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Madschids Jugendtraum war eigentlich, als Sänger berühmt zu werden. Aber auch sein jüngerer Bruder Ahmed wird durch die Ereignisse aus der Bahn geworfen. Linkisch und verträumt, interessierte er sich nur fürs Malen und Fotografieren. Nun arbeitet er als Sanitäter beim Roten Halbmond. Während die Frauen den immer schwierigeren Alltag meistern und sich um die Notleidenden kümmern, ist der sensible Ahmed zutiefst verstört. Er verschließt sich seiner Familie und seinen Freunden, wird immer radikaler in seinen Ansichten - bis er schließlich handelt. Ein Verzweiflungs- oder ein Terrorakt? Für diesen Roman hat Sahar Khalifa Tagebuchaufzeichnungen eines Presseberaters von Jassir Arafat verwendet, die während der Belagerung von Arafats Regierungssitz entstanden sind. Zudem hat sie viele Gespräche mit Frauen aus der Altstadt von Nablus geführt. Der Roman vermittelt dadurch ein authentisches Bild des Lebens im Westjordanland in den letzten Jahren.
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2015
Madschid und Ahmed hatten ihre Jugendträume. Doch die Ereignisse haben ihre Leben aus der Bahn geworfen. Ahmed verschließt sich seiner Familie und seinen Freunden, wird immer radikaler in seinen Ansichten - bis er schließlich handelt. Ein Verzweiflungs- oder ein Terrorakt? - Sahar Kalifa zeichnet ein authentisches Bild des Lebens im Westjordanland.
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Sahar Khalifa (*1941) ging mit achtzehn Jahren eine traditionelle Ehe ein, die dreizehn Jahre dauerte. Nach der Scheidung widmete sie sich verstärkt dem Schreiben, studierte in den USA und arbeitete an der Universität Bir Zeit. In Nablus gründete sie ein palästinensisches Frauenzentrum.
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Regina Karachouli (*1941) ist promovierte Arabistin und Kulturwissenschaftlerin. Nach langjähriger Lehr- und Forschungstätigkeit am Orientalischen Institut in Leipzig ist sie freie Übersetzerin aus dem Arabischen.
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Sahar Khalifa
Heißer Frühling
Roman
Aus dem Arabischen von Regina Karachouli
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel Rabi harr. Rihlat as-sabr wa-s-sabbar bei Dar al-Adab, Beirut.
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. in Zusammenarbeit mit der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.
Originaltitel: Rabi harr. Rihlat as-sabr wa-s-sabbar (Beirut, 2004)
© by Sahar Khalifa 2004
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Guillermo Lobo
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30687-5
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
HEISSER FRÜHLING
Erster Teil1 – Er war der geborene Künstler. Jede flüchtige Szene …2 – Ahmed sah auf seine Uhr, dann auf das …3 – Kaum war Madschid am Donnerstagabend von der Uni …4 – »Nun, was hast du getrieben?«, fragte Fadl Kassam …5 – Als Belohnung für die Fotos kaufte ihm sein …6 – Er hätte fliegen können! Es war Frühling …7 – Ahmed wollte die Fotos unbedingt selbst abholen8 – Er nahm die Sonnenbrille ab und legte die …9 – Ahmed kam nicht mehr zur Ruhe, ständig musterte …10 – Bubu leckte ihm die Finger, danach scharrte er …11 – Madschid kam von der Uni und verkündete die …12 – Ramallah glich einer Filmkulisse. Junge Mädchen in engen …13 – Plötzlich vernahm Ahmed eine sanfte Stimme. »Lucky!« …14 – Ahmed erwachte von einem Rascheln, einer merkwürdigen Unruhe …15 – Madschid floh nicht. Am Vormittag kam ein philippinisches …16 – Sie trafen verspätet in Bir Zeit ein …17 – Als die Brüder nach Ain Murdschan zurückfuhren …18 – Ahmed durfte die Katze behalten. Er gab ihr …19 – Suad war zu Besuch gekommen. Ein junger Mann …20 – Isa sah ihn am Zaun unter dem Baum …21 – Isa erklärte ihm, dass die Israelis nur Katzen …22 – Als er die Brille abnahm, wurden seine Augen …23 – Klammheimlich schlich Ahmed hinaus, er stellte sich vor …24 – Eine lange, umfassende Blockade begann. Straßen wurden unterbrochen …25 – Madschid erwachte von einem lauten Getöse …26 – »Jetzt bist du einer von uns«, sagten die …27 – Ahmed sprang auf. »Das ist Madschid!« Seine Mutter …28 – Das Land wurde in Zonen geteilt. Die Eltern …29 – Sie verließen die Höhle und schwärmten aus …30 – Suad und Ahmed beugten sich über ihn. »Das …31 – »Er hat die Augen offen!«, schrie Ahmed32 – Als sie das Haus verließen, war es bereits …33 – Plötzlich knallten Schüsse. Die beiden Soldaten warfen sich …34 – Am Fuß des Berges ließen die Soldaten sie …35 – Lora fand Suad und die Großmutter wie beschrieben …36 – »Ihre Bilder sind aber hübsch!«, schmeichelte Madschids Großmutter …37 – Madame Waschmi schaltete den Fernseher aus. »Die wollen …38 – Am folgenden Abend sah alles anders aus39 – Madame Waschmi bestand darauf, dass die kleine Gruppe …Zweiter Teil40 – Tage und Wochen waren vergangen. Die Israelis hatten …41 – Ich schreibe Tagebuch, um nichts aus dem Gedächtnis …42 – Wir bekamen unsere Ration zugeteilt: ein wenig Brot …43 – Ahmed mochte Umm Suad, ihre ganze Art gefiel …44 – »Einwohner von Nablus!«, dröhnten die Lautsprecher. »Haltet euch …45 – Ahmed kam gerannt. »Die Israelis greifen an!«46 – Hochbetrieb in Hosch Al-Ataot! Die Frauen kochten …47 – In Hosch Al-Ataot wurde weiter gekocht und gegessen …48 – »Einwohner von Nablus! Ihr Hurensöhne, wir kommen und …49 – Suads Mutter blickte um sich. Dicht gedrängt kauerten …50 – Ich kehre zurück zu meinem Tagebuch, um nichts …51 – Der Präsident hatte mich völlig verblüfft, ja fasziniert …52 – Die »Mörder« der ersten Reihe wurden vor Gericht …53 – Ich kehre zurück zu meinem Tagebuch, um nichts …54 – Die Befreiung lief nicht so, wie wir sie …55 – Suad stand auf dem Platz vor dem Regierungssitz …56 – Er hatte Suad unter den Menschen auf dem …57 – »Komm zu mir!« Er hauchte die Worte ins …58 – Suad kehrte nach Nablus zurück. Über gewundene Pfade …59 – Die Mutter führte sie aufs Dach. Nablus lag …60 – Suad sah Ahmed am Kreisverkehr, wo er eben …61 – Ahmed lebte unter den Arbeitern. Eigentlich waren sie …62 – Ahmed stand auf dem Hügel, nachdenklich schaute er …63 – Suad begegnete ihm wieder am Kreisverkehr. Sie lief …64 – Mit klopfendem Herzen folgte Suad dem Ruf der …65 – Stolpernd rannte sie aus seinem Büro. Das war …66 – Ahmed griff zum Fotoapparat und begann zu knipsen …67 – Die Demonstration verlief ruhig und geordnet, bis sie …DanksagungMehr über dieses Buch
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Gewidmet den Frauen des Viertels Hosch Al-Ataot in der Altstadt von Nablus.
Bewahren wir das Erlebte für das Gedächtnis und das Bewusstsein von Generationen.
Er war der geborene Künstler. Jede flüchtige Szene fesselte seinen Blick und wurde ihm zum Bild – eine Frau beim Wäscheaufhängen, ein spielendes Kind, eine dösende Katze, ein Papierdrachen, ein gaukelnder Schmetterling über einer blühenden Frühlingswiese …
»Recht hübsch«, sagte sein Zeichenlehrer. »Aber warum diese Motive? Weshalb malst du nicht, was du erlebst, ich meine, die Wirklichkeit?«
An Ahmeds Schläfe zuckte ein Muskel, sein Blick schweifte nach rechts, und seine Lider senkten sich, als sei er müde. Doch dieser eine Blick enthüllte, was er war: ein sanfter Junge, empfindsam und zart. Und so beschrieb ihn der Zeichenlehrer, als er Ahmeds Vater in seinem Buchladen einen Besuch abstattete.
Fadl Kassam stand da, zwinkerte mit den Augen und kratzte sich am Kopf. Schließlich brummte er: »Gut und schön, aber was soll aus ihm werden?«
Der Lehrer beruhigte ihn: »Ihr Sohn ist ein ausgezeichneter Schüler, und im Zeichnen ist er Klassenbester.«
Wieder zwinkerte der Vater. »Der Junge ist immer so zerstreut!«
»Weil er begabt ist«, sagte der Lehrer warmherzig. »Er ist eben ein wenig verträumt. Trotzdem ist er bei mir der Beste.«
Die Worte des Lehrers machten Eindruck. Am selben Abend kam der Vater nach Hause und schenkte seinem Sohn eine Armbanduhr, die er nebenan im Uhren- und Brillengeschäft an der Moschee gekauft hatte.
»Eine U… U… Uhr?«, stotterte Ahmed ratlos. Er drehte sie hin und her und musterte sie aus den Augenwinkeln, mit diesem schrägen Blick, der sein Gesicht beinahe dümmlich aussehen ließ.
»I… I… Ich hab doch schon eine U… Uhr«, stammelte er mit gesenktem Kopf.
»Die alte Zwiebel!«, ereiferte sich der Vater. »Diese hier ist ganz was anderes! Das ist eine Digitaluhr, die geht kein bisschen vor oder nach!«
Der Junge erwiderte nichts, er drehte und wendete die Uhr in seinen Händen und murmelte leise, unverständliche Worte.
Schließlich wurde der Vater ärgerlich. »Also, was willst du denn?«, fuhr er ihn an.
Ahmeds Augenlider blieben halb geschlossen, schläfrig fast, während der Muskel an seiner Schläfe zuckte. »Eine Sonnenbrille«, flüsterte er.
Überrascht starrte der Vater ihn an. Er konnte nicht begreifen, wieso der Junge eine Schweizer Markenuhr verschmähte und lieber für zehn Schekel diese Sonnenbrille aus China haben wollte, die er vor zwei Tagen in der Auslage wie verzaubert angestaunt hatte. War der Junge vielleicht doch … Nein, nein, sein Lehrer hatte ihm versichert, er sei Klassenbester! Demnach war der Junge weder ein Einfaltspinsel noch ein Dummkopf. Er kam in der Schule voran, durchaus möglich, dass er seinen Abschluss schaffte und später sogar einmal ins Ausland geschickt wurde! Aber so, wie er jetzt war? Schon daheim war er unbeholfen, was sollte erst in der Fremde werden! Immer gedankenverloren, immer verträumt und verschlafen. Und dieses Stottern … Ach, was solls! Der Junge machte sich gut, er war begabt, der Beste in der Klasse. Mochte er beides haben – die Uhr und die Brille.
So geschah es, dass Ahmeds Vater außer der Digitaluhr noch eine Sonnenbrille kaufte. Doch der Junge änderte sich nicht. Er schien irgendwie zurückgeblieben und stotterte weiterhin. Hinter seiner neuen Brille schielte er mal nach rechts, mal nach links, bisweilen wirkte er wie ein Schlafwandler oder ein Halbblinder. Dabei saß er regelmäßig im Laden seines Vaters hinter der Theke, schmökerte in den Magazinen und Zeitungen und verkaufte nebenbei Bücher oder Broschüren.
Fadl Kassam, stolzer Inhaber der Galiläa-Bibliothek, hatte klein angefangen, als Zeitungsausträger auf dem Fahrrad. Das war nach der Zeit der »Katastrophe« von 1948 gewesen. Später, nach dem »Rückschlag« von 1967, als das restliche Palästina besetzt wurde, eröffneten sich ihm ungeahnte Perspektiven. Im Gefolge der erneuten Auswanderung begann der kleine Ort Ain Murdschan plötzlich zu prosperieren. Auch die Moschee erlebte eine Blütezeit, die Zahl der Gläubigen nahm zu, und religiöse Stiftungen errichteten eine Ladenzeile. Er suchte sich das kleinste Geschäft direkt an der Moscheetreppe aus und erwarb es für einen geringen Preis. Nicht lange, und er war überall im Ort als ein verständiger, gebildeter Mann bekannt, schließlich verkaufte er Drucksachen, und außerdem erschien sein Name als Korrespondent hin und wieder in der Zeitung Al-Kuds. Mit größter Begeisterung las man nun das Neueste über dieses vergessene Nest in der Presse. Auf einmal war der Name Ain Murdschan in aller Munde – dank seinem unerschrockenen Lokalberichterstatter Fadl Kassam! So erfuhr man beispielsweise: »Einer Meldung unseres Korrespondenten Fadl Kassam zufolge beschloss die Stadtverwaltung von Ain Murdschan, die Müllkippe außerhalb der Ortsgrenzen anzulegen. Damit berücksichtigte die Verwaltung Eingaben der Sommergäste und Einwohner, die sich über Schwärme von Mücken und Stechfliegen, üble Gerüche und Ungeziefer beklagt hatten.« Oder man las: »Wie unser Korrespondent Fadl Kassam berichtet, überfielen Bewohner des Flüchtlingslagers Ain Murdschan die israelische Siedlung Kirjat Scheba. Sie demolierten Rohrleitungen und Kanalisationsanlagen, sodass sich die Abwässer über die Straßen und Mandelplantagen ergossen. Daraufhin kam es zu Zusammenstößen mit den Siedlern und Streitkräften der Armee.«
Diese Meldungen bewiesen, dass der Korrespondent Fadl Kassam ein prinzipienfester Mensch war, der auch vor der Besatzungsarmee nicht kniff und ohne Bedenken die Wahrheit sagte. Umso verständlicher war seine Enttäuschung über Ahmed, den gar keine Aussage zu interessieren schien, sei sie wahr oder falsch. Ohnehin redete er kaum, und wenn, dann stotterte er. Gedankenverloren, mit scheuem, verschleiertem Blick schaute er umher, als habe er etwas zu verbergen – irgendein Geheimnis oder einen seltsamen Makel. Dabei war er im Grunde ganz anders, ein netter, höflicher Junge, der sich bei den Kunden brav bedankte. Kam jemand in den Laden und verlangte eine Zeitung oder ein Malheft, reichte er ihm stumm das Gewünschte und hielt die Hand hin. Mit einem flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel zählte er die Münzen und legte sie in die Schublade. Nach dem »Danke vielmals« aber war die Sache für ihn erledigt, und er verschluckte jedes weitere Wort. Unverständliche Laute murmelnd, verschwand er wieder hinter dem Ladentisch, um weiterzulesen, etwas zu zeichnen oder zu kritzeln.
Als sein Vater ihm die Sonnenbrille schenkte, lächelte er scheu und berührte sie wie eine Kostbarkeit. Er behauchte die Gläser und putzte sie zwei-, dreimal, bevor er sie überaus behutsam aufsetzte. Von diesem Moment an nahm er sie nur noch ab, wenn er zu Bett oder ins Bad ging.
Eines Tages führte ihn sein Vater auf den Felshügel, damit er die neue Müllhalde fotografierte. Schon wieder bot sie Anlass für einen Streit zwischen der Stadtverwaltung und dem Flüchtlingslager. Die Verwaltung hatte die Müllkippe tatsächlich außerhalb von Ain Murdschan angelegt, allerdings befand sich das Lager genau an der Ortsgrenze. Mit jeder Brise wehten beißender Qualm und übler Gestank herein. Die Einwohner beschwerten sich erneut, aber die Behörde unternahm nichts. Also beschloss man, die Sache in die Zeitung zu bringen. Aus diesem Grund begab sich der Korrespondent Fadl Kassam an jenem Nachmittag mit seinem Sohn Ahmed samt Fotoapparat zur Deponie, um die Vorwürfe an Ort und Stelle zu überprüfen.
Ahmed sah auf seine Uhr, dann auf das Zählwerk der Kamera. Die Ziffern stimmten nicht überein. Sein Vater erklärte ihm, die Kamera registriere die Aufnahmen, seine Schweizer Uhr hingegen die Zeit. Mit dem Finger auf die Anzeige tippend, sagte er langsam, damit der Junge ihn verstand: »Schau her. Das hier sind die Zahlen für die Aufnahmen. Und hier, in der Mitte, ist das Objektiv. Wenn du auf diesen Knopf drückst, entfernt sich das Bild, und wenn du da drückst, nähert es sich. Das heißt Zoom. So, nun guck mal durch … Was ist? Was hast du?«
Mit einer plötzlichen, ängstlichen Bewegung hatte der Junge die Kamera zurückgestoßen. Gerade, als das Objektiv ausgefahren wurde, kam zufällig ein Hund vorbeigelaufen, und das Tier war ihm riesengroß und unheimlich nahe erschienen. Fadl Kassam blickte durch den Sucher, und er begriff, dass sich sein Sohn vor einem Hund fürchtete. Der Junge war also ein Angsthase, ein Weichling! Den musste man hart anpacken und zurechtkneten. Wie sollte er sonst bestehen? Dieses Land war riskant und gefährlich. Hier gab es eine Besatzungsmacht und fremde Richter, es gab Männer unter der Erde, über der Erde, Anschläge und Leichenzüge. Und es gab das Lager Ain Murdschan, wohin seine Eltern vor mehr als fünfzig Jahren geflüchtet waren. Damals war er selbst noch ein kleiner Bub gewesen. Sein Leben hatte begonnen wie das aller Lagerkinder – auf der staubigen Gasse. Danach zog er herum, mit einem Karton Kaugummi oder einem Tablett voller Süßigkeiten. Später verkaufte er Zeitungen, sprang von einem Bürgersteig zum anderen, rannte wieselflink zwischen Passanten und Autos über die Straße und schrie unermüdlich: »Lesen Sie! Nachrichten, brandneu, ganz frisch! Lesen Sie!« Hier ein Piaster, da ein Piaster. Und eines Tages konnte er seinen ersten Stand aufstellen. Ein kleiner Kiosk vor der Moschee folgte und schließlich der Laden. Aber zwischen diesen Stationen! Wie oft litt er Hunger und Durst, wie oft fror er jämmerlich und musste sich der wilden Hunde und Katzen erwehren. Ohne seine Krokodilshaut würde er heute noch wie so viele andere hinter einem Verkaufsstand an der Straße hocken. Kurzum, was man in diesem Land brauchte, war die Haut eines Krokodils, ein festes Herz und ein wachsames Auge, das niemals zwinkerte. Wie sollte der Junge in so einer Umgebung überleben? Gerade er, dieser Hasenfuß mit seiner schwerfälligen Flatterzunge und den schläfrigen Augen hinter der Sonnenbrille.
Er schrie ihn an: »Setz die Brille ab! Komm zu mir!«
Von dem Felsen, wo er stand, überblickte man die Müllkippe und die Mandelplantagen. Dahinter lag die Siedlung Kirjat Scheba. Ahmed schaute bange und ratlos drein, er reagierte nicht. Sein Vater schrie wieder: »Komm her, sag ich dir!«
Langsam stapfte er los, sah zu Boden und setzte ungeschickt einen Fuß vor den anderen. Fadl Kassam verlor die Geduld und geriet in Wut. »Na mach schon, beweg dich!«
Erbost starrte er zu dem Jungen, bis er endlich vor ihm stand. Er packte seine Hand und zog ihn so heftig zu sich heran, dass er beinahe stürzte. Er musste sich an Ahmeds Hemd festhalten, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Über seinen Kopf hinweg, den Blick auf die Plantagen gerichtet, schnaufte er: »Jetzt sieh dir mal das an!« Mit einem schnellen, nervösen Griff riss er ihm die Sonnenbrille herunter. Ahmed schrak zusammen. Sein Vater spürte, wie er zitterte, und geriet noch mehr in Rage. Aber nicht lange, und die ängstlichen Herzschläge unter seiner Hand stimmten ihn milde. Der Junge tat ihm leid. Seine Stimme bebte, als er traurig wiederholte: »Na, sieh es dir an.«
Er wies auf die Deponie, die Siedlung Kirjat Scheba und das Flüchtlingslager, dann drückte er seinem Sohn die Kamera in die Hand. »Betrachte es mit der Kamera. Schau genau hin und knipse. Ein Foto ist wie ein gemaltes Bild. Also, fotografiere!«
Ahmed blickte durch den Sucher. Er sah die Bäume, den fernen Horizont und die Vögel am weiten Himmel, er sah die blühenden Mandel- und Aprikosenhaine und darunter die Wiesen, bedeckt mit Anemonen, Malven und Knöterich. Auch der Hund war wieder da. Er lief durchs Gras davon, hinüber zur Siedlung Kirjat Scheba, zu einer grünen Rasenfläche hinter dem Zaun. Mitten auf dem Rasen stand eine Schaukel, und darauf saß ein Mädchen. Ein blondes Mädchen, hübsch wie eine Puppe. Ihr Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden, flog hoch, fiel auf ihre Schultern zurück und hob wieder ab, wie der Schwanz eines Papierdrachens. Ein leichter Schmetterling war sie, ein kleines, flatterndes Vögelchen.
Der Vater bemerkte, dass sein Sohn die Kamera nach Westen richtete. Er packte ihn bei den Schultern und drehte ihn nach Osten. »Dort spielt die Musik«, sagte er streng.
Am Abend meinte er zu Latifa, seiner Frau: »Vielleicht haben wir ihn zu sehr verwöhnt.«
Latifa, eine hellhäutige, dicke Frau, liebte gutes Essen über alles, noch mehr aber liebte sie ihren Sohn. Ohne aufzuschauen, kaute und strickte sie gleichmütig weiter. »Wieso denn verwöhnt?«, fragte sie schleppend. »Gott schütze ihn! So reinlich ist er, so verständig und klug in der Schule. Sein Hemd ist immer jasminweiß.«
»Der Junge ist zu zaghaft«, erwiderte er besorgt. »Der ist ängstlich wie ein Mädchen, nie und nimmer wird er sich durchschlagen.«
Sie sah ihn einfältig an, dann meinte sie seelenruhig: »Das lernt er schon noch von deinem Großen.« Sie meinte Madschid, seinen älteren Sohn.
Fadl Kassam sagte nichts mehr. Er griff zur Fernbedienung und wechselte von einem Sender zum anderen, bis er an einem alten Film hängen blieb – Flirt junger Mädchen. Ah, Nadschib Raihani, gerade sang er mit Laila Murad! Lächelnd seufzte er auf, während Erinnerungen an Schahira, Madschids Mutter, in ihm aufstiegen. Dunkel wie frisch gebackenes Brot war ihre Haut gewesen, und Schlitzaugen hatte sie wie eine Japanerin. Aber wenn sie lachte und die Zähne entblößte, blitzten ihre Augen wie Juwelen. Ihr Gelächter kam tief aus dem Bauch, es hörte sich an, als hätte sie Haschisch geraucht. Zwischendurch schnappte sie kreischend nach Luft und schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel. Wenn sie so lachte, spürte er, wie das Feuer seinen Körper versengte. Manchmal sang sie für ihn mit ihrer hinreißenden Stimme: »Wann vereint uns die Zeit, du Schöner …« Dann schrie er begeistert und glücklich: »Allah! Allah!« Mit Schahira hatte er seinen ersten Verkaufsstand aufgestellt, und sie gebar ihm seinen ersten Sohn. In einer winzigen Kammer, nicht größer als ein Taubenschlag, teilte sie mit ihm die Bitterkeit des Lagers, wo der Stimmenlärm nie verstummte, wo es keine Intimität gab und die Straßen voller Unrat waren. Trotz seiner Armut war er glücklich. Anfangs trat Schahira mit ihrer Mutter bei Hochzeiten und nächtlichen Feiern auf, sie schlugen das Tamburin und die Trommel wie professionelle Sängerinnen. Dann begann Schahiras Aufstieg, sie sang zur Laute. Deshalb heiratete er sie, gegen den Willen seines Vaters, der ihm erklärt hatte, wer in fremden Häusern die Stimme zum Gesang erhebe, sei ein »öffentliches Singmädchen«. So eine sei nichts wert und verdiene es nicht, in eine ehrbare Familie aufgenommen zu werden. »Was soll denn das heißen – ehrbare Familie?«, fragte er. »Papa, wir sind hier im Flüchtlingslager!« Aber sein Vater blieb dabei. Er stammte immerhin aus Haifa, aus dem Viertel Wadi Nisnas. Bis zuletzt bewahrte er seinen Hausschlüssel und ein Foto von der Haifaer Messe auf, wo er die teuersten und schönsten Perserteppiche ausgestellt hatte.
Kopfschüttelnd lächelte Fadl Kassam über Raihani und erinnerte sich wehmütig der verflossenen Tage. Wohin waren sie entschwunden! Verstohlen lugte er nach der unentwegt strickenden Latifa. Doch was sah er? Fleischringe, Fettwülste, nebeneinander, übereinander getürmt, die reinste Michelin-Reklame! Wenn er da an Schahira dachte … Ach, wenn sie tanzte, wenn sie sang! Und wie sie lachte und kreischte! Ihre Juwelenaugen blitzten, und ihre Taille bog sich wie eine Sprungfeder! Madschid hatte alles von ihr geerbt – das leichte Blut, die schöne Stimme, die anmutige Bewegung. Dagegen der Sohn von dieser … Er war träge wie seine Mutter. Einsilbig, täppisch und ungelenk, langweilig eben. Würde er je auf dem Markt Erfolg haben? Würde er überhaupt einen Platz in dieser Welt finden? Aber wie hatte sein Lehrer gesagt? »Bei mir ist er Klassenbester!«
Kaum war Madschid am Donnerstagabend von der Uni Bir Zeit nach Hause gekommen, befahl ihm der Vater, Ahmed von nun an in den Fitnessklub mitzunehmen. Der Junge müsse »zurechtgeknetet« werden, damit er ihm, seinem Bruder, ähnlich werde. Er solle lachen, sich amüsieren und auch mal über die Stränge schlagen! »Was die Welt braucht, mein Sohn, sind Männer wie Schränke. Er ist ja das reinste Mädchen, nichts als Quarkmuskeln. Was ihm fehlt, ist Mumm in den Knochen. Nimm ihn unter deine Fittiche, kräftige ihn.«
Am nächsten Morgen nahm Madschid seinen Bruder mit in den Klub. Er wies ihm einen Platz an der Wand zu und ließ ihn zusehen, wie er trainierte und seine Muskeln im Spiegel prüfte.
Ahmed stand still. Fünf Minuten, zehn Minuten. Dann verzog er sich in einen Winkel, um ein wenig in der Zeitung Al-Kuds zu blättern, die dort auf einem Stuhl lag. Plötzlich stockte er über dem Namen seines Vaters und dem Foto von der Müllkippe Ain Murdschan, das er unter seiner Anleitung geknipst hatte. Es war eine lange Kolumne über die Deponie und die Beschwerden der Leute. Er kannte weder den Artikel noch das Foto, denn sein Vater brachte keine Zeitung mehr mit nach Hause und holte ihn auch nicht mehr zu sich ins Geschäft. Neuerdings forderte er ihn sogar auf, mit den Jungen auf der Gasse und in seiner Schule zu spielen. Bücher und Lektüre seien zwar schöne und nützliche Dinge, aber: »Im Leben heißt es nun mal zupacken!« Als Ahmed wie üblich hilflos über den Sinn seiner Worte grübelte, hatte er ihm erklärt: »Das bedeutet: Alles im Leben will gepackt sein – das tägliche Brot, der Unterhalt, der Alltag in diesem schwierigen, harten Land. Wenn sie demonstrieren und Steine werfen, dann willst du dich wohl auch verdrücken, statt mit zuzupacken?«
Ahmed gab keine Antwort, weil er weder demonstrieren noch Steine werfen mochte. »Zupacken« war nicht seine Sache. Jedes Mal, wenn die Lage eskalierte, stürmten die Jungs auf die Straße zu einer Demonstration, die mit Parolen begann und mit Chaos, Steinwürfen und Tränengas endete. Dann schlich er klammheimlich fort und versteckte sich irgendwo, möglichst weit weg, in einem Abort, unter einer Treppe, hinter einem Müllcontainer oder auf dem Friedhof von Ain Murdschan. Mit angehaltenem Atem blieb er dort hocken, bis sich die kleine Schlacht des Tages beruhigt hatte. Anschließend kehrte er nach Hause zurück, ohne dass jemand etwas merkte. Sobald seine Mutter ihn so erblickte – bedeckt vom Staub der Gräber, vom Dreck des Müllcontainers, von den Spinnweben unter der Treppe –, schlug sie entsetzt die Hände zusammen und rief laut nach seinem Vater: »Sieh doch, sieh dir bloß deinen Sohn an!« Fadl Kassam tat, als hätte er nichts gehört, und ließ sie erst einmal weiterjammern. »Ich verstehe dich nicht!«, keifte sie. »Wenn sie deinen Sohn verhaften oder erschießen, unternimmst du wohl auch nichts?« Ihr Mann reagierte nicht. Er steckte die Nase in die Zeitung und rauchte. Schließlich warf er seinem Sohn einen bedeutungsvollen Blick zu, als wollte er sagen: Ach, du Schwindler! Sachte stahl sich der Junge ins Bad, während seine Mutter Gott anflehte, ein Ende mit allen Demonstrationen, Organisationen und Schulen zu machen, weil sie die Kinder zu solchem Unfug verleiteten. Sie hörte nicht auf zu zetern, bis ihr Mann vom Stuhl aufsprang und schrie: »Herrgott noch mal, jetzt ist aber Schluss!«
Madschid schaute sich nach seinem Bruder um, und was sah er? Ahmed las die Zeitung! Den interessierten weder die Sportgeräte noch sein Muskelspiel, nichts würde er lernen. Resigniert schüttelte er den Kopf. »Was für ein Blödian!«, murmelte er abfällig. Er musterte das blasse, rosige Gesicht, die schweren Augenlider, die Pausbacken, und er verstand die Befürchtungen seines Vaters. Wirklich, sein Bruder hatte kein bisschen Power im Leibe. Ein dicker Depp, ganz die Mama. Doch eigentlich war er gar nicht so dick, jedenfalls nicht wie früher. Erschien er ihm vielleicht deshalb schlanker, weil Ahmed, wie in diesem Alter üblich, plötzlich in die Höhe geschossen war? In den vorigen Ferien war er bestimmt pummeliger gewesen. Wurde der Junge etwa erwachsen, wurde er bereits mannbar? Ein Vierzehnjähriger und mannbar? Er selbst war ziemlich spät in die Pubertät gekommen. Da hatte ihn sein Bruder mal überrundet. Der war ja auch lang und breit und dick genug – seine Mama mästete ihn wie ein Kalb. Jetzt steckte er schon im Stimmbruch, und mit seinem ernsten Gesicht wirkte er fast wie ein junger Mann. Trotzdem brummte und klagte der Vater unaufhörlich: »Was für ein Langweiler! Na los, beweg dich!« Aber Ahmed bewegte sich nicht. Er hockte vor dem Fernseher, schaltete auf MTV, schaute Filme und kannte alle Hits von Michael Jackson.
Madschid erinnerte sich, wie er in diesem Alter gewesen war. Hatte er etwa MTV gesehen? In seiner Kindheit gab es weder MTV noch MBC noch CNN. Natürlich, auch damals wurde getanzt und gesungen. Aber er wuchs ohne Mutter auf, in der Obhut eines einsamen, vergrämten Witwers. Die Wohnung war verlottert, der reinste Stall. Jedes Mal, wenn sich seine Teta erbarmte und ihn für ein paar Tage zu sich holte, dauerte es nicht lange, und sie brachte ihren Enkel wieder. Aufseufzend, als handle es sich um etwas Erfreuliches, rief sie: »Gott sei Dank, ich bin zu alt fürs Kinderkriegen!« Was heißen sollte: Der Aufwand mit »den Bälgern«, die Belastung und das ganze Trara gingen ihr auf die Nerven. Sie sei ja nun »eine alte Frau«, pflegte sie zu sagen, und ohne ihre Krücken könne sie sich kaum mehr erheben. Sobald aber ein Fest oder eine Hochzeit angesagt war, gewann sie plötzlich auf wundersame Weise ihre Kraft wieder. Flink wie eine Ziege machte sie sich auf den Weg, stets begleitet von einem halbwüchsigen Mädchen in glänzender Dischdascha, mit Kastagnetten in Händen. Bepackt mit Präsenten und Lohn, einer Menge Speisen und süßer Knafe, kehrte sie am Ende der Nacht ins Lager zurück. Wie oft hatte ihn seine Großmutter früher auf Hochzeiten mitgenommen! Er trug die Trommel und rannte ihr hinterher, denn sie hatte es eilig. Wenn die Festbeleuchtung auftauchte, kniff ihn das Mädchen in die Wange. »Siehst du die Lichter, kleiner Madschid?« Dann flitzte er los, so schnell er konnte. »Vorsicht mit der Trommel!«, ermahnte ihn seine Teta. Ohne sich umzudrehen, rief er: »Keine Sorge, ich halt sie gut fest!« Er wollte rechtzeitig an der Tür des Hochzeitshauses stehen, wenn Piaster und Zuckermandeln verteilt wurden.
So war er aufgewachsen, Schahiras Sohn. Ein mutterloser Knabe mit Strubbelkopf und schwarzen Fußsohlen. Er tollte mit den Kindern auf der Gasse, er demonstrierte. Eigentlich demonstrierte er nicht wirklich, er spielte »Araber und Israelis«. Formierte sich irgendwo ein Zug, schloss er sich begeistert an, als ginge es zu einer Hochzeit. Nur dass es beim Hochzeitszug Geschenke gab und bei der Demo Tränengas, Schlägereien, Schüsse und Verhaftungen. Das war der Unterschied zwischen seiner und Ahmeds Kindheit, zwischen seiner armen Teta und Ahmeds Großmutter, die ihrer Tochter immerhin ein Haus und ein Stück Land mit Olivenbäumen vererben konnte. Wieso wunderte und ärgerte sich sein Herr Vater, dass »der Junge« keinen Mumm hatte? Was dachte er sich? Bekam man denn Muskeln von Butter, Milch und Honig? Richtigen Mumm besaßen nur echte Gassenjungs wie er! Sein Bruder war ein Milchbubi, deshalb hatte er eben bloß Quarkmuskeln.
»Nun, was hast du getrieben?«, fragte Fadl Kassam, als Ahmed mit seinem großen Bruder vom Klub zurückkehrte.
Ahmed antwortete nicht, er schaute hierhin, schaute dahin, starrte auf den Bildschirm, als interessierten ihn die Nachrichten.
»Sitz gerade!«, schimpfte der Vater. »Sag mir, was du dort gemacht hast!«
Die Mutter kam mit einer Schüssel Fattusch aus der Küche. »Lass gut sein«, bat sie, »nicht so heftig.« Gereizt fuhr er sie an: »Halt den Mund, Frau! Ich weiß selber, wie ich mit ihm umzugehen habe.« Er drehte sich zu Ahmed um und musterte ihn scharf. »Heraus mit der Sprache! Was hast du gemacht?« Stotternd begann Ahmed: »Ge… ge… gelesen über das Thema.« Sein Vater riss verwundert die Augen auf. »Was für ein Thema?« Langsam erwiderte der Junge: »Die Mü… Mü…« – »Red endlich!« – »Die Mü… Mü… Müllkippe!« Im Vater stieg der Zorn auf, ungeduldig rief er nach seinem Ältesten: »Madschid, komm her!« Als Madschid nicht erschien, schrie er noch nervöser: »He, Madschid! Na los, wirds bald?« Eilig, das Badetuch in Händen, das Haar tropfnass, kam der junge Mann gelaufen. »Bin schon da, Papa!« Mit einem Blick erfasste er die Lage: Dicke Luft braute sich zusammen. »Jawohl, Papa, wo brennts?« Sein Vater starrte ihn erbittert an. »Habe ich dir nicht aufgetragen, dass du ihn trainierst? Stattdessen lässt du ihn in Zeitungen und Magazinen schmökern!« Madschid wollte etwas einwenden, aber sein Vater befahl ihm entschieden: »Er gehört dir. Nimm ihn mit zum Klub, ins Café, nimm ihn von mir aus mit zur Hölle! Hauptsache, er sitzt nicht untätig herum und führt sich auf wie ein Mädchen. Hast du kapiert?« – »Jawohl, Papa.« – »Du lässt ihn nicht aus den Augen!« – »Nein, Papa.« – »Und in den Sommerferien nimmst du ihn überallhin mit, egal, wohin du gehst!« Madschid sah ihn stumm an, er wagte keinen Einwand. Wenn dicke Luft war, wie gerade jetzt, brachte eine Diskussion gar nichts, womöglich durfte er dann abends nicht mehr ausgehen. Mit einem kleinen Scherz versuchte er die Lage zu entschärfen, aber sein Vater war zu wütend, er grinste nicht einmal. »Soll ich ihn auch abends zum Ensemble mitnehmen?«, fragte Madschid leichthin. »Lass den Quatsch!«, murmelte sein Vater undeutlich beim Essen. Er schluckte den Bissen hinunter und schnaufte abfällig: »Muskeln braucht er, Mumm!« Ärgerlich wandte er sich an Ahmed: »Und du, Junge … Hol deine Uhr!« Da Ahmed nicht sofort reagierte, brüllte er: »Her mit der Uhr, die Brille gleich mit! Und ein bisschen hopp, hopp!« Als Ahmed mit der Sonnenbrille und der Armbanduhr aus dem Schlafzimmer zurückkam, hielt sein Vater bereits den Fotoapparat in Händen. Er nahm ihm die Brille und die Uhr ab und reichte ihm die Kamera. »Nachher gehst du mit ihm zur Müllhalde«, befahl er Madschid. »Er soll noch ein paar Fotos knipsen. Hast du verstanden?« – »Jawohl, Papa.« – »Jetzt setz dich endlich hin, was stehst du herum?« Er wies zum Esstisch, und alle nahmen wortlos Platz.
Am Nachmittag gingen die beiden Brüder zur Deponie von Ain Murdschan. Ahmed führte Madschid zu dem Felshügel, wo ihm der Vater das Fotografieren beigebracht hatte. Schweigend begann er zu knipsen, während Madschid gelangweilt umherschaute und ihn antrieb: »Na los, wie lange dauert denn das?« Madschid kannte Ain Murdschan in- und auswendig. Verwandte und Freunde wohnten dort, auch seine Teta, bei der er einen Großteil seiner Kindheit verbracht hatte. Deshalb fand er nichts Spektakuläres am Anblick des Flüchtlingslagers, genauso wenig wie an der israelischen Siedlung ein Stück dahinter, die nun schon seit Jahren da stand. Am Anfang, als sie errichtet wurde, hatte es viel Krach gegeben – Zusammenstöße, Schießereien, Verhaftungen. Doch irgendwann beruhigten sich die Leute. Des Streitens müde, stumpften sie ab und vergaßen oder verdrängten die Situation. Etliche junge Männer arbeiteten in der Siedlung, sei es auf den Baustellen, bei der Straßenreinigung oder in der Landwirtschaft. Madschid hatte selbst vor einigen Jahren in den Sommerferien drüben gejobbt und sich hinter dem Rücken seines Vaters etwas nebenbei verdient. Er trieb mancherlei, wovon sein Vater nichts wusste. So spielte, sang und tanzte er auf Hochzeiten, in Restaurants und bei Festivals. Er hatte eine eigene Truppe, die aus Kommilitonen von der Uni bestand. Einer spielte Keyboard, ein anderer Flöte, ein dritter Schlagzeug, und er sang zur Gitarre. Madschid besaß eine schöne Stimme, noch schöner sah er selbst aus. Sein Dabkatanz war berühmt, nicht nur unter den Studenten, sondern sogar in Ramallah und Bethlehem. Als sein Vater ihn fragte, was es mit dieser Truppe auf sich habe, antwortete er: »Wir sind ein Studentenensemble und singen patriotische Lieder auf Festivals.« Spöttisch, fast ein wenig geringschätzig, meinte sein Vater: »Sehr erfreut, fühle mich geehrt!« Aber weder schimpfte er, noch untersagte er es ihm. Mehrere Bekannte hatten mit boshaftem Augenzwinkern bei ihm angefragt, ob sein Sohn etwa »das Handwerk geerbt« habe. Sie meinten den Broterwerb der Großmutter. Doch Fadl Kassam ließ sie abblitzen: »Der Junge macht sich gut an seiner Uni, und Tanz und Gesang verderben die Jugend durchaus nicht.« Sagten sie: »Er treibt sich herum«, konterte er: »Den Frauen steigt er nach? Na, wenn schon! Soll er wie ein Weib herumsitzen?« Als Madschid von diesem Kommentar seines Vaters erfuhr, schwoll ihm die Brust. Er wurde kühn und träumte schon von einer Gesangsprüfung, einer Reise nach Ägypten und Studioaufnahmen. Sang Hani Schaker besser als er? Wirkte Mustafa Kamar attraktiver? War Kazem Al-Saher hochgewachsener? Allmählich wurde Madschid in seinen Kreisen bekannt, dennoch blieben es enge und begrenzte Kreise. Sämtliche Einwohner des Westjordanlandes zusammengenommen, kämen in einer einzigen Vorortsstraße von Kairo unter. Und die ganze Universität Bir Zeit, so groß sie auch war, fände dort Platz in einem Winkel der Haram- oder Muhammad-Ali-Straße.
»Schieß ein Foto von mir«, bat er seinen Bruder. Ahmed drehte sich um, eine stumme Frage in den Augen. Madschid lachte. »Für den Fall, dass ich den Gesangs- und Musikwettbewerb gewinne! Wenn das Foto in der Zeitung erscheint, hast du bei mir was gut!« Lächelnd wies ihn Ahmed an eine Stelle abseits der Deponie. Den Rücken nach Westen, blieb Madschid stehen. Ahmed holte ihn mit dem Zoom heran und schob ihn wieder weg. Hinter seinem Bruder erkannte er die Siedlung so deutlich, als befände er sich mitten darin. Ein Baum, ein Dach, und da – das Mädchen auf der Schaukel! Das blonde Mädchen mit dem Pferdeschwanz. Hübsch wie ein Püppchen war sie, schön wie ein Foto. Sprach sie Arabisch oder nur Hebräisch? Würde sie ihn verstehen, wenn er sie anredete? Bestimmt nicht, und nie würde sie erfahren, dass er stotterte. Ob sie menschenscheu war wie er? Sie musste in seinem Alter sein, vielleicht ein wenig jünger. In welche Klasse ging sie? Besaß sie auch eine Schweizer Uhr, eine Digitaluhr? Würde sie überhaupt mit ihm sprechen wollen? Immerhin war sie ein jüdisches Mädchen, und ihr Vater war ein jüdischer Siedler. Das hieß, ihr Vater hatte ein Gewehr und Schläfenlocken, er war einer von den »Dreckskerlen«. So nannte sie sein Vater. Siedler waren für ihn nichts anderes als »Dreckskerle«. Folglich gehörte ihr Vater auch dazu. Und sie ebenfalls. Dabei war sie gar nicht dreckig. O nein, weder dreckig noch hässlich. Richtig süß war sie! Wenn die Schaukel hochflog, lachte sie und biss sich auf die Lippen. Ihre Wangen leuchteten wie zwei zarte Aprikosen, die sich gerade röteten.
»Was ist?«, mahnte ihn sein Bruder. »Leg endlich los!« Ahmed knipste ein Foto, anschließend ging er mit Madschid ins Café. Dort saß er herum und betrachtete Madschids ausgelassene Kameraden. Doch mit seinen Gedanken war er weit weg – bei der Schaukel, den zarten Aprikosenwangen und dem Pferdeschwanz.
Als Belohnung für die Fotos kaufte ihm sein Vater eine neue Kamera und gab ihm auch die Digitaluhr und die Brille zurück. Ahmeds Aufnahmen waren voller Leben. Wer sie ansah, spürte die Sonne, hörte die Bäume rauschen, roch den Duft der Blüten. Es war, als rutschte man durch den Zoom mitten ins Bild hinein. Und erst das Foto von Madschid – ein wahres Kunstwerk! Ein junger Mann wie Omar Sharif in seiner besten Zeit, vielleicht sogar noch schöner. Staunend betrachtete der Vater das Bild. Woher hatte er diese Augen? Von seiner Mutter jedenfalls nicht, denn sie waren groß und leuchtend, mit tiefschwarzen Wimpern. Bildschön war der junge Mann, passend für Film und Fernsehen. In Kairo oder Beirut wäre er berühmt und populär wie Abdelhalim Hafes – nein, der war schon tot. Dann eben wie Marcel Khalifa. Er würde über dieses Land und die Menschen singen. Im ganzen Westjordangebiet wäre er bekannt, ach was, überall, von Kairo bis Amman! Aber leider lebte Madschid nun mal hier, in Ain Murdschan. Außerdem – existierte diese Schönheit in Wirklichkeit? Er fand ihn sonst gar nicht so attraktiv wie auf dem Foto. Diese sprechenden Augen, diese Lebendigkeit! Lag es an der Kamera? Lag es an dem, der sie benutzte? Er lächelte traurig, wusste er doch, dass sein Sohn, dieser träge, schwerfällige Depp, »Michelins« Sprössling, niemals so gewandt sein konnte. Und sowieso waren Fotos im Grunde nichts weiter als ein Abklatsch der Realität. Dennoch … wenn er selbst knipste, wurden die Aufnahmen nicht so schön. Sie hatten keine solche Leuchtkraft und Bewegung. Also musste der Junge wirklich talentiert sein. Von jetzt an war er für die Fotos zuständig! Auch Madschid zeigte sich hocherfreut. Dieses Foto werde er vergrößern lassen, sagte er, das gäbe ein prima Plakat für seine Auftritte. Er strich seinem Bruder über den Kopf und zerzauste ihm das Haar. »Na, zufrieden, du Held?«, scherzte er vergnügt.
Der Junge lächelte verlegen. »He… he… heißt das, ich darf fotografieren?«, fragte er zaghaft. »Natürlich!«, rief sein Vater überschwänglich. »Nur zu! Knipse, so viel du willst.« Ahmed überlegte. »Wa… wa… was denn?« – »Na, alles«, antwortete der Vater. »Fotografiere die Leute, deine Mutter, unser Haus, die Kinder im Viertel, den Platz im Zentrum. Male Bilder. Dein Lehrer sagt doch, du kannst gut malen.« – »Den P… P… Platz?«, erwiderte Ahmed ratlos. Plötzlich kam Fadl Kassam eine Idee, eine Kombination aus Madschids Werbefoto und dem Poster von Jerusalem, das die Leute überall hängen hatten. »Ja, fotografiere den Platz vor der Moschee!«, rief er begeistert. »Du gehst auf den Hügel und holst das Motiv mit dem Zoom heran. Lass es aussehen wie Jerusalem. Verstehst du? Wenn das Bild schön wird, vergrößern wir es und machen daraus genau so ein Poster. Also vorwärts, du Schlingel!«
Von diesem Tag an ging Ahmed beinahe täglich zum Hügel, um den Ort von Westen, von Osten und von oben zu fotografieren. Aber dann kletterte er über die Felsbrocken und knipste die Wiesenblumen zwischen den Steinen, die Blütenpracht der Mandel-, Pflaumen- und Aprikosenbäume. Und das Mädchen mit dem Pferdeschwanz auf der Schaukel.
Er hätte fliegen können! Es war Frühling, alles blühte – Anemonen, Kamille, Hornklee, Fenchel, Thymian. Wie ein Teppich lag der Boden zu seinen Füßen, gewebt aus Gräsern und Lilien, wildem Weizen und gelben, roten, blauen Blumen. Narzissengelb strahlte die Sonne, weiße Wölkchen schwebten am Himmel. Und ihr Haar flog wie Goldbrokat und wogende Seide. Früher hatte ihm seine Mutter beim Kämmen mit gurrender Stimme ein hübsches Liedchen gesungen: »Golden und fein, die seidigen Löckchen, von Ahmeds Köpfchen, so schön und so rein.« Jedes Mal, wenn der kleine Bub sie oder sonst jemanden singen hörte, brach er in Tränen aus. Die Mutter hielt inne, ihre Hand stockte. Sie glaubte, sie habe ihn an den Haaren gezogen, und kämmte lautlos und vorsichtig weiter. Da wurde er still. Kaum aber sang sie wieder von seinem seidigen Haar, begann er herzzerreißend zu weinen. Sie wunderte sich, diese Geschichte kam ihr zu merkwürdig vor. Schließlich erzählte sie seinem Vater davon. »Sieh mal deinen Sohn, sieh nur!« Sie stellte das Radio an, ein Lied erklang. Sofort runzelte der Kleine die Augenbrauen, verzog den Mund und begann zu weinen. Als das Lied zu Ende war, hörte er auf. Beim nächsten wurde es noch schlimmer, er zitterte und schluchzte vor Kummer. Verblüfft schüttelte der Vater den Kopf. »Du lieber Gott«, murmelte er, »na so etwas!« Die Mutter fühlte sich bestätigt und führte sogleich allen Freunden und Verwandten das Wunder vor. Auch sie staunten über den Kleinen, der »musikalisch« weinte. Doch dann wurde er groß und weinte nicht mehr. Dafür stotterte der Junge, er war verträumt und in sich gekehrt. Und ganz, ganz tief drinnen stiegen ihm noch immer Tränen in die Augen, wenn er Musik hörte oder etwas besonders Schönes und Ergreifendes sah: ein Vögelchen, ein Kätzchen, einen melancholischen Sonnenuntergang … und nun ein blondes Mädchen, hübsch wie eine Puppe, mit seidigem Goldhaar, das in der Sonne glänzte. Das alte Lied seiner Mutter fiel ihm ein. Während er über Blumen und Gras schlenderte, summte er es vor sich hin: »Golden und fein, die seidigen Löckchen, von …« Von wessen Köpfchen? Er ließ den Zoom ausfahren und holte sie heran, bis sie direkt vor ihm zu stehen schien. Was für ein hübsches Gesicht, hell und zart, das Näschen klein wie eine Pistazie, der Mund rot wie Frühlingsanemonen. Wieso war ihr Mund so rot? Vielleicht, weil sie hellhäutig und blond war?
Von fern ertönten eine Hirtenflöte und das Blöken der Schafe. Plötzlich hörte er seinen Namen rufen. Er suchte mit der Linse und erkannte Isa, den Freund seines Bruders aus dem Flüchtlingslager. Er arbeitete auf dem Gemüsefeld hinter dem Zaun, wo auch die Schaukel stand. Isa war in bitterer Armut aufgewachsen. Als sein Vater starb, war er noch ein kleiner Junge gewesen. Eine alte Frau aus seiner Verwandtschaft zog ihn groß; sie arbeitete als Dienerin bei fremden Leuten. Sobald er Achselhaare bekam und mannbar wurde, setzte sie sich zur Ruhe. Isa fand eine Anstellung, zuerst im Gemischtwarenladen, dann am Gemüsestand und schließlich beim Altwarenhändler, wo er Ballen mit amerikanischen Kleidungsstücken auszumustern hatte. Ein Teil war verwertbar, das andere taugte höchstens zu Wischlappen. Er sortierte alles auf drei Haufen. Auf den ersten kamen die einwandfreien Stücke. Mit frischen Etiketten unter Angabe von Größe und Preis versehen, wurden sie als Neuware an arme Leute und Bauern verkauft. Der zweite Haufen enthielt die passablen Sachen. Nachdem er sie aufgebügelt hatte, hängte er sie am Gehsteig unter ein mit Spinnweben und Vogeldreck geziertes Schild, auf dem zu lesen stand: »Europäische Top-Modelle!« Der dritte Haufen war Abfall. Er wurde an Autowerkstätten und Schlossereien verkauft. Auch der Polsterer am Ende des Suks nahm die Lumpen ab. Er schnippelte sie klitzeklein wie Petersilie und stopfte damit Matratzen und Bettdecken für die Bauern. Später, als die Siedlung Kirjat Scheba errichtet wurde, war Isa der Erste, der sich dort um Arbeit bewarb.