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Serhii Plokhy

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Beschreibung

Welche Folgen hat Russlands Angriff in den kommenden Jahrzehnten für den Westen und die Welt? Dieses hochaktuelle, dringende Buch gibt Antworten auf entscheidende Fragen unserer Zeit. In seinem neuen Buch gibt der renommierte Historiker und Ost-Europa-Experte Serhii Plokhy Antworten darauf, wie Russlands Krieg die Weltordnung der nächsten Jahrzehnte verändern wird. Er erzählt von einem ukrainischen Volk, das als Frontstaat im jetzt anbrechenden neuen Kalten Krieg endlich seine Identität gefunden hat. Und  er skizziert eine globale Außenpolitik, die sich wieder weg von ökonomischer Kooperation, hin zu Dominanz, Vasallenstaaten und militärischer Stärke entwickelt – mit gravierenden Folgen für uns alle. Nur wenn der Westen sich dieser Realität stellt, wird er in Zukunft seine Freiheit behaupten können.

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Serhii Plokhy

Der Angriff

Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt

Sachbuch

Hoffmann und Campe

Im Gedenken an all jene, die ihr Leben für die Verteidigung der Freiheit – ihrer und unserer – gegeben haben

Editorische Notiz

Zur Schreibweise ukrainischer Eigennamen

Wir haben uns bewusst dafür entschieden, in diesem Buch die ukrainischen Namen für ukrainische Städte, Flüsse und Personen zu benutzen. Viele Orts- und Flussnamen der Ukraine sind uns in Deutschland bislang vor allem in der russischen Schreibweise geläufig. Dies gilt etwa für die Hauptstadt, die wir als Kiew kennen, die im Ukrainischen allerdings Kyjiw heißt. Ebenso wird der Dnjepr, der größte Fluss der Ukraine (und nach Wolga und Donau der drittlängste Europas), im Land selbst Dnipro genannt. Odesa oder Donbas werden mit einem S geschrieben, wobei dieses stimmlos gesprochen wird. Manches mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen. Wir denken jedoch, dass dies nur konsequent ist, wenn man dem Ansatz dieses Buches gerecht werden möchte. Einige wenige Namen wurden gleichwohl in der in deutschsprachigen Medien gängigen Schreibweise belassen, etwa Vitali Klitschko oder Tschernobyl (das Kraftwerk selbst und der Unfall, der sich dort ereignete, wurden der Welt unter der russischen Schreibweise des Namens der nächstgelegenen Stadt bekannt – Tschernobyl statt Tschornobyl).

Vorwort

Den Krieg verstehen

Die Nachricht vom russischen Einmarsch erreichte mich in Wien, der Hauptstadt jenes ehemaligen Reiches, dessen Politik den Ersten WeltkriegErster Weltkrieg ausgelöst hatte, einer Stadt, deren Übernahme durch Nazideutschland im Rahmen des österreichischen »Anschlusses« 1938 dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vorangegangen war. Als sich die Bürgerinnen und Bürger Wiens am Abend des 23. Februar 2022 zur Ruhe begaben, lag ein neuer Krieg in der Luft. Nachdem ich beunruhigende Nachrichten auf CNN gesehen hatte, hoffte ich noch, dass es nicht so weit kommen würde, aber mir schwante nichts Gutes. Am nächsten Morgen erwachte ich früher als gewöhnlich, gegen sechs Uhr. Ich griff nach meinem Handy, um einen Blick auf die neuesten Meldungen zu werfen, öffnete stattdessen jedoch aus irgendeinem Grund mein E-Mail-Programm.

Schon als ich die Betreffzeile einer E-Mail las – »O mein Gott!« –, rutschte mir das Herz in die Hose. Die Nachricht kam von einem Kollegen in Harvard, der mich im Oktober zuvor auf die Möglichkeit eines neuen Krieges aufmerksam gemacht hatte und mit dem ich seither über die Gefahr einer schwerwiegenden kriegerischen Auseinandersetzung diskutierte. An den ukrainischen Grenzen waren russische Truppen aufmarschiert, und die amerikanischen Medien hatten fast in Echtzeit darüber zu berichten begonnen. Ich hoffte, dass die Truppenbewegungen lediglich ein Bestandteil der russischen Erpressungsmanöver waren. Mein Kollege hingegen glaubte, die Russen könnten es diesmal ernst meinen. Nun wusste ich, noch bevor ich die E-Mail öffnete, dass es geschehen war – die Invasion, vor der er gewarnt hatte, war erfolgt. Schließlich las ich die E-Mail. Die letzten Zeilen lauteten: »Dabei wird nichts Gutes herauskommen. Die Nachrichten ändern sich von Tag zu Tag. Heute Abend prognostizieren die US-amerikanischen GeheimdiensteGeheimdiensteInvasion in Ukraine einen Blitzkrieg, aber warten wir ab, was morgen geschieht. Ich hoffe, bei Ihnen in Wien ist alles in Ordnung.«

Bei mir war gar nichts in Ordnung. Etwas hatte begonnen, aber ich wusste nicht, was. Vermutlich waren Putin und die Russen im Osten der Ukraine einmarschiert, dem Schlachtfeld der Jahre 2014 und 2015. Mit diesen Gedanken im Kopf öffnete ich eine weitere E-Mail. Die Betreffzeile war leer, aber sie stammte von einem Kollegen in Dnipro, das während des Krieges 2014/15 weit hinter den Frontlinien gelegen hatte. Aus seiner Nachricht ging unzweideutig hervor, dass es in diesem Krieg kein Gebiet hinter den Linien mehr geben würde. »Ich packe meine Sachen, werde Dnipro verlassen; vielleicht sende ich Ihnen per Mail ›Fragmente‹ meines Buches, weil ich nicht weiß, was als Nächstes kommt, und weil mein Computer in den bevorstehenden Ereignissen womöglich irgendwo verloren geht«, schrieb mein Kollege und setzte hinzu: »Mit dem Schicksal von Manuskripten in Kriegszeiten sind wir ja bestens vertraut.« Ich schickte ihm eine aufmunternde Antwort und bedankte mich, dass er mir sein unvollendetes Werk anvertraute.

Erst dann sah ich mir die Nachrichten an: Eine groß angelegte Invasion der Ukraine hatte begonnen, und Großstädte von Kyjiw über Dnipro bis zu meiner Geburtsstadt Saporischschja lagen unter russischem Raketenbeschuss. Es war unwirklich. Ich rief meine Schwester in Saporischschja an. Sie war wach. In einem Teil der Stadt waren Explosionen zu hören, glücklicherweise weit von dem Viertel entfernt, wo sie in unserem Elternhaus wohnte. Sie war ruhig. Am Vorabend hatte ich sie angerufen und ihr geraten, ihren Wagen möglichst vollzutanken. Sie hatte meinen Rat nicht befolgt, weil sie wie fast jedermann in der Ukraine einen umfassenden Krieg für unmöglich hielt. Jetzt hatte der Krieg begonnen, und keiner von uns war darauf vorbereitet. Wir würden die Dinge einfach auf uns zukommen lassen müssen. Ich telefonierte zweimal täglich mit ihr, morgens und abends. Immer dieselben Fragen: Wie war die letzte Nacht? Wie war dein Tag? Die Bedeutung von »Gute Nacht« und »Guten Tag« hatte sich plötzlich verändert. Jeder Tag und jede Nacht mit Sirenengeheul, aber ohne Raketenangriffe oder Bombardierungen waren gut.

An jenem ersten Morgen zog ich ein weißes Hemd und einen Blazer an. Da ich zum Archiv der Internationalen Atomenergie-OrganisationInternationale Atomenergie-Organisation (IAEO) wollte, wo ich die internationale Geschichte der Nuklearkatastrophe von TschernobylTschernobylNuklearkatastrophe 1986 im Jahr 1986 erforschte, war diese Aufmachung ungewöhnlich, wenn nicht sogar seltsam. Aber ich kleidete mich absichtlich zu fein, um schon durch meine äußere Erscheinung zu zeigen, dass ich ungeachtet der Nachrichten von der Front gefasst und bereit war, meinen Pflichten nachzukommen, wie diese angesichts des Kriegszustands auch immer beschaffen sein mochten. Als Inspirationsquelle diente mir dabei das Tagebuch von George F. KennanKennan, George F., dem berühmten amerikanischen Diplomaten und Experten für internationale Beziehungen. Als er im März 1939 eines Morgens aufwachte und von HitlersHitler, AdolfAngriff auf Tschechoslowakei Angriff auf die TschechoslowakeiTschechoslowakei erfuhr, rasierte er sich besonders gründlich, um »nicht mitgenommen zu wirken«. Er war entschlossen, seine Aufgaben als Diplomat unter allen Umständen zu erfüllen.

Im Archiv sah man mich mit offenkundigem Mitgefühl an. »Tut mir leid, was da mit Ihrem Land geschieht«, erklärte mir eine der Archivarinnen. Die Worte implizierten, dass das Ende nahe war: Das Land würde besetzt werden, wenn nicht heute, dann morgen. Hatte ich mich also für seine Beerdigung herausgeputzt? Ich hoffte es nicht, wusste aber auch nicht, womit ich rechnen sollte. Später an jenem Tag kam ein Fotograf der Neuen Zürcher ZeitungNeue Zürcher Zeitung in mein Büro im Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, um für ein wenige Tage zuvor geführtes Interview ein Foto von mir zu machen. Auf dem Bild, das in der Zeitung erschien, wirkte ich ziemlich zerzaust; der Wind wehte meine Haare in alle Richtungen, doch ich trug mein weißes Hemd und sah traurig, aber entschlossen aus. In dem Interview, das ich dem New YorkerNew Yorker ein paar Tage vorher gegeben hatte, sagte ich voraus, dass die Ukrainer kämpfen würden. »Ich weiß nicht, wann und wie«, erklärte ich dem Reporter, »aber ich zweifle nicht daran, dass es Widerstand geben wird.«[1]

Die Ereignisse der folgenden Tage und Wochen zeigten, dass ich mit meiner Vorhersage richtiggelegen hatte, aber das Ausmaß des Widerstands wie auch des Krieges selbst überstieg meine damalige Vorstellungskraft. Die Invasion, die Putin als »Militäroperation« bezeichnete und die nur ein paar Tage oder höchstens ein paar Wochen dauern sollte, wurde zum größten konventionellen Krieg in Europa seit 1945. Er kostete bisher mehrere Zehntausend Männer und Frauen das Leben, viele von ihnen unschuldige Zivilisten, und löste zudem die größte Flüchtlingskrise in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus. In den folgenden Monaten flohen insgesamt zwölf Millionen Frauen, Kinder und ältere Menschen vor den Kämpfen in der Ukraine, und mehr als fünf Millionen von ihnen fanden Zuflucht in den Ländern Ost- und Mitteleuropas. Kerntechnische Anlagen wie TschernobylTschernobyl und das Atomkraftwerk in SaporischschjaSaporischschja (Atomkraftwerk), das leistungsstärkste Europas, wurden zu neuen Schlachtfeldern, und es gab kaum verhüllte Drohungen mit dem Einsatz von AtomwaffenAtomwaffenruss. Drohungen.

Wie konnte all das geschehen? Ich war weder auf emotionaler Ebene noch in meiner Eigenschaft als Historiker bereit, zu durchdenken und mir selbst und anderen zu erklären, was da infolge Russlands ungerechtfertigter Aggression vor sich ging. Wahnsinn und kriminelle Energie schienen die einzigen vernünftigen Erklärungen zu sein. Doch als die Medien mich immer wieder um Kommentare baten, hatte ich das Gefühl, dass ich mich dem nicht verweigern konnte, weil meine Worte vielleicht doch einen gewissen Einfluss auf den Lauf der Dinge haben würden. Mir wurde klar, dass ich als Historiker etwas zu bieten hatte, woran es anderen mangelte, wenn es darum ging, den größten militärischen Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen. Schließlich redete ich mir ein, Historiker seien – frei nach Winston ChurchillChurchill, Winston – die schlechtesten Interpreten aktueller Ereignisse, abgesehen von allen anderen.

Als Historiker bemühte ich mich nach Kräften, die Entwicklungen, die sich vor mir und aller Welt entfalteten, aus historischer und komparativer Perspektive zu betrachten. Was hatte einen solchen Aggressionskrieg ermöglicht? Was brachte und bringt die Ukrainer nach wie vor dazu, auf solche Weise Widerstand zu leisten? Und schließlich, was würden die gravierendsten Folgen dieses Krieges für die Ukraine, für Russland, Europa und die ganze Welt sein? Diese Fragen stellte ich mir, während ich mich allmählich vom Schock der ersten Tage der russischen Aggression erholte und wieder analytisch zu denken lernte. Außerdem versuchte ich, im Rückblick Anzeichen für den herannahenden großen europäischen Krieg auszumachen, die wir damals nicht erkannt hatten, weil wir in Wunschdenken befangen waren.

Viele von uns hatten der Ansicht angehangen, die Geschichte habe mit dem Fall der Berliner MauerBerliner Mauer ihr Ende erreicht – wenn nicht im Sinne von Francis FukuyamaFukuyama, Francis, der darin den endgültigen Sieg der liberalen Demokratie als Form der politischen Ordnung sah, so doch in Gestalt der Überzeugung, dass ungerechtfertigte Invasionen, gefolgt von territorialen Annexionen und groß angelegten Militäraktionen, trotz der anhaltenden Rivalität zwischen Großmächten der Vergangenheit angehörten. Zwar hatte es deutliche Anzeichen dafür gegeben, dass das Gegenteil zutraf – die Kriege in Tschetschenien, im ehemaligen Jugoslawien, dann in Afghanistan und im Irak –, aber die ignorierten wir lieber. Im Aufstieg von PopulismusPopulismus und autoritären RegimenAutoritarismus wie auch bei autoritären Tendenzen in demokratischen Staaten hätte man durchaus Parallelen zu den 1930er Jahren erkennen können, aber die meisten von uns wischten sie beiseite.

Nun ist die Geschichte mit Wucht zurückgekehrt, zeigt ihre schlimmsten Züge und schlägt ihre furchterregendsten Seiten mit Szenen voller Gewalt und Zerstörung auf. Wir wissen, was in Europa infolge des Aufstiegs von Diktaturen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs geschehen ist, und können uns ohne Weiteres ausmalen, wohin der Aufstieg des AutoritarismusAutoritarismus in Europa, Eurasien und anderswo heute führen kann. Es ist an der Zeit, aus der Geschichte zu lernen, indem wir die aktuellen Ereignisse in ihren historischen sowie geopolitischen Kontext stellen, um ihre Wurzeln zu verstehen, ihre Folgen vorherzusagen und der Gewalt nach Möglichkeit ein Ende zu bereiten.

In diesem Buch habe ich einen Longue durée-Ansatz für das Verständnis des gegenwärtigen Krieges gewählt. Trotz des schockierenden und dramatischen russischen Großangriffs auf die Ukraine werde ich nicht der Versuchung erliegen, den 24. Februar 2022 als sein Anfangsdatum zu bezeichnen, und zwar aus dem schlichten Grund, dass der Krieg schon acht Jahre zuvor begonnen hat, am 27. Februar 2014, als russische Truppen das Parlamentsgebäude der Krim besetzten. Ein Jahr später, im Februar 2015, wurde diese Phase des Krieges auf diplomatischer Ebene durch zwei Abkommen beendet, MinskMinsker Abkommen I und Minsk II. Dennoch ging in den nächsten sieben Jahren ein unerklärter Krieg mit Granatfeuer und Schüssen über die Demarkationslinie in der ukrainischen Donbas-Region weiter, der mehr als 14000 Ukrainer das Leben kostete, aber nur geringe internationale Aufmerksamkeit erregte. Diese Phase endete mit Russlands offiziellem Ausstieg aus den Abkommen von MinskMinsker AbkommenMinsk II und dem Beginn seiner groß angelegten Invasion der Ukraine im Februar 2022.

Auf den folgenden Seiten beschäftige ich mich mit dem gegenwärtigen Krieg, seinen Ursprüngen, seinem Verlauf und den bereits sichtbaren wie auch künftig möglichen Folgen. Wie ich hier zeige, lassen sich die Wurzeln dieses Krieges in der Geschichte des imperialen Zusammenbruchs im 19. und 20. Jahrhundert verorten; ihm entstammen auch die wesentlichen Denkmuster, die den aktuellen Konflikt geschürt haben. Meine Hauptthese lautet, dass wir heute nicht mit einem völlig neuen Phänomen konfrontiert sind. Der gegenwärtige Konflikt ist in vielerlei Hinsicht ein altmodischer imperialer Krieg, geführt von russischen Eliten, die sich für Erben und Bewahrer der expansionistischen Großmacht-Traditionen des Russischen Reichs und der Sowjetunion halten. Seitens der Ukraine ist er zuallererst ein Unabhängigkeitskrieg, der verzweifelte Versuch einer neuen, aus den Ruinen des sowjetischen Zusammenbruchs hervorgegangenen Nation, ihr Existenzrecht zu verteidigen.

Trotz seiner imperialen Wurzeln wird der gegenwärtige Krieg in einer neuen internationalen Umgebung geführt, die von der Verbreitung von AtomwaffenAtomwaffen, der Auflösung der internationalen Ordnung aus der Zeit nach dem Kalten Krieg und dem beispiellosen Wiederaufleben eines populistischenPopulismusNationalismusNationalismus in aller Welt geprägt ist, wie man ihn zuletzt in den 1930er Jahren erlebt hat. Der Krieg deutet unübersehbar darauf hin, dass Europa und die Welt die aus dem Fall der Berliner MauerBerliner Mauer im Jahr 1989 resultierende Friedensdividende weitgehend aufgezehrt haben und in eine neue, noch nicht klar definierte Ära eintreten. In den Flammen des gegenwärtigen Krieges wird eine neue Weltordnung geschmiedet, die möglicherweise die bipolare Welt der Ära des Kalten KriegesKalter Krieg reproduziert. Zu dem Zeitpunkt, da ich dieses Buch schreibe, ist dieser Krieg noch nicht vorbei, und wir wissen noch nicht, wie er enden wird. Aber es steht schon heute außer Frage, dass die Zukunft der Welt, in der wir und unsere Kinder und Enkelkinder leben werden, in erheblichem Maße von seinem Ausgang abhängt.

Kapitel 1Der Kollaps eines Imperiums

Es war Punkt 19 Uhr Moskauer Zeit am Weihnachtstag, dem 25. Dezember 1991. Michail GorbatschowGorbatschow, MichailRücktritt (1991), ehemals Generalsekretär der Kommunistischen Partei der UDSSR und bald schon ehemaliger Präsident der Sowjetunion, saß am Schreibtisch seines Büros im Kreml und verlas vor den Fernsehkameras eine vorbereitete Erklärung.

GorbatschowGorbatschow, MichailRücktritt (1991) sprach seine Zuhörer als »verehrte Landsleute und Mitbürger« an. Doch in Wirklichkeit wandte er sich an die ganze Welt: CNN übertrug seine kurze Ansprache live. Der Staatschef der SowjetunionSowjetunionSiehe UdSSR erklärte seinen Rücktritt als Präsident der UDSSR. Als GorbatschowGorbatschow, MichailRücktritt (1991) um 19:12 Uhr seine Rede beendete, gab es die SowjetunionUdSSRAuflösung der Union (1991) offiziell nicht mehr. Das kommunistische Regime, dem es gelungen war, das russische Zarenreich vor dem Zerfall zu bewahren, sich zu einer Supermacht zu entwickeln und die Welt mit der atomaren Vernichtung zu bedrohen, hatte aufgehört zu existieren. Kaum eine halbe Stunde später wurde die rote Fahne über dem Kreml eingeholt und durch die weiß-blau-rote Fahne der Russischen Föderation ersetzt, die der Trikolore des Russischen Reichs vor seinem Zusammenbruch in der RevolutionRussische Revolution (1917) von 1917 ähnelte.[2]

In seiner zwölfminütigen Ansprache erklärte der Präsident der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz UDSSR, aus »prinzipiellen Gründen« zurückzutreten. Er habe sich für »die Erhaltung der Union und des ganzen Landes« eingesetzt, sei aber gescheitert. »Die Ereignisse haben sich in eine andere Richtung entwickelt. Die Linie der Zerstückelung und Auflösung des Landes hat sich durchgesetzt. Damit kann ich mich nicht einverstanden erklären.« GorbatschowGorbatschow, MichailRücktritt (1991) trat als Präsident eines Landes zurück, das es im juristischen Sinne schon nicht mehr gab, nachdem es Anfang des Monats von den Führern der fünfzehn Unionsrepubliken, die die UDSSR gebildet hatten, aufgelöst worden war.[3]

Der Zerfall der SowjetunionUdSSRAuflösung der Union (1991) war zwar bereits seit einiger Zeit im Gange gewesen, wurde aber am 1. Dezember 1991 unumkehrbar, als die Bürgerinnen und Bürger der UkraineUkraineReferendum (1991), der zweitgrößten Unionsrepublik nach Russland, an den Wahlurnen für die Unabhängigkeit ihres Landes votierten. Die Wahlbeteiligung lag bei über 84 Prozent der Wahlberechtigten, und mehr als 92 Prozent von ihnen entschieden sich für die Unabhängigkeit. Sogar die Bewohner des ukrainischen DonbasDonbasReferendum Ukraine (1991) (Donezbecken) an der russischen Westgrenze stimmten mit einer Mehrheit von fast 84 Prozent für die Unabhängigkeit. Auf der KrimKrimReferendum Ukraine (1991), der einzigen Region in der Ukraine mit einer mehrheitlich russischen Bevölkerung, sprachen sich immerhin 54 Prozent für die Unabhängigkeit aus. In Sewastopol, dem Heimathafen der SchwarzmeerflotteSchwarzmeerflotte, war das Votum für die ukrainische Unabhängigkeit mit 57 Prozent sogar noch höher.[4]

Die Abstimmung war ein Schock für GorbatschowGorbatschow, MichailReferendum Ukraine (1991), nicht jedoch für den russischen Präsidenten Boris JelzinJelzin, BorisReferendum Ukraine (1991), GorbatschowsGorbatschow, Michail einstigen Schützling und späteren Herausforderer und Rivalen. Jelzin war einige Tage zuvor von seiner Beraterin Galina StarowoitowaStarowoitowa, Galina, einer Anthropologin und engagierten Verfechterin der Demokratie, über den zu erwartenden Wahlausgang unterrichtet worden. Ungläubig studierte JelzinJelzin, BorisReferendum Ukraine (1991) die Prognosen. »Das kann doch nicht wahr sein«, war seine erste Reaktion. »Das ist schließlich unsere slawische Bruderrepublik! Die Bevölkerung dort besteht zu 30 Prozent aus Russen. Die Krim ist russisch! Alle Menschen östlich des Dnjepr zieht es nach Russland!« Es dauerte fast 40 Minuten, bis StarowoitowaStarowoitowa, Galina ihren Chef davon überzeugen konnte, dass die Umfragedaten nur in eine einzige Richtung wiesen: auf ein überwältigendes Votum für die UnabhängigkeitUkraineReferendum (1991). JelzinJelzin, BorisReferendum Ukraine (1991) traf seine Entscheidung auf der Stelle: Er würde die ukrainische Unabhängigkeit anerkennen und sich mit Leonid KrawtschukKrawtschuk, Leonid treffen, dem in Kürze gewählten Präsidenten der Ukraine, um mit diesem ein Bündnis und eine neue Union zu schmieden, die anders sein sollte als die von Michail GorbatschowGorbatschow, Michail geführte.[5]

Die Zusammenkunft fand am 7. Dezember in der BelowescherBelowescher Vereinbarungen (1991) Heide an der belarussisch-polnischen Grenze statt und dauerte bis zum nächsten Tag. Führende belarussische Politiker, darunter der Vorsitzende des Obersten Rats der Republik, Stanislaw SchuschkewitschSchuschkewitsch, Stanislaw, waren Gastgeber des russischen und des ukrainischen Präsidenten, die über das Schicksal der UDSSR entschieden. Als KrawtschukKrawtschuk, Leonid es ablehnte, der von GorbatschowGorbatschow, Michail vorgeschlagenen reformierten Union beizutreten, schlug JelzinsJelzin, Boris Berater Gennadi BurbulisBurbulis, Gennadi vor, die UDSSRUdSSRAuflösung der Union (1991) insgesamt aufzulösen. Entsetzt meldete der Chef des belarussischen KGB diesen hochverräterischen Vorschlag seinen Vorgesetzten in Moskau, doch er erhielt keinerlei Reaktion – zu diesem Zeitpunkt hatte GorbatschowGorbatschow, MichailRücktritt (1991) nur noch wenige Unterstützer in der sowjetischen Hauptstadt. So wurde die Sowjetunion durch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ersetzt, eher eine regionale internationale Organisation als ein neuer Staat. Kaum zwei Wochen später traten die Führer der zentralasiatischen Republiken der Gemeinschaft als Gründungsmitglieder bei. Nun hatte GorbatschowGorbatschow, MichailRücktritt (1991) auch in den Republiken keine Verbündeten mehr. Er fügte sich ins Unvermeidliche und trat am 25. Dezember 1991 zurück.[6]

GorbatschowsGorbatschow, Michail außenpolitischer Berater Anatoli TschernjajewTschernjajew, Anatoli, der auch die Rücktrittsrede seines ChefsGorbatschow, MichailRücktritt (1991) in wesentlichen Teilen verfasst hatte, schrieb später in seiner Bewertung des letzten Jahres der SowjetunionUdSSRAuflösung der Union (1991): »Was in jenem Jahr mit der UDSSR geschah, war genau das, was auch mit anderen Imperien ›zu gegebener Zeit‹ geschah, als das ihnen von der Geschichte zugeteilte Potenzial erlosch.« Der Untergang anderer Imperien stand TschernjajewTschernjajew, Anatoli deutlich vor Augen, als er Sätze wie »Das Furchtbarste an dieser Krise war der Zerfall der staatlichen Strukturen« und »Wir sind die Nachkommen einer großen Zivilisation« in den Entwurf von GorbatschowsGorbatschow, MichailRücktritt (1991) Rede einfügte. Aber er räumte auch die Vergeblichkeit aller Versuche ein, das scheiternde Imperium doch noch zu retten. »GorbatschowsGorbatschow, MichailRücktritt (1991) Bemühungen, die Union zu bewahren, sind hoffnungslose Krämpfe«, notierte TschernjajewTschernjajew, Anatoli im November 1991 in sein Tagebuch: »Und doch hätte sich alles in Wohlgefallen aufgelöst, wäre da nicht die Ukraine gewesen und die Krim, die nicht zurückgegeben werden kann.«[7]

Die SowjetunionUdSSRAuflösung der Union (1991) zerbrach aufgrund des ukrainischenUkraineReferendum (1991) Referendums, denn die Ukrainer ließen als Einzige über ihre Unabhängigkeit abstimmen. GorbatschowGorbatschow, Michail plädierte für ein unionsweites Referendum über das Schicksal der UDSSRUdSSRAuflösung der Union (1991), aber in keiner anderen Republik fand eine solche Volksabstimmung statt. Die meisten Republiken, einschließlich Russland, akzeptierten die Ergebnisse des ukrainischen Referendums schlicht als Urteil nicht nur über die Unabhängigkeit der ukrainischen RepublikUkraineReferendum (1991), sondern auch über die Zukunft der UDSSR insgesamt. Weder GorbatschowGorbatschow, MichailReferendum Ukraine (1991) noch JelzinJelzin, BorisReferendum Ukraine (1991) konnten sich die Sowjetunion ohne ihre zweitgrößte Republik vorstellen, die ein Schlüsselelement sowohl der zaristischen als auch der sowjetischen Geschichte und Mythologie Russlands darstellte. Eine Neuauflage des imperialen Projekts, in welcher Form auch immer, würde davon abhängen, ob Russland in der Lage wäre, die Ukraine zurückzuholen. »Ohne die Ukraine ist Russland kein Imperium mehr, aber mit einer unterworfenen und dann untergeordneten Ukraine wird es automatisch zu einem Imperium«, bemerkte Zbigniew BrzezinskiBrzezinski, Zbigniew einige Jahre später.[8]

Der Mythos der Ursprünge

Die meisten RussenRusslandMythos von Kyjiw als Ursprung glauben heute wie schon seit Jahrhunderten, dass ihr Staat und ihre Nation ihren Ursprung in Kyjiw (in russischer Schreibweise »Kiew«) haben, dem Zentrum des mittelalterlichen Staatswesens, das Historiker als Kyjiwer RusKyjiwer Rus bezeichnen. Mit der heutigen ukrainischen Hauptstadt als Mittelpunkt umfasste es einen großen Teil des Gebiets der heutigen Ukraine, von BelarusBelarus und des europäischen Teils von Russland. Die im 10. Jahrhundert gegründete Kyjiwer RusKyjiwer Rus erlag im 13. Jahrhundert dem Ansturm der Mongolen, brachte aber zuvor noch zahlreiche halb unabhängige Staaten hervor. Die mächtigsten waren GalizienGalizien-Wolhynien in der heutigen Ukraine und im südlichen BelarusBelarus, Groß-NowgorodNowgorod (Republik) beziehungsweise die Republik Nowgorod im Nordwesten des ehemaligen Kyjiwer Reichs sowie das Fürstentum WladimirWladimir (Fürstentum) – das spätere Moskau – in seinem nordöstlichen Teil, dem historischen Kern des modernen Russlands.[9]

Die Russen können die Ursprünge ihrer Religion, ihrer Schriftsprache, ihrer Literatur, ihrer Künste, ihres Gesetzbuchs und – was in der vormodernen Ära äußerst wichtig war – ihrer Herrscherdynastie tatsächlich auf Kyjiw zurückführen. Ihre Versuche, Kyjiw als UrsprungRusslandMythos von Kyjiw als Ursprung ihrer Ethnie, Sprache und Volkskultur zu beanspruchen, erwiesen sich jedoch als problematischer. Reisende aus Moskau und Sankt Petersburg stellten fest, dass die Einheimischen in Kyjiw und Umgebung eine andere Sprache als sie pflegten, andere Lieder sangen und eine andere Kultur hatten. Das spielte jedoch keine große Rolle, da sich der Mythos von den Kyjiwer Ursprüngen RusslandsRusslandMythos von Kyjiw als Ursprung bereits Ende des 15. Jahrhunderts im Bewusstsein der russischen Eliten festgesetzt hatte.[10]

Die Entstehung dieses MythosRusslandMythos von Kyjiw als Ursprung reicht bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts zurück, in die ersten Jahre des später in Westeuropa »Moskowien« genannten Großfürstentums MoskauMoskauGroßfürstentum als unabhängiger Staat. Sein Gründer war Iwan III. (der Große)Iwan III. (der Große), der Herrscher von Moskau und einer der vielen Nachkommen der Kyjiwer Fürsten, die die Herrschaft Moskaus über ein riesiges Reich begründeten, das sich von Nischni Nowgorod im Osten bis nach Groß-NowgorodNowgorod (Republik) (oder einfach Nowgorod) im Westen erstreckte. Inmitten von IwansIwan III. (der Große) Krieg gegen Nowgorod, einen der Erben der Kyjiwer RusKyjiwer Rus, entstand der Mythos von den Kyjiwer Ursprüngen RusslandsRusslandMythos von Kyjiw als Ursprung, der ursprünglich ein dynastischer Anspruch war. IwanIwan III. (der Große) erklärte sich zum Erben der Kyjiwer Fürsten und beanspruchte auf dieser Grundlage das Recht, über NowgorodNowgorod (Republik) zu herrschen. Er besiegte die Nowgoroder 1471 in der Schlacht von SchelonSchlacht von Schelon (1471) und gliederte die Republik 1478 in sein Reich ein. Der unabhängige russische Staat, der aus dem Kampf zwischen MoskauMoskauGroßfürstentum und Nowgorod hervorging, war das Ergebnis des Sieges des AutoritarismusAutoritarismus über die Demokratie.

IwanIwan III. (der Große)s militärischer Sieg über die Nowgoroder machte ihn auch völlig unabhängig von den Tataren-Khans, den Nachfahren des Mongolenreichs, deren Herrschaft über das Großfürstentum Moskau zunehmend nur noch dem Namen nach bestand. Die Tataren versuchten, IwanIwan III. (der Große) an der Einnahme Nowgorods zu hindern – paradoxerweise zum Schutz der russischen Demokratie –, scheiterten jedoch und mussten sich zurückziehen. Die Eroberung Nowgorods symbolisierte auch die erfolgreiche Durchsetzung von IwanIwan III. (der Große)s dynastischem Anspruch, als Einziger legitimer Erbe der Kyjiwer Fürsten zu sein. In den Jahren darauf berief er sich immer wieder auf diesen Status, um weitere russische, ukrainische und belarussische Gebiete zu erobern. Der mächtige historische Mythos von den Kyjiwer Ursprüngen der russischenRusslandMythos von Kyjiw als Ursprung Dynastie schuf die Grundlage für die Eroberungspolitik des neuen unabhängigen Großfürstentums MoskauMoskauGroßfürstentum.[11]

Iwan III.Iwan III. (der Große) war der erste moskowitische Herrscher, der versuchte, sich »Zar« zu nennen, eine europäische Bezeichnung mit der Bedeutung »Kaiser« oder »Herrscher der Herrscher«, abgeleitet vom Namen Julius Cäsars. Der Erste jedoch, der tatsächlich zum Zaren gekrönt wurde, war sein Enkel, IwanIwan IV. (der Schreckliche) der Schreckliche. Iwan III.Iwan III. (der Große) übertrug seinem Erben nicht nur die autoritäre Institution der fürstlichen Macht, die der Enkel erfolgreich in eine Form der Tyrannei verwandelte, sondern auch den Mythos der Kyjiwer Abstammung. IwanIwan IV. (der Schreckliche)IV. (der Schreckliche) behauptete, Nachkomme von Kaiser Augustus zu sein, eine genealogische Verbindung, die er über die Kyjiwer Fürsten bis zu den Kaisern von Byzanz und ihren römischen Vorgängern zurückzuverfolgen versuchte. Zudem war er bestrebt, das Moskowiterreich über die Besitztümer seines Großvaters hinaus zu vergrößern.

In den 1550er Jahren eroberte IwanIwan IV. (der Schreckliche)IV. die Khanate Kasan und Astrachan, die wie sein russisches Reich selbst Nachfolgestaaten des einst mächtigen Mongolenreichs waren. IwanIwan IV. (der Schreckliche)IV. zählte die Jahre seiner Herrschaft über die Khanate von Moskau, Kasan und Astrachan getrennt, womit er die Eroberung dieser Wolga-Khanate als die entscheidende Leistung hinstellte, die seinen Anspruch auf den Zarentitel rechtfertigte. Nachdem er diese Khanate unterworfen hatte, wandte er sich nach Westen Richtung Ostsee und führte gegen das Großfürstentum LitauenLitauen (Großfürstentum) Krieg auf dem Gebiet der heutigen baltischen Staaten und von BelarusBelarus – weitere Teile der einst mächtigen Kyjiwer RusKyjiwer Rus. IwanIwan IV. (der Schreckliche)s Versuch, die Herrschaft Moskaus nach Westen auszudehnen, scheiterte jedoch im Livländischen KriegLivländischer Krieg (1558  – 1583) (1558–1583), in dem das Zarenreich einer Koalition von Staaten gegenüberstand, zu denen Polen-Litauen, SchwedenSchweden und DänemarkDänemark gehörten.[12]

Das 17. Jahrhundert begann mit der Einnahme MoskausMoskauEinnahme durch poln. Truppen und Kosaken durch polnische Truppen und ihre Verbündeten, die ukrainischen Kosaken. Während dieser »Zeit der Wirren« und in deren Gefolge separierte sich Moskau nicht nur politisch, sondern auch religiös von Kyjiw und den ukrainischen und belarussischen Gebieten. Die Moskowiter betrachteten die Kyjiwer nicht mehr als orthodoxe Glaubensbrüder, da sie durch die Annahme der Herrschaft katholischer Könige und die Öffnung gegenüber dem Westen korrumpiert worden seien. Auf dem Schlachtfeld besiegt und durch interne Streitigkeiten geschwächt, ließ Moskau für eine Weile von seiner Besessenheit von Kyjiw, dessen Geschichte und der damit verbundenen Rechtfertigung für weitere Eroberungen ab. Doch dies war eine relativ kurze Phase und nicht das Ende der imperialen Bestrebungen.[13]

Im 19. Jahrhundert behaupteten russische Historiker, darunter deren einflussreichster Vertreter, Wassili KljutschewskiKljutschewski, Wassili, die nach der mongolischen Invasion erfolgte »Sammlung der russischen Erde« oder »Wiedervereinigung der Rus« durch die Moskauer Fürsten und später die Zaren sei das bestimmende Merkmal des russischen Geschichtsverlaufs. Diese Interpretation der Historie, die im Mythos von RusslandsRusslandMythos von Kyjiw als Ursprung Kyjiwer Ursprüngen wurzelte, sollte in der triumphalen Wiedervereinigung der Rus in einem russischen Staat oder in einem »Russland, dem einen und unteilbaren«, gipfeln. KljutschewskiKljutschewski, Wassili zufolge war dieser Prozess Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen.[14]

Kein Element der Wiedervereinigungssaga hielten die imperialen Historiker für bedeutsamer als die Kontrolle Moskaus über die Ostukraine seit Mitte des 17. Jahrhunderts. Ihre sowjetischen Nachfolger feierten dies als »Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland« – in ihren Augen der Höhepunkt der ukrainischen Geschichte mit ihrer vollständigen Assimilierung durch Russland. Viele ukrainische Historiker hingegen bezeichneten die »Wiedervereinigung« jedoch als Militärbündnis, Personalunion oder sogar als völlige Unterwerfung.

Eine der Folgen des Livländischen KriegesLivländischer Krieg (1558  – 1583) im 16. Jahrhundert, den IwanIwan IV. (der Schreckliche) der Schreckliche verloren hatte, war angesichts der moskowitischen Bedrohung der Zusammenschluss des Königreichs Polen mit dem Großfürstentum LitauenLitauen (Großfürstentum), der dessen ukrainische und belarussische Gebiete umfasste. Die Union von Lublin (1569)Union von Lublin (1569) begründete die polnisch-litauische Adelsrepublik, einen frühmodernen Staat mit begrenzter königlicher Macht und starken zentralen und lokalen Parlamenten oder Landtagen. Als Teil des Zusammenschlusses erlangte Polen die Kontrolle über die Ukraine und Kyjiw, während die belarussischen Gebiete im Großfürstentum LitauenLitauen (Großfürstentum) verblieben. Diese Aufteilung sollte die Entwicklung der heutigen Ukrainer und Belarussen als separate Nationalitäten maßgeblich prägen.[15]

Die führende Rolle bei der Entstehung der modernen UkraineUkraineKosakenstaat (Hetmanat) spielten die Kosaken – freie Männer und entlaufene Leibeigene, die im späten 16. Jahrhundert am unteren Dnipro im »Niemandsland« zwischen dem Königreich Polen und dem Krim-KhanatKrimKrim-Khanat, einem entfernteren Verwandten des Mongolenreichs, zu einer starken Militärmacht wurden. Unter der Führung ihres Befehlshabers, Hetman Bohdan ChmelnyzkyjChmelnyzkyj, Bohdan, rebellierten die Kosaken 1648 gegen die polnische Herrschaft mit dem Ziel, ihre politischen Freiheiten als eigener sozialer Stand durchzusetzen und ihre orthodoxe Religion ungehindert ausüben zu können. Dieser blutige Aufstand, dem auch viele Juden der Ukraine zum Opfer fielen, gipfelte in der Gründung eines KosakenstaatesUkraineKosakenstaat (Hetmanat).

Der neue Staat benötigte Verbündete, wollte er gegen die deutlich überlegenen polnischen und litauischen Streitkräfte bestehen, die sich ihm entgegenstellten. Nach mehr als fünf Jahren Krieg schmiedete ChmelnyzkyjChmelnyzkyj, BohdanBündnis mit Moskau ein Bündnis mit Moskau und erkannte die Souveränität des Zaren im Gegenzug für dessen militärischen Schutz gegen die Feinde der Ukraine an. Das Abkommen wurde im Januar 1654 zwischen ChmelnyzkyjChmelnyzkyj, Bohdan und den Bevollmächtigten des Zaren in der ukrainischen Stadt Perejaslaw geschlossen. Mit dem Eintritt in den Krieg gegen die polnisch-litauische Adelsrepublik verfolgte Moskau das unmittelbare Ziel, die während der Zeit der Unruhen an Polen verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Doch die Erinnerung an das Kyjiwer Erbe erwachte alsbald wieder, und die ukrainischen Orthodoxen galten nun erneut als Brüder im Glauben. Mit dem Schutz der orthodoxen Brüder vor den polnischen katholischen Königen und mit dem Verweis auf die Kyjiwer Wurzeln der Moskauer Dynastie ließ sich fortan das neue Streben nach Westen legitimieren.[16]

Nachdem die Polen schnell besiegt waren, zogen die Moskowiter in BelarusBelarus ein und errichteten ihre Garnisonen im ukrainischenUkraineKosakenstaat (Hetmanat) Kosakengebiet, einschließlich der Stadt Kyjiw. Die langwierige Eingliederung des ukrainischen Kosakenstaats in das Moskauer Zarenreich und der Eingriff in das, was die Kosaken als ihre »Rechte und Freiheiten« bezeichneten – die Elemente ihrer demokratischen politischen Kultur –, hatten begonnen. Für die ukrainischenUkraineKosakenstaat (Hetmanat) Kosakeneliten waren die neuen Verhältnisse nicht hinnehmbar, und 1708 führte ihr neuer Hetman, Iwan MasepaMasepa, IwanAufstand gegen Moskau, einen Aufstand gegen den Moskauer Zaren und späteren Kaiser Peter I.Peter I. von Russland an. Letzterer war es, der den Namen seines Landes in Rossija – Russland – änderte, ein aus dem byzantinischen Griechisch stammender Begriff, und 1721 die Gründung des Russischen Reichs verkündete.

MasepaMasepa, Iwan schloss sich den vorrückenden Truppen von König Karl XII. von SchwedenSchwedenKarl XII. von Schweden an, wurde jedoch zusammen mit seinem neuen Schutzherrn in der Schlacht von Poltawa (1709)Schlacht von Poltawa (1709) im Herzen des ukrainischenUkraineKosakenstaat (Hetmanat) Kosakengebiets geschlagen. Moskaus Sieg in dieser SchlachtSchlacht von Poltawa (1709) führte zum Triumph im Nordischen Krieg (1721)Nordischer Krieg (1721) und beförderte das Russische Reich in die Position einer europäischen Macht mit Besitzungen im Baltikum und in Mitteleuropa, wo es die polnisch-litauische Adelsrepublik de facto zu seinem Protektorat degradierte. In der UkraineUkraineKosakenstaat (Hetmanat) beschnitt PeterPeter I. von Russland die Autonomie der Kosaken, indem er das Amt des Hetmans abschaffte und den Kosakenstaat, den Historiker als HetmanatHetmanatSiehe UkraineKosakenstaat bezeichnen, der Rechtsprechung eines russischen Verwaltungsgremiums, des Kleinrussischen KollegiumsKleinrussisches Kollegium (Verwaltungsgremium), unterstellte.[17]

Zarin Katharina II.Katharina II. von Russland, die von 1762 bis 1796 regierte, vollendete die Zerstörung des HetmanatsUkraineKosakenstaat (Hetmanat) und die Integration des Kosakenstaats in das Russische Reich, das sie von Peter I.Peter I. von Russland geerbt hatte. Dies geschah inmitten der russisch-türkischen KriegeRussisch-Türkischer Krieg (1828/29) Ende des 18 Jahrhunderts. Da die KrimtatarenKrimtataren nach der Annexion der KrimKrimAnnexion (1783) keine Bedrohung mehr darstellten, gab es keinen Grund mehr, die ukrainischen Kosaken und ihre demokratischen Institutionen zu tolerieren. Die Kosakenregimenter wurden in die russische kaiserliche Armee eingegliedert, und mit dem russischen Angriff auf die Saporoger Sitsch in der unteren Dnipro-Region 1775 wurden auch die letzten Institutionen der Kosaken beseitigt.

Bei den drei Teilungen PolensPolenTeilung (1772) beanspruchte KatharinaKatharina II. von Russland ganz BelarusBelarus und den größten Teil der ukrainischen Gebiete. Anlässlich der zweiten Teilung im Jahr 1772 ließ sie eine Medaille mit der Inschrift Ottorzhennaja woswratich (»Entrissenes habe ich zurückgebracht«) prägen. Damit wurde erneut auf die Gebiete Bezug genommen, die einst zum Kyjiwer Staat gehört hatten. Bis auf die westukrainischen Gebiete, die an die Habsburger MonarchieHabsburger Monarchie fielen, wurden nun die ukrainischen Landstriche, die zuvor von den KosakenUkraineKosakenstaat (Hetmanat) oder den Polen beherrscht worden waren, als bloße Provinzen ohne besondere Rechte oder Privilegien in das Russische Reich eingegliedert.

Die Kosaken waren verschwunden, mitsamt ihrem Staat und ihren Institutionen. Aber nicht die Erinnerung an sie. Im 19. Jahrhundert wurde sie zu einem mächtigen Instrument in den Händen derer, die die moderne ukrainische Nation schufen. Von ihnen stammt auch eine neue ukrainische Hymne, die mit den Worten »Noch ist die Ukraine nicht untergegangen« anhebt – ein deutlicher Verweis darauf, dass die Nation fortbesteht, auch wenn ihr geistiges Zentrum, der KosakenstaatUkraineKosakenstaat (Hetmanat), zerstört wurde.[18]

Der Aufstieg einer Nation

Erst im 19. Jahrhundert sah sich das Russische Reich einem Feind gegenüber, der nicht zu besiegen war. Dieser Feind hieß NationalismusNationalismus. Er trat zuerst in zwei polnischen Aufständen in Erscheinung, die das Russische Reich erschütterten. Langfristig war es jedoch der ukrainischeUkraineNationalismusNationalismusNationalismusukrainischer, geweckt durch die kaiserlichen Maßnahmen zur Niederschlagung der polnischen Rebellion, der die größte Bedrohung für den Bestand des russischen Staates darstellteUkrainenationale Identität. Während sich die Polen der kaiserlichen Herrschaft widersetzten, bedrohten die Ukrainer die Einheit von KatharinaKatharina II. von Russlands »wiedervereinigtem« Reich, indem sie eine eigenständige IdentitätRusslandnationale Identität beanspruchten.

Das Russische ReichRusslandpolnischer Aufstand (1830/31) wurde durch den ersten polnischen Aufstand von 1830/31 mit der nationalen Frage konfrontiert. Die PolenPolenAufstand gg. Russland 1830/31, deren Vielvölkerstaat PolenPolenTeilung (1772)-Litauen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Russland, PreußenPreußen und dem habsburgischen ÖsterreichÖsterreich aufgeteilt worden war, hissten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Fahne des modernen NationalismusNationalismuspolnischer in allen Reichen, unter deren Herrschaft sie gezwungen worden waren. Sie verfochten als Erste die Idee, dass eine Nation nach politischer Souveränität streben kann, selbst wenn sie über keinen Staatsapparat verfügt. Dieser Gedanke schlug sich auch in den Eingangsworten der polnischen Hymne nieder, die der ukrainischen Hymne als Vorbild diente: »Noch ist Polen nicht verloren.«[19]

Das imperiale Russland setzte dem ein eigenes Modell des russischen NationalismusNationalismusrussischer entgegen, das sich eng an das Reich anlehnte. Im Jahr 1832, nach dem ersten polnischen Aufstand, schlug der neu ernannte stellvertretende Bildungsminister, Graf Sergej UwarowUwarow, Sergej, Kaiser Nikolaus I.Nikolaus I. von Russland eine dreiteilige Formel als Grundstein für eine neue russische IdentitätRusslandnationale Identität vor, die durch das Bildungssystem geformt werden sollte. Demnach sollte sich ein loyaler Untertan des Zaren zu drei Grundsätzen bekennen: OrthodoxieOrthodoxie, AutokratieAutokratie und Nationalität. In der Vergangenheit waren die russischen Untertanen zur Loyalität gegenüber Gott, dem Souverän und dem Vaterland verpflichtet gewesen. Die Nationalität, die an die Stelle des »Vaterlandes« trat, war sowohl eine Reaktion auf den aufkommenden polnischen NationalismusNationalismuspolnischer als auch ein Versuch, die deutsche NationenbildungNationenbildung nachzuahmen. UwarowUwarow, Sergej war besonders von den Schriften des deutschen Historikers und Philologen Karl Wilhelm Friedrich von SchlegelSchlegel, Friedrich, eines Anhängers Johann Gottfried von HerdersHerder, Johann Gottfried, beeinflusst. HerderHerder, Johann Gottfried stellte sich einen vereinten deutschen Staat vor, der auf der durch Sprache und Sitten geeinten deutschen Nation gründete.[20]

Für UwarowUwarow, Sergej sollte die angestrebte Nationalität unbestreitbar russisch sein, aber auch die anderen ostslawischen Erben der Kyjiwer RusKyjiwer Rus, die Ukrainer und Belarussen, umfassen. Die Bevölkerung der beiden kleineren Zweige war überwiegend orthodoxen Glaubens, eine bedeutende Minderheit gehörte allerdings der im späten 16. Jahrhundert gegründeten Unierten KircheUnierte Kirche an. Deren Anhänger, die in den östlichen Grenzgebieten des geteilten Polens lebten, folgten dem orthodoxen Ritual, erkannten jedoch die Oberhoheit des römischen Papstes an. In den Augen UwarowsUwarow, Sergej waren sie zwar russisch, aber nicht orthodox, und viele verdächtigten sie, für die Propaganda der polnischen Aufständischen anfällig zu sein. Dieses »Problem« wurde noch vor Ende der 1830er Jahre gelöst, indem man die UniertenUnierte Kirche zwangsweise mit der russisch-orthodoxenRussisch-orthodoxe Kirche Kirche »wiedervereinigte«. Die russische Nation, geeint durch die Loyalität gegenüber dem Zaren, war fortan auch durch die Religion geeint.

Die unter UwarowsUwarow, Sergej Aufsicht verfassten Geschichtsbücher entwarfen das Bild einer russischen Nation, die nun innerhalb der imperialen Grenzen vereint und dem Zaren untertan sei. Dem imperialen Narrativ zufolge lagen die Ursprünge der russischen NationRusslandMythos von Kyjiw als Ursprung im mittelalterlichen Kyjiw der Fürstenzeit. Diese Nation sei durch fremde Invasoren – von den Mongolen bis zu den Polen – geteilt, jedoch von den russischen Zaren wieder zusammengeführt worden, um abermals zu erstarken und dadurch unbesiegbar zu werden.[21]

Das Modell einer geeinten russischen Nation blieb nicht lange unangefochten. Nach dem Vorbild der PolenRusslandpolnischer Aufstand (1830/31) hissten auch die Ukrainer schon bald die Fahne der eigenen Nationalbewegung. Das Reich sah sich also mit einer Kampfansage aus den Reihen der russischen Nation konfrontiert, die es in Opposition zu Polen aufzubauen versuchte. In den 1840er Jahren gründeten Kyjiwer Intellektuelle unter der Führung des an der örtlichen Universität tätigen Geschichtsprofessors Nikolai KostomarowKostomarow, Nikolai und des Dichters und Malers Taras SchewtschenkoSchewtschenko, Taras, der dort Malerei lehrte, eine Geheimorganisation, welche die Existenz einer eigenständigen ukrainische Nation proklamierte. Dabei beriefen sie sich auf Überlieferungen aus der Kosakenzeit und historische Chroniken. Sie waren fasziniert von der ukrainischen Sprache sowie von den Traditionen und der Kultur des einfachen Volkes – den Elementen, die HerderHerder, Johann Gottfried und seinen Anhängern zufolge den Urgrund der nationalen Identität bildeten.

So war das moderne ukrainische Nationalprojekt geboren, das für das Russische Reich eine weit größere Bedrohung bedeutete als der polnische AufstandRusslandpolnischer Aufstand (1830/31). KostomarowKostomarow, Nikolai schwebte eine slawische Föderation vor, die an die Stelle der Monarchien und Reiche der Romanows und der HabsburgerHabsburger Monarchie treten sollte. Das Kaiserreich sah sich gezwungen, das Modell der einheitlichen russischen Nation anzupassen. Dies geschah nach dem zweiten polnischen AufstandRusslandpolnischer Aufstand (1863/64) (1863–1864), der erneut die Loyalität nicht nur der Polen, sondern auch der Ukrainer und Belarussen infrage stellte. Das neue Modell der einheitlichen russischen Nation war ebenfalls dreigliedrig und postulierte die Existenz getrennter »Stämme« von GroßrussenGroßrussen, KleinrussenKleinrussen (Ukrainern) und Weißrussen (Belarussen). Zwar sprächen sie verschiedene »Dialekte« des Russischen, so das Argument, das unter anderem von dem konservativen russischen Journalisten Michail KatkowKatkow, Michail vorgebracht wurde, aber das sei kein Grund, die Einheit der dreigliedrigen Nation in Zweifel zu ziehen.[22]

Um diese Einheit der Nation zu gewährleisten, beschlossen die Behörden, die Entwicklung einer eigenständigen ukrainischen und belarussischen SpracheSpracheUkrainischSpracheBelarussisch zu unterbinden. Das VerbotPublikationsverbot ukrainischer Texte, etwas anderes als Folklore in ukrainischer Sprache zu veröffentlichen – einschließlich der Bibel, religiöser Schriften und Sprachfibeln sowie Schulbüchern –, wurde 1863 erlassen und blieb mit einigen Änderungen bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Kraft. Dann wurde es in den Wirren der Revolution von 1905 im Russischen Reich aufgehoben. Der Bann gegen ukrainischsprachige PublikationenPublikationsverbot ukrainischer Texte verzögerte die Entwicklung des modernen ukrainischen Nationalprojekts, konnte es aber nicht gänzlich verhindern. Die Ukrainer in GalizienGalizien, einem Teil der Ukraine, der im Zuge der polnischen Teilungen von ÖsterreichÖsterreich annektiert worden war, veröffentlichten weiterhin nicht nur ihre eigenen Werke, sondern auch die Schriften ihrer Kollegen aus der russisch beherrschten Ukraine auf Ukrainisch.[23]

Die russischen kaiserlichen Behörden verfolgten die Entwicklungen in den slawischen Ländern eines ihrer Hauptrivalen, der Habsburger MonarchieHabsburger Monarchie (die nach der Niederlage ÖsterreichsÖsterreich gegen Deutschland 1866 in eine österreichisch-ungarische Doppelmonarchie umgewandelt wurde), mit größtem Argwohn. Besonderes Augenmerk widmeten sie den Ukrainern in den drei Provinzen GalizienGalizien, Bukowina und dem heutigen Transkarpatien, die von ethnischen Ukrainern bewohnt wurden. Diese bezeichneten sich selbst als RussinenRussinen (Ruthenen) (in Österreich-UngarnÖsterreich-Ungarn Ruthenen genannt) und entwickelten im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht nur ein Projekt zur NationenbildungNationenbildung, sondern deren drei. Jenes, das aus der Revolution von 1848 hervorging, zielte auf eine eigenständige russinische beziehungsweise ruthenische Nationalität ab, die den HabsburgernHabsburger Monarchie gegenüber loyal war und nur wenige Verbindungen zur übrigen Ukraine unterhielt.

Die HabsburgerHabsburger Monarchie unterstützten zwar die ruthenischenRussinen (Ruthenen) Bestrebungen als Gegengewicht zu der viel aktiveren polnischen Bewegung, aber da sie gegenüber den Ungarn, mit denen sie inzwischen die Macht teilen mussten, geschwächt waren, gaben sie auf Kosten der RuthenenRussinen (Ruthenen) den Polen den Vorzug. Daraufhin suchten einige ruthenische Führer und deren Anhänger Unterstützung in Sankt Petersburg und erklärten sich zu Angehörigen der russischen Nation. Die sogenannte russophile BewegungRussophile Bewegung war geboren. Doch die folgende Generation ruthenischer Aktivisten lehnte sowohl das habsburgische als auch das russische Projekt ab, erklärte die RuthenenRussinen (Ruthenen) in Österreich-UngarnÖsterreich-Ungarn zu Ukrainern und schlug Brücken zur ukrainischen Bewegung im Russischen Reich.[24]

Die kaiserlichen russischen Behörden unternahmen zahlreiche Versuche, die russophile BewegungRussophile Bewegung in GalizienGalizien und anderen habsburgischen Provinzen zu fördern. Sie subventionierten sogar die führende russophile Zeitung und nahmen die von den österreichischen Behörden verfolgten Führer der Bewegung als Flüchtlinge auf (die Österreicher verdächtigten sie, zaristische Agenten zu sein). Trotz dieser kaiserlichen Unterstützung wurden die RussophilenRussophile Bewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts von den Befürwortern des ukrainischen Projekts politisch weitgehend ins Abseits gedrängt. Deren prominentester Vertreter, der Historiker Mychajlo HruschewskyjHruschewskyj, Mychajlo, zog nach Lwiw (das österreichische Lemberg) und wurde Professor an der dortigen Universität. Er schuf ein neues Narrativ der ukrainischen Geschichte und wurde nach dem Fall des Russischen Reichs das erste Oberhaupt eines unabhängigen ukrainischen Staates.[25]

Der Untergang des Imperiums

Zwar gelang es dem Russischen Reich nicht, die rivalisierende HabsburgermonarchieHabsburger Monarchie mithilfe des Nationalitätsproblems zu schwächen und sich selbst vor dem Aufkommen der ukrainischen Bewegung zu schützen. Dafür waren die Bemühungen Sankt Petersburgs, Nationalität und Religion gegen seinen anderen Rivalen, die »Hohe Pforte«, also die osmanische Regierung, einzusetzen, wesentlich erfolgreicher.

Der Niedergang des Osmanischen ReichsOsmanisches Reich nahm bereits in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts seinen Anfang, doch es war das Erstarken des NationalismusNationalismus unter den unterworfenen Völkern im 19. Jahrhundert, das dem Reich den Todesstoß versetzte. In diesem Jahrhundert kam es zu zahlreichen Aufständen orthodoxer und slawischer Untertanen auf der Balkanhalbinsel gegen die osmanische Herrschaft. Als Erste rebellierten die Serben und Griechen und gründeten Anfang des Jahrhunderts unabhängige Staaten. Die Russen unterstützten sie dabei, allerdings mehr aus geopolitischen und religiösen Erwägungen als aus Gründen der Nationalität. Die Anerkennung beider Länder erfolgte nach dem Russisch-Türkischen Krieg (1828/29)Russisch-Türkischer Krieg (1828/29), der das Osmanische ReichOsmanisches Reich de facto in russische Abhängigkeit brachte.

Der Aufstieg des PanslawismusPanslawismus in Russland und die orthodoxe Religion der osmanischen Untertanen auf dem Balkan wurden zu wichtigen Faktoren für die Rechtfertigung der russischen Einmischung in die osmanischen Angelegenheiten, die das ganze 19. Jahrhundert über und bis ins frühe 20. Jahrhundert andauerte. 1875 revoltierten die Slawen der Herzegowina gegen die osmanischeOsmanisches Reich Herrschaft, ebenso wie die Bulgaren. Ihnen folgten die Serben in den noch von den OsmanenOsmanen kontrollierten Teilen Serbiens und Montenegros. Zwar konnten die OsmanenOsmanisches Reich die Aufstände niederschlagen, doch 1877 rückten die Russen mit Truppen in die osmanischen Besitzungen ein und besiegten die Armee des Sultans. Der 1878RusslandRussisch-Türkischen Krieg (1828/29) auf dem Berliner Kongress unterzeichnete Friedensvertrag beinhaltete die internationale Anerkennung der Unabhängigkeit RumäniensRumänien, SerbiensSerbien und Montenegros sowie die Autonomie BulgariensBulgarien, eines Staates, der nur einen Bruchteil des eigentlichen bulgarischen Territoriums umfasste.[26]

Russlands Unterstützung für SerbienSerbien, diesmal nicht gegen die OsmanenOsmanen, sondern gegen Österreich-UngarnÖsterreich-Ungarn, wurde zu einem der unmittelbaren Auslöser des Ersten WeltkriegsErster Weltkrieg und verdeutlichte die Bedeutung des NationalismusNationalismus und die Bedrohung, die er für die Imperien darstellte. In allen kriegführenden Ländern, einschließlich des Russischen Reiches, begann der Weltkrieg mit einem Aufschwung des NationalismusNationalismusErster Weltkrieg und Chauvinismus seitens der herrschenden Nationen. In Österreich-UngarnÖsterreich-Ungarn ging man vehement gegen den slawischen NationalismusNationalismusslawischer vor, einschließlich der russophilen BewegungRussophile Bewegung unter den Ukrainern im österreichischen GalizienGalizien. Und im Russischen Reich verboten die Behörden ukrainische Einrichtungen und Organisationen.

Während die Kriegsparteien den NationalismusNationalismusErster Weltkrieg der Minderheiten im eigenen Land unterdrückten, taten sie ihr Bestes, um die Nationalitätenkarte gegeneinander auszuspielen und nationale Bewegungen hinter den Fronten zu mobilisieren. Die Russen versprachen den Polen innerhalb der deutschen und österreichischen Grenzen einen eigenen Staat und Autonomie; die Österreicher wiederum stellten den Ukrainern in Russland einen eigenen Staat in Aussicht. Je länger der KriegErster Weltkrieg dauerte, desto mehr versuchten die kriegführenden Reiche, ihre Gegner zu schwächen, indem sie die Ansprüche nationaler Minderheiten auf dem Territorium ihrer Feinde anerkannten oder dort sogar Nationalstaaten gründeten. Zusammen mit den Österreichern waren die Deutschen dabei die Vorreiter, als sie 1916 die Gründung des Königreichs PolenPolenKönigreich 1916 erklärten.[27]

Mit dem Sturz der Romanow-Dynastie im März 1917 als Folge der FebruarrevolutionRussische Revolution (1917) war der Gründung autonomer Staaten auf dem Gebiet des Russischen Reichs Tür und Tor geöffnet. Der bolschewistische Putsch im Oktober 1917 führte zur weiteren Zerstörung der kaiserlichen Institutionen und zur Bildung unabhängiger Staaten auf der Grundlage neuer Autonomien. Den BolschewikiBolschewiki gelang es jedoch, die Einheit des ehemaligen Zarenreichs wiederherzustellen, und das nicht allein durch militärische Stärke, sondern auch mit kulturellen Zugeständnissen an die verschiedenen Nationalitäten sowie dadurch, dass sie unter deren Intelligenzija Anhänger rekrutierten und ihr Recht auf politische Autonomie und den Gebrauch ihrer Nationalsprachen bei der Führung der öffentlichen Angelegenheiten anerkannten.

Die Hauptkonkurrenten der BolschewikiBolschewiki waren Generäle der Weißen ArmeeRusslandWeiße Armee, die der Idee des einen und unteilbaren Russlands anhingen. Da sie die künftige russische Republik als russischen Nationalstaat verwirklichen wollten, konnten sie nicht darauf hoffen, die nichtrussischen Nationalitäten für sich zu gewinnen, und ihr Vorkriegsmodell der gesellschaftlichen Verhältnisse entfremdete sie von den Bauern und Arbeitern. Die BolschewikiBolschewiki ihrerseits versuchten erfolglos, unter dem Banner der Weltrevolution die Kontrolle über FinnlandFinnland, PolenPolen und das Baltikum wiederzuerlangen. Auch verloren sie Teile der Ukraine und von BelarusBelarus an PolenPolen sowie die ehemalige russische Provinz BessarabienBessarabienSiehe Moldau (Republik) (die spätere Republik MoldauMoldau (Republik)) an RumänienRumänien. Aber sie eroberten und behielten den größten Teil des übrigen Reichs.[28]

Am Vorabend seines groß angelegten Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 sollte Wladimir PutinPutin, WladimirLenin u. Bolschewiki als Gründer der Ukraine behaupten, es seien die BolschewikiBolschewiki und insbesondere LeninLenin, Wladimir Iljitsch gewesen, die einen ukrainischen Staat und sogar die heutige Ukraine geschaffen hätten. Selbst rudimentäre Kenntnisse der Geschichte der Russischen Revolution und des damit einhergehenden Zusammenbruchs des Russischen Reichs genügen, um zu wissen, dass der heutige ukrainische Staat nicht dank LeninLenin, Wladimir Iljitsch, sondern vielmehr gegen dessen erklärten Willen entstanden ist.[29]

Im Mai 1917, kurz nach dem Sturz der Monarchie, proklamierte die Zentralna Rada (Zentralrat)UkraineZentralna Rada (Zentralrat), das revolutionäre ukrainische Parlament, das in Kyjiw gegründet und von dem prominentesten Historiker der Ukraine, Mychajlo HruschewskyjHruschewskyj, Mychajlo, geleitet wurde, die Autonomie der Ukraine innerhalb einer künftigen russischen Republik. Doch erst nach dem bolschewistischen Putsch in Petrograd im Herbst 1917 verkündete die Zentralna RadaUkraineZentralna Rada (Zentralrat) die Gründung der Ukrainischen VolksrepublikUkrainische Volksrepublik (1917), die den größten Teil des heutigen ukrainischen Territoriums innerhalb der Grenzen des Russischen Reichs umfasste, darunter auch die Bergbauregion Donbas (Donezbecken). Der neue Staat wollte föderale Beziehungen zu Russland unterhalten, doch der Einmarsch der BolschewikiBolschewiki im Januar 1918 machte dies unmöglich.

Daraufhin erklärte die Zentralna RadaUkraineZentralna Rada (Zentralrat) die Unabhängigkeit der Ukraine und trat dem antibolschewistischen Bündnis mit Deutschland und Österreich-UngarnÖsterreich-Ungarn bei. Die BolschewikiBolschewikiin Ukraine führten den Krieg gegen die ukrainische Regierung unter dem Banner ihrer eigenen Ukrainischen Volksrepublik – eine Fiktion, ersonnen, um der bolschewistischen Machtübernahme in der Ukraine eine gewisse Legitimität zu verleihen. Die bolschewistischen Truppen verübten unter der Bevölkerung von KyjiwKyjiwMassaker durch Bolscheiki ein Massaker und töteten Hunderte, wenn nicht Tausende Einwohner, darunter auch den Metropoliten Wassylyj (BohojawlenskyjBohojawlenskyj, Wassylyj) der orthodoxen KRussisch-orthodoxe Kircheirche. Der bolschewistische Befehlshaber in Kyjiw, Michail MurawjewMurawjew, Michail, meldete LeninLenin, Wladimir Iljitsch telegraphisch Vollzug: »Die Ordnung in Kyjiw ist wiederhergestellt.«

Die Zentralna RadaUkraineZentralna Rada (Zentralrat) musste Kyjiw verlassen, kehrte aber schon wenig später zurück, nachdem sie ein Abkommen mit Deutschland und Österreich-UngarnÖsterreich-Ungarn getroffen hatte, deren Truppen im Frühjahr 1918 in die Ukraine einmarschierten und die BolschewikiBolschewikiin Ukraine aus dem Land, einschließlich des Donbas, vertrieben. Die Deutschen ersetzten die demokratische Zentralna RadaUkraineZentralna Rada (Zentralrat) bald durch das autoritäre Regime von Hetman Pawlo SkoropadskyjSkoropadskyj, Pawlo, doch die demokratische Ukrainische VolksrepublikUkrainische Volksrepublik (1917) wurde wiederhergestellt, als die Deutschen Ende 1918 aus der Ukraine abzogen. Daraufhin kehrten die BolschewikiBolschewiki erneut zurück, diesmal unter dem Banner ihrer vormaligen Gegner, der Ukrainischen Volksrepublik, die formell von Russland unabhängig war.[30]

Als die BolschewikiBolschewikiin Ukraine wieder in der Ukraine erschienen und einen militärischen Feldzug starteten, um die ukrainischen Provinzen des ehemaligen Russischen Reichs erneut unter zentrale Kontrolle zu bringen, war das ukrainische NationalbewusstseinUkrainenationale Identität bereits derart erstarkt, dass LeninLenin, Wladimir Iljitsch sich zur Änderung seiner Strategie gezwungen sah. Das anhaltend intensive Streben der Ukraine nach Unabhängigkeit, nicht nur unter den Ukrainern im Allgemeinen, sondern sogar unter den ukrainischen Bolschewiki, veranlasste LeninLenin, Wladimir Iljitsch, der UkraineUkraineAutonomie unter Lenin ein gewisses Maß an Autonomie und einen Status zuzugestehen, der dem Russlands gleichgestellt war.[31] So wurden die Ukrainer zwar als eigenständige Nationalität anerkannt (ebenso wie die Belarussen) und galten nicht mehr nur als ein »Stamm« einer dreigliedrigen russischen Nation wie zur Zarenzeit, und sie durften sogar Ukrainisch zur offiziellen Sprache ihres Landes erklären, doch die Ukraine blieb ein sowjetischer Marionettenstaat, dessen Unabhängigkeit nur pro forma bestand.

Den BolschewikiBolschewikiin Ukraine war bewusst, dass sie mit den nationalen Bewegungen, die durch die Auswirkungen des Ersten WeltkriegsErster Weltkrieg und der Revolution von 1917 enorm an Stärke gewonnen hatten, einen Ausgleich finden mussten, und sie bemühten sich deshalb, mit den neuen politischen und kulturellen Eliten der Ukraine zu kooperieren. Sie kamen ihnen nicht nur in Fragen der Sprache, der Kultur und der Rekrutierung lokaler Kader für die Verwaltungen entgegen, die de facto Einrichtungen einer Besatzungsmacht waren. Zur Einhegung der nationalen Bewegungen gehörten auch die Schaffung staatlicher Institutionen und die Anerkennung der formalen Unabhängigkeit der von den BolschewikiBolschewikiin Ukraine kontrollierten Marionettenstaaten, die gebildet wurden, um die neuen, von nationalen Minderheiten in den Grenzgebieten des ehemaligen Reichs gegründeten, wirklich unabhängigen Staaten und Regierungen zu delegitimieren.

Die Kommunistische Union

LeninLenin, Wladimir Iljitschs wichtigster Beitrag zur Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen war nicht die Gründung eines modernen ukrainischen Staates. Es war vielmehr die Ausstattung Russlands beziehungsweise der Russischen Föderation – der Name, unter dem es in die Sowjetunion eintrat – mit einem Territorium und Institutionen, die sich zum ersten Mal seit Jahrhunderten von dem Territorium und den Institutionen des Zarenreichs unterschieden, das die BolschewikiBolschewiki zu erhalten suchten. Wenn überhaupt, dann legte LeninLenin, Wladimir Iljitsch den Grundstein für die Entstehung des modernen Russlands, nicht der Ukraine.

1922 geriet LeninLenin, Wladimir Iljitsch mit Josef StalinStalin, Josef über die Struktur des im Entstehen begriffenen Sowjetstaates aneinander. Wie sollten die Teilrepubliken – formal unabhängige Staaten, die aber faktisch von der bolschewistischen Partei kontrolliert wurden – in eine von Russland geführte Sowjetunion integriert werden? Bei den nichtrussischen Staaten handelte es sich um die Ukrainische Sozialistische SowjetrepublikUkrainische Sozialistische Sowjetrepublik, die Belarussische Sozialistische SowjetrepublikBelarussische Sozialistische Sowjetrepublik und die Transkaukasische Sozialistische Föderative SowjetrepublikTranskaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, zu der GeorgienGeorgien, ArmenienArmenien und AserbaidschanAserbaidschan gehörten. StalinStalin, Josef schlug vor, sie alle als autonome Regionen in die Russische Föderation einzugliedern, doch die ukrainischen und georgischen BolschewikiBolschewikiin Ukraine lehnten dies ab, da es ihre Vorrechte als Herrscher über offiziell unabhängige Republiken erheblich eingeschränkt hätte.

LeninLenin, Wladimir Iljitsch stellte sich schließlich auf die Seite der Ukrainer und Georgier und plädierte für eine Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, der die Russische Föderation gleichberechtigt mit den anderen beitreten sollte. Letztlich setzte er sich durch, sodass der Vertrag zur Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922 unterzeichnet wurde. StalinStalin, Josef fügte sich. Für die Zukunft der russisch-ukrainischen Beziehungen wie auch für das Verhältnis Russlands zu allen übrigen Völkern und Nationalitäten des ehemaligen Zarenreichs war die Gründung der UDSSRUdSSRGründung von folgenreicher Bedeutung. Zum ersten Mal in seiner Geschichte verfügte Russland über ein Territorium und Institutionen, die keinen zaristisch-imperialen Organen mehr unterstanden. Die imperiale Funktion sollte fortan von Institutionen der gesamten Union und nicht von russisch-republikanischen Institutionen wahrgenommen werden.

Trotz der Gründung der UDSSRUdSSRGründung behielten die russischen BolschewikiBolschewiki mittels der wichtigsten Organisation, der Kommunistischen Partei, die Kontrolle über die anderen Republiken. Zunächst noch unter dem Namen Kommunistische Partei Russlands und dann als Kommunistische Allunions-Partei (BolschewikiKommunistische Allunions-Partei) blieb sie stark zentralisiert und ließ allmählich die föderale Struktur der Sowjetunion zu einer reinen Formalität werden. Im Gegensatz zu den anderen Republiken verfügte Russland nicht über eine eigene kommunistische Partei, sondern kontrollierte die Allunions-ParteiKommunistische Allunions-Partei, in der die Parteien der Republiken nicht mehr Rechte innehatten als die kommunistischen Provinzorganisationen der Russischen Föderation. Obwohl die föderale Fassade aufrechterhalten blieb, erhielt die Sowjetunion ein zentralisiertes Regierungssystem in Form der Allunions-ParteiKommunistische Allunions-Partei.[32]

Die UDSSR begann ihre Existenz mit einer massiven Förderung der nichtrussischen Kulturen außerhalb der Russischen Föderation. Die kulturelle Russifizierung der GrenzgebieteUkraineRussifizierungUdSSRRussifizierung der Grenzgebiete wurde jedoch in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren wieder aufgenommen, als StalinStalin, Josef als alleiniger Nachfolger LeninLenin, Wladimir Iljitschs hervortrat und begann, das Land auf den Krieg vorzubereiten. Ein Grund für diesen Wandel war die Industrialisierung, die angesichts der russischen Kontrolle über die Allunions-ParteiKommunistische Allunions-Partei mit dem Vormarsch des Russischen als Sprache der Verwaltung, Wissenschaft und Technologie einherging. Weitere Gründe waren die Notwendigkeit, den Russen als größter Nationalität im nunmehrigen Sowjetimperium entgegenzukommen, sowie das Bestreben, die nichtrussischen Nationalitäten kulturell zu integrieren, damit sie im kommenden Krieg nicht die Seiten wechseln würden.

In der Ukraine, der größten nichtrussischen Republik der UDSSRUdSSRSchauprozesse gegen ukrain. Intelligenzija, wurde in den Schauprozessen gegen die ukrainische Intelligenzija überdeutlich, wie sehr sich die Nationalitätenpolitik geändert hatte. Auf den ersten Prozess dieser Art, der 1929 stattfand, folgte eine Offensive gegen die ukrainischen Parteikader und die Bauernschaft. Während des HolodomorHolodomor (Hungersnot 1932/33), der großen ukrainischen Hungersnot von 1932–1933, erreichten die Attacken ihren Höhepunkt. Eine Reihe hoher ukrainischer kommunistischer Funktionsträger beging Selbstmord, während andere aus ihren Ämtern entlassen und inhaftiert wurden. Im Rahmen einer konzertierten Aktion, die darauf abzielte, den Widerstand der Bauern gegen ihre Kollektivierung zu zerschlagen und die Getreidelieferungen für die sowjetische Industrialisierung zu maximieren, wurden bis zu vier Millionen Bauern dem Hungertod ausgeliefertHolodomor (Hungersnot 1932/33). In den Monaten vor dem Ausbruch der HungersnotHolodomor (Hungersnot 1932/33) erklärte StalinStalin, Josef seinen Mitarbeitern, solche Maßnahmen seien notwendig, wolle man nicht die Kontrolle über die Ukraine verlieren. Der HolodomorHolodomor (Hungersnot 1932/33) verwandelte die Ukraine, die zuvor als Kornkammer Europas galt, in ein vom Hunger verwüstetes Land.[33]

Der Zweite Weltkrieg bewirkte eine weitere Veränderung der Moskauer Politik gegenüber den Nationalitäten. Zwar kam es zu keiner Abkehr vom Russozentrismus, es war jedoch erlaubt, ukrainischen und sonstigen nichtrussischen Patriotismus deutlicher zu bekunden. Die sowjetische Okkupation der polnischen Ostprovinzen nach dem Molotow-Ribbentrop-PaktMolotow-Ribbentrop-Pakt (1939) von 1939 rechtfertigte Moskau als Befreiung der ukrainischen und russischen Landsleute von der polnischen kapitalistischen Unterdrückung. Zudem wurde sie in ethnischer Hinsicht als Wiedervereinigung der Westukraine und des westlichen BelarusBelarus mit den entsprechenden Sowjetrepubliken gefeiert. Das alte Paradigma der imperialen Wiedervereinigung war auferstanden, diesmal in ukrainischem und belarussischem Gewand.

Nach HitlersHitler, Adolf Überfall auf die UDSSR im Juni 1941 wurde der nichtrussische NationalismusNationalismus erneut mobilisiert, insbesondere in der Ukraine, um den patriotischen Widerstand gegen die deutsche Invasion zu stärken. Nachdem die deutschen Truppen mithilfe ihrer rumänischen und ungarischen Verbündeten die gesamte Ukraine besetzt hatten, zögerte Moskau nicht, die ukrainische Sprache und Kultur zu fördern mit dem Ziel, die Gegenwehr gegen die Deutschen zu verstärken und sich die Loyalität von mehr als sechs Millionen Ukrainern zu sichern, die zur Roten Armee eingezogen wurden. Mit dem Verweis auf die Einheit der ukrainischen Nation versuchte Moskau im In- und Ausland auch die militärische Einnahme und Annexion der westukrainischen Gebiete zu rechtfertigen, die in der Zwischenkriegszeit PolenPolen, die TschechoslowakeiTschechoslowakei und RumänienRumänien unter sich aufgeteilt hatten.[34]

1914 hatte die russische Armee die Stadt LwiwLwiwEroberung durch Rote Armee (1914) (Lemberg) erobert, die damals unter österreichischer Herrschaft stand, und dies mit der Befreiung der russischen Mitbürger – so die offizielle Bezeichnung der zaristischen Behörden für die örtliche Bevölkerung – begründet. Als sich der Zweite WeltkriegZweiter Weltkrieg dem Ende zuneigte, spielten die Sowjets jedoch nicht die russische, sondern die ukrainische nationale Karte, als sie LwiwLwiwEingliederung in Ukrain. SSR in die Ukrainische SSR eingliederten, obwohl die Stadt ethnisch weitgehend polnisch war und die Juden die zweitgrößte ethnische Gruppe bildeten (wenngleich die meisten während des Holocausts ermordet worden waren).

Zwar gedachten die Behörden die ukrainische Ethnizität zur Rechtfertigung der sowjetischen Westexpansion zu nutzen, aber sie begrüßten oder tolerierten deshalb keineswegs jeden Ausdruck von ukrainischem Patriotismus und NationalismusNationalismusukrainischer. Die radikale Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUNOrganisation Ukrainischer Nationalisten (OUN)), die in der Zwischenkriegszeit in der Westukraine gegründet worden war, galt als besonders gefährlich. Ihre Mitglieder wurden von den Sowjets als Banderisten bezeichnet: Ihr Anführer, Stepan BanderaBandera, Stepan, und einige seiner Gefolgsleute wurden nach einem gescheiterten Versuch, im Sommer 1941 einen unabhängigen ukrainischen Staat im Bündnis mit Deutschland und gegen die UDSSR auszurufen, in deutsche Konzentrationslager verschleppt. Die nationalsozialistischen Besatzer, die Slawen als Untermenschen betrachteten, deportiertenDeportation mehr als zwei Millionen UkrainerUkraineDeportation nach Deutschland als Zwangsarbeiter nach Deutschland und verfolgten ukrainische Patrioten jedweder Art.

Die beiden Zweige der OUNOrganisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), einer unter der Führung von BanderaBandera, Stepan, der andere geleitet von seinem weniger bekannten Rivalen Andrij MelnykMelnyk, Andrij, wandten sich Ende 1941 gegen die Deutschen. 1943 übernahm die Bandera-Fraktion das Kommando über die 100000 Mann starke Ukrainische Aufständische ArmeeUkrainische Aufständische Armee, eine Guerillatruppe, die gegen die Polnische Heimatarmee und die Nazis und später gegen die Rote ArmeeRote Armee um die Kontrolle der Westukraine kämpfte. Der ukrainische nationalistische Aufstand wurde erst Anfang der 1950er Jahre, in der Endphase von StalinsStalin, Josef