrin. Und in diesen Meditationen melden sich all die Geister, denen er sich geöffnet hat, um dieses „Leuchten der guten Ziele“ zu erzeugen: Eric Gutkind, Strindberg, Pascal, Martin Buber, Dalí, Allen Ginsberg, Paul Goodman, Artaud, William Carlos Williams, Errico Malatesta, John Cage, die heilige Theresa, Joyce und Pound, Breton, Lorca, Proust, Cummings, Gertrude Stein und Rilke, Cocteau, Pollock und de Kooning, Piscator und Robert Edmond Jones, Becks anderer Lehrer, Malraux und Frost, Auden, Barker, Gauguin, Shakespeare, R. D. Laing, Daniel Cohn-Bendit, Grotowski und Stanislawski, Siddhartha Gautama und Yasodhara, Kropotkin, Lenin, Brecht, Allan Kaprow, Charlie Parker, das I Ging, William Baziotes und der noch nicht ins Deutsche übersetzte Zeitgenosse John Donnes Thomas Traherne, Aleister Crowley, Mao Tse-tung, Wilhelm Reich und der Revolution verschriebene Künstler wie Jerome Rothenberg, Jean Duvignaud, Jean-Jacques Lebel, Ernst Fischer, Ed Sanders, Genet, Georges Lapassade, Guy Debord – all das ist das von Beck zitierte Hinterland seiner Arbeit.

Bei einer Diskussionsveranstaltung in der Berliner Akademie der Künste 2006 bemerkte der Theaterleiter und Kurator Matthias Lilienthal, dass ein Grund für den anhaltend lebendigen Mythos des Living Theatre sicher der sei, dass jeder alles in dessen Arbeit hineinprojizieren könne. Die vielen Einflüsse, die in Becks Notizen sichtbar werden, zeigen, dass dieser Eindruck nicht grundlos ist, da Julian Beck über Jahrzehnte hinweg im Modus der konstanten Suche gelebt hat. Wie ein Feldforscher kartografierte er die Formen der Ausgrenzung und sammelte die herrschenden Stereotype, um sie umzudeuten. Bis zur letzten Buchseite spürt Julian Beck dem „Vaterkomplex“ der eigenen Homosexualität nach, den Klischees über „das fahrende Volk“ und Aporien der eigenen Bürgerlichkeit oder der Rolle der Kunst im bürgerlichen Gesellschaftszusammenhang: „irgendetwas ist schief / wenn picassos gemälde und schönbergs musik / auf den wappen der macht elite prangen / rockefeller sammelt de kooning / in der wall street wird allen ginsberg gelesen / jacqueline kennedy verehrt manet / sie nehmen alles weg.“

Positivität und nonfictional acting

Diese letzte Bemerkung – „sie nehmen alles weg“ – ist vielleicht die berührendste im ganzen Buch. Was soll man dagegen tun? Ich bin älter geworden mit der Selbstverständlichkeit, dass progressives Theater aufklärt, ernüchtert, ironisiert, Distanz lehrt. Und nun erinnern mich die Notizen von Julian Beck an die Option einer anderen Art von „Fortschritt“, an ein anderes Konzept von Wachstum, das wieder zusammenwachsen lässt, was der westliche Fortschritt durchtrennt hat. Und vielleicht wirken viele der Notizen von Julian Beck auch deshalb so frisch, weil sie vor allem Fragen sammeln – zum Teil tatsächlich in Listen, zum Teil aber auch als offene Denkimpulse inmitten längerer Argumentationen. „Das Theater macht Angst“, schreibt Beck 1969 in Italien, „weil es sich mit Geheimnissen und geheimen Fragen befasst. Seit Jahrhunderten fragt das Theater: wer sind wir woher kommen wir wohin gehen wir. Jetzt fragt es: was ist los wohin geht das was tun was stelle ich mit meinem einzigartigen Leben an in diesem Moment, wenn der kollektive Genius der Menschheit die Frage beantworten muss: Wie kann unser Planet überleben?“

Die Corona-Krise, der Bambusvorhang des neuen Kalten KI-Krieges, den die neue Weltmacht China baut, macht diese Frage nach dem Überleben unseres Planeten umso dringlicher. Julian Becks Notizen sind Teil eines neu erwachenden planetarischen Bewusstseins, das fast zeitgleich auch von Denkerinnen wie Donna Haraway und Lynn Margulis vorbereitet wurde, von James Lovelock oder Bruno Latour und dem ganzheitlichen Wissen der Indigenen. Daher wirkt nach all den Jahrzehnten Das Theater leben wie ein Reisebuch ins Post-Anthropozän, das Antworten auf die Frage, wie unser Planet überleben kann, absichtlich an den Rändern des westlichen Lebensmodells gesucht hat. Die vor mehr als fünfzig Jahren gestellte Frage macht das alte Wende-Buch eines wilden Theatermannes plötzlich wieder brisant. Werke wie Paradise Now schufen positive Szenarien der sozialen Einmischung, deren solidarischer Geist das Gegenteil vom Ellenbogengeist der kapitalistischen Gesellschaften bezeugt.

Hat den Ostdeutschen, fragte mich neulich wohlmeinend ein westdeutscher Journalist, nach 1989 nicht einfach nur ein bisschen der Ellenbogen gefehlt? Dagegen, scheint mir, hat Julian Beck nach szenischen Strategien der Empathie gesucht und Theaterformen entwickelt, die Gefühle der Isolation und Ohnmacht im Erlebnis der Aufführung selbst zu überwinden erlauben. Das führte zu der herausfordernden Idee, eine Praxis des „nonfictional acting“ zu kreieren – also eine Spielweise, die nicht darauf beruht, Figuren und die für sie erfundenen Geschichten darzustellen, sondern sich eher an Strukturen des Rituals und der Zeremonie zu orientieren.

Seltsamerweise verbindet sich der Begriff der Handlung im Theater ja ausgerechnet mit einer Form von Theater, das wie eine Maschine gebaut ist. In ihr führt eins zum anderen, immer voran, weitestgehend berechenbar dem Ende entgegen. Die Handlung ist in diesem Theater der Guckkästen und Fiktionen eine logische Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die sich im Verhalten einer Gruppe von Menschen auflöst. Diese Spielwerke dulden Menschen nur dann und nur gerade so lange, wie sie diesem Fortschritt des Geschehens dienen. Alles, was sie in ihren kurzen Auftritten sagen und tun, ist in diesem Sinne konfektioniert und begründet durch die Logik dieser Maschine – durch ihren Hunger nach entsprechenden Details, die Anlässe zu neuen Handlungen werden und Wissen produzieren, das zu neuen Konflikten führt.

Ganz anders ist hingegen das Verständnis von „Handlung“ in diesem Buch von Julian Beck. „Jeden Augenblick entstehen wir und vergehen: Ich will etwas und etwas will mich.“ Alles ist eingebettet – das Publikum in die Aufführung, das Leben der Ensemblemitglieder in die Art und Weise ihrer Produktion – und zu handeln bedeutet daher in Paradise Now, etwas zu tun, das gemeinsam erzeugt wird, mit anderen, jetzt. „Spielen als Aktion“ heißt Julian Becks siebter Imperativ des zeitgenössischen Theaters. Aus ihm folgt der Gedanke, dass „exzellente Form eine Lüge ist“. Die Kunst des Living Theatre hat sich über Jahrzehnte immer weiter von den Rahmungen gelöst, die sich am Broadway z. B. mit „Könnerschaft“ oder „Brillanz“ verbinden. Diese Verschiebung des Akzents vom Gelungenen in Richtung der Aktion und Unmittelbarkeit entwickelte im Schaffen Julian Becks eine große Kraft. „Perfection is something for assholes“, postuliert sechzig Jahre später Taylor Mac, ein anderer Nachfahre des Living Theatre, in seiner 24 Stunden dauernden Zeremonie zur politischen Geschichte der populären Musik.

Julian Becks Notizen sind keine Musterbücher, keine Betriebsanleitungen wie Brechts „Modellbücher“, sondern Begleitbücher innerer Reinigungs- und Entwicklungsprozesse. Sie sind der Welt entgegengeschrieben und versuchen, eine Ankunft der eigenen Arbeit, der Kompanie und Kreationen da draußen, unter den Menschen und mit den Menschen, durch ein inneres Wissen vorzubereiten. Julian Beck nennt den Broadway und unsere Repertoirebühnen „das exklusive Theater“. Dagegen entwickelte das Living Theatre in den zwanzig Jahren seiner Wanderungen die Idee des geteilten Ritus, eines Festes der Verbindung – nicht nur mit dem Publikum, auch durch das Publikum hindurch. Wobei die Präsenz des physischen Körpers bei der Schaffung seines „neuen Theaters“, in dem Schauspieler und Publikum ineinander aufgehen, eine besonders auffällige Rolle spielt, ähnlich wie im zeitgleichen Schaffen der Wiener Aktivisten und später im Werk von Paul McCarthy oder den Arbeiten von Vinge/Müller oder den Naked Shit Pictures von Gilbert & George.

„Schwimmen, spüren, dass wir Schönheit sind und heilig.“ Esoterik ist der griechischen Wortherkunft nach „dem inneren Bereich“ zugehörig und beim Living Theatre verbindet sich das mit einer Sprache, die sich im inneren Lebens-, Schaffens- und Denkprozess einer Gruppe von Menschen gebildet hat. In Julian Becks Schriften kristallisiert sich diese dem inneren Bereich zugehörige Sprache heraus und verbindet dabei den spirituellen Erkenntnisweg mit dem politischen. Dieser Haltung folgend wendet er z. B. das Stereotyp des technischen Einfühlungslehrers „Stanislawski“ und zeigt ihn als einen Lehrer der reflektierten Trance, des Identitätstauschs, der Immersion ins Andere und des Anderen in einen selbst. Rausch und Trance sind für Beck dabei keine Idealzustände, sondern Mittel der Begegnung und reflektiert eingesetzte Techniken, um Grenzen zu überwinden. Immer wieder geht es um diesen anarchischen Messianismus: das Kommende vorzubereiten.

Der Entstehung des Freien Theaters zuschauen

In diesem Buch kann man heute dem Entstehen des Freien Theaters noch einmal zuschauen. Es lässt sich schwer überprüfen, ob Judith Malina, die Ende der 1960er Jahre in einem italienischen Städtchen vorschlug, auf einen Abendzettel „Freies Theater“ zu schreiben, den Begriff wirklich zum ersten Mal für eine Arbeitsweise verwandte, die mit den Theaterkonventionen der Zeit bewusst gebrochen hat und das auch vermitteln wollte. Auf dem Zettel stand: „Dies ist Freies Theater. Freies Theater wird von den Schauspielern beim Spielen erfunden. Freies Theater wurde nie geprobt. Wir haben Freies Theater versucht. Manchmal gelingt es nicht. Nichts ist immer das Gleiche.“

Freies Theater hieß in dieser Phase des Living Theatre kein literarisches Theater, kein Theater mit Portal, sondern Improvisation ohne Titel und Ansage. Die Formen ihrer Stücke änderten sich im Laufe der Jahre. Aber die Struktur, in der das Living Theatre zu solchen Aufführungsformen gelangte, blieb auch bei anderen Kompanien mehr oder weniger gleich und prägt bis heute die alternative Produktionskultur des Freien Theaters – die Entscheidung für das Kollektiv, für Selbstermächtigung, die Kreation des Werkes weniger durch einen Autor als durch eine Gruppe usw. Gegen das Hochdienen von der Hospitanz zur Intendanz, gegen die übliche Besetzungspraxis bei Schauspielern und gegen fixe Abonnements vollzog sich im Living Theatre seit den 1950er Jahren eine schrittweise Abkehr von Strukturen, denen man sich als Theaterkünstler und -künstlerin unterordnen und anverwandeln muss. Im Freien Theater ist es bis heute, ohne es romantisieren zu wollen, umgekehrt – hier passen sich die Strukturen in der Regel den Menschen und den jeweiligen Projektformen und Bedürfnissen der Kunst an.

Zugleich war das Erwachen des Freien Theaters im heutigen Sinne ein internationaler Prozess: Parallel zum Living Theatre entstand das La MaMa, das nicht minder revolutionäre Theater der Unterdrückten und das Unsichtbare Theater von Augusto Boal, das Teatr Laboratorium und die späteren Special Projects von Jerzy Grotowski, das Bread and Puppet Theater von Peter Schumann oder das Cricot 2 von Tadeusz Kantor. Das Living Theatre beschreiben Julian Beck und Judith Malina als „Besserungstheater“ und stellen es den „Pseudo-Organisationen“ mit ihrer „Architektur von Potentaten“ gegenüber. Gegen das Broadway-Bild des Menschen setzt es sein Antibild des Schauspielers und der Schauspielerin ohne Schminke, ohne Manierismen und Imitation „der falschen Sauberkeit des Weißen Hauses“. Als Joulia Strauß, eine bildende Künstlerin und Aktivistin aus Athen, mich vor einigen Jahren auf dieses Buch hinwies, so weniger aus Gründen, die unmittelbar mit dem Theater zu tun haben, als wegen des hingebungsvollen, selbsterforschenden und kämpferischen Geistes dieser Notizen von Julian Beck.

„Welches Recht habe ich zu denken“, fragt sich Julian Beck, „sie alle könnten sich für Theater interessieren.“ Dass er aber die großen Forderungen und Ideen zuerst auf sich selbst anwendet, macht die Totalität seiner Forderungen irgendwie erträglich. Wobei es darauf nicht ankommt. Julian Beck wurde auf drei Kontinenten ein Dutzend Mal wegen zivilen Ungehorsams verurteilt. Er lebte sein Theater auch im Leben. War er ein Guru? Ja. Trat er posthum in der Serie Miami Vice auf? Ja. Handelte sein Schaffen von den „Problemchen der Bourgeoisie“? Nein. Kam er in die American Theater Hall of Fame? Ja. Und hätte dieses Buch in der deutschen Übersetzung ohne die Mitwirkung vieler Menschen entstehen können? Nein.

Beck spielte sporadisch in Filmproduktionen in Hollywood und andernorts, darunter 1967 den Hellseher Teiresias in Pier Paolo Pasolinis Film Ödipus Rex – wobei dies nur eine der Querverbindungen zu Milo Rau ist, der diesem Buch ein Nachwort schrieb, das Julian Beck als Erfinder eines „Theaters der Unreinheit“ zeigt. Milo Rau zeigt sich zutiefst angezogen von dieser Form eines nicht-bürgerlichen Theaters, das „keine Trennung zwischen Theorie und Praxis, Produktion und Distribution, Kollektiv und Werk, Protest und Kreation“ kennt. Statt des früheren Vorworts von Judith Malina haben wir uns für den Abdruck ihrer Berliner Festspielrede von 1991 entschieden, in der sie die Geschichte des Living Theatre, ihrer Beziehung zu Piscator und Berlin beschreibt, und die kollektive Entstehung „eines unglaublich schönen Stücks“ zum Thema Freiheit, das sie in einem Workshop am Rammzata-Theater entwickelten und dann an den Orten des Konsums auf dem Breitscheidplatz am Kurfürstendamm und danach auf dem Alexanderplatz aufführten. Auf Wunsch von Garrick Beck drucken wir diese Rede im originalen Wortlaut. Für die Spurensuche nach den Texten, Rechten und Bildern möchte ich Thomas Walker und Dirk Szuszies danken, Anna Opel und Beate Hein Bennett für die Übersetzung, Nicole Gronemeyer für das Lektorat, Bernd Uhlig für seine Fotoserie, Yvonne Büdenhölzer und Anneke Wiesner für ihre Unterstützung beim Entstehen dieses Buches. Das Theater leben ist die Chronik des Bestrebens, Theater nicht als Spiegel des Lebens zu verstehen, sondern als eine Form, ein anderes Leben zu erfahren: „Allein wäre ich zu nichts gut. Das Theater ist eine Übung in Gemeinschaft. Ein Einzelner kann es nicht machen, es wird von vielen für viele gemacht.“

DAS THEATER LEBENDer Künstler und der Kampf des Volkes

Julian Beck

Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel

1

Es gibt körperliche Qualen und geistige Qualen; und selbst wenn die Sterne, so oft wir sie betrachteten, Nektar in unsere Münder gössen, selbst wenn Gras zu Brot würde, die Menschen blieben traurig. Wir leben in einem System, das Leid erzeugt; aus seinen Mühlen fließen Fluten von Leid, ein Ozean, ein Sturm reißt uns hinab und wir ertrinken vor der Zeit.

Das Theater ist wie ein Boot – nicht allzu groß – aber der Aufstand kehrt das System um und die Revolution ist die Wende der Gezeiten.

Ouro Preto, Brasilien, 6. Mai 1971

2

Ich bin ein Sklave, der aus Ägypten kam. Ich habe eine Sklavenmentalität. Aus dem Haus der Sklaverei ins Haus der Lohnarbeit. Als wir vor dreitausendfünfhundert Jahren von einer Kultur in die andere zogen, dachten wir, jetzt wären wir unsere eigenen Herren. Welche Illusion! Einen politischen Herrscher wurden wir los, waren zu unerfahren, unterschätzten die Rolle des Zahlmeisters, des Polizeichefs, der Stützen der Gesellschaft.

Uns war prophezeit (als wir um das Goldene Kalb tanzten): kostbare Edelsteine, Kriegsschiffe, Überfluss, Untergang usw. Noch immer tanzen wir um den falschen Gott – kaltes Metall, Mammon, Idol des Reichtums, und deshalb sind wir noch immer in der Wüste. Als wir das Gelobte Land erreichten, trugen wir das Goldene Kalb mit uns; nicht auf unseren Schultern, sondern im Herzen, und verwandelten das Land in eine Wüste, den ureigenen Ort des Goldenen Kalbes: denn der Glanz des Goldes (Strahlung) lässt das Laub verdörren, lässt die Flüsse (das Blut) und die Gefäße des Herzens versiegen. Das Goldene Kalb ist ein falsches Versprechen.

Viele meiner Brüder haben feuchte Träume von all ihren Schmerzen und Erniedrigungen, aber so bin ich nicht: Ich bin der Sklave, der sich lauter Fluchten ausmalt; von nichts anderem kann ich träumen als von Flucht, dem Emporkommen, ersinne tausend Arten, ein Loch in die Wand zu schlagen, die Gitter zu schmelzen, flüchten abhauen, notfalls das ganze Gefängnis niederbrennen.

Croissy-sur-Seine, Frankreich, April 1970

3

FRANKENSTEIN, III. AKT.

Eine blutige Revolution bricht aus im Gefängnis Welt. Es ist Viktor Frankensteins endgültige Lösung, der letzte verzweifelte Versuch, seine Aufgabe zu lösen: „Wie das menschliche Leiden beenden?“ Und die ganze Welt geht in Flammen auf; und aus der Asche formt sich einmal mehr die Kreatur, sie bedroht die Welt mit Suchscheinwerfer und Netz. Plötzlich passiert die Verwandlung: Die Kreatur lässt ihre Werkzeuge fallen, wirft beide Arme zum Himmel, sie reckt den Kopf empor, die Menschheit lebt, alle Hoffnung liegt auf der Kreatur. Weil wir glauben, dass das Wunderbare geschehen kann. Denn wenn wir die Welt in einer Revolution niederbrennen, mit Gewalt, wird das Leben nur durch ein Wunder, nur durch Mutation weitergehen.

Am Ende des ersten und dritten Aktes formt sich die Kreatur aus jenen toten Körpern, die der Gesellschaft zum Opfer gefallen sind. Die Kreatur, die zum Leben erwacht, entsteht aus den verkohlten Leibern, und das sind wir, am Ende der gewaltsamen Revolution – verkohlt, verwundet, verstümmelt, bedrohlich, aggressiv, zu retten nur noch durch Mutation.

Das Bild der Hoffnung inmitten von so viel Verzweiflung ist zwingend im Katechismus der Revolution. Weil Verzweiflung jedes Handeln zerstört.

Brooklyn, New York City, Oktober 1968

4

Die Kreatur, die sich in Frankenstein am Ende des ersten und dritten Aktes formt, bedroht nicht nur die Öffentlichkeit, sie ist die Öffentlichkeit. Die Kreatur bedroht die Zivilisation und gleichzeitig ist sie die Zivilisation, eine sich selbst gefährdende Zivilisation.

Wir sind also beides: die Zivilisation und das Monster, das sie bedroht; in uns steckt die Kreatur, die ihre Arme erhebt und atmet, die sich vor aller Augen wandelt und umbaut, die fleht nach der nächsten Entwicklungsstufe der Menschheit.

Lausanne, Schweiz, 10. Januar 1968

5

1: Die Fantasie als Notausrüstung des Gehirns.

2: Die Arbeit des Künstlers: Lösungen erfinden durch Training der Fantasie.

Wir warten auf bestimmte Antworten. Aber die neuen Künstler sagen, es darf keine Anführer geben. Das Ende von Moses. Verschmelzen Laotses mit dem Volk.

Meine Sklavenmentalität ist das Öl meiner Fantasie.

Dies Buch handelt von der Rolle des Künstlers in der Revolution.

Croissy-sur-Seine, Frankreich, April 1970

6

MEDITATION. 1961. NEW YORK CITY

Ich bin jemand, der sich nicht für Theater interessiert. Auch nicht für die Art von Unterhaltung, die unser Dasein abwertet. Auch nicht für die Verbreitung von Lügen. Spaß zerstört, Freude ist kreativ. Eric Gutkind.

Das Leben ein Traum. Eine alte Fata Morgana, während wir in der Wüste leben. Mein ganzes Leben ist ein Traum. Strindberg. Wir träumen einander. Jeden Augenblick entstehen wir und vergehen: Ich will etwas und etwas will mich. Jeden Tag weiß ich weniger. Das ist meine Ehre.

Das Theater unserer Zeit tut so, als wüsste es viel. Was wir zu verstehen meinen, stimmt oft nicht. Es fehlt uns an Fakten, die Sicht ist begrenzt, unser Blick und unsere Gedanken sind nicht frei. Wenn der Schauspieler frei ist, kann er kreativ sein, wie jeder andere auch, wir aber gehen ins Theater und ertragen Schauspieler, die im Wahn der Bourgeoisie gefangen sind, deren Wahn aus den Gesetzen besteht, aus denen ihr Leben besteht, ein Leben für das Geld, das auch ein Gesetz ist, und es macht die Menschen verrückt. Die Freiheit ist neu geboren und stirbt vielleicht schon bald, und auch die Zivilisation, die sich so rasend ausbreitet wie das All, ist jung und könnte den Kindstod sterben. Im Jahr 1961 ist der Höhepunkt noch nicht erreicht. Und an keinem Datum, das wir uns vorstellen können. Im Angesicht des Todes machen wir weiter. Sich im Angesicht des Selbstmords für das Leben entscheiden. Wenn ich die Welt erhalten will, mache ich mich selbst unsterblich. Solange Menschen leben, leben wir alle.

Enger Blick. Menschen sind verschieden. Hütten und Geschütztürme. Reis und Telefone. Ein Mensch unterscheidet sich nie mehr von einem anderen als von sich selbst zu einem anderen Zeitpunkt. Pascal.

Das Theater ist ein Traum. Es ist wie ein Traum, wie ein Bild von der Welt. Die Welt interessiert mich. „M. Dalí“, sagt sein Begleiter, „interessiert sich für alles“. Dalí lehnt sich über den Tisch und fragt Allen Ginsberg: „Warum handelt Ihr Werk von Armut? Ist nicht Gold das Maß des Genies?“ Mag sein, aber unter uns sind viele Schöpfer, sie erfinden ständig etwas Neues für die Welt, das Volk aber macht die Welt satt.

Mein Gewissen torkelt unter der Wucht des jüdischen Himmels und dem Banner der Rabbis, auf dem steht, die Welt befinde sich im Prozess ihrer Schöpfung, und die heilige Pflicht des Menschen bestehe darin, Gott beizustehen.

Buber spricht von der „Nähe zu Gott“ als „Unterschied zwischen dem wahren Sein und der bloßen bewussten Existenz“.

Alle Seiten einer Sache auf einmal. Alle Ebenen. Gleichzeitigkeit.

Die entscheidende Entdeckung des 20. Jahrhunderts. Ohne sie ist Vereinigung unmöglich. Menschen in Zwietracht finden keine magische Formel. Mein einzigartiges Leben.

Nur ein Leben. Ich Armer! Muss mich entscheiden. Soll ich nach Gaspé fahren. Soll ich Verkäufer oder Käufer sein. Soll ich das Land bestellen, die Armen satt machen, Händlern und Freunden die Bücher führen, soll ich die Decke der Welt aufreißen und ihre Daunen zu Staub zermahlen, soll ich Felsen und Rinnen in verwesendes Blut verwandeln, Kindsmord, Bazillentod, soll ich Milch pasteurisieren oder Furzkissen bemalen, mit Männern schlafen, mit Frauen schlafen, aufwiegeln, beruhigen, zum Tier werden, lieben, opfern, schreiben, triezen, aufstocken, umarmen, bewässern oder zersetzen. Lieber alt werden oder weise.

Ich entscheide mich nicht, im Theater zu arbeiten, sondern in der Welt. Das Living Theatre ist mein Leben geworden als Theaterleben. Wir verschlingen einander. Ich kann uns nicht mehr auseinanderhalten. Judith und ich gehen darin auf. Und andere in uns. Es gibt Schauspieler, die an uns hängen wie Jeffers Läuse am Adler. Manche Schauspieler sind meine Augen, manche Techniker unsere Flügel. Das Nest, an dem wir bauen, wimmelt vielleicht vor Maden. Und aus den Eiern schlüpfen Fleischfresser. Mein Theater. Ich halte den Spiegel hoch, bis meine Arme schmerzen. Er fällt den Zuschauern auf die Köpfe, sie bluten und sind verletzt. Oder es passiert ihnen nichts. Ich halte den Spiegel hoch, das bröselnde Symbol für die Scheiße, und ich bin darunter begraben. Ein Misthaufen auf der Bühne, den niemand zu Gesicht kriegen sollte. Ein einzigartig nichtiges Leben.

Was weiß denn ich. Ich kann mich nur sorgen, niemals kann ich wissen.

Auf der Bühne ist Leben. Ein Schauspieler, der von seinen Abenteuern kommt und einen Augenblick des Verstehens überbringt, ist ein Held, das Licht unseres Lebens.

Ich gehe ins Theater statt zur Synagoge. Nicht um den Weg zur Erlösung zu feiern, sondern um ihn zu entdecken. Vielleicht mache ich die Erfahrung meines Lebens. Ich werde schweben, abheben sogar, wie Horatio in Paul Goodmans The Dead of Spring. Er hat es mir beigebracht.

Verehrung sieht anders aus als Erlösung.

Wenn man das Schöne betrachtet, kann man erkennen, was sein könnte. Judith.

Es leitet sich vom göttlichen Zauber ab, ist mit Gott verbunden, zielt auf Gott, erfüllt von Menschen, die auf Ehre aus sind. Die Vorfahren spielten im Sonnenlicht, wir im elektrischen Licht, Licht ist das Gewand der Ehre, aber es gibt auch Dunkelheit.

Leidenschaft. Qualen. Verzweiflung. Arbeit. Die Arbeit, die Hämmer, die Beharrlichkeit, die Besen, die Nägel verbinden mich mit den Menschen, sonst wäre ich nichts als Poesie und Flug. Allein wäre ich zu nichts gut. Das Theater ist eine Übung in Gemeinschaft. Ein Einzelner kann es nicht machen, es wird von vielen für viele gemacht. Aber das Leben im Kibbuz ist hart. Alle beschweren sich. Vor allem ich. Nichts hilft, es ist so vollkommen wie das Wetter, immer schön, wie in einem Kalender, immer schrecklich, immer vergeht der Tag, die Sonne geht unter, der Wind weht wild aus dem Westen.

Im Theater arbeite ich an meinem Leben. Mit Judith, dem Engel meines Lebens, ohne den es kein Living Theatre gäbe.

Je ne trouve pas, je cherche.

7

MEDITATION. 1962. NEW YORK CITY

Wir sterben, weil eines Tages, vor nicht allzu langer Zeit, unser Bewusstsein dazu gezwungen wurde, den Tod für notwendig zu halten. Artaud.

Durch die Welt musst du das Theater betreten.

Der heilige Auftrag holt sich das Theater zurück.

Alles existiert, nichts hat Wert. Ohne Wert passieren Irrtümer, Sünden, Verluste.

In den geheimen Bezirken, im Untergrund, in Greenwich Village, Saint Germain, unter den Studenten, die Sitzstreiks und Friedensmärsche planen, in den abgelegenen Gegenden Afrikas, überall, wo der Wandel seinen Ursprung hat, in der Musik des Wandels, im Marsch zur See, in den Demonstrationen vor den Botschaften wird vom Wert der Welt gesprochen. In versteckten Wohnungen, in denen Anarchisten und Pazifisten dem Geld und der Gesellschaft trotzen, wo all die Lügen untersucht und aufgedeckt werden, die mit dem Tod gemeinsame Sache machen, an diesen Orten lebt jene Poesie, die Gottes Sprache spricht.

Im Wahn liegt die Macht, die uns an den Rand der Sphäre bringt, jener Sphäre, in der wir eingeschlossen sind, in der wir sterben, jener Sphäre, die durch das unbekannte Universum driftet, das uns versagt ist, bis wir der Vision der Wahnsinns-Macht, Ginsberg, erlauben, uns beim Durchstoßen der Sphärenschicht zu helfen, sie zu punktieren, und zu jener Schöpfung zu gelangen, die wir bisher nur von archaischen Gerüchten her kannten. Wenn die Wahnsinns-Kräfte ihre Arbeit getan haben und wir das Atmen lernen.

Unsere Art zu leben müssen wir nicht verteidigen, unseren vorzeitigen Tod, Tod durch die Regierung, Tod durch Waffen, Tod durch Unterdrückung, Tod durch Klasse, Tod durch die Wehrpflicht, Tod durch Armut, Tod durch den rassistischen Mob, Tod durch Gesetz, Tod durch die Polizei, Tod durch Radioaktivität und vergiftete Luft, Tod durch Erziehung, dieser schreckliche Kältetod, Tod durch Wohlstand, Tod durch Besitz, Tod durch Falschheit, durch den Schmerz in meinem Magen, den Krebs in meinem Rücken, die Plagen, die die Körper zerstören, und, noch fataler für das Leben, durch den Verlust des Daseins.

Die Falschheit der Ideale. Tod durch den Broadway. Die richtigen Kostüme, das richtige Sprechen. Tod durch Kompromiss, sicherer Tod durch Luxus und Mangel an Luxus. Aspekte der Bühne, die nicht Welt sind, sondern Eitelkeit. Wir treten an gegen die Bühne der Eitelkeit, wir wissen zwar noch nicht, mit welchen Werkzeugen und wie sie anzuwenden sind, wir sind unsicher, wir haben keine Ideen, sind eine barfüßige Armee aus Versprengten.

Das Theater am Broadway gefällt mir nicht, weil es nicht Guten Tag sagen kann. Seine Stimmlage ist falsch, seine Manierismen sind unecht, sein Sex ist falsch, geschönt, perfektionierte Hollywoodwelt, sauberes Bild, gebügelte Kostüme, sauber abgewischter, geruchloser, unmenschlicher Anus des Hollywood-Schauspielers, des Broadway-Stars. Ganz zu schweigen von diesem schrecklich falschen Dreck am Broadway, das Nachtasyl mit dem schlecht nachgemachten Dreck.

Das Schauspiel am Living Theatre hat seit Jahren einen schlechten Ruf, besonders bei anderen Schauspielern. Judith und ich haben Schauspieler ohne Manierismen um uns geschart, ohne Stimmen, ohne das richtige Sprechen, ohne die schützende Schminke der Schauspieler, die die Welt des Weißen Hauses imitieren und die Problemchen der Bourgeoisie. Die Welt der bewussten Erfahrung reicht nicht aus.

Die Schauspieler des Living Theatre sind ungeschickt, ungeschult, ohne genau zu wissen wie, fordern sie die Konventionen heraus, mit denen Menschen dargestellt werden, die in Demokratien leben, die vernünftig sind, gut, ausgeglichen und die in musealen Versen sprechen. Für die Schauspieler des Living Theatre muss es um Leben und Tod gehen.