Das unbeschriebene Blatt - Steven Pinker - E-Book
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Das unbeschriebene Blatt E-Book

Steven Pinker

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Beschreibung

Mit einem aktuellen Vorwort zur Neuausgabe! Auf John Locke geht die Vorstellung zurück, der Mensch sei ein leeres Blatt, auf dem im Verlauf des Lebens die persönlichen Erfahrungen eingetragen werden. In seinem mittlerweile klassischen Buch »Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur« bezieht Bestseller-Autor Steven Pinker ganz die Gegenposition: Mit Witz, Brillanz und Gelehrsamkeit analysiert er die Geschichte dieser Idee und zeigt, wie falsch sie ist – mit allen kruden Auswirkungen auf Vorstellungen von Sexualität, Rasse, Kindererziehung, Intelligenz usw. Die Rolle der Gene wird systematisch unterschätzt; aber das bedeutet nicht, dass wir ihnen völlig ausgeliefert sind. Pinker zeigt nämlich auch, wie befreiend diese Sichtweise sein kann. Ein unterhaltsames und anschauliches Buch zur Natur des Menschen, ein echter Lesegenuss.

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Seitenzahl: 1270

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Steven Pinker

Das unbeschriebene Blatt

Die moderne Leugnung der menschlichen Natur

Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungVorwortTeil I Das Unbeschriebene Blatt, der Edle Wilde und das Gespenst in der MaschineKapitel 1 Die offizielle TheorieKapitel 2 Silly PuttyKapitel 3 Die letzte Mauer fälltKapitel 4 Die KulturbeflissenenKapitel 5 Das letzte GefechtTeil II Furcht und EkelKapitel 6 Politische WissenschaftlerKapitel 7 Die heilige DreifaltigkeitTeil III Menschliche Natur mit menschlichem AntlitzKapitel 8 Die Angst vor UngleichheitKapitel 9 Die Angst vor der Unmöglichkeit, den Menschen zu vervollkommnenKapitel 10 Die Angst vor DeterminismusKapitel 11 Die Angst vor NihilismusTeil IV Erkenne dich selbstKapitel 12 In Tuchfühlung mit der WirklichkeitKapitel 13 Aus unseren TiefenKapitel 14 Die vielen Wurzeln unseres LeidensKapitel 15 Das fromme TierTeil V TretminenKapitel 16 PolitikKapitel 17 GewaltKapitel 18 GeschlechtKapitel 19 KinderKapitel 20 Die KunstTeil VI Die Stimme der ArtNachwort zu Das unbeschriebene Blatt, Ausgabe 2016DanksagungAnhangDonald E. Browns Liste der menschlichen UniversalienErgänzungen seit 1989LiteraturverzeichnisBildnachweisRegister

Für Don, Judy, Leda und John

Vorwort

»Nicht schon wieder ein Buch über Natur und Umwelt! Heute glaubt doch keiner mehr, dass der Geist ein unbeschriebenes Blatt ist. Wer mehr als ein Kind hat, wer schon mal eine heterosexuelle Beziehung gehabt oder wer beobachtet hat, dass Kinder sprechen lernen, Haustiere aber nicht, der sieht doch, dass Menschen mit bestimmten Talenten und Temperamenten geboren werden. Sind wir nicht längst über den allzu schlichten Gegensatz von Vererbung und Umwelt hinaus und haben erkannt, dass alles Verhalten aus einer Wechselwirkung der beiden erwächst?«

Solche und ähnliche Reaktionen bekam ich von Kollegen zu hören, denen ich meinen Plan zu diesem Buch erläuterte. Auf den ersten Blick ist die Reaktion nicht unvernünftig. Vielleicht hat sich ja die Frage ob Natur oder Umwelt tatsächlich erledigt. Jeder, der mit den aktuellen Veröffentlichungen über Geist und Verhalten vertraut ist, kennt sie zur Genüge, die ausgewogenen Verlautbarungen, für die hier die folgenden Beispiele stehen mögen:

Sollte der Leser jetzt überzeugt sein, es habe entweder die genetische oder die umweltbezogene Erklärung den Sieg auf Kosten der anderen davongetragen, ist es uns nicht hinreichend gelungen, die eine oder die andere Seite darzustellen. Wir halten es für sehr wahrscheinlich, dass sowohl die Gene als auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Wie mag das Mischungsverhältnis aussehen? In diesem Punkt sind wir überzeugte Agnostiker; soweit wir es beurteilen können, rechtfertigen die Ergebnisse keine derartige Schätzung.

 

Dieses Buch behauptet nicht wie viele andere, alles wäre genetisch bedingt; das ist es nicht. Was Kinder erleben, während sie heranwachsen, ist genauso wichtig wie das, was sie von Geburt mitbekamen.

Selbst wenn ein Verhalten erblich ist, so bleibt es als Verhalten eines Individuums immer noch ein Produkt der Entwicklung und besitzt als solches eine ursächliche Umweltkomponente … Die moderne Auffassung, wie sich Phänotypen durch die Replikation genetischer wie ökologischer Bedingungen vererben, lässt darauf schließen, dass … kulturelle Traditionen – Verhaltenweisen, die Kinder ihren Eltern ablauschen – wahrscheinlich von entscheidender Bedeutung sind.

Wenn Sie meinen, das seien harmlose Kompromisse, die zeigten, dass alle Beteiligten die Natur-Umwelt-Debatte überwunden hätten, so kann ich nur zur Vorsicht raten. Die Zitate stammen nämlich aus drei der umstrittensten Bücher des letzten Jahrzehnts. Das erste ist dem Band The Bell Curve von Richard Herrnstein und Charles Murray entnommen, die die Auffassung vertreten, die unterschiedlichen Durchschnittswerte im IQ schwarzer und weißer Amerikaner hätten sowohl genetische wie umweltbedingte Ursachen.[1] Die zweite stammt aus der Schrift Ist Erziehung sinnlos? von Judith Rich Harris, welche die Auffassung vertritt, die Persönlichkeit von Kindern werde sowohl von ihren Genen wie von ihren Umwelten geprägt; daher könnten Ähnlichkeiten zwischen Kindern und Eltern auch durch gemeinsame Gene bedingt sein und müssten nicht in jedem Fall auf die Einflüsse der Erziehung zurückgehen.[2] Die dritte habe ich in A Natural History of Rape von Randy Thornhill und Craig Palmer gefunden, die behaupten, Vergewaltigung sei nicht einfach ein Produkt der Kultur, sondern habe ihre Wurzeln in der Natur der männlichen Sexualität.[3] Dafür, dass sie Umwelt und Natur und nicht die Kultur oder die Umwelteinflüsse allein verantwortlich gemacht haben, sahen sich diese Autoren gebrandmarkt, niedergeschrien, bösartigsten Angriffen in der Presse ausgesetzt und sogar auf Tagungen angeprangert. Andere Autoren, die es wagten, solche Meinungen zu äußern, sind zensiert, tätlich angegriffen oder juristisch belangt worden.[4]

Die Vorstellung, dass Natur und Umwelt in ihrem Zusammenwirken einen Teil des Geistes formen, mag sich als falsch erweisen, aber sie ist weder wischiwaschi noch politisch korrekt, auch nicht im 21. Jahrhundert, Jahrtausende nachdem das Problem formuliert wurde. Sobald es um die Erklärung des menschlichen Verhaltens und Denkens geht, ist die Vermutung, die Vererbung könnte dabei eine Rolle spielen, noch immer empörend. Viele meinen, die menschliche Natur anzuerkennen laufe hinaus auf die Billigung von Rassismus, Krieg, Habgier, Völkermord, Nihilismus, reaktionärer Politik und der Vernachlässigung von Kindern und Behinderten. Jede Behauptung, der Geist könne eine angeborene Organisation besitzen, wird nicht als eine Hypothese aufgenommen, die falsch sein könnte, sondern als ein Gedanke, den zu denken unmoralisch ist.

In diesem Buch geht es um die moralischen, emotionalen und politischen Facetten, die der Begriff der menschlichen Natur in der modernen Anschauung angenommen hat. Ich werde die Geschichte nachzeichnen, welche die Menschen dazu bewogen hat, die menschliche Natur für eine gefährliche Idee zu halten, und ich werde versuchen, die moralischen und politischen Schlangennester auszuheben, die im Laufe der Zeit in diese Idee hineingebaut wurden. Zwar darf kein Buch über die menschliche Natur hoffen, unumstritten zu bleiben, doch ich habe es nicht geschrieben, um ein »brisantes« Buch herauszubringen, wie es auf Waschzetteln so gerne heißt. Ich kontere auch nicht, wie viele meinen, eine extreme »Umwelt-Position« mit einer extremen »Natur-Position«, während die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt. In einigen Fällen ist eine extreme umweltbezogene Erklärung richtig: die Sprache, die Sie sprechen, ist ein offenkundiges Beispiel – und die unterschiedlichen Testergebnisse verschiedener rassischer und ethnischer Gruppen vielleicht ein weiteres. In anderen Fällen, etwa bei bestimmten erblichen neurologischen Störungen, ist eine extreme hereditäre Erklärung angebracht. In den meisten Fällen müsste die korrekte Erklärung wohl von einer komplexen Wechselwirkung zwischen Vererbung und Umwelt ausgehen: Die Kultur ist von entscheidender Bedeutung, aber es gibt sie nicht ohne die geistigen Fähigkeiten, die den Menschen überhaupt erst ermöglichen, Kultur zu erschaffen und zu lernen. Ich habe nicht die Absicht, in diesem Buch die Auffassung zu vertreten, dass die Gene alles und die Kultur nichts sei – das glaubt keiner –, sondern möchte untersuchen, warum die extreme Position (dass Kultur alles sei) so häufig als gemäßigt gilt und warum die gemäßigte Position für extrem gehalten wird.

Im Übrigen hat die Anerkennung der menschlichen Natur durchaus nicht die politischen Implikationen, die so viele fürchten. Beispielsweise zwingt sie niemanden dazu, den Feminismus aufzugeben oder die herrschenden Verhältnisse von Ungerechtigkeit und Gewalt hinzunehmen oder die Moral als Fiktion anzusehen. In Teil I werde ich über weite Strecken versuchen, nicht für bestimmte politische Haltungen einzutreten und mich nicht für die Programme der politischen Linken oder Rechten stark zu machen. Ich glaube, dass Kontroversen politischer Art immer auf Konflikten zwischen konkurrierenden Wertvorstellungen beruhen und dass die Wissenschaft in der Lage ist, die Konflikte zu erkennen, aber nicht, sie zu lösen. Viele dieser Konflikte erwachsen, wie ich zeigen werde, aus Merkmalen der menschlichen Natur, und dadurch, dass ich zu ihrer Klärung beitrage, hoffe ich, unsere kollektiven Entscheidungen, egal, wie sie ausfallen, auf eine rationalere Grundlage zu stellen. Wenn ich für irgendetwas eintrete, dann für die Berücksichtigung von wissenschaftlichen Entdeckungen über die menschliche Natur, die in modernen Debatten über diese Fragen bisher vernachlässigt oder unterdrückt worden sind.

Warum ist es nötig, alle diese Fragen zu klären? Die Weigerung, die menschliche Natur anzuerkennen, ist wie die viktorianische Verlegenheit im Hinblick auf die Sexualität, nur schlimmer: Sie verzerrt unsere wissenschaftlichen Ansätze, unsere Forschung, den öffentlichen Diskurs und unseren Alltag. Von den Logikern wissen wir, dass ein einziger Widerspruch eine Reihe von Aussagen infizieren und der Unwahrheit ermöglichen kann, sich in allen einzunisten. Das Dogma, die menschliche Natur existiere nicht, ein Dogma, das ungeachtet aller Gegenbeweise, die Wissenschaft und gesunder Menschenverstand beibringen, aufrechterhalten wird, ist eine solche Wahrheitsinfektion.

Zunächst einmal hat die Lehre, der Geist sei ein unbeschriebenes Blatt, die wissenschaftliche Erforschung des Menschen verzerrt und damit auch die öffentlichen und privaten Entscheidungen, die sich an den Forschungsergebnissen orientieren. Beispielsweise stützen sich viele Erziehungsstrategien und -empfehlungen auf Untersuchungsergebnisse, die eine Korrelation zwischen Eltern- und Kinderverhalten zeigen. Liebevolle Eltern haben selbstbewusste Kinder, autoritative Eltern (weder zu permissiv noch zu strafend) haben wohlerzogene Kinder, Eltern, die mit ihren Kindern sprechen, haben Kinder mit besseren sprachlichen Fähigkeiten und so fort. Jeder gelangt zu dem Schluss, Eltern müssten, um möglichst wohlgeratene Kinder heranzuziehen, liebevoll, autoritativ und gesprächsbereit sein, und wenn die Kinder nicht gerieten, müsse es an den Eltern liegen. Diese Schlussfolgerungen beruhen jedoch auf der Überzeugung, Kinder seien unbeschriebene Blätter. Vergessen Sie nicht, Eltern versorgen ihre Kinder nicht nur mit einer familiären Umwelt, sondern auch mit Genen. Es wäre denkbar, dass uns die Korrelationen zwischen Eltern und Kindern lediglich mitteilen, dass die Gene, die Erwachsene liebevoll, autoritativ und gesprächsbereit machen, Kinder zu selbstbewussten, wohlgeratenen und sprachbegabten Geschöpfen heranwachsen lassen. Bevor man die Studien nicht an adoptierten Kindern wiederholt hat (an Kindern, die von ihren Eltern nur die Umwelt und nicht die Gene bekommen), lässt sich aus den Daten herauslesen, dass die Gene der entscheidende Faktor sind, dass allein die Erziehung verantwortlich ist oder dass eine der vielen denkbaren Kombinationen beider Einflüsse vorliegt. Doch in fast allen Fällen ist die extremste Position – dass die Eltern der einzige Einflussfaktor sind – die einzige, die von den Forschern eingenommen wird. Das Tabu, mit dem die menschliche Natur belegt wurde, versieht nicht nur die Forscher mit Scheuklappen, sondern brandmarkt auch jeden Versuch, es zu diskutieren, als Ketzerei, die es auszumerzen gilt. Viele Autoren sind so darauf versessen, jede Mutmaßung, es könnte eine angeborene menschliche Konstitution geben, im Keim zu ersticken, dass sie alle Logik und Artigkeit über Bord werfen. Grundlegende Unterschiede – wie die zwischen »einige« und »alle«, »wahrscheinlich« und »immer«, »ist« und »sollte« – werden bedenkenlos unterschlagen, um die menschliche Natur als extremistische Doktrin zu diffamieren. In der Regel wird die Analyse von Ideen durch politische Unterstellungen und persönliche Angriffe ersetzt. Diese Vergiftung des geistigen Klimas hat uns jede Möglichkeit genommen, uns mit dringenden Fragen der menschlichen Natur selbst dann auseinanderzusetzen, wenn sie von neuen wissenschaftlichen Entdeckungen aufgeworfen werden.

Die Verleugnung der menschlichen Natur ist über die Grenzen der wissenschaftlichen Welt hinausgedrungen und hat zu einer Trennung von Geistesleben und gesundem Menschenverstand geführt. Zum ersten Mal kam ich auf die Idee, dieses Buch zu schreiben, als ich anfing, eine Reihe verblüffender Behauptungen von Koryphäen und Gesellschaftskritikern zu sammeln, die die Formbarkeit der menschlichen Psyche betrafen: dass kleine Jungen streiten und kämpfen, weil man sie dazu ermutigt; dass Kinder Süßigkeiten mögen, weil ihre Eltern sie als Belohnung für den Verzehr von Gemüse verwenden; dass Halbwüchsige durch Rechtschreibwettbewerbe und Schulleistungspreise auf die Idee gebracht werden, in Sachen Aussehen und Mode zu konkurrieren; dass Männer den Orgasmus für das Ziel der Sexualität halten, weil sie durch ihre Sozialisation dazu gebracht werden. Dabei liegt das Problem nicht nur darin, dass diese Behauptungen grotesk sind, sondern dass die Autoren nicht einmal die Möglichkeit einräumen, ihre Aussagen könnten vom gesunden Menschenverstand in Frage gestellt werden. Das ist Sektenmentalität, die aberwitzige Glaubensüberzeugungen als Beweis für Frömmigkeit wertet. Diese Mentalität ist unvereinbar mit Wahrheitsliebe und meiner Meinung nach verantwortlich für einige unglückliche Tendenzen in unserem jüngeren Geistesleben. Eine Tendenz ist die offene Verachtung, die viele Vertreter von Forschung und Lehre für Begriffe wie »Wahrheit«, »Logik« und »Beweise« bezeugen. Eine andere ist die heuchlerische Trennung zwischen dem, was Intellektuelle in der Öffentlichkeit sagen, und dem, was sie tatsächlich glauben. Eine dritte ist die unvermeidliche Reaktion: eine Kultur von »politisch unkorrekten« Schock-Clowns, die sich gegenseitig in Antiintellektualismus und Bigotterie übertreffen, ermutigt durch die Gewissheit, dass das intellektuelle Establishment in den Augen der Öffentlichkeit jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit verwirkt hat.

Schließlich hat die Verleugnung der menschlichen Natur nicht nur die Welt der Kritiker und Intellektuellen infiziert, sondern auch das Leben normaler Menschen in Mitleidenschaft gezogen. Die Theorie, dass Eltern ihre Kinder wie Lehm formen könnten, hat den armen Menschen Erziehungsstrategien auferlegt, die nicht nur unnatürlich, sondern manchmal sogar grausam sind. Sie wirken negativ in die Entscheidungen hinein, vor denen Mütter stehen, wenn sie ihre verschiedenen Lebensbereiche in Einklang bringen wollen, und verstärken das Leid der Eltern, deren Kinder sich anders entwickeln, als sie gehofft haben. Die Überzeugung, dass die Geschmäcker der Menschen reversible kulturelle Präferenzen seien, hat Sozialplaner veranlasst, sich über das Bedürfnis der Menschen nach Schönheit, natürlichem Licht und menschlichem Maß hinwegzusetzen und Millionen von ihnen zu zwingen, in tristen Betonkästen zu hausen. Die romantische Vorstellung, alles Böse werde von der Gesellschaft hervorgebracht, diente als Rechtfertigung zur Freilassung gefährlicher Psychopathen, die postwendend unschuldige Menschen umbrachten. Und die Überzeugung, die Menschheit lasse sich durch massive sozialtechnische Projekte umkrempeln, führte zu einigen der größten Grausamkeiten in der Geschichte.

Zwar werden viele meiner Argumente unpersönlich und analytisch sein – dass die Anerkennung der menschlichen Natur, logisch betrachtet, nicht die negativen Ergebnisse nach sich zieht, die so viele Menschen befürchten –, doch ich werde andererseits nicht meine Überzeugung verleugnen, dass eine solche Anerkennung auch positive Auswirkungen hätte. »Der Mensch wird besser, wenn man ihm zeigt, wie er ist«, schrieb Tschechow. In diesem Sinne können die neuen Wissenschaften von der menschlichen Natur den Weg zu einer realistischen, biologisch untermauerten Humanität bahnen. Sie offenbaren die psychologischen Konstanten unserer Art, unabhängig von den oberflächlichen Unterschieden der körperlichen Erscheinung und der engeren Kultur. Sie erschließen uns die wunderbare Komplexität des menschlichen Geistes, die für selbstverständlich zu erachten wir eben deshalb geneigt sind, weil sie uns so vorzügliche und reibungslose Dienste leistet. Sie zeigen uns unsere intuitiven moralischen Kräfte, die wir nutzen können, um unser Los zu verbessern. Sie verheißen uns Natürlichkeit in menschlichen Beziehungen, indem sie uns ermutigen, uns in unserem Umgang mit Menschen danach zu richten, wie sie wirklich fühlen, und nicht, wie sie sich nach Maßgabe irgendeiner Theorie fühlen sollten. Sie liefern uns einen Prüfstein, der uns ermöglicht, Leid und Unterdrückung zu erkennen, wo immer wir auf sie stoßen, und die Rechtfertigungen der Mächtigen zu entlarven. Sie bieten uns die Möglichkeit, die Absichten selbsternannter Sozialreformer zu durchschauen, die uns von unseren Freuden befreien möchten. Sie erneuern unsere Wertschätzung für die Errungenschaft von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Und sie fördern die Einsichten von Künstlern und Philosophen, die sich seit Jahrtausenden mit der Conditio humana beschäftigen.

Nie war eine ehrliche Erörterung der menschlichen Natur dringender erforderlich. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben viele Intellektuelle versucht, sittliche Grundsätze auf äußerst schwache Tatsachenfundamente zu gründen – etwa dass der Mensch von seinen Artgenossen biologisch nicht zu unterscheiden sei, keine unedlen Motive hege und absolut frei in seinen Entscheidungen sei. Heute werden diese Behauptungen von den Entdeckungen in der Kognitions-, Gehirn-, Gen- und Evolutionsforschung in Frage gestellt. Wem all das noch nicht genügt, den sollte spätestens die Vollendung des Humangenomprojekts mit seinem Versprechen auf ein nie dagewesenes Verständnis der genetischen Wurzeln unseres Verstandes und unserer Emotionen wachrütteln. Diese neue wissenschaftliche Herausforderung der verleugneten menschlichen Natur bedeutet auch für uns eine Herausforderung. Wenn wir nicht Werte wie Friede und Gleichheit oder unsere Verpflichtung auf Wissenschaft und Wahrheit aufgeben wollen, dürfen wir diese Werte nicht mit widerlegbaren Behauptungen über die psychologische Beschaffenheit des Menschen verknüpfen.

Dieses Buch richtet sich an Leser, die sich fragen, woher die Tabuisierung der menschlichen Natur kommt, und die bereit sind, sich der Frage zu stellen, ob Zweifel an diesem Tabu tatsächlich gefährlich oder nur ungewohnt sind. Es wendet sich an Leser, die sich für das langsam sich herausschälende Porträt unserer Art und für die legitime Kritik an diesem Porträt interessieren. Es ist für Leser gedacht, die argwöhnen, dieses Tabu habe uns bei unserer Auseinandersetzung mit den dringenden Fragen, vor denen wir stehen, einer Reihe wichtiger Instrumente beraubt. Und es gilt Lesern, die sich klar darüber sind, dass die Erkenntnisse aus der Kognitions-, Gehirn-, Gen- und Evolutionsforschung fortwährend das Bild verändern, das wir von uns haben, und die sich fragen, ob die Werte, die wir so hoch achten, an dieser Entwicklung zerbrechen, sie überleben oder durch sie (wie ich argumentieren werde) Bestätigung erfahren.

Teil IDas Unbeschriebene Blatt, der Edle Wilde und das Gespenst in der Maschine

Jeder hat eine Theorie über die menschliche Natur. Jeder muss das Handeln anderer antizipieren, und das heißt, dass wir alle Theorien über die Triebfedern menschlichen Verhaltens haben müssen. Eine stillschweigende Theorie über die menschliche Natur – dass Verhalten durch Gedanken und Gefühle verursacht wird – ist in unsere Vorstellungen vom Menschen eingebettet. Wir ergänzen diese Theorie durch Selbstbeobachtung, wobei wir annehmen, unsere Mitmenschen seien wie wir, und durch die Beobachtung anderer Menschen, woraus wir Verallgemeinerungen ableiten. Weitere Ideen beziehen wir aus dem geistigen Umfeld: den Urteilen von Fachleuten und den allgemeinen Ansichten der Zeit.

Aus unserer Theorie über die menschliche Natur ergeben sich viele Aspekte unseres Lebens. Wir halten uns an sie, wenn wir überreden oder drohen, informieren oder täuschen möchten. Ihr entnehmen wir, was wir zum Gelingen unserer Ehe tun, wie wir unsere Kinder erziehen und wie wir unser eigenes Verhalten in den Griff bekommen können. Ihre Annahmen über das Lernen bilden die Grundlage unserer Bildungsstrategien, ihre Ideen über Motivation sind verantwortlich für unsere Maßnahmen auf dem Gebiet von Wirtschaft, Recht und Verbrechensbekämpfung. Und da sie uns mitteilt, was Menschen leicht, was sie nur unter Mühen und Opfern und was sie gar nicht erreichen können, wirkt sie sich auch auf unser Wertesystem aus: auf unsere Vorstellungen davon, wonach wir vernünftigerweise als Einzelne und als Gesellschaft streben können. Konkurrierende Theorien von der menschlichen Natur sind mit unterschiedlichen Lebensweisen und politischen Systemen verknüpft und waren im Laufe der Geschichte Anlass für viele Konflikte.

Seit Jahrtausenden werden die wichtigsten Theorien über die menschliche Natur von der Religion geliefert.[5] Beispielsweise bietet die jüdisch-christliche Tradition Erklärungen für einen Großteil der Themen, die heute von Biologie und Psychologie untersucht werden. Die Menschen sind nach dem Bild Gottes geschaffen und nicht verwandt mit den Tieren.[6] Frauen sind aus einem Teil des Mannes gemacht und sollen ihm untertan sein.[7] Der Geist ist eine immaterielle Substanz: Er verfügt über Kräfte, die über diejenigen rein stofflicher Strukturen hinausgehen, und bleibt erhalten, wenn der Körper stirbt.[8] Der Geist besteht aus mehreren Komponenten, unter anderem einem moralischen Empfinden, einer Fähigkeit zu lieben, einem Denkvermögen, das erkennt, ob eine Handlung mit den Idealen der Tugend übereinstimmt, und einer Entscheidungsfähigkeit, die festlegt, wie wir uns verhalten. Obwohl die Entscheidungsfähigkeit nicht an die Gesetze von Ursache und Wirkung gebunden ist, hat sie eine angeborene Neigung, die Sünde zu wählen. Unsere kognitiven und perzeptiven Fähigkeiten arbeiten genau, weil Gott ihnen Ideale eingegeben hat, die der Wirklichkeit entsprechen, und weil er ihre Funktionen mit der Außenwelt abstimmt. Geistige Gesundheit erwirbt der Mensch dadurch, dass er Gottes Absicht erkennt, sich für das Gute entscheidet, seine Sünden bereut, Gott verehrt und seine Mitmenschen liebt, weil es Gott gefällt.

Die jüdisch-christliche Theorie gründet sich auf Ereignisse, die in der Bibel erzählt werden. Wir wissen, dass der menschliche Geist nichts mit dem Geist von Tieren gemeinsam hat, weil die Bibel sagt, der Mensch sei getrennt erschaffen worden. Wir wissen, dass der Plan für die Frau auf dem Plan für den Mann beruht, denn in der zweiten Erzählung von der Erschaffung der Frau wird Eva aus Adams Rippe gebildet. Menschliche Entscheidungen können nicht die unausweichlichen Wirkungen irgendeiner Ursache sein, so können wir vermuten, da Gott Adam und Eva zur Rechenschaft zog, weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, woraus sich schließen lässt, dass sie sich auch anders hätten entscheiden können. Dass die Frauen den Männern untertan sind, ist die Strafe für Evas Ungehorsam, und Männer und Frauen haben die Sünde des ersten Paares geerbt.

Die jüdisch-christliche Vorstellung ist noch immer die verbreitetste Theorie über die menschliche Natur in den Vereinigten Staaten. Laut jüngeren Umfragen glauben 76 Prozent der Amerikaner an die biblische Schöpfungsgeschichte, 79 Prozent daran, dass die Wunder in der Bibel tatsächlich stattgefunden haben, 76 Prozent an Engel, den Teufel und andere immaterielle Seelen, 67 Prozent glauben, sie würden in der einen oder anderen Form nach dem Tode weiterleben, und nur 15 Prozent sind der Meinung, Darwins Evolutionstheorie sei die beste Erklärung für den Ursprung des menschlichen Lebens auf der Erde.[9] Politiker der Rechten bekennen sich ausdrücklich zur religiösen Theorie, und kein Politiker der großen Parteien würde es wagen, ihr öffentlich zu widersprechen. Doch die modernen naturwissenschaftlichen Disziplinen der Kosmologie, Geologie, Biologie und Archäologie haben jedem wissenschaftlich gebildeten Menschen den naiven Glauben an die biblische Schöpfungsgeschichte genommen. Infolgedessen wird die jüdisch-christliche Theorie über die menschliche Natur von den meisten Akademikern, Journalisten, Gesellschaftskritikern und sonstigen Intellektuellen nicht mehr ausdrücklich bejaht.

Trotzdem muss jede Gesellschaft mit einer Theorie der menschlichen Natur arbeiten, und daher hat sich unter Intellektuellen eine andere eingebürgert. Zwar kommt es selten vor, dass jemand sie explizit formuliert oder sich offen zu ihr bekennt, aber sie bildet das Kernstück zahlreicher Überzeugungen und Strategien. Bertrand Russell schrieb: »Jeder Mensch, wohin er auch geht, ist in eine Wolke tröstlicher Überzeugungen gehüllt, die ihn begleiten wie Mücken an einem Sommertag.« Bei den Intellektuellen unserer Tage betreffen diese Überzeugungen psychologische und soziale Beziehungen. Ich werde diese Überzeugungen das Unbeschriebene Blatt nennen: die Vorstellung, der menschliche Geist habe keine inhärente Struktur und lasse sich nach Belieben von der Gesellschaft oder uns selbst beschreiben.

Diese Theorie der menschlichen Natur – dass es sie eigentlich gar nicht gebe – ist das Thema dieses Buches. Wie die Religion eine Theorie der menschlichen Natur einschließt, so übernehmen die Theorien der menschlichen Natur einige Funktionen der Religion, mit dem Erfolg, dass das Unbeschriebene Blatt zur weltlichen Religion des modernen Geisteslebens geworden ist. Man begreift es als Ursprung von Wertvorstellungen, und folglich wird der Umstand, dass es auf einem Wunder beruht – dem nämlich, dass ein komplexer Geist aus dem Nichts entspringt –, nicht gegen den Begriff ins Feld geführt. Versuche von Skeptikern und Wissenschaftlern, die Lehre in Frage zu stellen, haben einige Anhänger in Glaubenskrisen gestürzt und andere veranlasst, mit jenen wütenden und heftigen Angriffen zu antworten, die üblicherweise Ketzern und Ungläubigen vorbehalten sind. So wie sich viele religiöse Überlieferungen am Ende mit scheinbaren Bedrohungen durch die Wissenschaften (etwa die Revolutionen von Kopernikus und Darwin) vereinbaren ließen, denke ich, dass auch unsere Werte die Abdankung des Unbeschriebenen Blattes überleben werden.

Die Kapitel in diesem Teil des Buches (Teil I) behandeln den Aufstieg des Unbeschriebenen Blattes im modernen Geistesleben und die neue Auffassung über das Verhältnis von menschlicher Natur und Kultur, die das Unbeschriebene Blatt in Frage zu stellen beginnt. In den folgenden Teilen werden wir miterleben, welche Angst durch diese Zweifel geweckt wird (Teil II), und sehen, wie sich diese Angst beschwichtigen lässt (Teil III). Dann werde ich zeigen, welche Einsichten in Sprache, Denken, soziales Leben und Moralbegriffe eine umfassendere Ansicht von der menschlichen Natur vermitteln kann (Teil IV) und wie sie zur Klärung von Kontroversen über Politik, Gewalt, Geschlechterverhältnis, Kindererziehung und Kunst beitragen kann (Teil V). Schließlich werde ich zeigen, dass die Abdankung des Unbeschriebenen Blattes weniger beunruhigend und in mancherlei Hinsicht auch weniger revolutionär ist, als sie auf den ersten Blick erscheint (Teil VI).

Kapitel 1Die offizielle Theorie

»Unbeschriebenes Blatt« ist die sehr freie Übersetzung des mittelalterlichen Begriffs Tabula rasa – wörtlich »abgeschabte Schreibtafel«. In der Regel wird sie dem Philosophen John Locke (1632–1704) zugeschrieben.[1] Es folgt der berühmte Abschnitt aus seiner Schrift Versuch über den menschlichen Verstand:

Nehmen wir also an, der Geist sei, wie man sagt, ein unbeschriebenes Blatt, ohne alle Schriftzeichen, frei von allen Ideen; wie werden ihm diese dann zugeführt? Wie gelangt er zu dem gewaltigen Vorrat an Ideen, womit ihn die geschäftige schrankenlose Phantasie des Menschen in nahezu unendlicher Mannigfaltigkeit beschrieben hat? Woher hat er all das Material für seine Vernunft und für seine Erkenntnis? Ich antworte darauf mit einem einzigen Wort: aus der Erfahrung.[10]

Locke hatte hier die Theorien von den angeborenen Ideen im Visier, die Überzeugung, der Mensch werde mit mathematischen Idealen, ewigen Wahrheiten und einem Gottesbegriff geboren. Seine alternative Theorie, der Empirismus, war sowohl als psychologische Theorie gedacht – wie der Geist arbeitet –, wie auch als epistemologische Theorie – wie wir die Wahrheit erkennen. Beide Zielsetzungen kamen seiner politischen Philosophie zugute, die oft als Grundlage der liberalen Demokratie gepriesen wird. Locke stellte die dogmatischen Rechtfertigungen des Status quo in Frage – beispielsweise die Autorität der Kirche oder das Gottesgnadentum der Könige, die als selbstevidente Wahrheiten ausgegeben wurden. Stattdessen vertrat er die Auffassung, soziale Vereinbarungen sollten sich ausschließlich auf Vernunft gründen, auf gegenseitigem Einverständnis beruhen und sich nur auf Wissen stützen, das jeder Mensch erwerben könne. Da Ideen auf Erfahrungen gegründet sind, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden, entstehen unterschiedliche Meinungen nicht dadurch, dass ein Geist die Voraussetzungen besitzt, die Wahrheit zu begreifen, ein anderer dagegen nicht, sondern weil beide verschiedene Geschichten haben. Daher sollten diese Unterschiede toleriert und nicht unterdrückt werden. Lockes Begriff des »unbeschriebenen Blattes« untergrub die Stellung des erblichen Königtums und Adels, deren Mitglieder nicht auf angeborene Weisheit oder naturgegebenes Verdienst pochen konnten, wenn ihr Geist bei der Geburt so unbeschrieben wie der aller anderen Menschen war. Auch die Institution der Sklaverei wurde dadurch in Zweifel gezogen, ließ sich doch die Auffassung nicht mehr halten, Sklaven seien von Geburt aus minderwertig oder zum Dienen bestimmt.

Während der letzten hundert Jahre hat die Lehre vom Unbeschriebenen Blatt das Programm der Sozial- und Geisteswissenschaften weitgehend vorgegeben. Wie wir sehen werden, hat die Psychologie versucht, alle Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen mit wenigen einfachen Lernmechanismen zu erklären. Die Sozialwissenschaften waren bestrebt, alle Sitten und sozialen Konventionen als Ergebnis der Sozialisation von Kindern durch die umgebende Kultur zu erklären: ein System von Wörtern, Vorstellungen, Stereotypen, Rollenmodellen sowie Belohnungen und Bestrafungen. Eine lange und wachsende Liste von Begriffen, die natürliche Elemente menschlichen Denkens zu sein scheinen (Emotionen, Verwandtschaft, Geschlechter, Krankheit, Natur, die Welt), gelten heute als »erfunden« oder als »soziale Konstrukte«.[11]

Das Unbeschriebene Blatt diente auch als heilige Schrift für politische und ethische Überzeugungen. Nach dieser Lehre erwachsen alle Unterschiede, die wir zwischen Rassen, ethnischen Gruppen, Geschlechtern und Individuen sehen, aus Unterschieden in ihren Erfahrungen. Man verändere die Erfahrungen – durch Reform der Erziehung, der Bildung, der Medien und der sozialen Belohnungen –, und man verändert den Menschen. Mangelhafte Schulleistungen, Armut und antisoziales Verhalten lassen sich verbessern: ja, es zu unterlassen ist geradezu unverantwortlich. Und Diskriminierung auf der Grundlage angeborener Eigenschaften eines Geschlechts oder einer ethnischen Gruppe ist einfach vernunftwidrig.

Häufig tritt das Unbeschriebene Blatt in Begleitung zweier anderer Lehren auf, die im modernen Geistesleben ebenfalls einen geradezu heiligen Status erlangt haben. Meine Bezeichnung für die erste der beiden wird gemeinhin dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zugeschrieben, obwohl sie in Wirklichkeit von John Dryden stammt, der sie 1670 in seiner Tragödie The Conquest of Granada prägte:

I am as free as Nature first made man,

Ere the base laws of servitude began,

When wild in woods the noble savage ran.[2]

Der Begriff des »edlen Wilden« entstand, als die europäischen Kolonisten die eingeborenen Völker in Amerika, Afrika und (später) Ozeanien entdeckten. Er ist geprägt von der Überzeugung, der Mensch in seinem Naturzustand sei selbstlos, friedfertig und unverdorben, daher seien Heimsuchungen wie Gier, Angst und Gewalt Produkte der Zivilisation. 1755 schrieb Rousseau, manche Autoren hätten

sich beeilt zu schließen, daß der Mensch von Natur aus grausam sei und daß er der Zivilisation bedürfe, damit diese ihn sanfter mache. Indessen ist nichts so sanft wie der Mensch in seinem anfänglichen Zustand, … von der Natur in gleicher Entfernung zur Stupidität des Viehs wie zur unheilvollen Einsicht und Aufgeklärtheit des bürgerlichen Menschen plaziert …

Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr findet man, daß dieser Zustand der am wenigsten den Revolutionen ausgesetzte, der beste für den Menschen war und daß der Mensch nur aufgrund irgendeines unheilvollen Zufalls aus ihm herausgetreten sein muß, der sich zum allgemeinen Nutzen niemals hätte ereignen sollen. Das Beispiel der Wilden – die man beinahe alle an diesem Punkt angetroffen hat – scheint zu bestätigen, daß das Menschengeschlecht dazu geschaffen war, für immer in ihm zu verbleiben; daß dieser Zustand die wahrhafte Jugend der Welt ist; und daß alle späteren Fortschritte dem Scheine nach ebenso viele Schritte hin zur Vollendung des Individuums und in Wirklichkeit zum Verfall der Art gewesen sind.[12]

Bei diesen Autoren dachte Rousseau vor allem an Thomas Hobbes (1588–1679), der ein ganz anderes Bild entworfen hatte:

Hierdurch ist offenbar, daß sich die Menschen, solange sie ohne eine öffentliche Macht sind, die sie alle in Schrecken hält, in jenem Zustand befinden, den man Krieg nennt, und zwar im Krieg eines jeden gegen jeden … In solchem Zustand gibt es keinen Platz für Fleiß, denn seine Früchte sind ungewiß, und folglich keine Kultivierung des Bodens, keine Schiffahrt oder Nutzung der Waren, die auf dem Seeweg importiert werden mögen, kein zweckdienliches Bauen, keine Werkzeuge zur Bewegung von Dingen, deren Transport viel Kraft erfordert, keine Kenntnis über das Antlitz der Erde, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Bildung, keine Gesellschaft, und, was das allerschlimmste ist, es herrscht ständige Furcht und die Gefahr eines gewaltsamen Todes; und das Leben des Menschen ist einsam, armselig, widerwärtig, vertiert und kurz.[13]

Hobbes glaubte, der Mensch könne diesem schrecklichen Dasein nur entkommen, indem er seine Autonomie an einen Souverän oder eine Körperschaft abgebe. Dafür fand er die Bezeichnung »Leviathan«, das hebräische Wort für ein Meerungeheuer, das zu Beginn der Schöpfung von Jahwe überwältigt wird.

Viel hängt davon ab, welcher dieser Anthropologen von eigenen Gnaden recht hat. Wenn die Menschen edle Wilde sind, ist die Unterwerfung durch den Leviathan überflüssig. Indem er die Menschen zwingt, Privateigentum zu beschreiben, damit der Staat es anerkennen kann – Eigentum, das sie sonst vielleicht geteilt hätten –, ruft der Leviathan eben die Gier und Streitsucht hervor, die er kontrollieren soll. Wären die Menschen edle Wilde, wäre eine glückliche Gesellschaft ihr Geburtsrecht. Wir müssten nur die institutionellen Barrieren einreißen, die uns von ihr fernhielten. Sind die Menschen hingegen von Natur aus böse, können wir bestenfalls auf einen unsicheren Waffenstillstand hoffen, der von Polizei und Militär durchgesetzt wird. Die beiden Theorien haben auch Konsequenzen für das Privatleben. Jedes Kind wird wild (das heißt unzivilisiert) geboren; wenn Wilde also von Natur aus friedlich und freundlich sind, läuft die Kindererziehung darauf hinaus, Kindern Gelegenheit zu geben, ihr Potential zu entfalten. Böse Menschen sind das Produkt einer Gesellschaft, die sie verdorben hat. Sind Wilde hingegen von Natur aus böse, ist die Erziehung ein Schauplatz von Disziplin und Konflikt, und böse Menschen zeigen eine dunkle Seite, die nicht hinreichend gezähmt worden ist.

Die tatsächlichen Schriften der Philosophen sind immer vielschichtiger als die Theorien, die sie in den Lehrbüchern symbolisieren. Tatsächlich liegen die Anschauungen von Hobbes und Rousseau gar nicht so weit auseinander. Wie Hobbes glaubte Rousseau (zu Unrecht), Wilde lebten vereinzelt, ohne Bindungen der Liebe und Treue, ohne Industrie oder Kunst (und vielleicht hat er Hobbes sogar auf dessen ureigenstem Gebiet mit der Behauptung übertrumpft, sie verfügten noch nicht einmal über Sprache). Hobbes entwarf – zeichnete buchstäblich – seinen Leviathan als eine Verkörperung des kollektiven Willens, der sich auf eine Art Gesellschaftsvertrag stützte. Rousseaus bekanntestes Werk heißt »Der Gesellschaftsvertrag«, und darin fordert er die Menschen auf, ihre Interessen einem »Gemeinwillen« unterzuordnen.

Dennoch entwarfen Hobbes und Rousseau gegensätzliche Bilder vom Naturzustand, die späteren Denkern immer wieder als Vorlage dienten. Niemand kann übersehen, welchen Einfluss die Lehre vom edlen Wilden auf das zeitgenössische Bewusstsein ausübt. Wir erkennen ihn in der Verehrung alles Natürlichen (natürlicher Ernährung, natürlicher Heilmittel, natürlicher Geburt), im Misstrauen gegen alles Menschenwerk, in der Achtung autoritärer Erziehungsstile und in der Auffassung, soziale Probleme seien reparable Mängel unserer Institutionen und nicht unabweisliche Tragödien der Conditio humana.

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Die andere geheiligte Lehre, die häufig mit dem Unbeschriebenen Blatt einhergeht, wird gewöhnlich dem Wissenschaftler, Mathematiker und Philosophen René Descartes (1596–1650) zugeschrieben:

Nun, erstens bemerke ich hier, daß zwischen Geist und Körper insofern ein großer Unterschied besteht, als der Körper seiner Natur nach stets teilbar, der Geist hingegen durchaus unteilbar ist. Denn, in der Tat, wenn ich diesen betrachte, d.h. mich selbst, insofern ich nur ein denkendes Wesen bin, so kann ich in mir keine Teile unterscheiden, sondern erkenne mich als ein durchaus einheitliches und ganzes Ding. Und wenngleich der ganze Geist mit dem ganzen Körper verbunden zu sein scheint, so erkenne ich doch, daß, wenn man den Fuß oder den Arm oder irgendeinen anderen Körperteil abschneidet, darum nichts vom Geiste weggenommen ist. Auch darf man nicht die Fähigkeit des Wollens, Empfindens, Erkennens usw. als seine Teile bezeichnen, ist es doch ein und derselbe Geist, der will, empfindet und erkennt. Im Gegenteil aber kann ich mir kein körperliches, d.h. ausgedehntes Ding denken, das ich nicht in Gedanken unschwer in Teile teilen und ebendadurch als teilbar erkennen könnte, und das allein würde hinreichen, mich zu lehren, daß der Geist vom Körper gänzlich verschieden ist, wenn ich es noch nicht anderswoher zur Genüge wüßte.[14]

Einen denkwürdigen Namen erhielt diese Lehre drei Jahrhunderte später von einem Kritiker, dem Philosophen Gilbert Ryle (1900–1976):

So verbreitet ist unter Fachleuten und sogar unter Laien eine gewisse Theorie über das Wesen und die Stellung des Geistes, daß sie wohl als die offizielle Doktrin angesprochen werden kann … Die offizielle Lehre stammt hauptsächlich von Descartes und lautet ungefähr so: Jedes menschliche Wesen, mit der möglichen Ausnahme von Schwachsinnigen und kleinen Kindern, hat sowohl einen Körper als auch einen Geist. Einige ziehen wohl vor zu sagen, jedes menschliche Wesen sei sowohl Körper wie Geist. Körper und Geist sind gewöhnlich zusammengespannt, aber nach dem Tode des Körpers kann der Geist möglicherweise allein fortbestehen und seine Funktion ausüben. Menschliche Körper existieren im Raum und sind den mechanischen Kausalgesetzen unterworfen, welche alle Körper im Raum beherrschen … Aber der Geist ist nicht im Raum, und sein Tun ist nicht den Gesetzen der Mechanik unterworfen … … So lautet kurz die offizielle Lehre. Ich werde oft mit absichtlicher Geringschätzung von ihr als dem »Dogma vom Gespenst in der Maschine« sprechen.[15]

Das Gespenst in der Maschine entstand wie der Edle Wilde teilweise als Reaktion auf Hobbes. Dieser hatte die Auffassung vertreten, Leben und Geist ließen sich mechanisch erklären. Licht setzt Nerven und Gehirn in Bewegung, und dadurch entsteht, was wir Sehen nennen. Die Bewegungen können fortbestehen wie das Kielwasser eines Schiffes oder die Schwingungen einer angezupften Saite, und das ist, was wir Vorstellen nennen. »Größen« werden im Gehirn zugezählt oder abgezogen, und so entwickelt sich, was wir Denken nennen.

Descartes wehrte sich gegen die Idee, die Funktionen des Geistes könnten sich nach physikalischen Prinzipien richten. Er meinte, das Verhalten, besonders das Sprechen, werde nicht durch irgendetwas verursacht, sondern frei gewählt. Unser Bewusstsein fühlt sich, im Gegensatz zu unserem Körper und anderen physischen Objekten, nicht so an, als lasse es sich in Teile untergliedern oder im Raum ausbreiten. Wir können nicht am Vorhandensein unseres Geistes zweifeln – ja, wir können nicht einmal daran zweifeln, dass wir unser Geist sind –, weil der bloße Akt des Denkens voraussetzt, dass unser Geist existiert. Aber wir können, so Descartes, am Vorhandensein unseres Körpers zweifeln, weil wir in der Lage sind, uns vorzustellen, wir wären immaterielle Geistwesen, die lediglich träumen oder halluzinieren, sie wären in einen Körper hineingeboren.

Descartes entdeckte auch einen moralischen Vorzug in seinem Dualismus (der Überzeugung, der Geist sei von anderer Art als der Körper): Unter den Irrtümern der Gottesleugner »gibt es keinen, der schwache Geister mehr vom geraden Weg der Tugend abbringt als die Einbildung, Tierseelen hätten die gleiche Natur wie Menschenseelen und hätten folglich nach diesem Leben weder etwas zu fürchten noch etwas zu hoffen, genausowenig wie die Fliegen und die Ameisen«.[16] Ryle erläutert Descartes’ Dilemma:

Als Galilei bewiesen hatte, daß seine wissenschaftlichen Forschungsmethoden imstande waren, eine mechanische Theorie zu liefern, die alles Räumliche erfaßte, da entdeckte Descartes in sich zwei widerstreitende Motive. Als ein Mann von genialer wissenschaftlicher Begabung konnte er den Behauptungen der Mechanik nur beipflichten, jedoch als religiöser und sittlicher Mensch konnte er nicht, wie Hobbes, die niederschmetternde Folge dieser Anschauungen annehmen, die menschliche Natur unterscheide sich von einem Uhrwerk bloß durch den Grad der Kompliziertheit.[17]

In der Tat kann der Gedanke verstörend sein, wir seien nur verklärte Gebilde aus Rädern und Sprungfedern. Maschinen sind gefühllos, sind konstruiert, um benutzt zu werden und verfügbar zu sein. Menschen dagegen fühlen, besitzen Würde und Rechte und sind unendlich kostbar. Eine Maschine hat einen alltäglichen Zweck, sie mahlt Korn oder spitzt Bleistifte an. Ein Mensch dient höheren Zwecken – Liebe, Gottesdienst, guten Taten, der Schaffung von Wissen und Schönheit. Das Verhalten von Maschinen ist von den unausweichlichen Gesetzen der Physik und Chemie bestimmt; das Verhalten von Menschen ist frei gewählt. Mit der Wahl kommt die Freiheit und mit ihr eine optimistische Einschätzung unserer Möglichkeiten in der Zukunft. Mit der Wahl kommt die Verpflichtung, die uns erlaubt, Menschen für ihre Handlungen verantwortlich zu machen. Und wenn der Geist vom Körper getrennt ist, kann er natürlich weiter existieren, auch wenn der Körper ihm den Dienst versagt, und wir brauchen nicht zu befürchten, dass unsere Gedanken und Freuden eines Tages auf ewig ausgelöscht sind.

Wie erwähnt, glauben die meisten Amerikaner auch weiterhin an eine unsterbliche Seele, die aus einer nicht stofflichen Substanz besteht und die sich vom Körper lösen kann. Doch selbst diejenigen, die diese Überzeugung nicht so explizit zum Ausdruck bringen, hegen die Vorstellung, irgendwie müsse es da mehr geben als nur elektrische und chemische Aktivität im Gehirn. Wahl, Würde und Verantwortung sind Gaben, die uns Menschen von allem anderen im Universum unterscheiden, und scheinen unvereinbar mit der Idee zu sein, dass wir nur eine Ansammlung von Molekülen sind. Versuche, Verhalten in mechanistischen Begriffen zu erklären, werden gemeinhin als »reduktionistisch« oder »deterministisch« diffamiert. Zwar wissen die Kritiker selten, was sie damit meinen, trotzdem sind sich alle einig, dass es etwas Schlechtes sei. Die Dichotomie von Geist und Körper durchdringt auch unsere Alltagssprache, etwa wenn wir sagen: »Benutz deinen Kopf!«, von »außerkörperlichen Erfahrungen« sprechen oder wenn von »Johns Körper« beziehungsweise von »Johns Gehirn« die Rede ist, was einen Besitzer, John, voraussetzt, der in irgendeiner Weise von dem Gehirn getrennt ist, das er besitzt. Gelegentlich spekulieren Journalisten über »Gehirntransplantationen«, obwohl sie sie eigentlich »Körpertransplantationen« nennen sollten, weil dies, wie der Philosoph Dan Dennett angemerkt hat, die einzige Transplantation ist, bei der man lieber der Spender als der Empfänger sein sollte.

Die Doktrinen vom Unbeschriebenen Blatt, dem Edlen Wilden und dem Gespenst in der Maschine – oder, wie die Philosophen sagen, Empirismus, Romantik und Dualismus – sind logisch voneinander unabhängig, werden in der Praxis aber häufig zusammen angetroffen. Ist das Blatt unbeschrieben, ist es, streng genommen, weder gehalten, Gutes zu tun, noch, Böses zu tun. Doch Gut und Böse sind asymmetrisch: Es gibt mehr Möglichkeiten, Menschen zu schaden, als ihnen zu helfen, und schädliche Handlungen können ihnen in höherem Maße schaden, als ihnen tugendhafte Handlungen zu nutzen vermögen. Daher muss uns das unbeschriebene Blatt im Vergleich zu einem, das mit Motiven gefüllt ist, eher durch seine Unfähigkeit beeindrucken, Schaden anzurichten, als durch seine Unfähigkeit, Gutes zu tun. Rousseau hat nicht ausdrücklich an das unbeschriebene Blatt geglaubt, aber er war der Auffassung, schlechtes Verhalten sei ein Ergebnis von Lernen und Sozialisation.[18] »Die Menschen sind böse«, schrieb er, »eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis.«[19] Diese Schlechtigkeit erwächst jedoch aus der Gesellschaft: »Es gibt durchaus keine ursprüngliche Verderbtheit in dem menschlichen Herzen; man findet in ihm kein einziges Laster, von dem sich nicht angeben ließe, wie und wodurch es hineingekommen ist.«[20] Wenn die Metaphern der Alltagssprache irgendwelche Rückschlüsse erlauben, dann assoziieren wir alle wie Rousseau Leere mit Tugend und nicht mit dem Nichts. Denken Sie an die moralischen Konnotationen der Adjektive sauber, unbefleckt, weiß, rein, makellos und der Nomen Makel, Fleck, Mal, Stigma.

Das Unbeschriebene Blatt lebt auch in natürlicher Koexistenz mit dem Gespenst in der Maschine, da ein Blatt, das unbeschrieben ist, ein Gespenst zum Herumgeistern geradezu einlädt. Wenn ein Gespenst die Hebel bedient, kann die Fabrik das Gerät mit einem Minimum an Teilen ausliefern. Das Gespenst kann die Monitore des Körpers ablesen und die Steuerinstrumente betätigen, ohne dass komplizierte Betriebssysteme, Navigationssysteme oder Prozessoren erforderlich wären. Je mehr Nicht-Räderwerk für die Verhaltenssteuerung vorhanden ist, desto weniger Räderwerk müssen wir postulieren. Aus ähnlichen Gründen findet man das Gespenst in der Maschine häufig in der Gesellschaft des Edlen Wilden. Wenn sich die Maschine schändlich verhält, können wir das Gespenst verantwortlich machen, das sich frei entschieden hat, die niederträchtigen Handlungen auszuführen. Unter diesen Umständen brauchen wir nicht nach einem Mangel in der Konstruktion der Maschine zu suchen.

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Heute wird der Philosophie keine Achtung entgegengebracht. Viele Naturwissenschaftler verwenden das Wort »Philosophie« als Synonym für müßige Spekulation. Als mein Kollege Ned Block seinem Vater erzählte, er werde dieses Fach studieren, antwortete sein Vater auf Jiddisch: »Luft!« – und meinte wohl eher »heiße Luft«. Und dann gibt es noch den Witz, wo ein junger Mann seiner Mutter mitteilt, er werde bald ein Doktor der Philosophie sein, und sie sagt: »Wunderbar! Und was für eine Krankheit ist die Philosophie?«

Dabei müssen die Ideen der Philosophen durchaus nicht müßig oder luftig sein, sondern können ganze Jahrhunderte beeinflussen. Das Unbeschriebene Blatt und seine Begleitdoktrinen haben unsere Kultur unterwandert und sind immer wieder an unerwarteten Stellen zutage getreten. William Godwin (1756–1835), einer der Väter der liberalen politischen Philosophie, schrieb: »Kinder sind eine Art Rohstoff, der uns anvertraut wird«, und ihr Geist sei »wie ein unbeschriebenes Blatt Papier«.[21] Fataler ist es, wenn Mao Tse-tung seine radikalen Gesellschaftsexperimente rechtfertigt, indem er sagt: »Die schönsten Gedichte werden auf ein leeres Blatt geschrieben.«[22] Sogar Walt Disney ließ sich von der Metapher inspirieren. »Ich stelle mir den Geist eines Kindes als ein leeres Buch vor«, schrieb er. »In den ersten Jahren seines Lebens wird viel auf die Seiten geschrieben. Die Qualität dieses Textes wird sein Leben tief beeinflussen.«[23]

Locke wird kaum auf die Idee gekommen sein, dass seine Worte eines Tages zur Entstehung von Bambi beitragen würden (von Disney dazu bestimmt, Selbstvertrauen zu vermitteln); noch konnte Rousseau Pocahontas voraussehen, die höchste Verkörperung des oder vielmehr der edlen Wilden. Rousseaus Geist scheint auch den Autor einer kürzlich erschienenen Thanksgiving-Kolumne im Boston Globe beseelt zu haben:

Ich möchte behaupten, dass die Welt der amerikanischen Ureinwohner verlässlicher, glücklicher und weniger barbarisch war als unsere heutige Gesellschaft … Es gab keine Beschäftigungsprobleme, der Gemeinschaftsgeist war stärker, Drogenmissbrauch unbekannt, Kriminalität so gut wie nicht vorhanden. Wenn es zwischen verschiedenen Stämmen zu Kriegen kam, hatten sie überwiegend rituellen Charakter und führten selten zu blindwütigem und unterschiedslosem Gemetzel. Zwar gab es Notzeiten, aber meist war das Leben verlässlich und vorhersagbar … Da die Ureinwohner ihrer Umwelt mit Wertschätzung begegneten, wurden keine Wasservorkommen und Nahrungsressourcen durch Verschmutzung oder Artenvernichtung vergeudet, gab es keinen Mangel an Rohstoffen für lebensnotwendige Dinge wie Körbe, Kanus, Zelte oder Feuerholz.[24]

Doch es gibt auch Skeptiker:

Calvin: Ich geh nicht mehr zur Schule.

Mutter: Aha?

 

Calvin: Nee! Ich hab beschlossen, »Jäger und Sammler« zu werden, wenn ich groß bin. Dann leb ich nackt im tropischen Regenwald, ernähr mich von Beeren, Maden und gelegentlich einem Frosch, und meine Freizeit verbring ich damit, mich zu entlausen.

 

Calvin: Alle Fachleute sind sich einig, dass Eltern einen Riesenfehler machen, wenn sie den Ehrgeiz ihrer Kinder unterdrücken.

Auch die dritte Doktrin wirkt in die Gegenwart hinein. Im Jahr 2001 verkündete George W. Bush, der amerikanische Staat werde keine Forschung an embryonalen Stammzellen des Menschen finanzieren, wenn neue Embryonen zerstört werden müssten, um diese Zellen zu gewinnen (erlaubt sei aber die Forschung an Stammzelllinien, die Embryonen zuvor entnommen wurden). Zu dieser politischen Maßnahme entschied er sich, nachdem er sich nicht nur mit Naturwissenschaftlern beraten hatte, sondern auch mit Philosophen und Theologen. Viele charakterisierten das moralische Problem durch den Begriff der »Beseelung«, den Augenblick, in dem der Zellhaufen, aus dem sich ein Kind entwickeln wird, eine Seele bekommt. Einige vertraten die Auffassung, die Beseelung finde bei der Empfängnis statt, woraus folge, dass die Blastozyste (die fünf Tage alte Zellkugel, der die Stammzellen entnommen werden) moralisch gleichrangig mit einem Menschen sei und dass es sich bei ihrer Zerstörung um eine Art Mord handelte.[25] Dieses Argument erwies sich als entscheidend, was mit anderen Worten bedeutete, dass über die amerikanische Politik auf dem vielleicht verheißungsvollsten medizinischen Forschungsfeld des 21. Jahrhunderts entschieden wurde, indem man eine moralische Frage erwog, wie sie viele Jahrhunderte zuvor hätte gestellt werden können: Wann fährt das Gespenst in die Maschine?

Das sind nur einige wenige Fingerabdrücke des Unbeschriebenen Blattes, des Edlen Wilden und des Gespensts in der Maschine in unserem modernen Geistesleben. In den folgenden Kapiteln werden wir sehen, wie sich die scheinbar abstrusen Ideen der Philosophen der Aufklärung im modernen Bewusstsein eingenistet haben und welche Zweifel neuere Entdeckungen an diesen Ideen aufwerfen.

Kapitel 2Silly Putty

Der dänische Philologe Otto Jespersen (1860–1943) ist einer der angesehensten Linguisten aller Zeiten, und seine lebendig geschriebenen Bücher werden noch heute viel gelesen, besonders Growth and Structure of the English Language, das 1905 zum ersten Mal erschien. Obwohl Jespersens sprachwissenschaftliche Erörterungen ausgesprochen modern sind, erinnert uns seine Einführung doch daran, dass wir kein zeitgenössisches Buch vor uns haben:

Es gibt einen Ausdruck, der mir ständig in den Sinn kommt, wenn ich an die englische Sprache denke und sie mit anderen vergleiche: Sie scheint mir ausgesprochen maskulin zu sein, die Sprache eines erwachsenen Mannes, die wenig Kindliches oder Weibliches an sich hat …

Um diese Punkte zu verdeutlichen, wähle ich zum Kontrast zufällig einen Abschnitt aus der hawaiianischen Sprache aus: »I kona hiki ana aku ilaila ua hookipa ia mai la oia me ke aloha pumehanaloa.« So geht es fort, kein einziges Wort endet mit einem Konsonanten, und eine Gruppe von zwei oder mehr Konsonanten ist nie anzutreffen. Kann ein Zweifel daran bestehen, dass eine solche Sprache, selbst wenn sie musikalisch und harmonisch klingt, insgesamt einen kindlichen und verweichlichten Eindruck hinterlässt? Von einem Volk, das eine solche Sprache spricht, wird man nicht viel Kraft und Energie erwarten. Sie scheint zu den Bewohnern sonnenverwöhnter Regionen zu passen, wo der Boden kaum bestellt werden muss und dem Menschen trotzdem alles schenkt, was er sich wünscht, und wo das Leben folglich nicht geprägt ist von dem harten Kampf gegen die Natur und andere Geschöpfe. Nicht ganz so ausgeprägt finden wir die gleiche phonetische Struktur in Sprachen wie Italienisch und Spanisch; wie ganz anders sind dagegen unsere nördlichen Zungen.[26]

Und so geht es fort, das Lob auf die Virilität, Nüchternheit und Logik des Englischen, bis das Kapitel endet mit den Worten: »Wie die Sprache, so ist die Nation.«

Es wird wohl keinen modernen Leser geben, den der Sexismus, Rassismus und Chauvinismus dieser Zeilen nicht schockiert: die Unterstellung, Frauen seien kindisch, die Stigmatisierung eines kolonisierten Volkes als antriebslos und träge, die unberechtigte Verherrlichung der eigenen Kultur. Ebenso überraschend ist das klägliche Niveau, auf das der große Gelehrte sich hier begibt. Die Behauptung, eine Sprache könne »erwachsen« und »maskulin« sein, ist so subjektiv wie sinnlos. Ohne irgendwelche Anhaltspunkte schreibt er einem ganzen Volk eine bestimmte Persönlichkeit zu und bringt dann zwei Theorien vor – dass die Phonologie die Persönlichkeit widerspiegele und dass warme Klimate Faulheit ausbrüteten –, ohne auch nur Korrelationsdaten anzuführen, von Beweisen für einen kausalen Zusammenhang ganz zu schweigen. Sogar auf seinem höchsteigenen Gebiet ist die Argumentation dürftig. Sprachen mit einer Silbenstruktur »Konsonant + Vokal« brauchen längere Worte, um die gleiche Informationsmenge zu übermitteln – kaum das, was man von einem Volk ohne »Kraft oder Energie« erwarten würde. Und die konsonantgespickten Silben des Englischen werden leicht verschluckt und missverstanden – kaum das, was man von einem logischen, geschäftsmäßigen Volk erwarten würde.

Besonders bestürzend aber ist der Umstand, dass Jespersen gar nicht mit der Möglichkeit zu rechnen scheint, er könnte etwas Außergewöhnliches sagen. Er setzt als selbstverständlich voraus, dass seine Vorurteile von den Lesern geteilt werden – seinesgleichen und Sprecher »unserer« nördlichen Zungen. »Kann ein Zweifel daran bestehen?«, fragt er rhetorisch. Von einem solchen Volk »wird man nicht viel Kraft und Energie erwarten«, versichert er. Die Unterlegenheit von Frauen und anderen Rassen bedarf weder der Rechtfertigung noch der Entschuldigung.

Otto Jespersen, einen Mann seiner Zeit, lasse ich hier zu Wort kommen, um zu zeigen, wie sich die Maßstäbe verändert haben. Der Abschnitt ist ein zufällig ausgewähltes Beispiel für das geistige Leben vor hundert Jahren. Ebenso bestürzende Äußerungen ließen sich bei fast jedem Autor des 19. und frühen 20. Jahrhunderts finden.[27] Es war eine Zeit, als weiße Männer es für ihre Pflicht hielten, »frisch einverleibte störrische Völker, halb Teufel und halb Kinder«, unter ihre Fittiche zu nehmen, als sich an fremden Gestaden die Massen und die Gestrandeten drängten, als sich die imperialistischen Mächte Europas mit Blicken (und manchmal mit Waffen) durchbohrten. Imperialismus, Einwanderung, Nationalismus und das Erbe der Sklaverei ließen die Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen nur allzu deutlich hervortreten. Einige erschienen gebildet und kultiviert, andere unwissend und zurückgeblieben. Einige verteidigten ihre Sicherheit mit Fäusten und Knüppeln, andere bezahlten Polizei und Militär dafür. Die Versuchung war groß, anzunehmen, die Nordeuropäer seien eine höher entwickelte Rasse und dazu bestimmt, die anderen zu regieren. So bequem wie die Überzeugung, Frauen seien von Natur aus für Küche, Kirche und Kinder vorgesehen. Diese Überzeugung wurde durch »Untersuchungen« bestätigt, die belegten, dass geistige Arbeit schlecht für ihre körperliche und geistige Gesundheit sei.

Auch Rassenvorurteile hatten eine wissenschaftliche Patina. Darwins Evolutionstheorie wurde allgemein fehlgedeutet als eine Erklärung des geistigen und moralischen Fortschritts und nicht als eine Erklärung dafür, wie Lebewesen sich an eine ökologische Nische anpassen. Da gelangte man leicht zu der Annahme, die nicht weißen Rassen bildeten auf der Evolutionsleiter die Sprossen zwischen den Affen und den Europäern. Schlimmer noch, Darwins Nachfolger Herbert Spencer schrieb, Humanitätsapostel würden dem evolutionären Fortschritt ins Handwerk pfuschen, wenn sie versuchten, das Los der armen Schichten und Rassen zu verbessern, die nach Spencers Ansicht biologisch weniger tauglich waren. Die Lehre des Sozialdarwinismus (oder des Sozialspencerismus, wie sie passender heißen sollte, weil Darwin nichts mit ihr zu tun hatte) fand, wie nicht anders zu erwarten, Fürsprecher wie John D. Rockefeller und Andrew Carnegie.[28] Darwins Vetter Francis Galton hatte vorgeschlagen, die menschliche Evolution dadurch zu unterstützen, dass man die weniger Tauglichen von der Fortpflanzung abhalte, eine Politik, die er Eugenik nannte.[29] Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden Gesetze verabschiedet, welche die Zwangssterilisation von Straftätern und »Schwachsinnigen« in Kanada, den skandinavischen Ländern, dreißig US-Staaten und, als Vorboten schlimmer Zeiten, in Deutschland verfügten. Die NS-Ideologie der Herrenrassen und Untermenschen diente später zur Rechtfertigung des Mordes an Millionen Juden, Zigeunern und Homosexuellen.

Das liegt inzwischen weit hinter uns. Obwohl Haltungen, die weit schlimmer sind als Jespersens Einstellungen, nach wie vor in vielen Teilen der Welt und unserer Gesellschaft anzutreffen sind, hat man sie doch aus den vorherrschenden geistigen Strömungen der westlichen Demokratien weitgehend verbannt. Heute kann sich kein Vertreter des öffentlichen Lebens in den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Westeuropa erlauben, in aller Selbstverständlichkeit Frauen zu beleidigen oder mit bösartigen Vorurteilen über andere Rassen und ethnische Gruppen um sich zu werfen. Gebildete Menschen sind bestrebt, sich ihre versteckten Vorurteile bewusstzumachen und sie an den Fakten und an Gefühlen anderer zu überprüfen. Im öffentlichen Leben versuchen wir, Menschen als Einzelne zu beurteilen und nicht als Angehörige eines Geschlechts oder einer ethnischen Gruppe. Wir sind bemüht, zwischen Macht und Recht sowie zwischen unserem bornierten Geschmack und objektivem Verdienst zu unterscheiden; daher begegnen wir Kulturen, die anders oder ärmer sind als wir, mit Achtung. Wir erkennen, dass kein Mandatsträger weise genug ist, um mit der Verantwortung für die Evolution unserer Art betraut zu werden, und dass der Staat in keinem Fall das Recht haben darf, in die Entscheidung, ob jemand ein Kind haben möchte, einzugreifen. Der bloße Gedanke, dass die Mitglieder einer ethnischen Gruppe aufgrund ihrer Biologie verfolgt werden könnten, erfüllt uns mit Abscheu.

Bewirkt wurden diese Veränderungen durch die bitteren Erfahrungen der Lynchjustiz, der Weltkriege, der Zwangssterilisationen und des Holocaust, die alle zeigten, welche Folgen es hat, wenn eine ethnische Gruppe diffamiert wird. Dabei traten sie schon früh im 20. Jahrhundert als Nebeneffekt eines ungeplanten Experiments auf: der massenhaften Immigration, der sozialen Mobilität und der Wissensverbreitung im modernen Zeitalter. Die meisten viktorianischen Gentlemen hätten sich wohl kaum vorstellen können, was heute, hundert Jahre später, Selbstverständlichkeiten sind: einen Nationalstaat, der von jüdischen Pionieren und Soldaten geschaffen wurde, eine Gruppe von afroamerikanischen Intellektuellen, die eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben spielen, und eine Softwareindustrie in Bangalore. Genauso wenig hätten sie sich träumen lassen, dass Frauen Nationen in Kriege führen, Riesenunternehmen leiten oder Nobelpreise in den Naturwissenschaften gewinnen könnten. Heute wissen wir, dass Menschen beider Geschlechter und aller Rassen in der Lage sind, jede beliebige Stellung im Leben zu erringen.

Zu diesen gewaltigen Veränderungen gehörte auch eine Revolution in der Behandlung der menschlichen Natur durch Natur- und Geisteswissenschaftler. Sie wurden mitgerissen von den sich verändernden Einstellungen gegenüber Rasse und Geschlecht, aber sie lenkten auch die Flut von Veränderungen, indem sie sich in Büchern und Zeitschriften über die menschliche Natur äußerten und indem sie ihr Fachwissen staatlichen Stellen zur Verfügung stellten. Die herrschenden Theorien über den menschlichen Geist wurden so modifiziert, dass sie Rassismus und Sexismus nach Möglichkeit jegliche Basis entzogen. Die Doktrin vom Unbeschriebenen Blatt ist dem Geistesleben in einer Form einverleibt worden, die man als Standardmodell der Sozialwissenschaften oder sozialen Konstruktionismus bezeichnet hat.[30] Das Modell ist den Menschen heute zur zweiten Natur geworden, so dass sie sich seiner Geschichte nicht bewusst sind.[31] Carl Degler, der erste Chronist dieser Revolution, fasst sie wie folgt zusammen:

Nach allem, was wir wissen, scheint die Ideologie oder die philosophische Überzeugung, die Welt könnte ein freierer oder gerechterer Ort sein, eine wesentliche Rolle bei der Verlagerung von der Biologie hin zur Kultur gespielt zu haben. Auch die Wissenschaft oder zumindest einige wissenschaftliche Prinzipien und innovative Ideen einzelner Gelehrter haben an dieser Umwandlung mitgewirkt, allerdings nur begrenzt. Der entscheidende Anstoß war der Wille, eine Gesellschaftsordnung zu schaffen, in der angeborene und unwandelbare Kräfte der Biologie nicht herangezogen werden, um das Verhalten sozialer Gruppen zu erklären.[32]

Die Usurpation des Geisteslebens durch das Unbeschriebene Blatt verlief in der Psychologie und in den anderen Sozialwissenschaften auf je anderen Wegen, doch ausgelöst wurde sie durch dieselben historischen Ereignisse und die nämliche progressive Ideologie. Im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bekamen die Stereotype über Frauen und ethnische Gruppen etwas Törichtes. In den Vereinigten Staaten strömten in immer neuen Wellen Einwanderer aus Süd- und Osteuropa, darunter viele Juden, in die Städte und kletterten die soziale Leiter empor. Afroamerikaner hatten sich die neuen »Negro Colleges« zunutze gemacht, waren nach Norden gewandert und hatten die Harlem-Renaissance initiiert. Die Absolventinnen der gut besuchten Frauen-Colleges trugen wesentlich zur ersten Welle des Feminismus bei. Zum ersten Mal waren nicht alle Professoren und Studenten weiße angelsächsische protestantische Männer. Die Behauptung, dieses Splittergrüppchen der Menschheit besitze eine naturgegebene Überlegenheit, war von nun an nicht nur anstößig, sondern widersprach auch dem, was die Menschen mit eigenen Augen sehen konnten. Besonders die Sozialwissenschaften zogen viele Frauen, Juden, Asiaten und Afroamerikaner an, von denen einige einflussreiche Denker wurden.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts betrafen viele der drängenden sozialen Probleme die weniger begünstigten Angehörigen dieser Gruppen. Sollte man mehr Einwanderer ins Land lassen? Und wenn, aus welchen Ländern? Sollten sie, wenn sie einmal da waren, zur Assimilation angehalten werden? Und wenn, auf welche Weise? Sollten den Frauen gleiche politische Rechte und wirtschaftliche Chancen gewährt werden? Sollten Schwarze und Weiße integriert werden? Andere Probleme wurden von den Kindern aufgeworfen.[33] Man hatte die allgemeine Schulpflicht eingeführt, eine Aufgabe, die in den Händen des Staates lag. Als die Städte aus allen Nähten platzten und die Familienbande sich lockerten, wurden verstörte und störende Kinder zu einem allgemeinen Problem. Man gründete neue Einrichtungen wie Kindergärten, Waisenhäuser, Reformschulen, Zeltlager, humanitäre Vereinigungen und Kinderklubs. Plötzlich war die kindliche Entwicklung in aller Munde. Diese gesellschaftlichen Herausforderungen erwiesen sich als hartnäckig, und die menschenfreundlichste Annahme lautete, dass alle Menschen die gleichen Voraussetzungen haben, es zu etwas zu bringen, wenn man ihnen die gleiche Erziehung und die gleichen Chancen gewährt. Viele Sozialwissenschaftler hielten es für ihre Pflicht, für diese Annahme einzutreten.

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Die moderne psychologische Theorie knüpft, wie jedes Lehrbuch für Studienanfänger erkennen lässt, an John Locke und andere Denker der Aufklärung an. Für Locke war das Unbeschriebene Blatt eine Waffe gegen die Kirche und tyrannische Monarchen, doch diese Bedrohungen bestanden nicht mehr in der Englisch sprechenden Welt des 19. Jahrhunderts. Lockes geistiger Erbe John Stuart Mill (1806–1873) hat womöglich als Erster seine Psychologie des Unbeschriebenen Blattes auf die politischen Fragen angewendet, die uns auch heute noch beschäftigen. Er war ein früher Fürsprecher des Frauenstimmrechts, der allgemeinen Schulpflicht und der Bestrebungen, die Lebensverhältnisse der unteren Klassen zu verbessern. Das entsprach seinen Standpunkten in der Psychologie und Philosophie, wie er in seiner Biographie erläuterte:

Schon lange bin ich der Ansicht, dass die herrschende Neigung, all die ausgeprägten Unterschiede des menschlichen Charakters als angeboren und im Wesentlichen unabänderlich anzusehen und die unwiderleglichen Beweise zu missachten, nach denen der bei weitem größere Teil dieser Unterschiede, gleichgültig, ob zwischen Einzelnen, Rassen oder Geschlechtern, dergestalt ist, dass sie nicht nur durch Unterschiede der Verhältnisse hervorgerufen werden können, sondern es auch natürlicherweise werden, eines der Haupthindernisse für die Behandlung großer sozialer Fragen ist und einen der größten Stolpersteine für den Fortschritt der Menschheit darstellt … [Diese Neigung] kommt der menschlichen Trägheit und den konservativen Interessen im Allgemeinen so entgegen, dass ihr, legt man nicht die Axt an ihre Wurzel, sicherlich stärker gefrönt wird, als es durch die gemäßigteren Formen der Intuitionsphilosophie gerechtfertigt ist.[34]

Mit »Intuitionsphilosophie« bezog sich Mill auf die kontinentaleuropäischen Philosophen, die (unter anderem) behaupteten, die Denkkategorien seien angeboren. Mill wollte die Axt an die Wurzeln dieser psychologischen Theorie legen, um zu bekämpfen, was er für ihre konservativen sozialen Implikationen hielt. Aus diesem Grund verfeinerte er eine Lerntheorie, die man Assoziationismus nannte (und die ursprünglich von Locke aufgestellt worden war), und versuchte mit ihrer Hilfe, die menschliche Intelligenz zu erklären, ohne eine angeborene Organisation zu postulieren. Nach dieser Theorie werden auf dem unbeschriebenen Blatt Empfindungen eingeschrieben, bei Locke »Ideen« und in der modernen Psychologie »Merkmale«. Wenn Ideen wiederholt nacheinander auftreten (etwa die Röte, Rundheit und Süße eines Apfels), werden sie assoziiert, so dass jede von ihnen die anderen ins Bewusstsein ruft. Und ähnliche Objekte in der Welt aktivieren einander überschneidende Komplexe von Ideen im Geist. Wenn sich unseren Sinnen beispielsweise viele Hunde präsentiert haben, werden die Merkmale, die sie gemeinsam haben (Fell, Bellen, vier Beine und so fort), miteinander zur Kategorie »Hund« verknüpft.

Seit jeher ist der Assoziationismus von Locke und Mill in der Psychologie zu erkennen. Er wurde das Kernstück der meisten Lernmodelle, besonders in dem Ansatz, der als Behaviorismus bezeichnet wird und die Psychologie von den 1920er bis in die 1960er Jahre beherrschte. Aus der Feder von John B. Watson (1878–1958), dem Begründer des Behaviorismus, stammt eines der bekanntesten Manifeste des Unbeschriebenen Blattes in diesem Jahrhundert:

Gebt mir ein Dutzend gesunde, gut gebaute Kinder und meine eigene spezifizierte Welt, um sie darin großzuziehen, und ich garantiere, daß ich irgendeines aufs Geratewohl herausnehme und es so erziehe, daß es irgendein beliebiger Spezialist wird, zu dem ich es erwählen kann – Arzt, Jurist, Künstler, Kaufmann, ja sogar Bettler und Dieb, ungeachtet seiner Talente, Neigungen, Absichten, Fähigkeiten und Herkunft seiner Vorfahren.[35]

Im Behaviorismus zählen die Talente und Fähigkeiten eines Säuglings nicht, weil es so etwas wie Talent und Fähigkeit nicht gibt. Watson hatte sie aus der Psychologie verbannt, zusammen mit anderen kognitiven Inhalten wie Ideen, Überzeugungen, Wünschen und Gefühlen. Sie seien subjektiv und nicht zu messen, sagte er, und würden sich daher nicht für die Wissenschaft eignen, die nur objektive und messbare Dinge untersuche. Für einen Behavioristen ist der einzige legitime Gegenstand der Psychologie offenes Verhalten und der Einfluss, dem es durch die gegenwärtige und die frühere Umwelt unterworfen ist. (Es gibt einen alten Witz in der Psychologie: Was sagt ein Behaviorist nach dem Beischlaf? »Es war gut für dich; wie war es für mich?«)