7,99 €
Nach jahrelangem Aufenthalt in den Ölstaaten kehrt Usama, ein junger Palästinenser, in seine Heimat zurück. Schon beim Grenzübertritt wird ihm schmerzlich bewusst: Dies ist nicht mehr das Land, das er sich in seinen Kindheitserinnerungen und Träumen ausgemalt hat. Bald empfindet er eine tiefe Entfremdung zu den Menschen. Die Mutter vertraut auf Gott und will von Widerstand nichts wissen. Sein Vetter hat in Israel Arbeit gefunden. Sein Onkel beherrscht die Familie als patriarchalischer Familienfürst und hält gleichzeitig flammende Pressekonferenzen ab. Mit diesem Roman trat Sahar Khalifa über Nacht in die erste Reihe der modernen arabischen Literatur. Jenseits aller politischen Formeln stellt sie die komplexe Wirklichkeit ihrer eigenen Gesellschaft dar.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2015
Nach jahrelangem Aufenthalt in den Ölstaaten kehrt Usama, ein junger Palästinenser, in seine Heimat zurück. Ihm wird schmerzlich bewusst: Dies ist nicht mehr das Land, das er sich in seinen Kindheitserinnerungen und Träumen ausgemalt hat. Mit diesem Roman trat Sahar Khalifa über Nacht in die erste Reihe der modernen arabischen Literatur.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Sahar Khalifa (*1941) ging mit achtzehn Jahren eine traditionelle Ehe ein, die dreizehn Jahre dauerte. Nach der Scheidung widmete sie sich verstärkt dem Schreiben, studierte in den USA und arbeitete an der Universität Bir Zeit. In Nablus gründete sie ein palästinensisches Frauenzentrum.
Zur Webseite von Sahar Khalifa.
Hartmut Fähndrich (*1944) ist seit 1978 Lehrbeauftragter für Arabisch und Islamwissenschaften an der ETH Zürich. Neben seiner Übersetzertätigkeit arbeitet er auch als Herausgeber und Publizist.
Zur Webseite von Hartmut Fähndrich.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Sahar Khalifa
Der Feigenkaktus
Roman
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Die Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel Al-Subbár.
Originaltitel: Al-Subbar (1976)
© by Sahar Khalifa 1976
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Farouk Hosny
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30689-9
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 25.06.2024, 19:36h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und MacE-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
DER FEIGENKAKTUS
1 – Auf den bergigen Höhen des Arida überflutete ihn …2 – Stehen bleiben!«, sagte der Soldat, der auf einem …3 – Am Straßenrand standen dicht die Malvenstauden, ihre Blätter …4 – Nichts hatte sich in dieser Stadt verändert …5 – Mutter …«6 – Einem Bambusrohr gleich ging sie an ihm vorüber …7 – Er streckte sich in seinem warmen Bett …8 – Das Auto hielt auf der Hauptstraße. Zu Fuß …9 – Adel ging zwischen den beiden Männern. Gerunzelte Stirn …10 – Der Lärm der Maschinen, welcher die Luft erfüllte …11 – Umm Saber schlug sich an die Brust und …12 – Er trat durch das riesige Tor. Erklomm die …13 – Adel hatte zwei Gläser getrunken. Die Erde begann …14 – Unsicher ging Usama durch die verschlammten Straßen …15 – Gegen Abend ging er in die Stadt …16 – Er stieß die Holztür mit der Hand auf …17 – Wochen vergingen, doch Usama konnte keinen seiner Pläne …18 – Adel ging einige Schritte in Richtung Saada-Viertel …19 – Umm Saber rief: »Ataf! Geh Umm Badawi fragen …20 – Bei Morgengrauen drehten die Patrouillenfahrzeuge in allen Stadtvierteln …21 – Basil öffnete mühsam die Augen. Er sah viele …22 – Keine Morgendämmerung, keine Nacht, keinen Tag gibt es …23 – Der Soldat öffnete die Tür zu Zelle 23 …24 – Sohdi hatte eine arge Verstopfung. Die Gefährten und …25 – Sohdi blickte verstohlen auf seinen Nachbarn, dessen nikotingelbe …26 – Adel schaute beim Laden vorbei und fand Basil …27 – Umm Saber schlug ihrem Sohn auf die Hand …28 – Usama versteckte sich in einem dunklen Winkel der …29 – Donnernde Schläge an der Tür des Hauses …30 – Welt der Freiheit und der Menschen! Straßen voller …31 – Der Geruch von Feuer. Von verbranntem Müll …32 – Basil rannte mit großen Sätzen die Treppe hinauf …33 – Sie setzten sich an den Tisch und nahmen …34 – Der Vater war im Krankenhaus. Die Soldaten durchsuchten …WorterklärungenMehr über dieses Buch
Über Sahar Khalifa
Über Hartmut Fähndrich
Andere Bücher, die Sie interessieren könnten
Bücher von Sahar Khalifa
Zum Thema Palästina
Zum Thema Israel
Zum Thema Arabien
Zum Thema Frau
Zum Thema Asien
Für Abu al-Iss und seinesgleichen
Auf den bergigen Höhen des Arida überflutete ihn der Duft der wogenden Pinien. Er erinnerte ihn daran, was ihn jenseits der Brücke erwartete. Die Pinien des Grisim, die Pinien des Tur, die Pinien von Ramallah. Die Pinien, die Kakteen, die Mandeln, die Trauben, die Feigen, die Oliven, der Berg Sinai und dieses treue Land. Dieses Land, das nie treu war, oder vielleicht doch einmal … Land von Milch und Honig. Gelobtes Land.
Er erinnerte sich noch deutlich an die Zeichnung. Auf einem Auto in Jerusalem hatte er sie gesehen. Das war einige Monate nach der Besetzung gewesen. Er hatte vor einem roten Auto gestanden und sich an der merkwürdigen Zeichnung erfreut: Zwei Männer trugen eine Traube, die wie ein geschlachtetes Lamm an einem kahlen Ast aufgehängt war. Eine Traube groß wie ein Lamm, ihre Beeren dick wie Bernsteinperlen. Trauben dick wie Bernsteine! Gurken zart wie Kinderhände! Land von Milch und Honig! Gelobtes Land.
Vor seinen Augen die endlosen grünen Wogen, in seinem Ohr der zitternde Klang trauriger Lieder. Die Stimme rief wie aus der fernen Tiefe des Tales. Traurige Nächte des Nordens …
Warum treffen uns die verwundeten Lieder so schmerzlich? Etwa, weil wir ein romantisches Volk sind? Er war nicht romantisch. Nicht mehr. Oder so glaubte er jedenfalls. Wie war es dazu gekommen? Drill. Schießen. Robben. Koppel enger schnallen. So wird man im Handeln und im Denken unromantisch. Persönliche Träume zerfließen. Der Einzelne wird zum Schuss in einer Salve. Und wenn er besonders gut zurechtgeschliffen ist, wird er zur Granate. Zur schussbereiten Granate. Das ist Logik. Sie haben vieles gesagt, und wir haben vieles gesagt, Logisches. Die Existenz des Einzelnen wird in historische Gleichungen gezwängt, und er wird zur Ziffer in einer Gleichung. Eine Ziffer. Ziffern. Die Gleichung erscheint wissenschaftlich, realistisch, konkret. Die Romantik zerfällt. Die zarten Träume sterben. Die Poesie stirbt. Die Poesie stirbt. Die Leidenschaft stirbt. Und alles wird zum Kettenglied dieser Gleichung. Traurige Nächte des Nordens …
Und doch! Die Worte ziehen weiterhin tiefe Furchen in das einsame, fühlende Herz.
Das Auto glitt weich die Asphaltstraßen hinab. Der Wind spielte mit der Kefije des Fahrers, ließ sie wie ein Segel flattern und warf sie nach hinten zurück. Die Hand des Fahrers griff danach und steckte sie fest. Glitt zum Radio und suchte einen anderen Sender. »Stimme der Araber … Radio des Mittleren Ostens … Hier spricht London … Stimme der Palästinensischen Befreiungsorganisation … Radio Israel, Jerusalem-al-Quds … Freunde, liebe Ägypter.« Der Fahrer stieß einen unfeinen Fluch aus. Er schaute in den Rückspiegel und begegnete Usamas Blick.
»Gott helfe euch! Wie könnt ihr ihnen ins Gesicht sehen? Diese Bastarde, sie sprechen Arabisch, als wäre es ihre Muttersprache.«
»Es war mal ihre Muttersprache.«
Dann wieder Schweigen im Auto. Draußen ergossen sich die Sonnenstrahlen über die Berge, die Berge, die sich wölbten wie die Bäuche schwarzer Frauen, geädert von den letzten Monaten der Schwangerschaft. Die Bergstraßen wanden sich in Serpentinen. Das Auto fuhr bergab. Dämpfe stiegen von der samtenen Erde auf. Der Frühlingsduft trug Usama ins Land jenseits der Brücke.
Ein beleibter Mann mit hervortretenden Halsadern streckte ihm sein Handgelenk hin, an dem eine teure Uhr hing.
»Die hab ich aus Kuwait mitgebracht. Meine Söhne leben dort wie Könige. Geld, gute Arbeit, Autos, immer das neueste Modell. Mein Gott, lass es so bleiben! Die hab ich meinem Sohn Chaled mitgebracht, ein Geschenk von seinem ältesten Bruder Mohammed.«
»Freut mich, Abu Mohammed.«
»Mohammed arbeitet in Kuwait seit der ersten Emigrationswelle. Nach der zweiten ist ihm Saleh gefolgt. In Dschenin ist niemand mehr geblieben außer Seinab, Hafsa, Hadija und Chaled. Chaled ist mein Jüngster. Von meinen sechsen hat mir nur Chaled Sorgen gemacht. Er ist gegen Kaution aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie haben ihn an jeder Handbreit seines Körpers gefoltert, sogar – du weißt schon wo. Sie haben einen Hund auf ihn losgelassen, der ihm die Glieder zerriss. Jetzt ist er vielleicht unfruchtbar.«
»Impotent.«
»Dann eben impotent. Mach dich nicht lustig über mich. Du hast ja wohl gemerkt, dass ich nie auf der Universität gewesen bin.«
»Nichts für ungut, Abu Mohammed; Gott segne dich.«
»Gott segne dich! Seine Brüder habens geschafft. Geld, Ansehen und gute Arbeit. Nur er ist noch da, ohne Weg und Ziel. Ein richtiger Nichtsnutz. Er arbeitet bei mir im Laden. Ich habe alles versucht, nichts macht er ernsthaft. Wenn ich ihn suche, ist er nie da. Jeden Tag vor Sonnenuntergang lauf ich in der ganzen Stadt herum und such ihn. Manchmal find ich ihn, manchmal nicht. Der Bastard hat nichts gelernt. Die Spuren der Folterung sieht man noch immer auf seinem Körper; aber er hat nichts gelernt.
Und ich hab immer Angst, dass er was anstellt und sie dann das Haus sprengen.«
Plötzlich hupte der Fahrer. Abu Mohammed schreckte auf, verstummte und versteckte die Uhr in der Tasche seines weiten Mantels, dabei sah er sich misstrauisch und unruhig um. Keiner der Fahrgäste sagte etwas. Erst als im Tal unten die Gemüsefelder sichtbar wurden, fragte Abu Mohammed: »Glaubt ihr, ich muss ihnen für die Uhr Zoll zahlen?«
»Zieh sie doch an.«
»Du hast recht. Doch was mach ich mit all dem Stoff? Muss ich für den etwa auch Zoll zahlen?«
Keiner antwortete. Jeder dachte an das, was ihn auf der Brücke erwartete. Durchsuchungen, Kontrollen, Zoll … vielleicht sogar ein Verhör. Elektrische Apparate, die ständig piepsten. In Holzschuppen würde man sich ausziehen müssen, Stück für Stück. Schuhe und Koffer würden mit elektrischen Detektoren untersucht.
Abu Mohammed seufzte und murmelte einen Koranvers. Dann wandte er sich um und fragte: »Und du, was arbeitest du?«
»Nichts.«
»Und wovon lebst du?«
»Vom Schweiß, den ich ohne Erfolg in den Ölländern vergossen habe.«
»Erfolg kommt von Gott, mein Sohn. Du bist also wie mein Sohn Chaled.«
Ja, wie Chaled … Ohne Ansehen, auch ohne Geld und ohne Stellung. Vielleicht werde ich ja der Grund für die Sprengung eines Hauses oder mehrerer, eines Busses, eines Büros. Ich bin wie Chaled, oder Chaled ist wie ich. Meine Mutter erwartet mich dort drüben, und sie wird mich mit Essen vollstopfen, kaum dass ich ihr Haus betreten habe. Der Duft des Essens. Der Duft der Blumen in den Töpfen.
Der Gebetsteppich, die Gebetskette. Die Frühgebete, während die Sterne noch leuchten.
Seine Träume trugen ihn ins Land jenseits der Brücke, zu den himmlischen Bildern: Schluchten und Täler, al-Faria, das BadanZal, der kleine Wasserfall, der sich im grünen Tal über die Limonadekisten ergießt. Die Plastiksäcke voller Mandeln, aufgestapelt auf dem Landstück vor dem Wasserfall unter den gewaltigen Nussbäumen.
Wann verschwinden all diese samtweichen Gefühle, die mich mein ganzes Leben lang begleitet haben? Und diese dauernde Sehnsucht nach dem Unbekannten, und dieses Gefühl von Traurigkeit in meinem Herzen, wenn ich ein Lied höre oder an einer Blume rieche, und die Stunde des Sonnenuntergangs, wenn die Seele ins Unendliche entschwebt, und dieses Frühlingsland und seine reiche und gesegnete Erde, und all die Zartheit und Milde, die es in mir verströmt.
Romantik? Nein, nichts dergleichen. Drill. Schießen. Robben. So wird man im Handeln und im Denken unromantisch. Das ist Logik. Das ist die Gleichung.
Stehen bleiben!«, sagte der Soldat, der auf einem Stuhl vor der Holzschranke saß. Usama blieb stehen. Sein Herz schlug langsamer. »Koffer auf!« Der Israeli streckte seine Hand aus und begann herumzuwühlen. »Was ist das?«
»Librium.«
»Aha, ihr mögt das!«
Sein Herz zog sich vor Kummer zusammen. Der Detektor begann zu piepsen. Die Muskeln seines Körpers verkrampften sich unwillkürlich, die ersten unkontrollierten Abwehrbewegungen setzten ein.
»Halt! Hier hinsetzen, hier vor dem Schalter für Familienzusammenführung. Wer hat den Antrag auf Zusammenführung gestellt? Deine Mutter? Gut, etwas näher. Hier hinein. Ausziehen. Alles runter, alles runter, aber auch alles – auch die Schuhe.«
Eine lange Ahle schob sich in den Absatz, der sich löste. Seine Augen weiteten sich, sein Atem ging schneller. Doch dann beruhigte er sich wieder.
»Was ist das für ein Heft? Her damit! Mal sehen, ob es wirklich leer ist. Der Säuretest wird es schon zeigen. Hinsetzen, hier auf die Bank.«
»Usama al-Karmi? Usama al-Karmi? Wer heißt hier Usama al-Karmi?«
»Hier, ich.«
»So, du!? Warum antwortest du nicht? Du warst auf dem Klo? Und was meinst du dazu? Dreckig, wie üblich. Aravim, Araber! Wir bauen ihnen piekfeine Klos, und sie verscheißen sie. Scheiße hier, Scheiße da, überall Scheiße. Du da, Madam. Her mit der Kette! Du brauchst sie nicht in deinem Ausschnitt verschwinden zu lassen. Gold ist verboten. Und du da, was ist das? Eine Uhr? Für wen? Für deine Mutter? Deine Mutter soll um Gottes Beistand bitten, wenns ans Zahlen geht. Verzollen! Und was ist denn das? Stoff für deine Mutter? Die Glückliche. Die Reichtümer Saudi-Arabiens und Kuwaits wird sie in den Händen halten. Da geht ihr erst zu den Ölquellen und kommt dann hierher zurück? Was gefällt euch denn hier so gut? Ihr wisst das gute Leben nicht zu schätzen. Wir schon. Noch ein paar Jährchen, dann sind wir auch dort, und dann kommt ihr nur noch mit einem Passierschein in die Kaaba. Süßigkeiten und Schokolade sind verboten. Ja, verboten, mein Lieber, verboten, mein Herzchen, verboten, verboten! Gesetz, mein Herr! Weißt du, was das ist? Dort rein zum Verhör.«
Er passierte die Schranke. Plötzlich war das Schreien eines Mädchens zu hören. Er ging unter einem kleinen, hohen Fenster vorbei und vernahm das Geräusch mehrerer Schläge hintereinander. Die Haare standen ihm zu Berge. Er blieb wie angewurzelt stehen. Sie schrie: »Ihr Dreckskerle. Ihr Dreckskerle. Ihr Dreckskerle.«
Ein kleiner irakischstämmiger Soldat mit schwarzem Schnurrbart und dichtem Bart ging an ihm vorbei. Er trug ein langes Gewehr mit aufgepflanztem, glänzendem Bajonett. Er lächelte höflich: »Weiter, mein Lieber, nur keine Angst. Du kommst dort drüben dran.« Er schaute zu dem kleinen hohen Fenster hinauf. »Ein süßes Mädchen, wie eine Dattel. Aber ein Luder. Unter ihrer Perücke haben wir eine chiffrierte Botschaft gefunden. Geh weiter, hab keine Angst. Los, geh schon.«
Wieder Schläge, das Klatschen wollte nicht enden. Er fühlte sich leer. Seine Haare stachen wie Nadeln. Die Welt versank in Nebel und Rauch. Plötzlich hörte das Schreien auf. Er lauschte angestrengt. Der Soldat schrie scharf, jede Höflichkeit war verschwunden. »Geh schon! Los, verzieh dich, dorthin!«
Er ging weiter, seine Knie zitterten, sein Magen verkrampfte sich.
Seiner Aussprache nach war er Pole. Er hatte einen blonden Schnurrbart und war riesengroß, reichte bis an die Decke der Holzbaracke. Draußen begann eine Planierraupe zu arbeiten. Es war unerträglich. Der Pole schrie gegen den Krach der Planierraupe an: »Name?«
»Usama al-Karmi.«
»Alter?«
»Siebenundzwanzig.«
»Woher kommst du?«
»Aus Amman.«
»Wo warst du davor?«
»In den Ölstaaten.«
»Was hast du dort gearbeitet?«
»Ich war angestellt.«
»Als was?«
»Als Übersetzer.«
»Aha, daher die guten Englischkenntnisse … Was? Du musst lauter reden!«
»Nichts.«
»Was hast du übersetzt?«
»Berichte und Korrespondenz.«
»Hast du für eine Firma, fürs Radio oder für die Regierung gearbeitet?«
»Für eine Firma.«
»Und was hast du übersetzt?«
»Versicherungspolicen.«
»Aha. Ist das dein Notizbuch?«
»Ja.«
»Wessen Name ist das? Und wessen Adresse?«
»Das sind der Name und die Adresse des Händlers, bei dem meine Mutter ihr Gemüse einkauft.«
»Wie heißt er?«
»Es steht ja da: al-Hadsch Abdallah Mubarak. Gemischtwarenhandlung ›Al-Wafa‹, Saada-Straße.«
»Weshalb trägst du diese Adresse mit dir herum?«
»Er muss mir sagen, wo meine Mutter wohnt.«
»Du weißt nicht, wo deine Mutter wohnt?«
»Nein.«
»Du weißt nicht, wo deine Mutter wohnt?«
»Nein.«
»Wie kommt es, dass du nicht weißt, wo deine Mutter wohnt?«
»Ich weiß es eben nicht.«
»Wie kommt das?«
»Ich bin vor fünf Jahren weggegangen, in die Ölländer, drei Monate nach der Besetzung. Wir haben damals in Tulkarm gewohnt. Als dann mein Vater starb, ist meine Mutter nach Nablus gezogen.«
»Warum ist deine Mutter nach Schechem gezogen?«
»Nablus gefällt ihr.«
»Warum gefällt ihr Schechem?«
»Es gefällt ihr, weil sie dort viele Verwandte hat.«
»Und warum bist du aus den Ölländern zurückgekommen und willst nun nach Schechem?«
»Ich bin zurückgekommen, weil mein Vater gestorben ist.«
»Wer ist gestorben?«
»Mein Vater.«
»Wann ist er gestorben? Du musst lauter reden!«
»Vor zwei Jahren.«
»Und warum bist du erst jetzt zurückgekommen und nicht schon vor zwei Jahren? Du musst lauter reden!«
»Ich habe auf die Familienzusammenführung gewartet.«
Der Krach der Planierraupe hörte auf. Die Gesichtszüge des Polen entspannten sich. Er stand noch immer hinter dem Tisch, in der Hand ein Glas Orangensaft.
»Was willst du in Schechem?«
»Ich will mir in Nablus eine Arbeit suchen.«
Das Schreien begann von Neuem. Das Mädchen schluchzte, während eine israelische Soldatin brüllte: »Beine auseinander! Beine auseinander! Ich muss da reinschauen. Ich muss da reinschauen.« Die Schläge gingen weiter. »Ihr Dreckskerle. Ihr Dreckskerle. Ihr Dreckskerle. Ah … Ah … Ah …«
Der Soldat zog die Brauen zusammen. Er wischte sich den blonden Schnurrbart und fragte weiter: »Was hast du die ganze Zeit gemacht?«
Usama fasste sich etwas und antwortete matt: »Ich habe bei einer Versicherungsgesellschaft gearbeitet. Hier sind meine Papiere.«
»Und wohin bist du während dieser fünf Jahre sonst noch gereist? Warst du in Algerien?«
»Ja.«
»Warum bist du nach Algerien gegangen?«
»Verlangt ihr jetzt auch noch für Algerien Zoll?«
»Was?«
»Nichts.«
»Was hast du in Algerien getan?«
»Nichts.«
»Du bist in Algerien gewesen und hast dort nichts getan?«
»Ich bin in Algerien herumgereist.«
»Und sonst?«
»Nichts.«
Die beiden wechselten einen langen, ausdruckslosen Blick.
»Und wo warst du sonst noch? In Syrien?«
»Ja.«
»Und wie lange warst du dort?«
»Drei Monate.«
»Und was hast du dort getan?«
»Ich habe angefangen, mich auf das Diplom vorzubereiten.«
»Und warum hast du es nicht fertig gemacht?«
»Ich will es später noch machen.«
»Hm. Du sagst, du hättest als Übersetzer gearbeitet?«
»Ja.«
»Wie hast du von deiner Arbeit drei Monate lang wegkönnen?«
»Sie haben mich rausgeschmissen.«
»Warum haben sie dich rausgeschmissen?«
»Ich weiß nicht.«
»Du weißt es nicht?«
Der Krach der Planierraupe begann wieder.
»Du musst lauter reden. Warum haben sie dich rausgeschmissen?«
Usamas Schläfen begannen zu pochen. Der Druck wuchs. Ein Schraubstock presste ihm den Schädel zusammen.
»Warum haben sie dich rausgeschmissen?«
Wütend schrie er: »Weil ich Palästinenser bin.«
»Ich habe dir doch gesagt, du musst lauter reden. Warum haben sie dich rausgeschmissen?«
»Weil ich Palästinenser bin … Palästiiineeenser …«
»Lass dir was anderes einfallen.«
»Das war der einzige Grund.«
»Haben sie dich rausgeschmissen, weil du für drei Monate nach Syrien gegangen bist?«
»Nein, ich bin erst nach Syrien gegangen, nachdem sie mich rausgeschmissen haben.«
»Du warst aber dort auch schon, bevor sie dich rausgeschmissen haben?«
»Ja.«
»Wann?«
»Vor zwei Jahren.«
»Warum bist du damals dorthin gegangen?«
»Ich habe mich mit meiner Mutter getroffen.«
»Du hast gesagt, dein Vater sei vor zwei Jahren gestorben.«
»Sie kam nach seinem Tod nach Syrien, um mich zu sehen.«
»Du warst also in Syrien?«
»Nein, ich war in den Ölländern. Sie hat mir telegrafiert, dann bin ich nach Syrien gefahren.«
»Und warum gerade Syrien?«
»Ich habe da einen Onkel.«
»Was tut dein Onkel?«
»Er hat eine Zuckerfabrik.«
»Ist deine Mutter Syrerin?«
»Nein, sie ist Palästinenserin. Mein Onkel ist auch Palästinenser, und ich ebenfalls.«
»Warum also gerade Syrien?«
»Als mein Onkel aus Jaffa geflohen ist, hat er sich in Syrien niedergelassen.«
»Aha. Und wie lange bist du in Syrien gewesen?«
»Zwei Monate.«
»Und was hast du dort gemacht?«
»Urlaub.«
»Zwei Monate?«
»Für zwei Jahre.«
»Und was hast du während der zwei Monate getan?«
»Ich habe meine Mutter getröstet und sie gebeten, für mich einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen.«
»Und warum hast du sie gebeten, für dich einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen? … Warum hast du sie gebeten, für dich einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen? Gefallen dir die Ölstaaten nicht?«
»Nein.«
»Auch nicht die Ölscheichs?«
»Nein.«
»Wer gefällt dir dann? Arafat? Habasch? … Wer gefällt dir?«
»Mosche Dajan.« Spöttisches Lächeln.
»Mosche Dajan gefällt dir? Und warum gefällt dir Mosche Dajan?«
»Weil er ein echter Kämpfer ist.«
»Liebst du den Kampf?«
»Und du, liebst du ihn?«
»Antworte auf meine Fragen und lenke nicht ab. Du hast also sechs Monate in Syrien verbracht.«
»Fünf.«
»Und wen hast du dort getroffen?«
»Leute.« Er lächelte matt. Ein drohender Blick traf ihn aus den beiden blauen Augen.
Wieder begann das Schreien des Mädchens. Es vermischte sich mit dem Krach der Planierraupe und dem Gebrüll der Soldatin.
Usama ging so schnell, als triebe ihn jemand mit einem Stock. Doch dann besann er sich und blieb stehen. Angst? Nein, er hatte keine Angst. Warum also ging er so schnell? Eine natürliche Reaktion, nichts weiter.
Er setzte sich auf eine lange hölzerne Bank. Seine Blicke wanderten in dem riesigen Raum mit den Holzwänden umher. Die Leute saßen in langen parallelen Reihen. Jeder hatte seine Nummer in der Hand. Die Soldaten standen hinter den Tischen, auf denen die Habseligkeiten und die Kleider der Leute sich häuften.
»Usama al-Karmi, wer ist Usama al-Karmi? Los, hier warten. Misrachi wird dich verhören.«
Die Platte begann von Neuem: »Woher kommst du?«
»Aus Amman.«
»Wo warst du davor?«
»In den Ölstaaten.«
»Was hast du in den Ölstaaten gearbeitet?«
»Versicherungsgesellschaft. Mein Vater ist tot. Meine Mutter ist Palästinenserin. Mein Onkel ist Palästinenser. Ich ebenfalls. Man hat mich grundlos entlassen. Wir waren hundertsechzig Palästinenser. Sie haben uns alle in einer einzigen Nacht fortgeschickt. Sie haben mich aus dem Bett gezerrt. Ich habe meine Jacke über meinen Schlafanzug gezogen, und sie haben mich ins erstbeste Flugzeug nach Lissabon gesetzt. Von dort habe ich ein Flugzeug nach Beirut genommen, dann nach Damaskus. Dort bin ich drei Monate geblieben. Ich habe angefangen, mich auf das Diplom vorzubereiten. Ist das verboten? Erst habt ihr Zoll für Algerien verlangt, jetzt auch noch für das Diplom.«
»Setz dich dorthin, bis Hauptmann Mosche kommt.«
»Wie oft muss ich euch meine Geschichte noch wiederholen. Das ist die Adresse des Gemischtwarenhändlers. Ja, er heißt al-Hadsch Abdallah Mubarak, Gemischtwarenhandlung ›Al-Wafa‹, Saada-Straße. Ja, ich bin ihr einziges Kind – ist das ein Verbrechen?«
Seid ihr jetzt fertig mit mir? Seid ihr jetzt beruhigt? Gut, wir werden sehen. Ich werde euch mehr beruhigen, als ihr euch vorstellt. Wohin muss ich für die Zollpapiere?
Usama stellte sich in eine lange Schlange vor dem Schalter. Eine dicke Frau mit einem schwarzen Tuch vor dem Gesicht weinte und lamentierte am Schalter. »Zehn Dinar? Das kannst du mir nicht antun!«
Der Soldat blickte von der Akte auf, streckte seine Hand mit den Papieren durch das Gitter des Schalters und schwenkte sie. »Leih sie dir.«
»Von wem? Ich kenn hier keinen.« Wieder begann sie zu weinen und die Hände zusammenzuschlagen, als sei die Welt am Untergehen.
Der Soldat sagte ungerührt: »Das ist deine Sache!«
»Das kannst du mir nicht antun, Effendi.«
Effendi, Effendi!
Am liebsten hätte Usama dieses schwarz verhüllte Gesicht geohrfeigt. Wie kannst du das nur sagen? Und warum dieses Geheul, Frau? Zehn Dinar sind keine einzige Träne wert vor ihrem Zollschalter. Heul doch lieber über das, was auf unsere erste und auf unsere zweite Niederlage folgte. Heul doch lieber über die Katastrophe, solange es deinesgleichen bei uns gibt.
»Das kannst du mir nicht antun, Effendi.«
»Darum geht es nicht. Gib mir die zehn Dinar und pack deine Sachen.«
»Das ist doch nur ein bisschen Unterwäsche und ein paar Schlafanzüge für die Kinder. Das ist doch keine zehn Dinar wert.«
»Zehn Dinar.«
»Nun gut, nimm die Sachen und lass mich in Ruhe.«
»Nein, erst wenn du gezahlt hast. Leih dir das Geld.«
»Effendi, nimm fünf Dinar. Das ist alles, was ich hab.Und lass mich gehen.«
»Nein, zehn. Also los! Wir haben zu arbeiten!«
Zwei Männer schalteten sich ein und suchten zu vermitteln. »Lass sie ihre Sachen nehmen, Effendi. Der Allmächtige ist großmütig.«
Der Allmächtige ist großmütig. Effendi. Und das sagt ihr einfach so. Mein Volk, mein Volk, mein Volk.
Aus dem Verhörzimmer vernahm man wieder die Stimme des Mädchens, schwach, dünn, fern, aber noch immer hörbar: »Ihr Dreckskerle …«
Abu Mohammed flüsterte ihm ins Ohr: »Sie wollen Zoll dafür, auch für den Stoff. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich kein einziges Geschenk mitgebracht. Sie bestehlen uns, diese … Sie saugen uns das Blut aus, sie wollen uns das Leben zur Hölle machen, damit wir weggehen.«
»Ich habe zwei Jahre lang auf die Familienzusammenführung gewartet. Ich habe darauf gewartet wie auf meine Hochzeitsnacht.«
»Aber das Leben drinnen ist unerträglich geworden.«
»Ich habe auf die Familienzusammenführung gewartet wie auf meine Hochzeitsnacht.«
»Du erinnerst mich an Chaled. Von allen sechsen hat mir nur Chaled Sorgen gemacht.«
Gib, nimm, gib, nimm. Zehn Dinar, zwanzig Dinar, fünfzehn Dinar. Also los! Wir haben zu arbeiten. Und du da, junge Frau, gib mir fünfzig Dinar. Ich bin kein Effendi, Madam. Ich heiße Baruch. Nenn mich einfach Baruch, ohne den Effendi. Zehn Dinar sind besser als zehn Effendis. Du, Effendi, gibst mir fünf Dinar.
Irgendein Fahrer ergriff Usamas Koffer und warf ihn in den Kofferraum eines schwarzen siebensitzigen Mercedes. Der Fahrer kam zurück, setzte sich in den Schatten und wartete, bis das Auto voll war.
Nach fünf Jahren betrat Usama nun zum ersten Mal wieder das Westjordanland. Das Wiedersehen war anders, als er es sich vorgestellt und ausgedacht, ausgemalt und zurechtgelegt hatte. Er hatte das Gefühl, das Westjordanland sei auf das Ausmaß einer Flasche geschrumpft und seine Seele, die sich immer wieder in den Sphären zärtlicher Sehnsucht verlor, sei vom siebenten Himmel gefallen. Seine leidenschaftlichen und lebhaften Fantasien, mit denen er während langer, fruchtloser, entbehrungsreicher Jahre gelebt hatte, und seine Träume, die ihn jeden Abend zur Brücke und über die Brücke trugen – zu den himmlischen Bildern: Schluchten und Täler, der kleine Wasserfall, der sich im grünen Tal über die Limonadekisten ergießt, die Plastiksäcke voller Mandeln, aufgestapelt auf dem Landstück vor dem Wasserfall unter den gewaltigen Nussbäumen – all das war weggewischt. Nichts war übrig in seiner Erinnerung, nur eine Folge von Bildern und Wörtern. Erdöl. Syrien. Diplom. Der Vater tot. Familienzusammenführung. Gemischtwarenhandlung »Al-Wafa«. Lissabon. Der Allmächtige ist großmütig. Ihr Dreckskerle. Ihr Dreckskerle. Ihr Dreckskerle.
Während er ins Auto stieg, schaute er sich um. Das Paradies lag zu seinen Füßen und vor seinen Augen. Doch er war zum Gefangenen dieser Flasche geworden.
Am Straßenrand standen dicht die Malvenstauden, ihre Blätter warfen samtene Schatten auf die staubige Erde. Vor den gewaltigen Baracken, die den Eingang ins besetzte Gebiet markierten, fehlte auch die kleinste Pflanze. Kundige Hände hatten die Frühlingsdecke entfernt, aus Furcht vor dem Eindringen von Unerwünschtem. Aus Sorge, irgendwelche Kreaturen könnten sich einschleichen und die Sicherheit des Staates erschüttern.
In einem hölzernen Wachhäuschen, das von einer Hecke umgeben war, stand ein Posten. Er streckte seine behaarte und sommersprossige Hand aus. Kniff seine mit kurzen roten Wimpern umrandeten Lider zusammen und gähnte. »Passierschein.«
Anfangs fuhr das Auto langsam. Dann raste es wie verrückt davon. Durch ein kleines Seitenfenster vorne pfiff es störend, was aber niemand wahrnahm. Jeder war ins Reich seines Schweigens versunken. Abu Mohammed hielt Usama eine Packung Kent hin: »Bitte sehr.«
»Danke. Ich rauche keine imperialistischen Zigaretten.«
»Das sind Kent. Schau doch! Nimm schon eine, was man hat, hat man. Sie haben mir zwei Stangen weggenommen, diese … Eine Schachtel haben sie mir gelassen, aber erst haben sie noch siebzehn von den zwanzig zerbrochen. Sie hatten Angst, es sei etwas anderes als Tabak drin. Nimm! Eine für dich, eine für mich und eine für Chaled.«
Überrascht fragte Usama: »Chaled raucht amerikanische Zigaretten?«
»Auch israelische. Nimm! Rauch! Rauch! Die Schachtel Alia ist von zwölf auf dreiundzwanzig raufgegangen.«
Der Fahrer hatte, wie üblich bei Fahrern, zugehört und mischte sich nun ein.
»Weißt du, wie viel die Firma für ein Päckchen Alia kriegt? Sechs Piaster, Onkel. Die restlichen siebzehn sind ›Schutzabgaben‹. Wir zahlen und sie kaufen Waffen, um uns damit zu schützen. Das ist die beste Lösung!«
Abu Mohammed nickte zustimmend mit seinem großen Kopf und fuhr fort: »Ich rauch jetzt El-Al.«
»Israelische Zigaretten?«, fragte Usama entsetzt.
»Ich ess israelischen Reis, israelisches Mehl, israelischen Zucker. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eilat verlieren die Waren ihre Nationalität. Wir bezahlen die Waren doppelt. Einmal für die ursprüngliche Nationalität, einmal für die neue.«
»Und ihr zahlt?«
Der Fahrer haute aufgebracht aufs Lenkrad. »Genau! Wir zahlen die Nutte und ihre Schwester.«
Usama starrte in den kleinen Rückspiegel vor dem Fahrer. Er blickte wütend in die stumpfen Augen des Mannes.
Was ist geschehen mit diesen Leuten? Hat das die Besetzung aus ihnen gemacht? Wo ist der Geist des Aufbegehrens? Wo der Widerstand? Und plötzlich brach es aus ihm hervor: »Wo ist der Widerstand?«
Der Fahrer lachte höhnisch. »Das ist für die, die dafür bezahlt werden.«
Er erzählte einen dümmlichen Witz, den niemand außer ihm komisch fand. »Ich hab mal ein Kind, das auf einer Holzkiste saß und eine Zigarette rauchte, vor sich hinsingen hören: ›Ich leiste Widerstand und sitze / auf der zitronenvollen Kiste.‹« Er lachte schallend.
Einer der Fahrgäste platzte vor Zorn. Er begann so tiefschürfend zu predigen, dass es den würdigen Konferenzteilnehmern in den arabischen Hauptstädten das Mark hätte erzittern lassen. Er wiederholte abgedroschene Phrasen, die nur ihm selbst die Haare zu Berge stehen und nur ihm selbst das Herz schneller schlagen ließen. Er gab seiner Stimme einen feierlichen Ton, durchsetzt mit den vielfältigsten Emotionen. Er sprach von Einheit, von der arabischen Welt vom Atlantik bis zum Golf, vom revolutionären Schwung, von den Entwicklungsländern, von Vietnam – und was lehrt dich wissen, was Vietnam ist? –, vom Krieg der Millionen Märtyrer, von der Chinesischen Volksrepublik, vom Opiumkrieg, vom Fliegenkrieg. Ganz außer Atem schloss er: »Ihr sitzt hier wie die Hofschranzen des Sultans, raucht El-Al und erfindet dafür jede Art von Rechtfertigungen.«
Keiner reagierte. Der Fahrer betrachtete im Rückspiegel amüsiert seine erregten Gesichtszüge. Abu Mohammed wiegte den Kopf. Seine Halsadern wurden schlaff. Der Fahrgast sagte hasserfüllt: »Ihr erwidert nichts. Ihr rührt euch nicht. Ihr tut nichts anderes, als den Fortbestand der Gattung zu sichern. Tatsächlich verdient diese Gattung gar nicht solche Aufmerksamkeit. Ihr seht nicht die Zukunft. Ihr seid mit Blindheit geschlagen.«
Die letzten Worte ließen Usama aufhorchen. Die Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf. Die Stimme seines Chefs brandete ihm ans Ohr: Die palästinensischen Organisationen sind mit Blindheit geschlagen. Als er das gehört hatte, sagte er: Nicht die palästinensischen Organisationen trifft die Schuld. Das Volk drinnen trifft die Schuld. Und er bestand darauf: Das Volk drinnen trifft die Schuld.
Vom hinteren Sitz war die Stimme einer Frau zu vernehmen. »Unser Freund hier ist sehr gebildet. Alle Achtung!«
Das Wort »gebildet« störte den Fahrgast, ebenso der schneidend kalte Ton. Er wandte sich um. Eine Frau von über fünfzig mit einer ernsten Stimme und einem durchdringenden Blick. Ihr linker Unterarm lag in Gips. »Du hast alles gesagt. Es hat nur ein Satz gefehlt.«
»Nämlich?«
»Erklärt einen Krieg, und wir werden alle Opfer bringen.«
Zornig erwiderte er: »Wir sollen einen Krieg erklären? Wer wir? Wer sind wir denn? Wir sind ihr. Wenn ihr uns nicht unterstützt, dann …«
Die Frau hob schnell die Hand und legte sie ihm auf den Mund, wobei sie langsam den Kopf schüttelte. Ihr klarer Blick traf seine unsicheren Augen. Sie flüsterte: »Beruhige dich.«
Sie wies mit den Augen auf den vorderen Teil des Wagens. »Kein Grund zur Aufregung. Beruhige dich, mein Sohn. Gott erbarme sich deiner.«
Usama versuchte, sich zu beruhigen, doch vergeblich. Noch immer klang die Stimme des Mädchens in seinen Ohren, in seinem Kopf, in jeder Zelle seines Körpers … Ihr Dreckskerle. Ihr Dreckskerle. Ihr Dreckskerle.
In seinen Augen standen die Tränen, als er sagte: »Du hast nicht gehört, wie sie schrie. Sie hat immer wieder geschrien: Ihr Dreckskerle.«
»Beruhige dich. Beruhige dich.«
Er drehte sich um und blickte durchs Fenster hinaus … Wie sollte sich sein gequältes Herz beruhigen? Kessel voll Zorn brodeln in vielen Teilen der Erde. Und dieses Land stirbt vor Eiseskälte. Das Land: ein Verbrechen, das wir begehen. Das Volk: ein Betrug, eine Droge, die wir einnehmen, ein Trank, den wir schluckten und den man uns als Problem, als Revolution anbot. Eine einzelne Hand kann nicht klatschen. Und ich bin allein. Ich bin allein.
Eine schwarz verschleierte Frau bittet einen Soldaten wegen zehn Dinar um Erbarmen. Zwei Männer gackern wie Hennen. Der Allmächtige ist großmütig. Und Abu Mohammed raucht Imperialisten- und Besatzerzigaretten und klagt über seinen Jüngsten. Chaled ist allein. Ich bin allein. Eine einzelne Hand kann nicht klatschen. Siebzigtausend arabische Hände klatschen in israelischen Fabriken! Mein Volk! Mein Volk! Mein Volk!
Die Frau sagte versöhnlich: »Es sieht so aus, als wohnten unsre beiden Freunde nicht hier und seien nur zu Besuch.«
Usama versuchte, sich zu beherrschen. »Doch, ich wohn von jetzt an hier. Meine Mutter hat die Familienzusammenführung beantragt.«
Zwischen dem Fahrer und Abu Mohammed entspann sich ein Gespräch über den Preis von ergiebigem Brennmaterial. Usama ballte die Faust. Schlug sich aufs Bein. Drehte sich zu der Frau und flüsterte zwischen den Zähnen: »Denken die eigentlich nur an dämliche Alltagsprobleme? Seit ich in Amman ins Auto gestiegen bin, höre ich nichts als das Gekeuche von Kranken.«
»Aber du hast doch auch das Mädchen schreien hören.«
Verzweifelt schüttelte er den Kopf. »Sie rief: Ihr Dreckskerle. Ich weiß aber nicht, wen sie damit meinte. Jedenfalls kann eine einzelne Hand nicht klatschen.«
Sie sagte mit fester Stimme und ohne eine Spur von Erregung: »Siehst du dieses kahle Land?«
Er schaute durchs Fenster und sah es, es war wirklich kahl.
Sie fuhr fort: »Die Obstplantagen erstreckten sich einmal bis an die Berge. Sie haben sie verbrannt.«
»Verbrannt?«
»Sie haben versucht, die Spuren zu beseitigen.«
»Welche Spuren?«
»Die Spuren der Füße, die darüber gegangen sind. Die Bäume gingen. Weißt du, wer Sarqa al-Jamama war?« … Was faselt diese Frau? Was sagt sie? Die Bäume gehen?
Sarqa al-Jamama? Ach so … ich habe verstanden. »Und was dann?«