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Was hat die erste Intifada den Frauen gebracht? Diese Frage zieht sich als roter Faden durch den roman. Die Studentin Samar gerät zwischen die Mühlsteine, als ihr traditionalistischer Bruder sie ins Haus zurückprügelt, weil sie seine Familienehre gefährdet. Die alte Hebamme Sitt Sakija ist die Vertraute aller Frauen und kennt alle Geheimnisse des Viertels. Auch in den gefährlichsten Stunden des Ausgehverbots ist sie mit ihrem Köfferchen unterwegs. Nur die schöne Prostituierte Nasha steht zwischen allen Fronten. Für ihren Lebenswandel verachtet und doch von allen ehrenwerten Ehemännern des Viertels besucht, durchschaut sie alle Heuchelei und will in keine Parole einstimmen für diesen »Moloch Palästina, der frisst und frisst« und der ihr alles genommen hat - Familie, Freunde, Ehre.
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Seitenzahl: 253
Veröffentlichungsjahr: 2015
Was hat der palästinensische Aufstand den Frauen gebracht? Sahar Kalifa entwirft ein undogmatisches und selbstkritisches Bild der palästinensischen Gesellschaft in den Zeiten der Ohnmacht und der kleinmütigen Zerwürfnisse auf dem Weg zur Selbstfindung. »Was ist unsere Heimat anderes als du und ich, als wir, die Menschen?«
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Sahar Khalifa (*1941) ging mit achtzehn Jahren eine traditionelle Ehe ein, die dreizehn Jahre dauerte. Nach der Scheidung widmete sie sich verstärkt dem Schreiben, studierte in den USA und arbeitete an der Universität Bir Zeit. In Nablus gründete sie ein palästinensisches Frauenzentrum.
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Regina Karachouli (*1941) ist promovierte Arabistin und Kulturwissenschaftlerin. Nach langjähriger Lehr- und Forschungstätigkeit am Orientalischen Institut in Leipzig ist sie freie Übersetzerin aus dem Arabischen.
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Sahar Khalifa
Das Tor
Roman
Aus dem Arabischen von Regina Karachouli
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die arabische Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel Bab as-saha im Verlag Dar al-adab in Beirut.
Originaltitel: Bab as-saha (1990)
© by Sahar Khalifa 1990
© by Unionsverlag, Zürich 2023
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Aus dem Katalog zur Ausstellung »Marc Rudin/Jihad Mansour«
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30688-2
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Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
DAS TOR
Die Mutter der Jungs1 – Ein Andrang war das! Als strömten all diese …2 – Die Mutter der Jungs schreckt kein Dunkel!« So …3 – Sie breitete die Matratze aus, richtete sich eine …4 – Mittags kam Samar, die Tochter Umm Sadeks …5 – Es war das erste Mal, dass sie den …6 – Tags darauf konnte sich Frau Sakija davon überzeugen …Bewohner eines zweifelhaften Hauses7 – Als Nasha hinausging, um Tee zu kochen …8 – Als sie nach Hause kam, fand sie Husam …Der letzte Spross9 – Husam gehörte zu jener sensiblen Spezies Mensch …10 – Wadschih protzte gern mit seinen Jungs herum …11 – Er erwachte von einem verdächtigen Geräusch. In Sakinas …Neue Gefangenschaft12 – Der Posten war verschwunden. Sie hatten die Zugänge …13 – Sie umwickelte sein Bein mit einem neuen Verband …14 – Den Abend verbrachten sie beim Fernsehen. Als in …15 – Er kam zu sich. Was hat die Intifada …Zweifache Gefangenschaft16 – Tage vergingen, ohne dass sie ihn ansprach oder …17 – Die beiden Frauen tranken den Kaffee in der …18 – Plötzlich ein Dröhnen. Das Kristall am Kronleuchter klirrte …19 – Er schlug die Augen auf und sah …20 – Er öffnete die Augen und sah das liebe …21 – In der Nacht bauten sie die Barriere wieder …22 – Sie verlangte den Gartenschlauch. Über offenem Feuer erhitzten …23 – Als die Sache auskam, fingen sie mit den …24 – Nachdem die Ausgangssperre aufgehoben war, schlich Samar durch …25 – Samar sprang in ihr Bett und verkroch sich …26 – Sie schreckte hoch. Eine Hand schüttelte sie grob …27 – Nasha saß zu ebener Erde, an Husams Bett …Vielfache Gefangenschaft28 – Nasha kam die Stufen von der Dachterrasse herunter …29 – Die drei Frauen waren sich einig …Er, der sich nach Horizonten sehnt30 – Er schaute ihr zu. Sie stickte, wie jede …31 – Stockdunkel war es in der Gasse. Sie prallte …32 – Sie rannte los, und schon stieß sie mit …Sie, die zwischen zwei Polen hängt33 – Nasha!« schrie sie. Mit beiden Händen trommelte sie …34 – Alles war entschieden. Sie liebte einen Mann …35 – Im Überschwang ihrer Sehnsüchte hatte sie Nasha völlig …36 – Du kannst sagen, was du willst«, sagte Achmed …37 – Sie suchten Nasha überall. Samar lief herum und …38 – Der Kampf brach los. Eine Bäuerin schrie: »Herrje!« …Die Sperre39 – Die Gasse füllte sich mit Kondolenzbesuchern und Demonstranten …WorterklärungenMehr über dieses Buch
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IhmEr sei nahEr sei fernEr der sich sehnt nach Horizonten
Ein Andrang war das! Als strömten all diese Frauen, so wie früher, zu einem Empfang bei der Verstorbenen. Sie hatte noch in der Blüte der Jahre gestanden, trotz ihrer großen, weit verzweigten Nachkommenschaft. Hellhäutig war sie und füllig. Doch ihre Taille blieb wohlgeformt, und die Beine waren lang und schlank. Eine stolze, starke Frau war sie. Dennoch hatte sie tausenderlei Bedenken, wenn sie ihre Empfänge vorbereitete. Sie kleidete, parfümierte und schminkte sich sorgfältig und verwandelte ihr Haus in ein Paradies von Jasmin, Basilikum und Nelken, von duftendem Tabak und blinkenden Wasserpfeifen, verziert mit Gold- und Silberfäden, mit Perlen und samtenen Schläuchen. Sie ließ eine gut beleumdete Frau kommen, die unterhaltsam, dabei aber unaufdringlich und höflich war. Reihum servierte diese den Kaffee, Honigkuchen und frische Glut. In der einen Hand die Wasserpfeife, in der anderen den Schlauch, paffte sie hin und wieder daran, während sie hurtig von der Küche in den Salon lief. Sobald sie bei einer Dame anlangte, setzte sie die Pfeife zu ihren Füßen nieder, wischte das Ende des Schlauches ab und rollte es halbkreisförmig zusammen. »Wohl bekomms«, hauchte sie. Einmal wollte Frau Sakija es ihr gleichtun, damals war sie noch sehr jung. Die Frauen zwinkerten einander viel sagend zu und tauschten allerlei Bemerkungen über Länge, Stärke und Wohlgeschmack des Schlauches aus. Die Verstorbene aber eilte ihr in Duftwolken und wallendem Georgette nach, zerrte der Tochter ihres Gatten den Schlauch aus der Hand und wies sie zurecht: »So wird er angeboten!« Da rief eine hinten aus der Salonecke herüber: »Nein, ein steifer Schwanz wär besser!« Einhelliges Gelächter brach los, und das Mädchen, stolpernd vor Verlegenheit und Verblüffung, nahm Reißaus. Das waren doch alles reife, erfahrene, respektable Damen! Wie konnten die meinen, was sie da sagten! Später kam Sakija dahinter, dass das, was sie meinten und woran sie immer dachten, das Gesetz des Lebens und das Mysterium der Fortpflanzung war – die Sorge aller Frauen. Und das täglich Brot einer jeden Hebamme. Ja, gepriesen sei, der das Lebendige aus Totem und Totes aus Lebendem hervorbringt!
Umm Mohammed beugte sich mit einer Thermoskanne voll ungesüßten Kaffees zu ihr nieder und reichte ihr ein henkelloses Tässchen. »Husam erwartet dich in der Küche», raunte sie ihr zu. Sakija sprang von ihrem Platz mitten im Salon auf und lief schnell zur Küche. Er stand am Fenster, der nördliche Berg hinter ihm leuchtete in der Abenddämmerung. Sie konnte seine Züge nicht erkennen, das einfallende Licht verdunkelte seine Gestalt zum Schattenriss.
»Was soll das alles?« fragte er vorwurfsvoll.
Ängstlich streckte sie die Hand aus. »Bitte, sprich doch leise. Die Leute!«
»Ihr solltet euch was schämen vor den Angehörigen der Gefallenen!«
Flehentlich legte sie die Hände ineinander. »Ich bitte dich, denk an unseren guten Ruf.« Sie sah beunruhigt aus dem Fenster. »Hat dich jemand gesehen?«
Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Sorgst du dich nun ums Ansehen oder um mich?«
Sie antwortete nicht, spähte jedoch voller Unruhe hinaus. »Es gibt keine Macht noch Stärke außer bei Gott!« murmelte sie.
Das Haus quoll über von Beileidsbesucherinnen, Koranrezitationen und ungesüßtem Kaffee.
Mitfühlend sagte sie: »Es war deine Großmutter …«
»Na klar, meine Großmutter, und die Frau deines Vaters. Neunzig Jahre. Die hat ihr Leben gelebt. Aber die Jungs …« Er brach ab.
»Der Tod lässt keinen aus«, sagte sie ergeben.
»Und bei jedem Tod so eine Trauerfeier!«
»Sieben Tage, mehr nicht.«
Aufgebracht murrte er: »Und für die Jungs bloß drei!«
Er rannte fort, schlug die Tür hinter sich zu. Der Widerhall durchbrach die Stille der Gänge, die frommen Rezitationen, die leuchtende Dämmerung. Sie sah zu, wie sich seine Schattengestalt zwischen Weinstöcken, wilden Lilien und Kakteenhänden verlor.
Ausschau haltend, beobachtete sie ihn weiter. Er kletterte über die Einfriedung aus Feldsteinen und die Mauer, schlüpfte dann durch die Hecke mit der gestutzten Öffnung. Schließlich verschwand er zwischen Felsen und Dornengestrüpp, irgendwo in den Weiten des Berges im Norden.
Die Mutter der Jungs schreckt kein Dunkel!« So lief es durch das Viertel. Flüsternd wiederholten es die Vermummten, wenn sie vorbeikam. Am Khan der Händler, zwischen den Gärtchen, in den verwinkelten Gassen. Sie hob die Stimme zum Gruß, bevor sie in die Dunkelheit tauchte: »Friede mit euch und Gottes Barmherzigkeit. Friede mit euch und Gottes Gnade.« Sie wandte sich nicht um, spähte nur aus den Augenwinkeln, um sich zu vergewissern. Aus der Finsternis fragte sie ein Vermummter: »Ist Armee im Anzug, Tante Sakija?« Sie schaute nicht hin, setzte ihren Weg fort und sagte immer wieder ihren Spruch auf: »Das Haus schützt drinnen – Mensch und Dschinnen … Friede sei mit euch und Gottes Barmherzigkeit. Friede mit euch und die Gnade Gottes.« Sie ging und ging, bis ein lauter Ruf sie erstarren ließ. »Halt!« Sie blieb stehen. Da kamen sie heran, die Uzi-Maschinenpistolen auf sie und ihre Tasche gerichtet.
»Aufmachen Tasche!«
Sie öffnete die Tasche, und sie besahen ihre einfachen Medikamente – Watte, Mull, Tinkturen, Desinfektionsmittel, Zäpfchen.
»Du Doktor?«
»Nein, Hebamme.«
»Chibame? Was Chibame?«
»Na, Wehmutter.«
»Weimoter? Was Weimoter?«
»Das heißt, ich helfe den Frauen und bring die Babychen zur Welt.«
»Bäbieschen? Bäbieschen!«
Sie hörte zu, wie sie das Wort wiederholten und lachten: »Bäbieschen, Bäbieschen.«
Nur der Posten lachte nicht. Barsch befahl er: »Stell Tasche hier.«
Sie setzte die Tasche auf den Boden. Er trat ein paar Schritte zurück, seine Maschinenpistole und die der beiden anderen zielten auf sie und ihre Tasche.
»Kippen Tasche!« befahl er.
Verständnislos sah sie ihn an.
Er brüllte aufgeregt: »Tasche auskippen!«
Die ganze Straße vibrierte, die nächtlichen Gebäude und dunklen Schatten bebten.
Er trat nach der Tasche und sprang rasch beiseite. Von Weitem beobachtete er, wie Sakija die Medikamente auspackte und dabei murmelte: »Es gibt keine Macht noch Stärke außer bei Gott. Es gibt keine Macht noch …«
»Was dies?«
»Eine Klistierspritze.« Sie nahm die Gummikugel, presste sie zusammen. Er wich einen weiteren Schritt zurück und schrie: »Stell auf Boden!«
Sie legte die Spritze auf die Erde, und er schleuderte sie mit einem Fußtritt fort.
Sie musste lächeln. Die fürchteten sich doch wirklich vor allem, sogar vor einer Klistierspritze. Jedem Geschöpf begegneten sie mit Argwohn, und sei es bloß eine Katze.
An den geschlossenen Läden strich eine Katze vorbei, Richtung Abfalltonne. Sie schaute ihr nach, bis sie den orangenen Lichtkreis der Straßenlaterne verlassen hatte. Da entdeckte sie hinter der Abfalltonne dunkle, schemenhafte Gestalten! Ihr Herz begann zu rasen, beinahe hätte sie der Schlag getroffen. Was nun, wenn sie einen Stein warfen? Oder einen Molotowcocktail? Wenn es zwischen beiden Seiten zum Gerangel käme, während sie noch auf der Straße stand! Wäre es denn wirklich möglich, dass sie so etwas anstellten, wo sie doch hier, mitten auf der Straße, war?
Sie kam bei dem Haus an, unaufhörlich die Macht und Stärke Gottes beschwörend. Die Gebärende lag noch immer in Wehen, die Öffnung war gerade mal drei Finger breit. Geschwind wusch sie sich die Hände und sah nach, ob alles bereitstand: Wasser, Tücher, Sachen fürs Kind. Nach Atem ringend, setzte sie sich nieder und seufzte: »Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.« Sie bat um eine Wasserpfeife, und sie wurde ihr im Nu gerichtet. Auf dem Balkon sitzend, wartete sie die weitere Eröffnung und die Austreibung ab.
Vom Berg aus glich Nablus einem Feuerofen, die Lichter glänzten wie ausgeklopfte Körner. Dennoch, diese Finsternis, die Seufzer, die Parolen der Jungs! Husam der Gejagte, wo würde er wohl schlafen? Erst im Morgengrauen kam er zurück, mit dem Gebetsruf in der Frühe. Er trommelt an das oberste Fenster und ruft, noch hinter den Läden: »Guten Morgen, Tante!« – »Schönsten Morgen, ohne Sorgen!« antwortet sie dann immer. »Licht und Freude sei dein Tag! Nur herein, mein lieber Neffe. Herein mit dir, und nimm eine Mütze Schlaf.« Sie steht auf, er schlüpft in ihr Bett und schläft bis in den Vormittag.
Einmal hat er einen Freund mitgebracht. Ausgehungert wie streunende Kater waren die beiden. Sie verschlangen das ganze Brot und wollten mehr. Ein paar Tage später kam er mit demselben Freund, seine Brust war von einem Dumdumgeschoss zerfetzt. Der Junge starb ihr unter den Händen weg, Husam weinte im Dunkeln. Nachher stellte er sich aufs Dach und pfiff. Wie Dschinnen traten sie aus der Nacht. Sie schleppten den Toten fort und begruben ihn im Handumdrehen, ohne dass seine Mutter etwas davon wusste. Als sie ihr die Unglücksbotschaft überbrachte, schrie sie wie wahnsinnig: »Bloß mein Junge? Er ist doch auch deiner! Du hast ihn mir selber rausgezogen!«
Sie erinnerte sich genau. O ja, bei Gott. Sie war es gewesen, die seine Nabelschnur durchtrennt, die man für die frohe Botschaft beschenkt hatte. Sie hatte ihn gehalten, als er beschnitten wurde. Und heute ist sie es gewesen, die ihm die letzte Träne trocknete. Sie gedachte seiner dunklen Augen und seines Schweißgeruchs. Gerade als er von einem heißen Bad träumte, war er gestorben. Sie aber verscharrten ihn, verschwitzt wie er war, nach Stall stinkend, mit Stroh im Haar.
Die Gebärende schrie auf. Sie eilte zu ihr. Der Kopf war zu sehen, dann verschwand er wieder. Die Frau wurde ohnmächtig. Die Wehen stockten, verebbten. Sie fürchtete, dass sie ganz aussetzen würden, und rief laut, um sie aufzuwecken: »So hilf doch deinem Kind, gute Frau! Hilf deinem Kind!«
Sie breitete die Matratze aus, richtete sich eine Wasserpfeife her und begann zu rauchen, dass es gluckerte. Die Sommernächte waren in Nablus eine wie die andere. Ein kühles Lüftchen trug den Geruch von Jasmin, Feuchtigkeit und Straßenabwässern heran. Der Magistrat scheute keine Mühe, dass die Märkte morgens blitzsauber wie frisch gepflückter Jasmin aussahen. Sobald es aber gegen Mittag ging und alles Leben erstarb, die Läden schlossen, Stände und Karren verschwanden und die Rufe der Verkäufer verstummten, wurde die Stadt zur Abfalldeponie. Papierfetzen, Tüten, Zellstofftücher, haufenweise matschiges Obst. Vom Krankenhaus her, die ganze Straße entlang, über die Gehsteige am Platz, um die Palmenstämme sah sie nur herumfliegendes Zeug. Wind kam auf, wirbelte das Papierzeug umher, blies Tüten auf, wehte Schaltücher und Röcke hoch und drückte alles ein, was nachgab. Und erst nachts! Du lieber Gott! Gepriesen sei der Schöpfer auf seinem Thron! Wie ein Spitzenschleier senkt sich der Nebel vom Gipfel des Ebal auf die Stadt nieder. Manchmal beschert uns Gott eine ruhige Nacht, ohne Aufruhr. Keine Anrufe, keine Zurufe, keine Ausrufe »Allahu akbar!« Keine Soldaten, die in ein Viertel, ob nah oder fern, einfallen. Bei uns in der Stadt geht das sowieso alles durcheinander mit Nah und Fern. Wir sehen die Dinge von Weitem und meinen, sie wären gleich nebenan. Wenn wir aber hin wollen, merken wir, das ist ja ferner als Mekka. Allmächtiger Gott! Alle Länder der Welt hat sie bereist, Damaskus und Beirut, Kuweit und Mekka. Doch so etwas wie diese Stadt hat sie nicht wieder gesehen. Von unten, aus dem Kessel, sieht man sie ganz, von allen Ecken und Enden. Von der Mitte aus betrachtet, sitzen die Leute rings herum, wie auf Theaterrängen. Und die Gipfel reichen hinauf bis zum Schöpfer! Der Berg, der steigt dir Stufe um Stufe aufwärts, und genauso die Menschen, Schicht um Schicht. Sie wohnt freilich im unteren Viertel, in einer Gasse am Torplatz Bab as-Saha.
Hier auf ihrer Dachterrasse, versteckt zwischen den Kuppeln, dem Ofenrohr vom Backofen und den Oberlichtern der Bäder, steht sie trotzdem wie auf einem Minarett und kann ungehindert bei den Nachbarn reinschauen. Da ist Umm Sadek, die Brot- und Zwiebackverkäuferin. Die bäckt schon seit Nachmittag. Und dort ist Umm Hamdallah. Die wickelt an ihren Krautrouladen und füllt Zucchini. Ihre Kinder sind bei ihr und spielen Karten. Da ist Umm Mohammed. Eben breitet sie ein sauberes Laken über die Matratzen des Holzbettes. Wer wird wohl die Jungs diese Nacht beherbergen? Aber nehmen denn die Leute überhaupt noch jemanden gastlich auf? Unser Viertel ist übel dran, schlimmer gehts gar nicht. Kein Tag ohne Probleme. Die Soldaten fallen in Bab as-Saha ein und lassen keinen Passanten ungeschoren. Prügel, Gebrüll, Faustschläge. »Her mit Farbe! Her mit Pinsel! Weg Barrikade! Runter Fahne!« Von hier oben konnte sie alles sehen. »Es gibt keine Macht noch Stärke außer bei Gott dem Allmächtigen!« murmelte sie. »Gott bewahre!« Sie hörte ihr Herz klopfen und flüsterte inbrünstig: »Gott schütze uns. Beschirme uns, Allwissender, Ewiger!« Unten in der Gasse ertönte ein Pfiff, und sofort hallten die Berge von anderen Pfiffen wider. Schüsse ballerten los, Scheinwerfer kreisten, Dumdumfunken blitzten auf. Der Berg war wie von Flutlicht übergossen. Da nahm sie ihre Wasserpfeife, schirmte den Glutschein mit der Hand ab und machte sich still und leise davon.
Mittags kam Samar, die Tochter Umm Sadeks, der Brot- und Zwiebackverkäuferin. Sie brachte ein Kilo Makronenfinger und eine Tüte Sesamkuchen mit. Frau Sakija mochte Samar sehr und hätte sie gern als Braut für ihren Neffen Husam gehabt. Hübsch war sie und sympathisch, eine Absolventin der Nadschah-Universität. Und Angestellte mit Gehalt in Schekeln! Wenn sich die Umstände erst mal änderten und Gott die Gemüter besänftigte, dann könnte es doch durchaus sein … Gebs Gott! Obwohl, sie hatte da so ihre Zweifel, denn Umm Husam und Abu Husam würden über eine Bäckerstochter vielleicht nicht gerade erbaut sein.
Samar zog einen Stapel Papier aus ihrer Tasche. »Tante Sakija«, sagte sie, »ich habe hier einen Fragebogen. Hilfst du mir, ihn auszufüllen?«
Sie setzten sich in den Vorhof neben den Jasminstrauch, wo Husam noch vor einer Stunde seinen Kaffee getrunken hatte, und nahmen sich den Fragebogen vor.
»Alter? Verheiratet? Geschieden? Verwitwet?« – »Nicht gebunden, nicht geschieden.« – »Also was dann?« – »Möge Gott ihm vergeben.« – »Und seit wann?« – »Seit zwanzig Jahren.« – »Hast du inzwischen noch einmal geheiratet?« – »Nein.« – »Warum nicht?« – »Ich hatte ja meine Mädchen zu versorgen.« – »Ist er für euch aufgekommen?« – »Wir haben ihn bei Gericht verklagt. Die verknackten ihn zu fünfundzwanzig Dinar monatlich. Aber na ja … Gott verzeihe ihm … Wir also wieder zum Rechtsanwalt, und der sagt uns doch: ›Gebt Ruhe. Besser, als dass er dir auch noch die Mädchen wegnimmt.‹ Mein Bruder Abu Assam hat uns ein bisschen unterstützt. Nachher habe ich Hebamme gelernt und angefangen zu arbeiten. Erst ging ich zusammen mit Umm Achmed die Wohnungen abklappern. Dann haben sie mich im Krankenhaus angenommen, dort hab ich auch mein Zeugnis gemacht.« – »Und deine Mädchen? Hast du sie allein daheim gelassen? Wer hat gekocht? Wer ging auf den Markt einkaufen? Wer hat gefegt und gewischt?« – »Na ich, ich, ich!« – »Und der Abwasch?« – »Die Mädchen. Bloß ein paar Mal warʼs so, dass ich frühmorgens heimkam und einen Berg Abwasch vorfand. Da habe ich mich halt dran gemacht und was zu essen gekocht. Danach habe ich mich hingesetzt und auf die Mädchen gewartet, bis sie aus der Schule kamen.« – »Warst du nicht erschöpft? Nicht ärgerlich? Oder nervös? Hast du herumgeschrien?« – »Ts ts ts … warst du ärgerlich und nervös, hast du geschrien? Bewahr mich Gott, mein Lebtag habe ich die Stimme nicht erhoben, eine Schande wäre das.« – »Aber wie hast du dir dann Luft verschafft?« – »Ich stopf mir eine Wasserpfeife, setz mich ganz alleine für mich hin und beguck mir so die Welt. Die Berge und Täler und die Menschen da unten und die Autos, wie sie oben den Berg langfahren, wie aufgefädelt. Nachts, wenn die Leute schlafen gegangen sind, sitze ich noch auf der Dachterrasse über der Stiege. Ich schau hinauf zu den Sternen und zum Mond, schnuppere den Jasmin und das Basilienkraut, und ich preise Gott in seiner Gnade.«
Sie sahen einander voll Zuneigung an.
»Gott mache dich glücklich, wie hübsch du bist!« murmelte Frau Sakija wohlgefällig. »Möge der dein Schicksal werden, den ich für dich im Sinn habe!«
Das Mädchen lief rot an und erwiderte nichts.
Frau Sakija registrierte ihr glühendes Gesicht und war sicher, dass ihr solche Worte gefielen. So fuhr sie fort: »Mein Bruder hat zwei Söhne, und alle beide sind sie reif fürs Heiraten.« Samar schwieg, und Frau Sakija redete weiter: »Der eine ist Doktor und macht seinen Facharzt in Amerika. Der andere, das ist ganz wundervoll, der wird jetzt bald fertig mit dem Studium. Aus dem wird bestimmt mal was Ordentliches!«
»Meinst du Husam?«
»Ja, Husam. Kennst du ihn?«
Samar wandte das Gesicht ab und stotterte: »Also, ich hab von ihm gehört.«
»Und kennst du ihn selber?«
Samar schüttelte den Kopf.
Frau Sakija bekam Herzklopfen. »Was hast du von ihm gehört?«
»Gott gebe ihm Kraft und den anderen auch«, rief Samar begeistert. »Wen haben wir denn sonst, als sie? Bloß, ich denk mir, es wird bald eine Razzia geben. Pass ja gut auf, das Viertel ist nicht sicher.«
Sie schaute über den Dachrand hinunter in Sakinas Hof. Die Jalousie war noch geschlossen. »Ja, eine Razzia, bald schon«, wiederholte sie. »Wir müssen uns vorsehen.«
»Ich bin bereit. Wir haben nichts zu befürchten.«
Samar sah sie verschmitzt an, aber ihr Herz klopfte. »Gott schütze uns! Ach ja … bleiben wir besser bei unserem Fragebogen.«
»Sind wir mit der Befragung fertig? Dann mach ich einen Kaffee.«
»Nein!« rief Samar lachend. »Wohin willst du dich verdrücken? Warte, beantworte das hier: Welche Veränderungen brachte die Intifada für die Frau?«
Frau Sakija überlegte einen Moment. »Willst du die Wahrheit?« flüsterte sie.
»Und nichts als die Wahrheit.«
»Mal ganz offen. Nichts hat sich für sie verändert, nur die Sorgen. Ihre Sorgen haben sich vermehrt, das Herz möcht ihr brechen. Da kannst du getrost sagen: Gott stehe den Frauen bei.«
»Aber Tante Sakija«, protestierte Samar, »was redest du zusammen? Was ist das für ein Pessimismus?«
»Was soll ich denn sonst sagen? Jetzt schmeißt sie mit Steinen, sie hilft den Kindern aus der Patsche, sie versteckt die jungen Männer, sie demonstriert? Soweit klar, aber ihre eigenen Probleme sind viel, viel größer geworden. Die alten sind geblieben, wie sie waren, und die neuen kannst du gar nicht mehr zählen. Schwangerschaft. Geburt. Wochenbett. Stillen und waschen, kehren und wischen, kochen und braten. Der Ärger mit den Männern. Die Sorge um die Kinder und die Sorge um die Burschen, die bei Sonnenglut und Eiseskälte zwischen Felsen und Geröll, zwischen Dornensteppe und Bergschakalen irgendwo umherirren. Du sorgst dich um die Nahen und die Fernen, um die Kleinen und die Großen und die Bettlägrigen. Wenn du ihn im Arm hältst, hast du Angst, sie holen ihn, und wenn sie ihn geholt haben, hast du Angst, du kriegst ihn nie wieder. Von Stund an, sobald er im Gefängnis landet, und bis er wieder raus ist, suchst du ihn von einem Gericht zum andern, von einer Tür zur andern. Landet er aber nicht im Gefängnis, dann folgst du ihm von einer Höhle zur andern, von einer Gasse zur andern. Und hast du ihn endlich gefunden, dann machst du dich mit ihm zusammen kaputt. Findest du ihn aber nicht, machst du dich seinetwegen kaputt. Das ist unser Leben – eine Schinderei nach der andern, eine Qual nach der andern. Also sag ruhig: Gott steh den Frauen bei!«
»Aber Tante Sakija«, wandte Samar ein, »anscheinend hast du die Sorgen der Jungs vergessen!«
»Meine Kleine, unsere Sorgen und ihre Sorgen dazu haben wir aufgeladen, wir schaffens kaum noch.«
»Nun bleib mal auf dem Teppich, Tante Sakija!«
»Was denn, Töchterchen, meine Worte gefallen dir wohl nicht?«
»So warʼs nicht gemeint. Schon gut, sag nur, was du sagen möchtest.«
»Frag du mich, und ich antworte.«
Samar schaute in ihre Formulare, dann fragte sie langsam: »Du, du als Frau, als Hebamme und Mutter. Wie hat sich die Intifada auf dich ausgewirkt? Denk mal nach.«
Frau Sakija überlegte. Sie dachte an Husam und an ihre Töchter, die in Kuweit, Saudiarabien und Amman verheiratet waren. Seitdem diese Intifada ausgebrochen war, hatte sie nichts mehr von ihnen gehört. Vielleicht würde sie auch nichts von ihnen hören, bis damit wieder Schluss war. Aber würde die Intifada überhaupt je ein Ende haben? Würden all diese Angst, die Unruhe, das Blutvergießen jemals aufhören? Sie dachte an die Dunkelheit, wo ihr immer so vor Teufeln und Dschinnen grauste. Dachte an nächtliche Hausbesuche, einsame Straßen und die Übergriffe der Armee. Was sie am allermeisten fürchtete, war die Nacht. Die Nacht und die Finsternis und die Razzien, diese plötzlichen Auseinandersetzungen und die zufällig Verwundeten. Und noch schlimmer als all das war die Angst, die sie dabei fühlte und nicht zu zeigen wagte. Es kam schon mal vor, dass sie irgendwo reinschlitterte und plötzlich mitten im Schlammassel steckte, wo es keine Möglichkeit mehr gab, sich zu verkriechen oder zu entwischen. Dann wurde ihre einfache Ausrüstung zum Chirurgenbesteck umfunktioniert. Den einen nähte sie, dem anderen renkte sie die Knochen ein. Hier entfernte sie eine Kugel, dort verabreichte sie eine Spritze. Denn sie war Krankenschwester und Hebamme, Freudenbotin und Warnerin, Taube und Eule. Sie ging von Haus zu Haus, um eine Freudenkunde oder eine Unglücksbotschaft zu überbringen: Deinen Sohn hats erwischt, Frau. Dein Sohn ist gefallen, Frau. Hilf deinem Kind, Frau. Gib mir den Lohn für die gute Botschaft, Abu Soundso.
»Wie bitte, Tante Sakija, was hast du gesagt?«
»Was ist?«
»Welche Auswirkung hatte die Intifada auf dich als Frau, als Hebamme und Mutter?«
»Meine Sorgen sind mehr geworden, das Herz will mir brechen. Sachen hab ich mitangesehen, nicht mal im Traum wäre mir so was eingefallen.«
»Genauer, Tante, sagʼs genauer.«
»Was soll ich da noch sagen, Töchterchen? Dinge gibts, die lassen sich weder genau bestimmen noch aussprechen.«
»Na gut, dann erzähle mir von deiner Arbeit. Wurde deine Arbeit von der Intifada beeinflusst?«
»Lassen wir das lieber. Gott weiß am besten, wie es uns geht. So ist halt der Krieg! Dies und das wird anders, bloß nicht zum Besseren.«
Samar unterbrach sie: »Nein, Tante, nicht unbedingt!«
»Jetzt hör mir mal zu …« Sie dämpfte die Stimme, rückte näher und lugte hinunter zu Sakinas Wohnung mit den geschlossenen Fenstern und Jalousien. »Du siehst doch die Wohnung da?«
»Meinst du die von Sakina?«
»Pst, sprich leise!«
»Was soll damit sein?« flüsterte Samar.
»Weißt du, was da drin vor sich geht?«
»Weiß ich.«
»Und weißt du auch, warum?«
»Da bin ich mir nicht so sicher. In der wissenschaftlichen Forschung muss man exakt entscheiden und überprüfen.«
»Ach so, die wissenschaftliche Forschung! Was denn für eine wissenschaftliche Forschung? Wie sollen wir hier entscheiden und sichergehen? Alles, was wir können, ist vermuten, weiter nichts.«
»Und wie kann man gewiss sein?«
»Du liebes bisschen! Was bei ihr drin war an Entscheiden und Überprüfen, das ist alles gelaufen, und damit basta.«
»Es heißt, Sakinas Sohn sei bei den jungen Leuten.«
»Ja, so sagt man.«
»Manche sagen, Nasha sei schuldlos und zu Unrecht verdächtigt, und es sei eine Schande, dass man ihr so was angetan hat.«
»Das sagt man.«
»Es heißt aber auch, dass sie eine Spionin sei, eine richtige Schlampe, und sie komme ganz nach ihrer Mutter.«
»Ja, so heißt es.«
»Wie können wir da entscheiden und ganz sichergehen?«
»Meine Kleine, wie ich dir schon gesagt habe: Alles, was wir können, ist vermuten, und das warʼs.«
»Aber in der wissenschaftlichen Forschung …«
»Wissenschaftlich oder nicht wissenschaftlich, wer kann sich denn heutzutage mit wissenschaftlicher Forschung befassen? Unsereins hat genug zu tun, dass er bei Dunkelheit seinen Weg findet. Bei Gott, wenn ich laufe, streck ich die Hände nach vorn wie eine Blinde. Vielleicht gehts mit der Welt zu Ende, und der Jüngste Tag ist nahe. An dem Tag kennt man den eigenen Bruder nicht mehr, nicht die Freundin und nicht mal seine Kinder.«
»Was redest du da, Tante?«
»Brüder, von ein und derselben Mutter, aus demselben Bauch gekrochen – aber der eine ist ein Vermummter und der andere ein Kollaborateur. Wie kommt das, na, erklärs mir!«
»Ja, wie kommt es?«
»Weil die Welt am Ende ist. Der Jüngste Tag ist heran.«
»Tante Sakija, was soll das?«
»Hör mir nur mal zu. Hast du nicht gehört, was sie reden? Dass vielleicht Sakinas Sohn die eigene Mutter umgebracht hat?«
»Tante Sakija, du sagst ja selber – sie reden.«
»Weiß Gott, so redet man.«
»Schön, und Nasha?«
»Was ist mit der Nasha?«
»Wie sollen wir uns vergewissern, ob sie unschuldig ist oder nicht?«
»Was liegt schon in unserer Hand, Töchterchen?«
»Es muss aber!«