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Serhii Plokhy

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Beschreibung

Das Hauptwerk des Harvard-Historikers Serhii Plokhy endlich auf Deutsch.  Die Ukraine ein Land ohne eigene Geschichte? Der ukrainische Historiker von Weltrang Serhii Plokhy zeigt, wie mannigfaltig und dramatisch die Historie dieses Landes zwischen Europa und dem Osten ist. Nichts könnte derzeit aktueller sein. Mit dem Ukraine-Krieg hat eine neue Zeitrechnung in Europa begonnen. Im Kern geht es in dem Konflikt um die Geschichtsdeutung eines riesigen Landes, das jahrhundertelang Zankapfel der Großmächte war: Es gilt als Wiege der Russen und war mythischer Ort für die alten Griechen, Wikinger und Mongolen beherrschten das heute Staatsgebiet ebenso wie Österreich-Ungarn, Polen und die Sowjets, die erst mit dem "Holodomor", dem grausamen Aushungern der Bevölkerung, den ukrainischen Widerstand brechen konnten. Dass die Ukrainer ein Volk mit eigener Sprache, Tradition und Geschichte sind, zeigt der Harvard-Professor Serhii Plokhy so deutlich wie fundiert und eloquent. Das Tor Europas ist das vielleicht wichtigste Buch zum Verständnis der Hintergründe des aktuellen Konflikts. Es zeigt, wie die Ukraine zum Spielball zwischen Ost und West wurde und dennoch stets seine eigene Identität bewahrte. Das Buch wird bis zur Drucklegung in ständigem Austausch mit dem Autor aktuell gehalten. "Ohne Frage das Standardwerk zur Geschichte der Ukraine." – Wall Street Journal "Das traurige Schicksal der Ukraine in all seiner Komplexität wird mit Serhii Plokhy endlich verständlich." – Foreign Affairs "Unverzichtbar, um Russland und die Ukraine zu verstehen." – Simon Sebag Montefiore

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Seitenzahl: 1151

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Serhii Plokhy

Das Tor Europas

Die Geschichte der Ukraine

Aus dem Englischen von Anselm Bühling, Bernhard Jendricke, Stephan Kleiner, Stephan Pauli und Thomas Wollermann

Hoffmann und Campe

Gewidmet dem ukrainischen Volk

Editorische Notiz

Zur Schreibweise ukrainischer Eigennamen

Wir haben uns bewusst dafür entschieden, in dieser Geschichte der Ukraine die ukrainischen Namen für ukrainische Städte, Flüsse und Personen zu benutzen.

Viele Orts- und Flussnamen der Ukraine sind uns in Deutschland bislang vor allem in der russischen Schreibweise geläufig. Dies gilt etwa für die Hauptstadt, die wir als Kiew kennen, im Ukrainischen allerdings Kyjiw heißt. Ebenso wird der Dnjepr, der größte Fluss der Ukraine (und nach Wolga und Donau der drittlängste Europas), im Land selbst Dnipro genannt. Odesa oder Donbas werden mit einem S geschrieben, wobei dieses stimmlos gesprochen wird.

Manches mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen. Wir denken jedoch, dass dies nur konsequent ist, wenn man, dem Ansatz dieses Buches folgend, den Versuch unternimmt, die Geschichte des Landes und seiner Menschen in Deutschland von der Dominanz der russischen Geschichtsschreibung zu lösen.

Es sei hinzugefügt, dass Landschaftsbezeichnungen wie Bukowina, Wolhynien, Galizien etc. in der in Deutschland üblichen Schreibweise belassen wurden.

Die griechischen Siedlungen, 770 v. Chr. – 100 v. Chr.

Die Kyjiwer Rus, 980–1054

Quelle: Zenon E. Kohut, Bohdan Y. Nebesio und Myroslav Yurkevich, Historical Dictionary of Ukraine (Lanham, Toronto, Oxford 2005).

Die Fürstentümer der Rus, ca. 1100

Quelle: The Cambridge Encyclopedia of Russia and the Former Soviet Union (Cambridge 1994).

Die Goldene Horde, ca. 1300 Quelle: Paul Robert Magocsi, A History of Ukraine: The Land and Its People (Toronto 2010), S. 117.

Die Adelsrepublik Polen-Litauen vom 16. bis 18. Jahrhundert

Quelle: Wolodymyr Kubijowytsch und Danylo Husar Struk (Hrsg.), Encyclopedia of Ukraine, vol. IV (Toronto 1993).

Das Kosaken-Hetmanat, ca. 1650

Quelle: Mychajlo Hruschewskyj, History of Ukraine-Rus’, vol. IX, bk. 1 (Edmonton und Toronto 2005).

Das Hetmanat und die umliegenden Gebiete in den 1750er Jahren

Quelle: Zenon E. Kohut, Russian Centralism and Ukrainian Autonomy: Imperial Absorption of the Hetmanate, 1760s–1830s (Cambridge 1988), S. xiv.

Die Teilungen Polens

Quelle: Paul Robert Magocsi, A History of Ukraine: The Land and Its People (Toronto 2010), S. 319.

Die sowjetische Ukraine Quelle: Wolodymyr Kubijowytsch und Danylo Husar Struk (Hrsg.), Encyclopedia of Ukraine, Vol. 5 (Toronto 1993), S. 441.

Die Ukraine bei Ausbruch des Krieges 2022

Vorwort

Dieses Buch wurde kurz nach Beginn des russisch-ukrainischen Krieges im Jahr 2014 geschrieben, der mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, der hybriden Kriegsführung im Donezbecken und der Bildung der beiden Marionettenstaaten Donezk und Luhansk durch Russland einherging. Im Jahr 2021 hatte ich die 2015 erschienene Originalausgabe dieses Buches bereits um ein Kapitel ergänzt, und ich war mir ziemlich sicher, dass für einige Zeit keine weitere Aktualisierung nötig sein würde. Das erwies sich als Irrtum.

Fast unmittelbar nach Erscheinen der Neuauflage setzten Entwicklungen ein, die meine ursprüngliche Zuversicht, dass das Buch auf absehbare Zeit aktuell bleiben würde, ins Wanken brachten. Im Juli 2021 veröffentlichte Wladimir Putin einen langen Essay mit dem Titel »Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer«, der dem Vernehmen nach von ihm selbst verfasst worden war. Darin wiederholte der russische Präsident seine altbekannte These, derzufolge eine ukrainische Nation gar nicht existiere, sondern Russen und Ukrainer ein einziges Volk bildeten.

Im Februar 2022 bemühte der russische Präsident erneut die Geschichte und behauptete in einer langen Fernsehansprache, die Ukraine als Staat sei ein künstliches Gebilde der Bolschewiki und insbesondere Lenins. Dies erwies sich nicht als bloße Geschichtslektion, sondern als Rechtfertigung für eine offiziell als »militärische Spezialoperation« bezeichnete Maßnahme – in Wirklichkeit eine massive, unprovozierte Invasion und ein erbarmungsloses, willkürliches Bombardement der Ukraine durch Flugzeuge und Artillerie.

Der Großangriff, der in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 begann, wurde von der Behauptung begleitet, Russen und Ukrainer seien ein einziges Volk, sowie von einer verfälschenden Darstellung der Ursprünge und der Geschichte der Ukraine, ihrer langen Tradition einer eigenständigen Identität und ihrer ebenso langen Geschichte des Widerstands gegen ausländische Besatzer. Die Kosten dieses Großangriffs an Menschenleben und Zerstörung sind gewaltig.

Putins »militärische Spezialoperation« scheiterte schon bald, was nicht nur ihre Planer, sondern auch Beobachter in aller Welt überraschte. Kyjiw fiel keineswegs, wie vorhergesagt, binnen 72 Stunden, der ukrainische Präsident floh nicht außer Landes, obwohl ihm dafür Hilfe angeboten wurde, und die ukrainischen Streitkräfte, über die die Welt nur wenig wusste, leisteten erbitterte Gegenwehr und zwangen die Russen zum Rückzug aus der Region Kyjiw und der Nordukraine. Nicht nur Ukrainer, auch ethnische Russen und Russischsprachige in vorübergehend besetzten Städten und Dörfern der Südukraine marschierten unbewaffnet und mit ukrainischen Fahnen in Händen den russischen Panzern entgegen. Die Menschen in der Ukraine schlossen sich über ethnische, sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg zusammen, um ihren demokratischen Staat zu verteidigen, und der jüdische Präsident des Landes wurde zu einem weltweiten Symbol für die Widerstandskraft und den Mut der Ukraine.

Kann die Geschichte erklären, was heute in der Ukraine vor sich geht? Sie kann auf jeden Fall die Wurzeln der gegenwärtigen Entwicklungen aufzeigen und, so hoffe ich, dazu beitragen, künftige Entwicklungen zu erkennen. Die Ukraine, erst vor kurzem ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt, hat eine lange, dramatische und faszinierende Geschichte, die oft von den großen Narrativen der Imperien, die das Land jahrhundertelang beherrschten, überlagert wird. Holt man diese Geschichte unter den Trümmern der imperialen Unterdrückung und der entstellenden Darstellungen hervor, lässt sich die demokratische und europäische Ausrichtung der modernen ukrainischen Gesellschaft erkennen.

Die Ukraine, die größte postsowjetische Republik nach Russland und nun das Ziel russischer Aggression, war schon lange vor Beginn des derzeitigen Krieges ein Schlachtfeld. Im Gegensatz zu ihren ostslawischen Nachbarn und heutigen Erzfeinden Russland und Belarus erschuf und pflegte die Ukraine nach ihrer Unabhängigkeit eine demokratische politische Kultur gemäß den Forderungen ihrer aktiven Zivilgesellschaft. Nun aber ist sie von einem diktatorischen, hypernationalistischen Russland bedroht, das sein Imperium wiedererrichten und nicht nur die Staatlichkeit, Bevölkerung, Wirtschaft, Infrastruktur, Geschichte und Kultur, sondern sogar die Idee der Ukraine selbst auslöschen will.

Die große Aufmerksamkeit, mit der die Weltöffentlichkeit die russische Aggression gegen die Ukraine verfolgt, ist der Tatsache geschuldet, dass hier ein exemplarischer Kampf ausgefochten wird – auf der einen Seite die Länder, die für eine auf demokratischen Regeln basierende internationale Ordnung mit ihren Grundprinzipien der Souveränität und territorialen Integrität der Nationalstaaten eintreten, auf der anderen Seite die antidemokratischen Kräfte, die diese Ordnung zerstören wollen. Das Bestreben des Putin-Regimes, Gebiete mit beträchtlicher russischer oder russischsprachiger Bevölkerung zu annektieren, um sie in die »russische Welt« zu zwingen, erinnert fatal an den Traum der Nazis von einem Großdeutschland und ihre Methoden. Der Angriff auf die Ukraine als Ganzes mutet tatsächlich auch wie die Wiederkehr der imperialen Kriege der Vergangenheit an.

Diese Parallelen zeigen, wie wichtig die ukrainische Geschichte für das Verständnis der heutigen Welt ist, vor allem aber für das Verständnis der Entwicklungen in der Ukraine selbst. Der Exkurs in die ukrainische Geschichte ermöglicht es, die Ursprünge der ukrainischen Identität zu erkunden und zu erkennen, wie die Ukrainer trotz der Spaltungen – aufgezwungen von den verschiedenen Imperien, die ihr Land nicht nur jahrzehnte-, sondern jahrhundertelang beherrschten – zu einer Nation zusammenwuchsen. Viele Gegebenheiten des gegenwärtigen Krieges lassen sich aus der Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert verstehen, insbesondere den umfangreichen und heftigen Kämpfen auf ukrainischem Territorium in den beiden Weltkriegen. Ebenso erklärt sich die Widerstandskraft, mit der die Ukrainer der russischen Aggression im Jahr 2022 begegnen, letztlich aus der Geschichte der unabhängigen Ukraine.

Die Veränderungen in der ukrainischen Gesellschaft seit dem Euromaidan von 2014 – der »Revolution der Würde«, wie dieses Ereignis in der Ukraine genannt wird – und dem anschließenden russischen Angriff auf die Krim sowie den Donbas sind die wichtigsten Faktoren, die den immensen Widerstand des ukrainischen Volkes gegen die russische Aggression im Jahr 2022 erklären. Das alte Sprichwort, dass Generäle einen neuen Krieg so planen, wie sie den vorherigen geführt haben, hat sich dieses Jahr bewahrheitet. Die russischen Angreifer in der Ukraine erwarteten, das Land vorzufinden, das sie 2014 angegriffen hatten, aber sie trafen auf ein ganz anderes. Von der Frage, wie und warum diese neue Gesellschaft entstanden ist, handelt das letzte Kapitel dieses Buches, das in der ursprünglichen Ausgabe natürlich nicht enthalten war.

Als es nun an die Veröffentlichung dieser deutschen Ausgabe ging, war ich mir mit dem Verlag einig, dass es nur eine begrenzte Anzahl von Bearbeitungen und Änderungen in den letzten Kapiteln und im Nachwort des Buches geben sollte. Die Hauptargumente, mit denen ich die Bedeutung der Geschichte für das Verständnis der ersten Phase des Krieges 2014/2015 verdeutlichte, haben nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt und bieten nun eine Perspektive für die Entwicklungen des Jahres 2022. Die Zurückweisung imperialer Dominanz, der Aufbau einer Nation, die Schaffung einer auf liberal-demokratischen Werten basierenden Gesellschaft und die Integration in Europa bleiben die grundlegenden Faktoren für die langfristige Entwicklung der Ukraine.

 

Serhii Plokhy

Wien, 7. Juni 2022

Einleitung

Die Ukrainer können vermutlich ebenso zu Recht mit ihrer Rolle bei der Veränderung der Welt prahlen wie die Schotten und andere Nationen, über die es in Büchern heißt, sie hätten den Lauf der Menschheitsgeschichte geprägt. Als die ukrainischen Bürger im Dezember 1991 massenhaft an den Urnen für ihre UnabhängigkeitUkraineUnabhängigkeit stimmten, beförderten sie damit auch die mächtige Sowjetunion in den Mülleimer der Geschichte. Die Ereignisse in der Ukraine hatten damals große internationale Auswirkungen und veränderten tatsächlich den Lauf der Geschichte: Eine Woche nach dem ukrainischen ReferendumReferendum (1991) löste sich die SowjetunionSowjetunionEnde der auf, und US-Präsident George H.W. BushBush, George H. W. erklärte den endgültigen Sieg des Westens nach dem langen und aufreibenden Kalten KriegKalter Krieg.

Das nächste Mal sah die Welt die Ukraine im November 2004 auf den Fernsehbildschirmen, als feierlich in Orange gekleidete Menschen in Massen die Plätze und Straßen von KyjiwKyjiwOrange Revolution (2004) füllten, faire WahlenWahlen forderten und ihren Willen bekamen. Die »Orange Revolution« war Namensgeberin einer Reihe von »farbigen Revolutionen«, die autoritäre Regime von Serbien bis zum Libanon und von Georgien bis Kirgistan erschütterten. Die farbigen Revolutionen veränderten zwar nicht die postsowjetische Welt, hinterließen aber ein bleibendes Vermächtnis und die Hoffnung, dass sie sich eines Tages ändern würde. Im November und Dezember 2013 erschienen die Ukrainer abermals in den Fernsehnachrichten weltweit, als sie erneut auf die Straßen von Kyjiw strömten, diesmal, um eine engere Anbindung an die Europäische Union zu unterstützen. In einer Zeit, in der die Begeisterung für die EU in ihren Mitgliedsländern auf einen Tiefpunkt sank, überraschte und inspirierte die Bereitschaft der Ukrainer, bei Minusgraden Tage, Wochen und Monate auf der Straße auszuharren, die Bürger in West- und Mitteleuropa.

Die Ereignisse in der Ukraine nahmen Anfang 2014 eine unerwartete und tragische Wendung, als eine Konfrontation zwischen den Demonstranten und den Regierungstruppen die fast straßenfestartige Atmosphäre der Proteste gewaltsam beendete. Vor laufenden Fernsehkameras setzten Bereitschaftspolizei und Scharfschützen der Regierung scharfe Munition ein und verwundeten und töteten im Februar 2014 Dutzende proeuropäische Demonstranten. Diese Bilder schockierten die Welt. Gleiches gilt für die russische Annexion der KrimKrim im März 2014 und später in jenem Frühjahr für Moskaus hybride Kriegsführung in der ostukrainischen Region DonbasDonbas. Im Juli sorgte der Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeugs mit fast 300 Menschen an Bord durch prorussische Separatisten dafür, dass aus dem russisch-ukrainischen Konflikt ein wahrhaft internationaler wurde. Die Entwicklungen in der Ukraine hatten erhebliche Auswirkungen auf das Geschehen in Europa und der Welt und veranlassten Politiker, von einem »Kampf um die Zukunft Europas« und einer Rückkehr des Kalten KriegesKalter Krieg in genau jenem Teil der Welt zu sprechen, in dem er 1991 angeblich beendet worden war.

Was hat die Ukraine-Krise ausgelöst? Welche Rolle spielt die Geschichte bei diesen Ereignissen? Was unterscheidet die Ukrainer von den Russen? Wer hat Anspruch auf die KrimKrim und auf die Ostukraine? Warum hat das, was in der Ukraine geschieht, große internationale Auswirkungen? Diese Fragen, die in den letzten Jahren immer wieder gestellt wurden, verdienen eine umfassende Antwort. Um die den aktuellen Ereignissen in der Ukraine zugrunde liegenden Tendenzen und ihre Auswirkungen auf die Welt zu verstehen, muss man bis zu ihren Wurzeln zurückgehen. Das ist, ganz allgemein gesprochen, die Hauptaufgabe dieses Buchs, das ich in der Hoffnung geschrieben habe, die Geschichte möge Einblicke in die Gegenwart geben und dadurch die Zukunft beeinflussen. Mag es auch schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, den Ausgang und die langfristigen Folgen der gegenwärtigen Ukraine-Krise oder die Zukunft der Ukraine als Nation vorherzusagen, so kann uns die Reise in die Geschichte doch helfen, der Flut der täglichen Nachrichten einen Sinn zu geben, und es uns ermöglichen, auf die Ereignisse mit Bedacht zu reagieren und so ihren Ausgang zu gestalten.

In diesem Buch wird die lange Geschichte der Ukraine von den Zeiten HerodotsHerodot bis zum Untergang der UDSSRSowjetunion und zum aktuellen russisch-ukrainischen Konflikt dargelegt. Doch wie soll man mehr als zwei Jahrtausende Geschichte eines Landes von der Größe Frankreichs, das heute fast 46 Millionen Einwohner zählt und im Laufe seines Bestehens Abermillionen hatte, auf ein paar Hundert Seiten zusammenfassen? Man muss eine Auswahl treffen, wie es Historiker schon immer getan haben. Ihre Ansätze unterscheiden sich jedoch. Der Begründer der modernen ukrainischen Geschichtsschreibung, Mychajlo HruschewskyjHruschewskyj, Mychajlo (1866–1934), der selbst in diesem Buch vorkommen wird und nach dem der Lehrstuhl für ukrainische Geschichte an der Harvard University benannt ist, betrachtete sein Forschungsfeld als die Geschichte einer Nation, die seit Menschengedenken existierte und Phasen der Blüte, des Niedergangs und des Wiederauflebens kannte, wobei Letzteres in der Schaffung der ukrainischen Eigenstaatlichkeit im Verlauf und in der Folge des Ersten WeltkriegsWeltkrieg (Erster) gipfelte.

HruschewskyjHruschewskyj, Mychajlo erhob die ukrainische Geschichte zu einem eigenständigen Forschungsgebiet, doch viele seiner Kritiker und Nachfolger haben seinen Ansatz infrage gestellt. Während HruschewskyjsHruschewskyj, Mychajlo Schüler den Schwerpunkt auf die Geschichte der ukrainischen Eigenstaatlichkeit legten, erzählten sowjetische Historiker die Geschichte der Ukraine als eine des Klassenkampfes; manche westliche Autoren wiederum hoben den multiethnischen Charakter der Ukraine hervor, und heute wenden sich immer mehr Wissenschaftler einem transnationalen Ansatz zu. Diese letztgenannten Trends in der Geschichtsschreibung der Ukraine und anderer Nationen haben meine eigene Darstellung beeinflusst. Außerdem habe ich mir die jüngste kulturelle Wende in der Geschichtswissenschaft und der Forschung zur Geschichte von Identitäten zunutze gemacht. Die Fragen, die ich stelle, sind unmissverständlich gegenwartsbezogen, aber ich tue mein Bestes, um moderne Identitäten, Loyalitäten, Gedanken, Motivationen und Empfindungen nicht auf die Vergangenheit rückzuprojizieren.

Beim Titel des Buches, Das Tor Europas, handelt es sich natürlich um eine Metapher, allerdings um keine, die man auf die leichte Schulter nehmen oder als Marketing-Gag abtun sollte. Europa ist ein wichtiger Teil der ukrainischen Geschichte, so wie die Ukraine ein Teil der europäischen Geschichte ist. Am westlichen Rand der eurasischen Steppe gelegen, stellt die Ukraine seit Jahrhunderten ein Tor zu Europa dar. War das Tor zuweilen aufgrund von Kriegen und Konflikten geschlossen, half die Ukraine, Invasionen aus dem Osten oder dem Westen abzuwehren. War es jedoch offen wie zumeist im Laufe der ukrainischen Geschichte, diente das Land als Brücke zwischen Europa und Eurasien und erleichterte den Austausch von Menschen, Waren und Ideen. Über die Jahrhunderte hinweg war die Ukraine auch ein Treffpunkt (und ein Schlachtfeld) verschiedener Reiche, von den Römern bis zu den OsmanenOsmanen, von den HabsburgernHabsburger bis zu den Romanows. Im 18. Jahrhundert wurde die Ukraine von Sankt Petersburg und Wien, Warschau und Istanbul aus regiert; im 19. Jahrhundert hatten nur noch die Russen und die Österreicher dort das Sagen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschte allein Moskau über den größten Teil der ukrainischen Gebiete. Jedes dieser Reiche beanspruchte Land und Beutegut, hinterließ seine Spuren in der Landschaft und im Charakter der Bevölkerung und trug dazu bei, ihre einzigartige »Grenzidentität« und ihr besonderes Ethos zu formen.

Das Nationale ist für mich eine wichtige – wenngleich nicht dominante – Analysekategorie und ein Element der Geschichte, das zusammen mit der sich ständig verändernden Idee von Europa den Charakter meines Narrativs bestimmt. Dieses Buch erzählt die Geschichte der Ukraine innerhalb der von den Ethnographen und KartographenKartographie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts definierten Grenzen, die oft (aber nicht immer) mit den Grenzen des heutigen ukrainischen Staates übereinstimmten. Es zeichnet die Entwicklung der Ideen und Identitäten nach, die diese Gebiete miteinander verbinden, von der Zeit des mittelalterlichen Kyjiwer Staates, der in der Geschichtsschreibung als »Kyjiwer RusKyjiwer Rus« bezeichnet wird, bis zum Aufkommen des modernen NationalismusNationalismus, und erläutert die Ursprünge des modernen ukrainischen Staates und seiner Nation. Im Mittelpunkt stehen dabei die Ukrainer selbst als größte demographische Gruppe, die sich im Laufe der Zeit als wichtigste Kraft bei der Schaffung der heutigen Nation und des heutigen Staates erwiesen hat. Mein Buch beschäftigt sich aber auch mit den MinderheitenMinderheiten in der Ukraine, insbesondere mit den Polen, Juden und Russen, und behandelt die moderne multiethnische und multikulturelle ukrainische Nation als einen nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozess. Die ukrainische KulturKulturkulturelle Identität der Ukraine existierte stets in einem gemeinsamen Raum mit anderen Kulturen und musste sich schon früh unter diesen »anderen« zurechtfinden. Die Fähigkeit der ukrainischen Gesellschaft, innere und äußere Grenzen zu überschreiten und die durch sie geschaffenen Identitäten zu verarbeiten, ist das Hauptmerkmal der Geschichte der Ukraine, wie sie in diesem Buch dargestellt wird.

Man könnte die Geschichte entlang der politischen Geschehnisse auf internationaler wie auf nationaler Ebene erzählen, doch beim Verfassen dieses Buches schienen mir Geographie, Ökologie und Kultur die nachhaltigsten und damit langfristig prägendsten Faktoren zu sein. Die heutige Ukraine ist, aus der Perspektive der lang anhaltenden kulturellen Trends betrachtet, ein Produkt der Interaktion zweier sich verschiebender Grenzen, von denen die eine durch die Trennlinie zwischen der eurasischen Steppe und den osteuropäischen Parklandschaften und die andere durch die Spaltung zwischen dem östlichen und dem westlichen Christentum definiert wird. Die erstgenannte Grenze war auch jene zwischen den sesshaften und den nomadischen Völkern und schließlich zwischen dem ChristentumChristentum und dem IslamIslam. Die zweite geht auf die Teilung des Römischen ReichsRömisches Reich zwischen Rom und Konstantinopel zurück und markiert die bis heute bestehenden Unterschiede in der politischen Kultur zwischen dem Osten und dem Westen Europas. Die Verschiebung dieser Grenzen im Laufe der Jahrhunderte hat eine Reihe einzigartiger kultureller Merkmale hervorgebracht, die das Fundament der heutigen ukrainischen IdentitätUkraineIdentität bilden.

Man kann die Geschichte der Ukraine nicht erzählen, ohne auf die Geschichte ihrer Regionen einzugehen. Der kulturelleKulturkulturelle Identität der Ukraine und soziale Raum, der durch die Grenzverschiebungen entstanden ist, war nicht homogen. Als sich die staatlichen und imperialen Grenzen über das von Ukrainern bevölkerte Territorium hinweg bewegten, entstanden unterschiedliche kulturelleKulturkulturelle Identität der Ukraine Räume, die schließlich die Grundlagen der ukrainischenUkrainekulturelle Vielfalt Regionen bildeten – das ehemals ungarisch beherrschte TranskarpatienTranskarpatien, das ehemals österreichische GalizienGalizienÖsterreichisch Galizien, die polnisch dominierten Regionen PodolienPodolien und WolhynienWolhynien, das kosakische linke Ufer des DniproDnipro mit seinem Unterlauf, die Sloboda-UkraineUkraineSloboda-Ukraine und schließlich die Schwarzmeerküste und das Donezbecken, die in der russischen Kaiserzeit kolonisiert wurden. Im Unterschied zu den meisten meiner Vorgänger versuche ich, die Geschichte der verschiedenen Regionen (etwa der russisch und österreichisch beherrschten Teile der Ukraine) nicht in getrennten Abschnitten zu behandeln, sondern sie gemeinsam zu betrachten und ihre Entwicklung innerhalb eines bestimmten Zeitraums aus einer vergleichenden Perspektive darzustellen.

Abschließend noch ein paar Worte zur Terminologie. Die Vorfahren der modernen Ukrainer lebten in Dutzenden von vormodernen und modernen Fürstentümern, Königreichen und Imperien, und im Laufe der Zeit nahmen sie verschiedene Namen und Identitäten an. Die beiden wichtigsten Begriffe, mit denen sie ihr Land bezeichneten, waren »Rus« und »Ukraine«. (Im kyrillischen Alphabet wird Rus mit Pycь geschrieben: Dem letzten Buchstaben folgt ein Weichheitszeichen, das die palatalisierte Aussprache des vorangehenden Konsonanten anzeigt – die deutsche wissenschaftliche Transkription wäre Rus’.) Der Begriff »Rus«, den die WikingerWikinger im 9. und 10. Jahrhundert in die Region brachten, wurde von den Bewohnern der Kyjiwer RusKyjiwer Rus übernommen, als die Wikingerfürsten und -krieger bei ihnen Einzug hielten und slawisiert wurden. Die Vorfahren der heutigen Ukrainer, Russen und Belarussen adaptierten den Namen »Rus« in verschiedenen Ausprägungen, vom skandinavischen/slawischen »Rus« bis zum hellenisierten »Rossija«. Im 18. Jahrhundert übernahm das russische Zarenreich letztere Form als offiziellen Namen seines Staates.

Für die Ukrainer gab es je nach Epoche und Region, in der sie lebten, unterschiedliche Bezeichnungen: In Polen hießen sie Rusinen, im HabsburgerreichHabsburgerRuthenenRusslandRuthenen und im Russischen Reich Kleinrussen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts beschlossen die ukrainischen Nationalisten, der Verwirrung ein Ende zu setzen, indem sie auf den Namen »Rus« verzichteten und sich klar vom Rest der ostslawischen Welt, insbesondere von den Russen, abgrenzten und sich als »Ukrainer« bzw. als »ukrainisch« titulierten. So definierten sie fortan ihr Land und ihre ethnische Gruppe sowohl im Russischen Reich als auch in Österreich-Ungarn. Der Name »Ukraine« hat seinen Ursprung im Mittelalter und bezeichnete in der frühen Neuzeit den Kosakenstaat in der Dnipro-UkraineUkraineDnipro-Ukraine. In der kollektiven Vorstellung der Aktivisten des 19. Jahrhunderts galten die KosakenKosaken, von denen die meisten lokaler Herkunft waren, als Inbegriff der Ukrainer. Um die Vergangenheit der Rus mit der ukrainischen Zukunft zu verbinden, nannte Mychajlo HruschewskyjHruschewskyj, Mychajlo sein zehnbändiges Hauptwerk Geschichte der Ukraine-RusGeschichte der Ukraine-Rus (Hruschewskyj). In der Tat muss jeder, der heute über die ukrainische Vergangenheit schreibt, zwei oder sogar mehr Begriffe verwenden, um die Vorfahren der modernen Ukrainer zu benennen.

In diesem Buch gebrauche ich »Rus« vorwiegend, aber nicht ausschließlich in Bezug auf die mittelalterliche Zeit, »RuthenenRusslandRuthenen«, um die Ukrainer der frühen Neuzeit zu bezeichnen, und »Ukrainer«, wenn ich über die Neuzeit schreibe. Seit der Gründung des unabhängigen ukrainischen Staates im Jahr 1991 werden alle seine Bürger als »Ukrainer« bezeichnet, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Dieser Sprachgebrauch spiegelt die aktuellen Konventionen der akademischen Geschichtsschreibung wider, und obwohl er für eine gewisse Komplexität sorgt, hoffe ich, dass er nicht zu Verwirrung führt.

»Kommt, und ihr werdet sehen«, schrieb der anonyme Autor der Geschichte der RusGeschichte der Rus (Istorija russow), eines der Gründungswerke der modernen ukrainischen Historiographie, am Ende seines Vorworts. Ich kann meine Ausführungen mit keiner besseren Einladung abschließen.

IAn der pontischen Grenze

Kapitel 1Der Rand der Welt

Der erste Chronist der Ukraine war kein Geringerer als HerodotHerodot, der Vater der Geschichtsschreibung. Diese Ehre ließ er sonst nur Ländern und Völkern der mediterranen Welt zuteilwerden. Die Ukraine – ein Gebiet aus Steppen, Bergen und Wäldern nördlich des Schwarzen Meers, das die GriechenGriechen (Antike) als Pontos euxeinos (gastliches Meer, von den RömernRömisches Reich zu Pontus euxinus latinisiert) bezeichneten – war ein wichtiger Teil dieser Welt und von ganz besonderer Bedeutung. Den Mittelpunkt der Welt des HerodotHerodot bildeten die Stadtstaaten des antiken GriechenlandsGriechen (Antike); von dort erstreckte sie sich südwärts bis nach Ägypten und im Norden bis zur Krim und zu den pontischen Steppenpontische Steppe. War Ägypten ein Land der antiken Kultur und Philosophie, die es zu studieren und nachzuahmen galt, so war das Gebiet der heutigen Ukraine im Wesentlichen eine Grenzregion, wo die griechische Zivilisation auf ihr barbarisches Alter Ego traf. Sie war die erste Grenze einer politischen und kulturellen Sphäre, die später als die westliche Welt bezeichnet werden sollte. Dort begann der Westen, sich selbst und sein Anderes zu definieren.

HerodotHerodot, im Griechischen als Hēródotos bekannt, stammte aus Halikarnassos, einer griechischen Stadt in der heutigen Türkei. Im 5. Jahrhundert v. Chr., als er lebte, schrieb und seine Historien vortrug, gehörte sein Geburtsort zum Perserreich. HerodotHerodotHistorien verbrachte einen Großteil seiner Zeit in Athen, lebte aber auch in Süditalien und bereiste das Mittelmeer und den Nahen Osten, unter anderem Ägypten und Babylon. Als Bewunderer der athenischen DemokratieDemokratie schrieb er in ionischem Griechisch, doch seine Interessen waren so weit gespannt, wie sie zu dieser Zeit nur sein konnten. Seine später in neun Bücher unterteilten HistorienHerodotHistorien befassten sich mit den Ursprüngen der griechisch-persischen Kriege, die 499 begannen und bis Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. andauerten. Einen wesentlichen Teil dieser Zeit erlebte HerodotHerodot selbst, und er erforschte das Thema noch dreißig Jahre lang nach dem Ende der Kriege im Jahr 449. Für HerodotHerodot war dieser Konflikt ein epochaler Kampf zwischen Freiheit und Sklaverei – der Freiheit, wie sie die GriechenGriechen (Antike) praktizierten, und der Sklaverei der Perser. Obwohl seine politischen und ideologischen Sympathien eindeutig den GriechenGriechen (Antike) galten, wollte er in seiner Geschichte beiden Seiten gerecht werden. Nach seinen eigenen Worten war ihm daran gelegen, »die Erinnerung an die Vergangenheit dadurch zu bewahren, dass man die erstaunlichen Errungenschaften sowohl der GriechenGriechen (Antike) als auch der Barbaren festhält«.

HerodotsHerodot Interesse am »barbarischen« Teil der Geschichte lenkte seinen Blick auf die pontischen Steppenpontische Steppe. Im Jahr 512 v. Chr., dreizehn Jahre vor Beginn der Kriege, fiel Dareios der GroßeDareios I. (der Große), der bei weitem mächtigste Herrscher des Perserreichs, in die Region ein, um sich an den Skythen zu rächen, die ihn genarrt hatten. Die SkythenkönigeSkythen, nomadische Herrscher über ein riesiges Gebiet nördlich des Schwarzen Meers, hatten DareiosDareios I. (der Große) verleitet, zur Verfolgung ihres hoch mobilen Heers den langen Weg von der DonauDonau bis zum DonDon zu marschieren, ohne sich ihm jedoch in einer Schlacht zu stellen. Das war eine schwere Demütigung für einen Herrscher, der anderthalb Jahrzehnte später eine große Bedrohung für die griechische Welt darstellen sollte. In seinen Historien scheute HerodotHerodotHistorien keine Mühe, alles zu berichten, was er über die geheimnisvollen SkythenSkythen und ihr Land, ihre Sitten und ihre Gesellschaft wusste oder gehört hatte. Trotz seiner ausgedehnten Reisen scheint er die Region nie selbst bereist zu haben, sodass er sich auf die Erzählungen anderer verlassen musste. Doch seine detailreiche Beschreibung der SkythenSkythen und der von ihnen beherrschten Länder und Völker machte ihn nicht nur zum ersten Geschichtsschreiber, sondern auch zum ersten Geographen und Ethnographen der Ukraine.

 

Das Land nördlich des Schwarzen MeersSchwarzes Meer wurde in der Zeit um 45000 v. Chr. erstmals von Neandertalern, vermutlich Mammutjägern, besiedelt, wie wir aus archäologischen Ausgrabungen ihrer Wohnstätten wissen. Im 5. Jahrtausend v. Chr. zogen Angehörige der sogenannten Cucuteni-Trypillja-KulturCucuteni-Tripolje-Kultur in das Waldsteppen-Grenzgebiet zwischen DonauDonau und DniproDnipro, betrieben dort Viehzucht und Ackerbau, errichteten große Siedlungen und stellten Tonstatuen sowie bunte Keramik her. Etwa 3500 Jahre v. Chr. domestizierten die Menschen in den pontischen Steppenpontische Steppe das Pferd und brachten ein Jahrtausend später die indogermanischen Sprachen nach Mitteleuropa.

Bevor HerodotHerodot begann, Teile seines Werks auf öffentlichen Festen in Athen vorzutragen, wussten die meisten GriechenGriechen (Antike) nur sehr wenig über das Gebiet nördlich des Schwarzen MeersSchwarzes Meer. Sie hielten es für ein Land der Wilden und für einen Spielplatz der Götter. Manche glaubten, Achilles, der Held des Trojanischen Krieges und der Ilias von Homer, habe dort auf einer Insel an der Mündung der DonauDonau oder des DniproDnipro seine letzte Ruhe gefunden. Auch die Amazonen, die Kriegerinnen der griechischen Mythologie, die sich die rechte Brust abschnitten, um ihren Bogen besser spannen zu können, sollen dort gelebt haben, angeblich nahe dem DonDon. Und dann gab es noch die wilden Taurer auf der KrimKrim, einer Halbinsel, die die GriechenGriechen (Antike) Taurica nannten. Ihre Fürstin Iphigenia zeigte kein Erbarmen mit Reisenden, die das Pech hatten, vor den Stürmen des Schwarzen MeersSchwarzes Meer an den gebirgigen Küsten der KrimKrim Zuflucht zu suchen. Sie opferte sie der Göttin Artemis, die sie vor dem von ihrem Vater Agamemnon verhängten Todesurteil bewahrt hatte. Nur wenige wollten in so gefährliche Gegenden reisen wie jene, die an das »gastliche Meer« angrenzten, zumal dieses Meer sehr schwer zu befahren und für seine heftigen Stürme berüchtigt war, die wie aus dem Nichts auftraten.

Die GriechenGriechen (Antike) hörten zum ersten Mal von den Ländern und Völkern nördlich des Schwarzen MeersSchwarzes Meer durch das Kriegervolk der KimmererKimmerer, das in Anatolien auftauchte, nachdem die SkythenSkythen sie im 8. Jahrhundert v. Chr. aus den pontischen Steppenpontische Steppe vertrieben hatten. Die nomadisch lebenden KimmererKimmerer zogen zunächst in den Kaukasus und später nach Süden in Richtung Kleinasien, wo sie auf mediterrane Kulturen mit einer langen Tradition der Sesshaftigkeit und kultureller Errungenschaften trafen. Dort galten die Nomadenkrieger als Inbegriff der Barbaren, ein Ruf, der sogar in der BibelBibel festgehalten wurde, wo der Prophet Jeremia sie wie folgt beschreibt: »Sie führen Bogen und Schwert, sind grausam und ohne Erbarmen. Sie brausen daher wie ein ungestümes Meer und reiten auf Rossen, gerüstet als Kriegsleute, gegen dich.« Das Bild der KimmererKimmerer als wilde Krieger hat auch in die moderne Populärkultur Einzug gehalten. Arnold Schwarzenegger verkörperte 1982 in einem erfolgreichen Hollywoodfilm den Kimmerer-König Conan den Barbaren – eine fiktive Figur, die sich 1932 der Schriftsteller Robert E. Howard ausgedacht hatte.

Die KrimKrim und die Nordküste des Schwarzen MeersSchwarzes Meer wurden im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. Teil der griechischen Welt, nachdem die KimmererKimmerer gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen. Daraufhin entstanden in der Region griechische Kolonien, die meisten gegründet von Siedlern aus MiletMilet, einem der mächtigsten griechischen Staaten jener Zeit. Sinope an der Südküste des Schwarzen Meers, ebenfalls eine Gründung von Miletern, entwickelte sich zu einer eigenständigen Mutterkolonie. Zu den Kolonien am Nordufer gehörten Panticapaeum in der Nähe der heutigen Stadt Kertsch, Theodosia an der Stelle des heutigen Feodossija und Chersonesos unweit der heutigen Stadt Sewastopol, alle drei auf der KrimKrim gelegen. Die mit Abstand bekannteste miletische Kolonie war jedoch OlbiaOlbia (antike griech. Stadt) am Zusammenfluss des Südlichen Buh mit dem noch größeren Dnipro, die vereint ins Schwarze MeerSchwarzes Meer münden. Die Stadt verfügte über Steinmauern, eine Akropolis und einen Tempel für Apollo Delphinios. Nach Angaben von Archäologen umfasste OlbiaOlbia (antike griech. Stadt) in seiner Blütezeit mehr als 48 Hektar. Bis zu 10000 Menschen lebten in der Stadt, die eine demokratische Regierungsform pflegte und vertraglich geregelte Beziehungen mit ihrer Mutterstadt MiletMilet unterhielt.

OlbiasOlbia (antike griech. Stadt) Wohlstand wie auch der anderer griechischer Städte und Emporien (Handelsplätze) in der Region hing von guten Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung in den pontischen Steppenpontische Steppe ab. Zur Zeit der Stadtgründung und während ihrer Blüte im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. handelte es sich bei den Einheimischen um SkythenSkythen, einen Zusammenschluss von Stämmen iranischen Ursprungs. Die GriechenGriechen (Antike) von OlbiaOlbia (antike griech. Stadt) und ihre Nachbarn lebten nicht nur Seite an Seite und trieben Handel, sondern vermischten sich auch, sodass eine große Bevölkerung mit halb griechischen, halb »barbarischen« Wurzeln entstand, in deren Bräuchen sich griechische und lokale Traditionen verbanden. OlbiasOlbia (antike griech. Stadt) Kauf- und Seeleute verschifften GetreideGetreide, Trockenfisch und SklavenSklavenhandel nach MiletMilet und in andere Teile GriechenlandsGriechen (Antike) und brachten von dort Wein, Olivenöl und griechische Handwerksprodukte mit, darunter Textilien und Metallwaren, die sie auf den lokalen Märkten feilboten. Es gab auch Luxusartikel aus Gold, wie wir aus Ausgrabungen von Hügelgräbern skythischer Könige wissen. Die Steppen der Südukraine sind voll von solchen Begräbnisstätten, die heute größtenteils zu kleinen Erdhaufen zusammengeschrumpft sind und im Ukrainischen als kurhan bezeichnet werden.

 

Das bei weitem eindrucksvollste Stück des sogenannten Skythengoldes, ein dreiteiliges PektoralePektorale (Skythengold), wurde 1971 in der Südukraine entdeckt und ist heute im Ukrainischen Museum für historische Schätze in KyjiwKyjiw zu bewundern. Das wahrscheinlich aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. stammende PektoralePektorale (Skythengold), das einst die Brust eines Skythenkönigs zierte, gibt einen Einblick in das Innenleben der skythischen Gesellschaft und Wirtschaft. In seiner Mitte sind zwei kniende, bärtige SkythenSkythen dargestellt, die einen Schafspelzmantel halten. Angesichts des Materials, aus dem das gesamte PektoralePektorale (Skythengold) besteht, erinnert dies an das Goldene Vlies der Argonauten – ein Symbol für Autorität und Königtum. Rechts und links der zentralen Szene befinden sich Abbildungen von domestizierten Tieren – Pferde, Kühe, Schafe und Ziegen. Daneben sind skythische Sklaven zu sehen, von denen einer eine Kuh und ein anderer ein Mutterschaf melkt. Das PektoralePektorale (Skythengold) lässt kaum Zweifel daran, dass die SkythenSkythen in einer von Männern dominierten Gesellschaft von Steppenkriegern lebten, deren Wirtschaft auf der Viehzucht beruhte.

Während die Bilder von SkythenSkythen und domestizierten Tieren uns in die skythische Welt einführen, erzählen uns die auf dem PektoralePektorale (Skythengold) abgebildeten wilden Tiere mehr darüber, wie sich die GriechenGriechen (Antike) die äußerste Grenze ihrer Welt vorstellten, als über das wirkliche Leben in den pontischen Steppenpontische Steppe. Löwen und Panther jagen Wildschweine und Hirsche, während geflügelte Greife – die mächtigsten Tiere der griechischen Mythologie, halb Adler, halb Löwe – Pferde angreifen, mithin die wichtigsten Tiere der skythischen Lebensweise. Das PektoralePektorale (Skythengold) ist ein ideales Symbol nicht nur für den griechischen Kulturtransfer, sondern auch für die Interaktion der griechischen und skythischen Welt in den pontischen Steppenpontische Steppe.

Diese Verflechtung der KulturenKultur ermöglichte es HerodotHerodot, die Art von Informationen über das skythische Leben zu sammeln, die keine archäologische Ausgrabung liefern könnte. Der Gründungsmythos der SkythenSkythen gehört sicherlich in diese Kategorie. »Wie nun die Skythen sagen, sei das jüngste von allen ihr VolkSkythen«, schreibt HerodotHerodotHistorien in seinen Historien. Angeblich stammten sie von einem gewissen TargitaosTargitaos (Ahnherr der Skythen) ab, der drei Söhne hatte. »Zu der Zeit von deren Herrschaft seien aus dem Himmel goldene Geräte gekommen, ein Pflug, ein Joch, eine Streitaxt und eine Schale, und auf das skythische Land gefallen«, fährt HerodotHerodot in seiner Erzählung vom skythischen Gründungsmythos fort. Die beiden älteren Brüder versuchten, die buchstäblichen Himmelsgeschenke an sich zu nehmen, aber da schlugen aus ihnen Flammen, und erst dem jüngsten Bruder gelang es, sie aufzuheben und zu behalten. Er wurde sofort als oberster Herrscher des Reichs anerkannt und ließ den SkythenstammSkythen entstehen, der als die Königlichen Skythen bekannt wurde. Sie beherrschten die pontischen Steppenpontische Steppe und hüteten das Gold, das vom Himmel gefallen war. Die SkythenSkythen betrachteten sich offenbar als einheimische Bevölkerung, sonst hätten sie nicht behauptet, dass die Eltern ihres Gründers TargitaosTargitaos (Ahnherr der Skythen) ein Himmelsgott und eine Tochter des Borysthenes waren, der heute als DniproDnipro, Hauptfluss des Reichs, bekannt ist. Der Mythos lässt vermuten, dass die SkythenSkythen, obwohl sie von Nomaden regiert wurden, sich auch als Ackerbauern verstanden. Zu den Werkzeugen, die ihnen vom Himmel geschenkt wurden, gehörte nicht nur ein Joch, sondern auch ein Pflug, ein deutliches Zeichen für eine sesshafte Kultur.

HerodotHerodot beschrieb die SkythenSkythen als eine in Reiter und Ackerbauern aufgeteilte Gemeinschaft, die jeweils ihre eigene ökologische Nische in der nördlichen Schwarzmeerregion besetzten. Am rechten Ufer des Dnipro, von einem nach Süden fahrenden Schiff aus gesehen, direkt oberhalb der griechischen Kolonie OlbiaOlbia (antike griech. Stadt), von deren Einwohnern und Besuchern HerodotHerodot den größten Teil seines Wissens über die Region bezog, lokalisierte er einen Stamm namens Kallipeden, bei dem es sich vermutlich um die Nachkommen der Verbindung zwischen GriechenGriechen (Antike) und örtlichen SkythenSkythen handelte. Im Norden, entlang des Dnister und nördlich der von den Königlichen SkythenSkythen beherrschten Steppen, lebten die Alazonier, die »es in allem sonst ebenso halten wie die SkythenSkythen, sie bauen aber GetreideGetreide an und nehmen es zu sich, ebenso wie Zwiebeln, Knoblauch, Linsen und Hirse«. Nördlich der Alazonier, am rechten Ufer des DniproDnipro, lebten laut HerodotHerodot die skythischen Pflugleute, die GetreideGetreide für den Verkauf anbauten. Am linken Ufer des Flusses verortete er die skythischen Ackerbauern, auch Borysthener genannt. Diese Stämme würden sich deutlich von den SkythenSkythen im Süden unterscheiden, die die pontischen Steppenpontische Steppe bewohnten.

Für HerodotHerodot gehörten die Gebiete entlang des DniproDnipro zu den fruchtbarsten der Welt:

Der Borysthenes, nach dem Istros [Donau] der größte, ist unserer Meinung nach auch der ergiebigste nicht nur von den skythischen Flüssen, sondern auch von allen anderen mit Ausnahme des Nils in Ägypten; mit dem kann man ja keinen anderen Fluss vergleichen. Von den übrigen aber ist der Borysthenes der ergiebigste, der zudem die schönsten und bekömmlichsten Weiden für die Herden und entschieden die besten und meisten Fische aufweist; er bietet das süßeste Trinkwasser und fließt rein unter trüben Gewässern hin; die Saat wächst an ihm am besten, und das Gras ist, wo man nichts ansät, am fettestenGetreide.

Eine sehr zutreffende Beschreibung. Der schwarze Boden des DniproDniprobeckens gilt noch immer als einer der fruchtbarsten der Welt und brachte der heutigen Ukraine den Beinamen »Kornkammer EuropasUkraineKornkammer Europas« ein.

Die von Ackerbauern besiedelten Gebiete am mittleren DniproDniprowaren noch nicht das Ende des von HerodotHerodot beschriebenen Grenzlandes. Auch im Norden gab es Völker, über die nicht nur die GriechenGriechen (Antike) in den Kolonien, sondern auch die SkythenSkythen verschiedener Couleur wenig oder nichts wussten. Diese Völker bewohnten die äußerste Grenze. Am rechten Ufer des DniproDnipro wurden sie Neurier genannt; auf der linken Seite, weiter östlich und nördlich, bezeichnete man sie einfach als Kannibalen. HerodotHerodot konnte nicht viel über sie berichten, aber die Verortung der Neurier in den Prypjatsümpfen an der heutigen ukrainisch-belarussischen Grenze entspricht einer der möglichen Heimatregionen der antiken SlawenSlawen, in der einige der ältesten ukrainischen Dialekte zu finden sind.

Vertraut man HerodotHerodot und seinen Quellen, so war das SkythenreichSkythen ein Verbund ethnischer Gruppen und Kulturen, wobei die geographischen und die ökologischen Gegebenheiten den Platz jeder Gruppe in der Gesamtstruktur des Gemeinwesens und seiner Arbeitsteilung bestimmten. GriechenGriechen (Antike) und hellenisierte SkythenSkythen bewohnten die Küste und wirkten als Vermittler zwischen der mediterranen Welt GriechenlandsGriechen (Antike) und dem Hinterland, sowohl in Bezug auf den Handel als auch auf die KulturKulturmediterrane K.. Die wichtigsten Handelsprodukte – GetreideGetreide und Trockenfisch sowie SklavenSklavenhandel – stammten aus den Parklandschaften oder den Waldsteppen. Um zu den Häfen am Schwarzen MeerSchwarzes Meer zu gelangen, mussten diese Waren, vor allem GetreideGetreide und SklavenSklavenhandel, die von den Königlichen SkythenSkythen bewohnten Steppen durchqueren. Somit kontrollierten sie den Handel und behielten dabei den Großteil der Erlöse für sich, wobei sie einen Teil ihres Goldschatzes in den Grabhügeln der Region hinterließen. Die von HerodotHerodot beschriebene Gliederung in Küste, Steppe und Wald wurde zu einer der wichtigsten Unterteilungen der ukrainischen Geschichte, die Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende überdauerte.

 

Die in den HerodotHistorienHistorien beschriebene vielschichtige skythische Welt ging im 3. Jahrhundert v. Chr. zu Ende. Die RömerRömisches Reich, die im 1. Jahrhundert v. Chr. die Kontrolle über die griechischen Kolonien im nördlichen Schwarzmeergebiet übernahmen und sie unter ihren Schutz stellten, bekamen es mit anderen Herrschern der Steppe zu tun.

Aus dem Osten traf ein neues Nomadenvolk ein, die SarmatenSarmaten (Nomaden). Sie besiegten, verdrängten und ersetzten schließlich die skythischen Reiter, die die Handelswege zwischen den landwirtschaftlichen Regionen und den griechischen Kolonien überwachten. Die Neuankömmlinge waren wie die SkythenSkythen iranischer Abstammung. HerodotHerodot, der sie östlich des DonDon verortete, berichtete von einer Legende, derzufolge sie von SkythenSkythen und Amazonenfrauen abstammten, die aus griechischer Gefangenschaft entkommen waren. Wie die SkythenSkythen setzten sich auch die SarmatenSarmaten (Nomaden) aus verschiedenen Stämmen zusammen und herrschten über eine Vielzahl von Völkern, darunter die RoxolanenRoxolanen (Nomaden), Alanen und JazygenJazygen (Nomaden). Die SarmatenSarmaten (Nomaden) kontrollierten die pontischen Steppenpontische Steppe ein halbes Jahrtausend lang, bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht dominierten sie über das gesamte Gebiet von der WolgaWolga im Osten bis zur Donau im Westen und drangen in Mitteleuropa bis zur Weichsel vor.

Die SarmatenSarmaten (Nomaden) waren eine nicht minder einschüchternde Macht in der Region, als es die SkythenSkythen gewesen waren, aber wir wissen viel weniger über sie. Das liegt vor allem daran, dass der Handel zwischen den griechischen Kolonien und dem ukrainischen Hinterland (und damit der Informationsfluss), der unter den SkythenSkythen floriert hatte, unter den SarmatenSarmaten (Nomaden) fast zum Erliegen kam. Sie vertrieben die SkythenSkythen auf die KrimKrim, wo die ehemaligen Herrscher des Reichs ein neues Königreich gründeten, das als Scythia Minor bekannt wurde. Die SkythenSkythen kontrollierten die Halbinsel und die nördlich an sie anschließenden Steppen, einschließlich der griechischen Kolonien. In der übrigen pontischen Steppepontische Steppe dominierten die SarmatenSarmaten (Nomaden), die aber keinen Zugang zu den Kolonien hatten. Die SkythenSkythen ihrerseits verloren die Herrschaft über die Steppe und das Hinterland. Der Konflikt zwischen den neuen und den alten Herren der Steppe untergrub den lokalen Handel und Wohlstand und mit der Zeit auch die Sicherheit der griechischenGriechen (Antike) Kolonien (die SkythenSkythen und andere Nomaden forderten Geld und Waren von den Kolonisten, egal ob der Handel florierte oder nicht). Ein weiterer, ebenso mächtiger Faktor, der den Handel beeinträchtigte, war das Erscheinen neuer Lieferanten von landwirtschaftlichen Erzeugnissen für die Märkte am Mittelmeer. GetreideGetreide kam nun aus Ägypten und dem Nahen Osten über Handelsrouten, die durch die Eroberungen Alexanders des GroßenAlexander der Große und den Aufstieg des Römischen ReichsRömisches Reich gesichert waren, an die Küsten der Ägäis und des Ionischen Meeres.

Als die RömerRömisches Reich im 1. Jahrhundert v. Chr. ihren Einflussbereich bis zum Nordufer des Schwarzen Meers ausdehnten, belebten sie einen Teil des früheren Handels wieder, indem sie den griechischenGriechen (Antike) Kolonien, die nun unter ihrer Kuratel standen, ein gewisses Maß an Sicherheit verschafften; aber das erwies sich bestenfalls als ein unaufhörlicher Kampf. OvidOvid (Publius Ovidius Naso) (Publius Ovidius Naso), der von Kaiser AugustusAugustus (röm. Kaiser) im Jahr 8 n. Chr. an einen Ort namens Tomis an der Schwarzmeerküste im heutigen Rumänien verbannt wurde und dort zehn Jahre später starb, hinterließ uns eine anschauliche Beschreibung der Gefahren des täglichen Lebens in einer griechischen Seekolonie an der Wende zum 1. Jahrtausend n. Chr.:

Unzählige Stämme ringsum drohen mit erbittertem Krieg und sehen es als Schande an, ohne Plünderung zu leben. Draußen ist man nirgends sicher: Der Hügel wird von brüchigen Mauern und seiner günstigen Lage verteidigt. […] Die Festung bietet uns kaum Schutz: Und selbst die barbarische Menge in ihrem Inneren, gemischt mit GriechenGriechen (Antike), flößt Angst ein, denn die Barbaren leben unter uns, von Gleich zu Gleich, und besetzen auch mehr als die Hälfte der Häuser.

Dieser traurige Zustand, verursacht durch die feindseligen Beziehungen zu den »barbarischen« Nachbarn und den Mangel an Sicherheit, konnte nur ein schlechtes Licht auf den Zustand der einst blühenden Kolonien der Region werfen. Dion ChrysostomosDion Chrysostomos, ein griechischer Redner und Philosoph, der angeblich die Stadt OlbiaOlbia (antike griech. Stadt) (zu seiner Zeit als Borysthenes bekannt) am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. besucht hatte, hinterließ einen anschaulichen Bericht über eine Kolonie im Niedergang:

Die Stadt Borysthenes entspricht, was ihre Größe betrifft, aufgrund ihrer immer wiederkehrenden Einnahme und ihrer Kriege nicht ihrem antiken Ruhm. Denn da die Stadt nun schon so lange inmitten von Barbaren liegt – Barbaren, die auch noch die kriegerischsten von allen sind –, befindet sie sich ständig im Kriegszustand. […] Aus diesem Grunde war das Glück der Griechen in dieser Gegend sehr gering; einige von ihnen vereinten sich nicht mehr zu Städten, andere fristeten als Gemeinden ein kümmerliches Dasein, und es waren meist Barbaren, die zu ihnen strömten.

Dergestalt war der Zustand der griechischen Kolonien mehr als ein Jahrhundert nach der Ankunft der Römer. Die Region erlangte nie wieder den Wohlstand, das Handelsvolumen und die Verbindungen mit dem Hinterland, die sie zu Zeiten HerodotsHerodot genossen hatte. Ständig im Krieg oder in Angst vor einem Krieg mit der einheimischen Bevölkerung, wussten die Kolonisten nur wenig über ihre Nachbarn. »Der Bosporus, der Don, die skythischen Sümpfe liegen jenseits davon«, schrieb OvidOvid (Publius Ovidius Naso), als er von seinem Exil in Tomis aus nach Norden und Osten blickte, »eine Handvoll Namen in einer Region, die kaum bekannt ist. Weiter dahinter gibt es nichts als unbewohnbare Kälte. Ach, wie nahe bin ich dem Ende der Welt!«

OvidsOvid (Publius Ovidius Naso) Zeitgenosse StrabonStrabon, Autor der berühmten Geographika, wusste mehr über die pontischen Steppenpontische Steppe als der berühmte römische Exilant. Von StrabonStrabon erfahren wir die Namen der sarmatischenSarmaten (Nomaden) Stämme und die von ihnen beherrschten Gebiete. Ihm zufolge waren die JazygenJazygen (Nomaden) und RoxolanenRoxolanen (Nomaden) »Wagenbewohner« oder Nomaden, aber der gefeierte Geograph verrät uns buchstäblich nichts über die sesshafte Bevölkerung der Waldsteppengebiete um den DniproDnipro, ganz zu schweigen von den bewaldeten Gebieten weiter nördlich. Anders als OvidOvid (Publius Ovidius Naso) lebte er jedoch nicht unter den Völkern der Region, und seine Quellen waren auch nicht so gut wie jene von HerodotHerodot. Sie wussten nichts über die »Nordländer«, und StrabonStrabon beklagte sich über ihre Unwissenheit »in Bezug auf die übrigen Völker, die als nächste im Norden siedeln; denn ich weiß weder etwas über die Bastarnen noch die Sauromaten [= SarmatenSarmaten (Nomaden)], noch, mit einem Wort, irgendeines der Völker, die oberhalb des Pontus wohnen, auch weiß ich nicht, wie weit sie vom Atlantik entfernt sind und ob ihre Länder an ihn grenzen.«

StrabonsStrabon Informanten kamen aus einer der Kolonien, aber während HerodotHerodot zahlreiche Hinweise auf den DniproDnipro gab, schien StrabonStrabon der DonDon vertrauter zu sein. Seine Quellen stammten wahrscheinlich aus Tanais, einer griechischen Kolonie an der DonmündungDon, die zum Bosporanischen Königreich gehörte, dem mächtigsten Zusammenschluss griechischer Kolonien, der mit der Ankunft der Römer wiederbelebt wurde. Für StrabonStrabon hatte der DonDon eine besondere Bedeutung. Er bildete die östlichste Grenze Europas, womit im ägäischen Heimatland die geographische Ausdehnung der griechischen Präsenz gemeint war. Europa lag westlich des DonDon, während östlich davon Asien begann.

So befanden sich die ukrainischen Gebiete zu Beginn des 1. Jahrtausends n. Chr., als die RömerRömisches Reich zu den pontischen Kolonien vordrangen, erneut am Rande dessen, was zur westlichen Zivilisation werden sollte. Die Nordgrenze der hellenischen Welt war nun zur Ostgrenze Europas geworden. Dort sollte sie fast zweitausend Jahre lang bleiben, bis der Aufstieg des Russischen ReichsRussisches Reich im 18. Jahrhundert die Karte Europas revidierte und seine Ostgrenze an den Ural verschob.

Die Aufteilung der pontischen Steppenpontische Steppe in einen europäischen und einen asiatischen Teil hatte zur Zeit der Römer keine große Bedeutung. StrabonStrabon schrieb über die SarmatenSarmaten (Nomaden) sowohl am linken als auch am rechten Ufer des Don, und Ptolemäus, einer seiner Nachfolger, berichtete im 2. Jahrhundert n. Chr. über zwei SarmatienSarmaten (Nomaden), ein europäisches und ein asiatisches – eine Unterscheidung, die in den Werken der europäischen Geographen noch anderthalb Jahrtausende lang fortwirken sollte. Wichtiger als die imaginäre Ostgrenze Europas war die reale zivilisatorische Grenze zwischen den mediterranen Kolonien am Nordufer des Schwarzen MeersSchwarzes Meer und den Nomaden der pontischen Steppenpontische Steppe. Im Gegensatz zu den griechischen Kolonien mit ihren Befestigungsanlagen war diese Grenze nie in Stein gemeißelt, sondern bildete vielmehr eine breite Zone der Interaktion zwischen Kolonisten und Einheimischen, in der sich Sprachen, Religionen und KulturenUkrainekulturelle Vielfalt vermischten und neue kulturelleKulturkulturelle Identität der Ukraine und soziale Realitäten schufen.

Die alles entscheidende Grenze zwischen den Steppennomaden und den Ackerbauern der Waldsteppengebiete, die HerodotHerodot noch kannte, wurde für StrabonStrabon unsichtbar. Ob sie gänzlich verschwand oder die mediterranen Autoren einfach nichts von ihr wussten, ist schwer zu sagen. Geographische und ökologische Bedingungen blieben gleich, doch die Bevölkerung wurde wahrscheinlich eine andere. Jedenfalls weigerte sie sich Mitte des 1. Jahrtausends n. Chr., als wir das nächste Mal in den Schriften der gelehrten Griechen auf die Region stoßen, an Ort und Stelle zu bleiben.

Kapitel 2Die Ankunft der Slawen

Während die Beziehungen der GriechenGriechen (Antike) zu den Völkern der ukrainischen Steppen in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten weitgehend von Handel und kulturellem Austausch geprägt waren, blieb den RömernRömisches Reich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten nichts anderes übrig, als Handel und Krieg miteinander zu verbinden. Ihre Beziehungen zu den Steppenvölkern wurden im 4. Jahrhundert vorwiegend kriegerisch, als eine Periode begann, die in der älteren Geschichtsschreibung als »Invasion der Barbaren« bezeichnet wurde und heute als VölkerwanderungszeitVölkerwanderung bekannt ist. In dieser Epoche begannen Volksgruppen und Stämme aus Eurasien und Osteuropa in großem Umfang Richtung Mittel- und Westeuropa zu ziehen, was unter dem Druck der »Barbaren« in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zum Zusammenbruch des Römischen ReichsRömisches Reich führte. Der östliche Teil des Reichs, in der Historiographie als ByzanzByzanz / Byzantinisches ReichSiehe auch KonstantinopelByzanz / Byzantinisches Reich bezeichnet, war zwar geschwächt, überstand jedoch den Ansturm der Steppennomaden und der sie begleitenden Ackerbauern aus dem Norden. ByzanzByzanz / Byzantinisches Reich blieb bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts bestehen.

Die Ukraine spielte im Drama der VölkerwanderungVölkerwanderung eine bedeutende Rolle. Einige der Hauptakteure der Invasionen, die den Untergang des Römischen ReichsRömisches Reich bewirkten, lebten in der Ukraine oder zogen durch ihr Gebiet. Zu ihnen gehörten die GotenGoten und HunnenHunnen, Letztere angeführt von ihrem König Attila. In den pontischen Steppenpontische Steppe beendeten die Wanderungsbewegungen die lange Periode, in der die Region von Nomadenstämmen iranischer Herkunft, darunter die SkythenSkythen und die SarmatenSarmaten (Nomaden), beherrscht worden war. Die GotenGoten waren germanischer Abstammung, während die HunnenHunnen, von denen die meisten Forscher annehmen, dass sie ihren Ursprung in den Steppen der Mongolei haben, in Begleitung zahlreicher zentralasiatischer Stämme in die Region kamen. Mitte des 6. Jahrhunderts waren die HunnenHunnen wieder verschwunden, ersetzt durch turksprachige Stämme.

Alle oben genannten Akteure der VölkerwanderungVölkerwanderung kamen irgendwann einmal in die Ukraine, herrschten über die Steppen, blieben eine Weile und verließen sie schließlich wieder. Eine Gruppe jedoch, die durch die Umwälzungen der Wanderungsbewegung zum Vorschein kam, weigerte sich, die Bühne zu verlassen. Die Rede ist von den SlawenSlawen, einem Bündnis von Stämmen, die sprachlich und kulturell definiert und in verschiedenen politischen Formationen vertreten waren. Die indoeuropäischen Ursprünge ihrer Sprachen legen nahe, dass sie zwischen dem 7. und 3. Jahrtausend v. Chr. aus dem Osten nach Europa zogen und sich somit in Osteuropa niederließen, lange bevor HerodotHerodot die Region und ihre Bewohner erstmals beschrieb. Da sie die bewaldeten Gebiete nördlich der pontischen Steppenpontische Steppe als ihre Heimat beanspruchten, blieben sie für die mediterranen Autoren während des größten Teils ihrer frühen Geschichte unsichtbar.

 

Zu Beginn des 6. Jahrhunderts n. Chr. erlangten die SlawenSlawen erstmals allgemeine Aufmerksamkeit, als sie in großer Zahl an den Grenzen des Byzantinischen ReichsByzanz / Byzantinisches Reich erschienen, das durch die GotenGoten und HunnenHunnen geschwächt worden war, und auf den BalkanBalkan zogen. JordanesJordanes (byz. Autor), ein byzantinischer Autor gotischer Abstammung aus dem 6. Jahrhundert, unterschied zwei große Gruppen unter den SlawenSlawen seiner Zeit. »Obwohl ihre Namen heute unter verschiedenen Clans und Orten verstreut sind«, schrieb er, »werden sie hauptsächlich SklavinenSlawenSklavinen und AntenSlawenAnten genannt.« Die SklavinenSlawenSklavinen verortete er zwischen Donau und Dnister, während er den AntenSlawenAnten das Gebiet zwischen Dnister und Dnipro »in der Biegung des pontischen Meeres« zuschrieb. Sprachliche Befunde deuten darauf hin, dass die angestammte Heimat der SlawenSlawen in den Wäldern und der Waldsteppenzone zwischen dem Dnipro und der Weichsel lag, hauptsächlich in WolhynienWolhynien (auf Ukrainisch Wolyn) und den Prypjatsümpfen der heutigen Ukraine. Zur Zeit des JordanesJordanes (byz. Autor) müssen die SlawenSlawen aus ihren Waldgebieten in die Steppen vorgedrungen sein, was für Kaiser JustinianJustinian I. den Großen ein ernstes Problem darstellte.

JustinianJustinian I. regierte das Byzantinische ReichByzanz / Byzantinisches Reich zwischen 527 und 567 und war ehrgeizig genug, eine Wiederherstellung des gesamten Römischen ReichsRömisches Reich im Osten wie im Westen zu unternehmen. So beschloss er, an der DonaugrenzeDonau, wo das Reich unaufhörlichen Angriffen lokaler Stämme ausgesetzt war, in die Offensive zu gehen. Von ProkopiosProkopios (byz. Autor), einem byzantinischen Autor des 6. Jahrhunderts, der einen detaillierten Bericht über JustiniansJustinian I. Kriege hinterlassen hat, wissen wir, dass ChilbudiusChilbudius (röm. Heerführer), ein dem Kaiser persönlich nahestehender Heerführer, in den frühen 530er Jahren in den Krieg nördlich der DonauDonau geschickt wurde. Er errang etliche Siege über die AntenSlawenAnten, die es JustinianJustinian I. ermöglichten, seinem Kaisertitel den Zusatz »Anticus« (Bezwinger der AntenSlawenAnten) hinzuzufügen. Doch der Erfolg war nur von kurzer Dauer. Drei Jahre später fiel ChilbudiusChilbudius (röm. Heerführer) in der Schlacht, und JustinianJustinian I. kehrte zu der alten Politik zurück, die Grenze entlang der DonauDonau zu verteidigen, anstatt zu versuchen, sie zu erweitern.

JustinianJustinian I. griff auf die alte römische Taktik des »Teile und herrsche« zurück. Ende der 530er Jahre kämpften die AntenSlawenAnten, ermutigt und angespornt von ByzanzByzanz / Byzantinisches Reich, bereits gegen die SklavinenSlawenSklavinen, während byzantinische Generäle beide Gruppen für die kaiserliche Armee rekrutierten. Dennoch gingen die slawischen Überfälle weiter. Während des Krieges mit den SklavinenSlawenSklavinen gelang es den AntenSlawenAnten, in die byzantinische Provinz Thrakien auf dem östlichen BalkanBalkan einzudringen. Sie plünderten das Land und nahmen zahlreiche Gegner als SklavenSklavenhandel mit zurück ans linke Donauufer. Nachdem sie ihr zerstörerisches Potenzial unter Beweis gestellt hatten, boten die AntenSlawenAnten dem Reich ihre Dienste an. JustinianJustinian I. nahm sie unter seine Fittiche und wies ihnen die verlassene griechische Stadt Turris nördlich der Donau als ihr Hauptquartier zu.

Wie viele andere Feinde des Reichs wurden die AntenSlawenAnten zu dessen Verteidigern und erhielten dafür regelmäßige Zahlungen aus der kaiserlichen Schatzkammer. Sie versuchten, ihren Status zu verbessern, indem sie behaupteten, den besten General des Kaisers, besagten ChilbudiusChilbudius (röm. Heerführer), gefangen genommen zu haben, den sie als ihren Anführer anerkannt sehen wollten. Da JustinianJustinian I.ChilbudiusChilbudius (röm. Heerführer) den Titel des magister militum, des Befehlshabers aller kaiserlichen Truppen in der Region, verliehen hatte, hätte eine solche Anerkennung die AntenSlawenAnten zu legitimen Bürgern des Reichs und nicht nur zu dessen Torwächtern gemacht. Der Plan ging jedoch nicht auf, da der echte ChilbudiusChilbudius (röm. Heerführer) ja schon lange tot war. Der Mann, der sich für ihn ausgegeben hatte, wurde gefangen genommen und zu JustinianJustinian I. gebracht, und die AntenSlawenAnten mussten den Status von foederati, von Bundesgenossen und nicht von Bürgern, des großen Reichs akzeptieren.

 

Wer waren diese neuen Verbündeten des Byzantinischen ReichsByzanz / Byzantinisches Reich? Wie sahen sie aus? Wie kämpften sie? Woran glaubten sie? ProkopiosProkopios (byz. Autor) betonte mehr als einmal, die AntenSlawenAnten und die SklavinenSlawenSklavinen hätten Sprache, Religion und Bräuche geteilt. Wir können also seine recht detaillierte Beschreibung der slawischen Lebensweise beiden Gruppen zuordnen. ProkopiosProkopios (byz. Autor) zufolge lebten die SlawenSlawen als Halbnomaden »in erbärmlichen Hütten, die sie weit voneinander errichteten«. Sie wechselten ständig ihre Behausungen. Die slawischen Krieger waren »außergewöhnlich groß gewachsene und kräftige Männer«. Über ihr Aussehen hat ProkopiosProkopios (byz. Autor) Folgendes zu berichten: »Ihr Körper und ihr Haar sind weder sehr hell noch blond, noch neigen sie gänzlich zum dunklen Typus, sondern sie sind alle leicht rötlich gefärbt.« Die SlawenSlawen lebten ein »hartes Leben, ohne körperlichen Annehmlichkeiten Beachtung zu schenken […] und [waren] ständig und zu jeder Zeit mit Schmutz bedeckt; sie [waren] jedoch in keiner Weise niederträchtig oder bösartig, sondern bewahrten den hunnischen Charakter in seiner ganzen Einfachheit«.

Obwohl mit Schmutz bedeckt, gingen die SlawenSlawen unter dem Banner der DemokratieDemokratie in die Geschichte ein. »Denn diese Völker«, schrieb ProkopiosProkopios (byz. Autor), »die SklavinenSlawenSklavinen und die AntenSlawenAnten, werden nicht von einem einzigen Mann regiert, sondern sie haben von alters her unter einer DemokratieDemokratie gelebt, und folglich wird alles, was ihr Wohlergehen betrifft, ob zum Guten oder zum Schlechten, dem Volk übertragen.« Sie zogen gern halb nackt ins Gefecht, aber im Gegensatz zu den mittelalterlichen Schotten in Mel GibsonsGibson, Mel Hollywood-Blockbuster Braveheart waren sie bescheidener, wenn es um ihre Geschlechtsteile ging. »Wenn sie sich in die Schlacht begeben«, schrieb ProkopiosProkopios (byz. Autor), »gehen die meisten von ihnen zu Fuß gegen den Feind, tragen kleine Schilde und Speere in der Hand, aber sie tragen nie ein Korselett. Einige von ihnen haben nicht einmal ein Hemd oder einen Mantel an, sondern ziehen ihre Hosen bis zu den Schamteilen hoch und stellen sich ihren Gegnern im Kampf.«

Weitere Informationen über die slawische Art der Kriegsführung stammen aus dem byzantinischen StrategikonStrategikon (Maurikios), das um das Jahr 600 verfasst und dem Kaiser MaurikiosMaurikios (byz. Kaiser) zugeschrieben wird. Der Autor beschäftigt sich ausführlich mit den SlawenSlawen, die die Donaugrenze überschritten und sich auf dem BalkanBalkan niederließen. Zwar bezeichnet er sie als gastfreundlich gegenüber Reisenden, aber als unbekümmerte Geister, die sich nur ungern an Verträge hielten oder der Mehrheitsmeinung anschlossen. In ihrer Heimat nördlich der Donau bauten sie ihre Behausungen in Wäldern entlang der Flüsse und in sumpfigen Gebieten, die für Eindringlinge schwer zugänglich waren. Ihre bevorzugte Taktik war der Hinterhalt. Sie kämpften nicht gern auf offenem Feld und hielten wenig von regelmäßigen militärischen Formationen. Als Waffen dienten ihnen kurze Speere, Holzbögen und kurze Pfeile, deren Spitzen zuweilen mit Gift präpariert waren. Ihre Gefangenen machten sie zu Sklaven, aber nur für eine gewisse Dauer.

Auch über die slawische Religion hatte ProkopiosProkopios (byz. Autor) Interessantes zu berichten. Die SlawenSlawen waren alles andere als Monotheisten. »Sie glauben, dass ein Gott, der den Blitz macht, der alleinige Herr aller Dinge ist, und sie bringen ihm Vieh und alle anderen Opfer dar«, schrieb er. Die SlawenSlawen huldigten zwar einem Hauptgott, gaben aber keineswegs ihre alten Gewohnheiten der Naturverehrung und der Opfergaben auf. Wie ProkopiosProkopios (byz. Autor) schrieb, »beten sie […] sowohl Flüsse als auch Nymphen und andere Geister an, und sie opfern all diesen auch und treffen dabei ihre Weissagungen«. Der byzantinische Autor war nicht überrascht, dass die SlawenSlawen ihren Göttern Opfer darbrachten, denn diese Tradition teilten sie mit den vorchristlichen Römern; ihn erstaunte vielmehr, dass sie nicht die christliche Religion annahmen, wie es andere kaiserliche Untertanen lange zuvor schon getan hatten. »Sie kennen sie nicht und geben auch nicht zu, dass sie irgendeine Macht unter den Menschen hat«, stellte ProkopiosProkopios (byz. Autor) mit einiger Verwunderung, wenn nicht gar Enttäuschung, fest. »Aber wann immer der Tod vor ihnen steht, sei es durch Krankheit oder den Beginn eines Krieges, geloben sie, dass sie, wenn sie dem Tod entgehen, dem Gott sofort ein Opfer für ihr Überleben darbringen werden; und wenn sie ihm entgehen, opfern sie genau das, was sie gelobt haben, und denken, dass ihre Sicherheit mit ebendiesem Opfer erkauft worden ist.«

Was ProkopiosProkopios (byz. Autor) und andere byzantinische Autoren über die SlawenSlawen berichten, wird durch archäologische Funde aus der Ukraine bestätigt. Die AntenSlawenAnten werden gewöhnlich mit der PenkiwkaPenkowka-Kultur-Kultur in Verbindung gebracht, die nach einer Siedlung in der Ukraine benannt ist. Die Träger dieser Kultur lebten im 6., 7. und frühen 8. Jahrhundert in der ukrainischen Waldsteppenzone zwischen den Flüssen Dnister und Dnipro und besiedelten beide Ufer des DniproDnipro. Zu diesem Gebiet gehörten auch die von JordanesJordanes (byz. Autor) den AntenSlawenAnten zugewiesenen Territorien. Wie die AntenSlawenAnten und SklavinenSlawenSklavinen des ProkopiosProkopios (byz. Autor) lebten die PenkiwkaPenkowka-Kultur-Stämme in einfachen, in den Boden gegrabenen Behausungen. Auch sie wechselten häufig ihre Wohnstätten. Die Siedlungen wurden bewohnt, verlassen und neu besiedelt, was darauf hindeutet, dass ihre Bewohner eine Art Wanderfeldbau betrieben. Aus der Archäologie wissen wir auch (was ProkopiosProkopios (byz. Autor) nicht wusste), dass die PenkiwkaPenkowka-Kultur-Stämme befestigte Städte besaßen, die als Hauptquartiere der lokalen Herrscher und als Zentren administrativer und militärischer Macht fungierten.

 

Die Zeit, in der die SlawenSlawen eine unabhängige Rolle in der Region spielten, endete im frühen 7. Jahrhundert, als der Einfall der AwarenAwaren, eines Bündnisses turksprachiger Stämme aus der nordkaspischen Steppe, das Gemeinwesen der AntenSlawenAnten zerstörte.

Die AwarenAwaren hinterließen in der Region schlechte Erinnerungen, von denen einige bis ins 11. und 12. Jahrhundert andauerten, als christliche Kyjiwer Mönche Teile einer historischen Aufzeichnung verfassten, die später als NestorchronikNestorchronik oder als »Erzählung vergangener Jahre« bekannt wurde. Der erste Teil der Chronik basiert auf lokalen Legenden in Verbindung mit byzantinischen Quellen. Laut der NestorchronikNestorchronik führten die AwarenAwaren »Krieg gegen die SlawenSlawen und bedrängten die DulebenDuleben (Slawen), die selbst SlawenSlawen waren« – ein Verweis auf einen slawischen Stamm, der entlang des Flusses Buh lebte. »Sie taten sogar den dulebischen Frauen Gewalt an«, berichtet der Chronist. »Wenn ein Aware eine Reise unternahm, ließ er weder ein Pferd noch einen Ochsen anspannen, sondern befahl, drei, vier oder fünf Frauen vor seinen Wagen zu spannen und ihn ziehen zu lassen.« Ein solches Verhalten wurde jedoch mit göttlichem Zorn bestraft. »Die AwarenAwaren waren groß von Gestalt und stolz im Geiste, und Gott vernichtete sie«, fährt der Chronist fort. »Sie kamen alle um, und kein einziger Aware überlebte. Noch heute gibt es in der Rus ein Sprichwort, das lautet: ›Sie kamen um wie die Awaren.‹«

Als Herrscher der pontischen Steppenpontische Steppe wurden die AwarenAwaren von den BulgarenBulgaren / Bulgarien und dann den Chasaren