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Gewalt E-Book

Steven Pinker

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Beschreibung

Die Geschichte der Menschheit – eine ewige Abfolge von Krieg, Genozid, Mord, Folter und Vergewaltigung. Und es wird immer schlimmer. Aber ist das richtig? In einem wahren Opus Magnum, einer groß angelegten Gesamtgeschichte unserer Zivilisation, untersucht der weltbekannte Evolutionspsychologe Steven Pinker die Entwicklung der Gewalt von der Urzeit bis heute und in allen ihren individuellen und kollektiven Formen, vom Verprügeln der Ehefrau bis zum geplanten Völkermord. Unter Rückgriff auf eine Fülle von wissenschaftlichen Belegen aus den unterschiedlichsten Disziplinen beweist er zunächst, dass die Gewalt im Laufe der Geschichte stetig abgenommen hat und wir heute in der friedlichsten Epoche der Menschheit leben. Diese verblüffende Tatsache verlangt nach einer Erklärung: Pinker schält in seiner Analyse sechs Entwicklungen heraus, die diesen Trend begünstigt haben, untersucht die Psychologie der Gewalt auf fünf innere Dämonen, die Gewaltausübung begünstigen, benennt vier Eigenschaften des Menschen, die den inneren Dämonen entgegenarbeiten und isoliert schließlich fünf historische Kräfte, die uns heute in der friedlichsten Zeit seit jeher leben lassen. Pinkers Darstellung revolutioniert den Blick auf die Welt und uns Menschen. Und sie macht Hoffnung und Mut. »Pinkers Studie ist eine leidenschaftliche Antithese zum verbreiteten Kulturpessimismus und dem Gefühl des moralischen Untergangs der Moderne.« Der Spiegel »Steven Pinker ist ein Top-Autor und verdient all die Superlative, mit denen man ihn überhäuft« New York Times» Die Argumente von Steven Pinker haben Gewicht […]. Die Chance, heute Opfer von Gewalt zu werden, ist viel geringer als zu jeder anderen Zeit. Das ist eine spannende Nachricht, die konträr zur öffentlichen Wahrnehmung ist." Deutschlandfunk »Steven Pinker ist ein intellektueller Rockstar« The Guardian »Der Evolutionspsychologe Steven Pinker gilt als wichtigster Intellektueller« Süddeutsche Zeitung »Verflucht überzeugend« Hamburger Abendblatt

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Seitenzahl: 2034

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Steven Pinker

Gewalt

Eine neue Geschichte der Menschheit

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Eva, Carl und [...]Welche Chimäre ist doch [...]VorwortKapitel 1 Ein fremdes LandDie Vorgeschichte der MenschenDas Griechenland HomersDie hebräische BibelRömisches Reich und frühes ChristentumDie Ritter des MittelaltersEuropa in der frühen NeuzeitEhre in Europa und den frühen Vereinigten StaatenDas 20. JahrhundertKapitel 2 Der BefriedungsprozessDie Logik der GewaltGewalt bei den Vorfahren der MenschenTypen menschlicher GesellschaftenAnteil der Gewalt in staatlichen und nichtstaatlichen GesellschaftenDie Zivilisation und ihre UnzufriedenenKapitel 3 Der Prozess der ZivilisationDer Rückgang der Morde in EuropaErklärungen für den Rückgang der Morde in EuropaGewalt und GesellschaftsschichtGewalt weltweitGewalt in den Vereinigten StaatenEntzivilisation in den 1960er JahrenRezivilisation in den 1990er JahrenKapitel 4 Die Humanitäre RevolutionMord aus Aberglauben: Menschenopfer, Hexerei und BlutbeschuldigungTötung aus Aberglauben: Gewalt gegen Gotteslästerer, Ketzer und AbtrünnigeGrausame und ungewöhnliche BestrafungenDie TodesstrafeSklavereiWillkürherrschaft und politische GewaltGroße KriegeWoher kam die Humanitäre Revolution?Der Aufstieg des Mitgefühls und die Achtung für das menschliche LebenDie Gelehrtenrepublik und der Aufstieg des aufgeklärten HumanismusZivilisation und AufklärungBlut und BodenKapitel 5 Der Lange FriedenStatistiken und ErzählungenWar das 20. Jahrhundert wirklich das schlimmste?Die Statistik tödlicher Konflikte, Teil 1: zeitliche Verteilung von KriegenDie Statistik tödlicher Konflikte, Teil 2: Größenordnung von KriegenDie historische Entwicklung der Kriege zwischen GroßmächtenDie Zeitschiene der Kriege in EuropaDer Hobbes’sche Hintergrund und das Zeitalter von Dynastien und ReligionenDrei Strömungen im Zeitalter der SouveränitätIdeologien der Gegenaufklärung und das Zeitalter des NationalismusHumanismus und Totalitarismus im Zeitalter der IdeologieDer Lange Frieden: ein paar ZahlenDer Lange Frieden: Einstellungen und EreignisseIst der Lange Frieden ein nuklearer Frieden?Ist der Lange Frieden ein Demokratischer Frieden?Ist der Lange Frieden ein Liberaler Frieden?Ist der Lange Frieden ein Kant’scher Frieden?Kapitel 6 Der Neue FriedenDie historische Entwicklung der Kriege in der übrigen WeltDie historische Entwicklung der VölkermordeDie historische Entwicklung des TerrorismusWohin Engel nicht zu treten wagenKapitel 7 Die Revolutionen der RechteBürgerrechte und der Rückgang von Lynchjustiz und RassenpogromenFrauenrechte und der Rückgang von Vergewaltigung und häuslicher GewaltKinderrechte und der Rückgang von Kindesmord, Prügelstrafe, Kindesmisshandlung und SchikanenHomosexuellenrechte, der Rückgang der Homosexuellenhetze und die Entkriminalisierung der HomosexualitätTierrechte und der Rückgang der Grausamkeit gegen TiereWoher kommt die Revolution der Rechte?Von der Geschichte zur PsychologieKapitel 8 Innere DämonenDie dunkle SeiteDie Moralisierungslücke und der Mythos vom reinen BösenGewaltorganeRaublustDominanzRacheSadismusIdeologieDas reine Böse, innere Dämonen und der Rückgang der GewaltKapitel 9 Bessere EngelEmpathieSelbstbeherrschungBiologische Evolution in jüngster Zeit?Moral und TabuVernunftKapitel 10 Auf EngelsflügelnWichtig, aber widersprüchlichDas PazifistendilemmaDer LeviathanSanfter HandelVerweiblichungDer sich erweiternde KreisDie Rolltreppe der VernunftReflexionenLiteratur A–MLiteratur N–ZAbbildungsverzeichnis

Für Eva, Carl und Eric

Jack und David

Yael und Danielle

und die Welt, die sie erben werden

Welche Chimäre ist doch der Mensch! Welch Unerhörtes, welch Ungeheuer, welch Chaos, welch widersprüchliches Wesen, welch Wunder!

 

Blaise Pascal

Vorwort

Dieses Buch handelt vom Wichtigsten, was in der Menschheitsgeschichte jemals geschehen ist. Ob Sie es glauben oder nicht – und ich weiß, dass die meisten Menschen es nicht glauben: Die Gewalt ist über lange Zeiträume immer weiter zurückgegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert. Natürlich war es kein stetiger Rückgang; die Gewalt ist auch nicht auf Null zurückgegangen; und es gibt keine Garantie, dass es so weitergeht. Aber es ist eine unverkennbare Entwicklung, und man sieht sie in den verschiedensten Maßstäben, von Jahrtausenden bis zu einzelnen Jahren, von der Kriegsführung bis zur Züchtigung von Kindern.

Der Verzicht auf Gewalt lässt keinen Lebensbereich unberührt. Das Alltagsleben sieht ganz anders aus, wenn man ständig befürchten muss, getötet, vergewaltigt oder entführt zu werden, und Kunst, Gelehrsamkeit oder Handel können kaum eine hohen Entwicklungsstand erreichen, wenn die Institutionen, die sie unterstützen, ebenso schnell geplündert und niedergebrannt werden, wie man sie aufbaut.

Die historische Entwicklung der Gewalt wirkt sich nicht nur auf die Lebensführung aus, sondern sie hat auch Einfluss darauf, wie wir unser Leben verstehen. Was könnte sich auf unser Gefühl für Sinn und Ziel des Lebens tiefgreifender auswirken als eine Vorstellung davon, ob die Bestrebungen des Menschengeschlechts uns über lange Zeiträume hinweg eher zum Besseren oder zum Schlechteren gereichen? Wie sollen wir insbesondere einen Sinn in der Modernität finden – im Zerfall von Familie, Stamm, Tradition und Religion durch die Kräfte von Individualismus, kosmopolitischem Denken, Vernunft und Naturwissenschaft? Viel hängt davon ab, wie wir das Vermächtnis dieses Überganges betrachten: Sehen wir in der Welt einen nicht endenden Albtraum aus Verbrechen, Terrorismus, Völkermord und Krieg oder aber ein Zeitalter, das, gemessen am Maßstab der Geschichte, mit einem beispiellosen Maß an friedlichem Zusammenleben gesegnet ist?

Die grundlegende Frage, ob der Trend in Sachen Gewalt ein positives oder negatives Vorzeichen trägt, hat auch Auswirkungen auf unsere Vorstellung vom Wesen des Menschen. Biologisch begründete Theorien über die menschliche Natur werden, was Gewalt angeht, häufig mit einem gewissen Fatalismus in Verbindung gebracht, und die Theorie, wonach das Gehirn ein unbeschriebenes Blatt ist, wird mit Fortschritt gleichgesetzt. Nach meiner Überzeugung ist genau der umgekehrte Zusammenhang richtig. Wie sollen wir jenen natürlichen Lebenszustand verstehen, in dem unsere Spezies sich befand, als sie entstand und die historischen Prozesse ihren Anfang nahmen? Die Vorstellung, die Gewalt habe zugenommen, legt die Vermutung nahe, unsere von uns selbst gestaltete Welt habe uns – vielleicht unwiderruflich – vergiftet. Die Vorstellung, dass sie abgenommen hat, lässt dagegen darauf schließen, dass wir anfangs garstig waren und dass die Hervorbringungen der Zivilisation uns in eine edle Richtung gelenkt haben, die wir hoffentlich weiterhin beibehalten können.

Dies ist ein dickes Buch, aber das muss so sein. Zunächst muss ich Sie davon überzeugen, dass die Gewalt im Lauf der Geschichte tatsächlich abgenommen hat. Dabei ist mir klar, dass schon der Gedanke als solcher auf Skepsis, Unglauben und manchmal auch Verärgerung stoßen wird. Unsere kognitiven Fähigkeiten machen uns anfällig für den Glauben, wir würden in einer gewalttätigen Zeit leben, insbesondere wenn er von Medien angeheizt wird, die nach dem Motto »Blut bringt Auflage« agieren. Unser Geist schätzt die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses gern danach ab, wie leicht er sich an Beispiele erinnern kann, und blutrünstige Szenen werden häufiger in unsere Wohnzimmer gesendet und in unser Gedächtnis eingebrannt als Filme über Menschen, die wegen ihres hohen Alters sterben.[1] Ganz gleich, wie klein der Prozentsatz der gewaltsamen Todesfälle ist: In absoluten Zahlen wird es immer genügend davon geben, um die Abendnachrichten zu füllen, aber dann steht der Eindruck von Gewalt, den die Menschen haben, in keinerlei Verhältnis zu den tatsächlichen Anteilen.

Auch unsere Moralpsychologie verzerrt unser Gespür für Gefahren. Noch nie hat jemand mit der Ankündigung, dass alles immer besser wird, Aktivisten für eine Sache gewinnen können, und dem Überbringer guter Nachrichten rät man oft, den Mund zu halten, um die Menschen nicht in Selbstzufriedenheit einzulullen. Auch ein großer Teil unserer Geisteswelt mag nicht einräumen, dass Zivilisation, Modernität und abendländische Gesellschaft auch ihr Gutes haben könnten. Die wichtigste Ursache für die Illusion von allgegenwärtiger Gewalt dürfte aber wahrscheinlich gerade in einer jener Kräfte liegen, die überhaupt erst für den Rückgang der Gewalt gesorgt haben. Parallel zur Verringerung gewalttätigen Verhaltens verringerte sich auch die Neigung, Gewalt zu tolerieren oder zu verherrlichen, und oftmals spielen solche Neigungen eine Vorreiterrolle. Nimmt man die massenhaften Gräueltaten der Menschheitsgeschichte zum Maßstab, so ist die Giftspritze für einen Mörder in Texas oder ein gelegentliches Hassverbrechen, bei dem ein Angehöriger einer ethnischen Minderheit von jungen Hooligans bedroht wird, eine recht harmlose Angelegenheit. Aus heutiger Sicht jedoch sehen wir darin kein Indiz dafür, wie hoch unsere Maßstäbe mittlerweile gestiegen sind, sondern ein Zeichen, wie tief Menschen mit ihrem Verhalten sinken können.

Angesichts solcher Voreingenommenheiten muss ich Überzeugungsarbeit mit Zahlen leisten, die ich aus Datensammlungen entnehme und graphisch darstelle. Ich werde in jedem Einzelfall darlegen, woher die Zahlen stammen, und mir alle Mühe geben, sie zu interpretieren und zu zeigen, warum sie zusammenpassen. Das Problem, dass ich umrissen habe, lautet: Wir müssen den Rückgang der Gewalt in vielen verschiedenen Maßstäben verstehen – in der Familie, im persönlichen Umfeld, zwischen Bevölkerungsgruppen und anderen bewaffneten Fraktionen und zwischen größeren Nationen und Staaten. Hätte die Geschichte der Gewalt auf jeder dieser größeren und kleineren Ebenen ihren eigenen Verlauf genommen, so würde jede davon in ein eigenes Buch gehören. Wie ich aber zu meiner Verblüffung immer wieder feststellen musste, zeigt der globale Trend aus unserer heutigen Sicht in fast allen Fällen nach unten. Es ist also angebracht, die verschiedenen Trends zwischen einem einzigen Paar Buchdeckel zu dokumentieren und in der Frage, wann, wie und warum sie sich abgespielt haben, nach Gemeinsamkeiten zu suchen.

Wie ich hoffentlich überzeugend darlegen werde, haben sich zu viele Formen der Gewalt in der gleichen Richtung entwickelt, als dass es Zufall sein könnte. Das verlangt nach einer Erklärung. Es wäre nur natürlich, die Historie der Gewalt als moralische Geschichte zu erzählen, als Geschichte über den heldenhaften Kampf der Gerechtigkeit gegen das Böse; aber das ist nicht mein Ausgangspunkt. Ich verfolge einen wissenschaftlichen Ansatz in dem weitgefassten Sinn, dass ich Erklärungen dafür suchen möchte, warum etwas geschieht. Vielleicht entdecken wir, dass ein bestimmter Fortschritt in der Friedensliebe von moralischen Unternehmern und ihren Entscheidungen ausging. Wir könnten aber auch entdecken, dass die Erklärung prosaischer ist und beispielsweise in einem Wandel von Technologie, Regierungshandeln, Wirtschaft oder Wissen liegt. Wir können den Rückgang der Gewalt auch nicht als eine Art unaufhaltsame Kraft in Richtung Fortschritt verstehen, die uns in Richtung eines vollkommenen Friedens führt. Er ist vielmehr eine Ansammlung statistischer Trends im Verhalten von Menschengruppen während verschiedener historischer Epochen, und als solcher verlangt er nach einer Erklärung unter psychologischen und historischen Gesichtspunkten: Wie ist der Geist der Menschen mit wechselnden Lebensverhältnissen umgegangen?

Ein großer Teil des Buches wird sich mit der Psychologie von Gewalt und Gewaltlosigkeit beschäftigen. Die Theorie des Geistes, auf die ich dabei zurückgreife, ist das gemeinsame Ergebnis von Kognitionsforschung, neurowissenschaftlicher Affekt- und Kognitionswissenschaft, Sozial- und Evolutionspsychologie und anderer Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit dem Wesen des Menschen beschäftigen und die ich in meinen Büchern Wie das Denken im Kopf entsteht, Das unbeschriebene Blatt und The Stuff of Thought vorgestellt habe. Nach diesen Erkenntnissen ist der Geist ein komplexes System kognitiver und emotionaler Fähigkeiten, die im Gehirn umgesetzt werden und ihre grundlegende Konstruktion den Evolutionsprozessen verdanken. Manche dieser Fähigkeiten schaffen in uns eine Neigung zu verschiedenen Formen der Gewalt. Andere – »die besseren Engel unserer Natur«, wie Abraham Lincoln sie nannte – disponieren uns zu Zusammenarbeit und Frieden. Um den Rückgang der Gewalt zu erklären, müssen wir also die Veränderungen unseres kulturellen und materiellen Umfeldes benennen, die unseren friedlichen Motiven zur Vorherrschaft verholfen haben.

Und schließlich muss ich zeigen, wie die Geschichte unsere Psyche beschäftigt hat. In menschlichen Angelegenheiten ist alles mit allem anderen verknüpft, und das gilt ganz besonders für die Gewalt. Quer durch Raum und Zeit sind friedlichere Gesellschaften im Allgemeinen auch reicher, gesünder, gebildeter, besser regiert, respektvoller gegenüber ihren Frauen, und sie treiben häufiger Handel. Die Frage, welche dieser guten Aspekte den positiven Kreislauf in Gang gesetzt haben und welche erst unterwegs dazukamen, ist nicht leicht zu beantworten; man ist geneigt, sich auf unbefriedigende Zirkelschlüsse zurückzuziehen und beispielsweise zu behaupten, die Gewalt sei zurückgegangen, weil die Kultur weniger gewalttätig geworden sei. In der Sozialwissenschaft unterscheidet man zwischen »endogenen« Variablen – das heißt solchen, die sich innerhalb des Systems befinden und gerade durch das Phänomen, das man mit ihnen erklären will, beeinflusst werden – und exogenen Faktoren, die durch äußere Kräfte in Gang gesetzt werden. Diese Kräfte können aus dem Bereich des Praktischen kommen wie Veränderungen in Technologie, Bevölkerungsentwicklung und den Mechanismen von Wirtschaft und Politik; sie können aber auch im intellektuellen Bereich liegen, beispielsweise wenn neue Ideen erdacht und verbreitet werden und ein eigenständiges Leben führen. Eine Erklärung für einen historischen Wandel ist dann am zufriedenstellendsten, wenn sie einen äußeren Auslöser benennen kann. Soweit die Daten es zulassen, werde ich nach äußeren Kräften suchen, die unsere geistigen Fähigkeiten zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise in Anspruch genommen haben, so dass man behaupten kann, sie hätten den Rückgang der Gewalt verursacht.

Die Erläuterungen, mit denen ich diesen Fragen gerecht werden möchte, summieren sich zu einem dicken Buch – es ist so dick, dass ich die Geschichte nicht verderbe, wenn ich einen Ausblick auf einige wichtige Schlussfolgerungen gebe. Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit berichtet über sechs Trends, fünf innere Dämonen, vier bessere Engel und fünf historische Kräfte.

Sechs Trends (Kapitel 2 bis 7): Um die vielen Entwicklungen, die den zunehmenden Verzicht unserer Spezies auf Gewalt ausmachen, in einen gewissen Zusammenhang zu stellen, ordne ich sie in sechs Haupttrends ein. Der erste wurde im Zeitmaßstab der Jahrtausende deutlich: der Übergang von der Anarchie einer Gesellschaft aus Jägern, Sammlern und Gärtnern, in der unsere Spezies während des größten Teils ihrer Entwicklungsgeschichte lebte, zu den ersten landwirtschaftlich geprägten Hochkulturen mit Städten und Regierungen. Mit diesem Wandel, der vor rund 5000 Jahren begann, verringerten sich die chronischen Überfälle und Fehden, die das Leben im Naturzustand gekennzeichnet hatten, und der Anteil der gewaltsamen Todesfälle ging mehr oder weniger auf ein Fünftel zurück. Diese Auferlegung von Frieden bezeichne ich als Befriedungsprozess.

Der zweite Übergang zog sich über mehr als ein halbes Jahrtausend hin und ist in Europa am besten belegt. Zwischen dem Spätmittelalter und dem 20. Jahrhundert erlebten die europäischen Staaten einen zehn- bis fünfzigfachen Rückgang der Mordquote. Der Soziologe Norbert Elias führt diesen überraschenden Rückgang in seinem klassischen Werk Über den Prozess der Zivilisation auf die Festigung der Feudalstaaten zurück, die zu großen Königreichen mit zentraler Behördenautorität und einer Infrastruktur für Handel wurden. Mit einer Verbeugung vor Elias bezeichne ich diesen großen Trend als Zivilisationsprozess.

Der dritte Übergang entfaltete sich im Zeitmaßstab einiger Jahrhunderte und begann im 17. und 18. Jahrhundert, also im Zeitalter der Vernunft und der europäischen Aufklärung (Vorläufer gab es allerdings schon im antiken Griechenland und in der Renaissance, und Parallelen findet man auch in anderen Regionen der Welt). Jetzt gab es zum ersten Mal organisierte Bestrebungen zur Abschaffung sozial geächteter Formen der Gewalt wie Gewaltherrschaft, Sklaverei, Duelle, Folter, Tötung aus Aberglauben, sadistische Bestrafung und Grausamkeit gegenüber Tieren; gleichzeitig regte sich zum ersten Mal der Pazifismus. Diesen Übergang bezeichnen Historiker manchmal als Humanitäre Revolution.

Der vierte wichtige Wandel fand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt. In den zwei Dritteln eines Jahrhunderts fand eine beispiellose historische Entwicklung statt: Die Großmächte und ganz allgemein die höher entwickelten Staaten führten keinen Krieg mehr gegeneinander. Diesen gesegneten Zustand bezeichneten Historiker als den Langen Frieden.[2]

Bei dem fünften Trend geht es ebenfalls um bewaffnete Konflikte, er steht aber noch auf tönernen Füßen. Auch wenn es für Zeitungsleser kaum glaubhaft erscheint: Organisierte Konflikte aller Art – Bürgerkriege, Völkermord, Unterdrückung durch selbstherrliche Regierungen und terroristische Anschläge – sind auf der ganzen Welt seit dem Ende des Kalten Krieges 1989 zurückgegangen. In Anerkennung der Tatsache, dass diese glückliche Entwicklung bisher nur vorläufiger Natur ist, bezeichne ich sie als Neuen Frieden.

Und schließlich entwickelte sich in der Nachkriegszeit, die symbolisch 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eingeleitet wurde, ein wachsender Widerwille gegen Aggressionen im kleineren Maßstab, unter anderem was Gewalt gegen ethnische Minderheiten, Homosexuelle, Frauen, Kinder und Tiere angeht. Diese Nebeneffekte des Konzepts der Menschenrechte – Bürgerrechte, Rechte der Homosexuellen, Frauenrechte, Kinderrechte und Rechte von Tieren – wurden seit Ende der 1950er Jahre mit einer Fülle von Bestrebungen durchgesetzt; ich werde sie als Revolution der Rechte bezeichnen.

Fünf innere Dämonen (Kapitel 8): Viele Menschen glauben unausgesprochen an die Hydraulische Theorie der Gewalt: Danach haben Menschen einen inneren Aggressionsdrang (Tötungsinstinkt oder Blutdurst), der sich in uns aufstaut und sich von Zeit zu Zeit entladen muss. Nichts könnte weiter von den heutigen wissenschaftlichen Kenntnissen über die Psychologie der Gewalt entfernt sein. Aggression ist kein einzelnes Motiv und erst recht kein Drang, der sich aufbaut. Sie ist vielmehr das Produkt mehrerer psychischer Mechanismen, die sich in ihren äußeren Auslösern, ihrer inneren Logik, ihren neurobiologischen Grundlagen und ihrer gesellschaftlichen Verteilung unterscheiden. Das Kapitel 8 ist der Erklärung von fünf solchen Mechanismen gewidmet. Räuberische oder ausbeuterische Gewalt ist einfach die Anwendung von Gewalt als praktisches Mittel zum Zweck. Herrschaftsstreben ist der Drang nach Autorität, Ansehen, Ruhm und Macht, ob er nun die Form des Machogehabes Einzelner annimmt oder sich als Wettbewerb um Vorherrschaft zwischen ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppen äußert. Rache ist der Antrieb für das moralistische Streben nach Vergeltung, Bestrafung und Gerechtigkeit. Sadismus ist Lust am Leiden anderer. Und Ideologie ist ein gemeinsames Glaubenssystem, das gewöhnlich eine Vision von einer utopischen Welt beinhaltet und im Streben nach dem unendlich Guten unendliche Gewalt rechtfertigt.

Vier bessere Engel (Kapitel 9). Menschen sind nicht von Geburt an gut (genau wie sie nicht von Geburt an böse sind), aber sie sind von Anfang an mit Motiven ausgestattet, aufgrund deren sie sich weg von Gewalt und hin zu Kooperation und Altruismus orientieren können. Empathie veranlasst uns (besonders im Sinne mitfühlender Sorge), die Schmerzen anderer zu empfinden und ihre Interessen mit unseren eigenen in Einklang zu bringen. Die Selbstbeherrschung ermöglicht es uns, die Folgen vorauszusehen, wenn wir unseren Impulsen nachgeben, und diese entsprechend im Zaum zu halten. Das Moralgefühl schreibt ein System von Normen und Tabus fest, die über die Wechselbeziehungen zwischen den Menschen in einer Kultur bestimmen – manchmal so, dass die Gewalt abnimmt, manchmal aber, wie wir noch genauer erfahren werden, auch so, dass sie wächst (wenn sich die Normen Stämmen, Autoritäten oder puritanischer Einstellung verdanken). Die Fähigkeit der Vernunft versetzt uns in die Lage, uns von unserem egozentrischen Blickwinkel zu lösen, unsere Lebensführung zu reflektieren, abzuleiten, auf welchen Wegen es uns bessergehen könnte, und die Tätigkeit der anderen besseren Engel unseres Wesens zu lenken. In einem Abschnitt beschäftige ich mich auch mit der Möglichkeit, dass der Homo sapiens in jüngster Vergangenheit ganz buchstäblich und im streng biologischen Sinn, nämlich durch Genomveränderungen, eine Evolution in Richtung geringerer Gewalttätigkeit durchgemacht hat. Im Mittelpunkt des Buches stehen aber die ausschließlich umweltbedingten Wandlungen: Veränderungen der historischen Umstände, die das immergleiche Wesen der Menschen auf unterschiedliche Weise in Anspruch nehmen.

Fünf historische Kräfte (Kapitel 10): Im letzten Kapitel bemühe ich mich darum, die psychologischen und historischen Aspekte zusammenzuführen. Ich nenne äußere Kräfte, die unsere friedlichen Motive begünstigen und den Rückgang der Gewalt in mehrfacher Hinsicht vorangetrieben haben. Der Leviathan, ein Staat und eine Justiz mit einem Monopol auf die legitime Anwendung von Gewalt, kann die Verlockung ausbeuterischer Angriffe, den Racheimpuls und die eigennützigen Voreingenommenheiten entschärfen, aufgrund deren alle Parteien glauben, sie seien aufseiten der Engel. Wirtschaftliche Zusammenarbeit ist ein Positivsummenspiel, in dem alle gewinnen; wenn technologischer Fortschritt den Austausch von Waren und Gedanken über immer größere Entfernungen und unter immer größeren Gruppen von Handelspartnern ermöglicht, sind andere Menschen im lebenden Zustand wertvoller, als wenn sie tot sind, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie zum Ziel von Dämonisierung und Entmenschlichung werden, sinkt. Durch den Prozess der Feminisierung respektieren die Kulturen zunehmend die Interessen und Werte von Frauen. Da Gewalt im Wesentlichen ein Zeitvertreib der Männer ist, entfernen sich Kulturen, die den Frauen mehr Macht geben, in der Regel von der machohaften Verherrlichung der Gewalt, und es besteht eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass sie gefährliche Subkulturen aus entwurzelten jungen Männern hervorbringen. Bildung, Reisen, Massenmedien und andere Kräfte des Weltbürgertums können zum Anlass werden, sich in Menschen hineinzuversetzen, die anders sind als man selbst, und den Geltungsbereich des eigenen Mitgefühls auch auf sie zu erweitern. Und schließlich kann eine zunehmende Anwendung unserer Kenntnisse und Rationalität auf menschliche Angelegenheiten – die Beförderung der Vernunft – die Menschen zu der Erkenntnis zwingen, dass Kreisläufe der Gewalt nutzlos sind, dass man die Bevorzugung der eigenen Interessen auf Kosten anderer am besten aufgibt und dass man Gewalt in einem neuen Rahmen betrachtet: als Problem, das es zu lösen gilt, nicht aber als Wettbewerb, den man gewinnen muss.

Wenn man erkennt, dass die Gewalt zurückgeht, sieht die Welt plötzlich anders aus. Die Vergangenheit wird weniger harmlos, die Gegenwart weniger düster. Man beginnt, die kleinen Geschenke des modernen Miteinander zu schätzen, die unseren Vorfahren utopisch erschienen wären: die gemischtrassige Familie, die im Park spielt; den Kabarettisten, der mit seiner Pointe auf den Oberbefehlshaber des Militärs zielt; die Staaten, die vor einem Konflikt zurückschrecken, statt in den Krieg zu ziehen. Der Unterschied liegt nicht in der Selbstzufriedenheit: Wir freuen uns über den Frieden, den wir heute vorfinden, weil die Menschen früherer Generationen sich zu ihrer Zeit von der Gewalt abgestoßen fühlten und daran gearbeitet haben, sie zu beenden. Ebenso sollten wir selbst daran arbeiten, die abstoßende Gewalt zu vermindern, die auch in unserer Zeit noch geblieben ist. Eine Wertschätzung für den Rückgang der Gewalt ist auch eine Bestätigung dafür, dass solche Bemühungen sich lohnen. Die Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber dem Menschen war lange das Thema moralischer Belehrungen. Mit dem Wissen, dass irgendetwas sie zurückgedrängt hat, können wir sie auch als Angelegenheit von Ursache und Wirkung behandeln. Statt zu fragen: »Warum gibt es Krieg?«, können wir auch fragen: »Warum gibt es Frieden?« Wir brauchen uns nicht nur in die Frage hineinzusteigern, was wir falsch gemacht haben, sondern wir können uns auch fragen, was wir richtig gemacht haben. Denn wir haben tatsächlich etwas richtig gemacht, und es wäre gut zu wissen, was das genau ist.

 

Man hat mich oft gefragt, wie ich dazu gekommen bin, die Gewalt zu analysieren. Eigentlich ist das kein Rätsel: Gewalt ist von Natur aus ein Thema für jeden, der sich mit dem Wesen des Menschen beschäftigt. Dass sie zurückgeht, erfuhr ich erstmals aus Homicide von Martin Daly und Margo Wilson, einem klassischen Werk der Evolutionspsychologie. Darin erörtern die Autoren den hohen Anteil der gewaltsamen Todesfälle in nichtstaatlichen Gesellschaften und den Rückgang der Morde vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Ich habe diesen Abwärtstrend in mehreren Büchern zusammen mit humanitären Entwicklungen wie der Abschaffung von Sklaverei, Gewaltherrschaft und grausamen Bestrafungen erwähnt; damit wollte ich den Gedanken begründen, dass ethischer Fortschritt sich mit einer biologischen Betrachtungsweise des menschlichen Geistes und mit der Anerkennung der düsteren Seite des menschlichen Wesens verträgt.[3] Dann habe ich meine Beobachtungen als Antwort auf die alljährliche Frage des online-Forums www.edge.org wieder aufgegriffen. 2007 lautete sie: »In welcher Hinsicht sind Sie optimistisch?« Mein Versuchsballon gab den Anlass zu zahlreichen Zuschriften von Fachleuten für historische Kriminalistik und internationale Studien. Von ihnen erfuhr ich, dass es für einen historischen Rückgang der Gewalt viel mehr Belege gibt, als mir klar war.[4] Ihre Daten überzeugten mich davon, dass wir es hier mit einer bisher viel zu wenig beachteten Geschichte zu tun haben, die darauf wartet, erzählt zu werden.

Mein erster und tiefster Dank gilt folgenden Experten: Azar Gat, Joshua Goldstein, Manuel Eisner, Andrew Mack, John Mueller und John Carter Wood. Als ich an dem Buch gearbeitet habe, profitierte ich auch von Briefwechseln mit Peter Brecke, Tara Cooper, Jack Levy, James Payne und Randolph Roth. Diese großzügigen Wissenschaftler ließen mich nicht nur an ihren Gedanken, Schriften und Daten teilhaben, sondern führten mich auch in Fachgebiete ein, die weit von meiner eigenen Spezialisierung entfernt sind.

David Buss, Martin Daly, Rebecca Newberger Goldstein, David Haig, James Payne, Roslyn Pinker, Jennifer Sheehy-Skeffingtion und Polly Wiessner lasen ganz oder teilweise den ersten Entwurf und halfen mir mit unschätzbar wertvollen Ratschlägen und Kritik. Von großem Wert waren auch Kommentare über einzelne Kapitel von Peter Brecke, Daniel Chirot, Alan Fiske, Jonathan Gottschall, A. C. Grayling, Niall Ferguson, Graeme Garrard, Joshua Goldstein, Jack Hoban, Stephen Leblanc, Jack Levy, Andrew Mack, John Mueller, Charles Seife, Michael Spagat, Richard Wrangham und John Carter Wood.

Viele andere Personen beantworteten meine Anfragen schnell und mit erhellenden Erläuterungen, oder sie machten Vorschläge, die in das Buch einflossen: John Archer, Scott Atran, Daniel Bateson, Donald Brown, Lars-Erik Cederman, Christopher Chabris, Gregory Cochran, Leda Cosmides, Tove Dahl, Lloyd deMause, Jane Esberg, Alan Fiske, Dan Gardner, Pinchas Goldschmidt, Cmdr. Keith Gordon, Reid Hastie, Brian Hayes, Judith Rich Harris, Harold Herzog, Fabio Idrobo, Tom Jones, Maria Konnikova, Robert Kurzban, Gary Lafree, Tom Lehrer, Michael Macy, Steven Malby, Megan Marshall, Michael McCullough, Nathan Myhrvold, Mark Newman, Barbara Oakley, Robert Pinker, Susan Pinker, Ziad Obermeyer, David Pizarro, Tage Rai, David Ropeik, Bruce Russet, Scott Sagan, Ned Sahin, Aubrey Sheiham, Francis X. Shen, Lt. Col. Joseph Shusko, Richard Shweder, Thomas Sowell, Håvard Strand, Ilavenil Subbiah, Rebecca Sutherland, Philip Tetlock, Andreas Forø Tollefsen, James Tucker, Staffan Ulfstrand, Jeffrey Watumull, Robert Whiston, Matthew White, Maj. Michael Wiesenfeld und David Wolpe.

Viele Kollegen und Studenten an der Harvard University unterstützten mich großzügig mit ihren Fachkenntnissen, unter ihnen Mahzarin Banaji, Robert Darnton, Alan Dershowitz, James Engell, Nancy Etcoff, Drew Faust, Benjamin Friedman, Daniel Gilbert, Edward Glaeser, Omar Sultan Haque, Marc Hauser, James Lee, Bay McCulloch, Richard McNally, Michael Mitzenmacher, Orlando Patterson, Leah Price, David Rand, Robert Sampson, Steve Shavell, Lawrence Summers, Kyle Thomas, Justin Vincent, Felix Warneken und Daniel Wegner.

Mein besonderer Dank gebührt den Wissenschaftlern, die mit mir die in diesem Buch wiedergegebenen Daten bearbeitet haben. Brian Atwood nahm zahllose genaue, gründliche und kenntnisreiche statistische Analysen und Datenbankrecherchen vor. William Kowalsky stieß auf viele einschlägige Befunde aus der Welt der Meinungsforschung. Jean-Baptiste Michel entwickelte das Bookworm-Programm, den Google Ngram-Viewer und auch ein raffiniertes Modell für die Größenverteilung von Kriegen. Bennett Haselton führte eine aufschlussreiche Studie zu der Frage durch, wie Menschen die Geschichte der Gewalt wahrnehmen. Esther Snyder half bei der Suche nach Abbildungen und Büchern. Ilavenil Subbiah gestaltete die eleganten Diagramme und Karten, und im Laufe der Jahre verschaffte sie mir auch unschätzbar wertvolle Einsichten in die Kultur und Geschichte Asiens.

Mein Literaturagent John Brockman stellte die Frage, die den Anlass zu diesem Buch gab, und machte viele hilfreiche Anmerkungen zu dem ersten Entwurf. Wendy Wolf, meine Lektorin bei Penguin, nahm eine detaillierte Analyse des ersten Entwurfes vor, die viel zur Gestaltung der endgültigen Version beitrug. Ich bin John und Wendy, aber auch Will Goodland bei Penguin UK ungeheuer dankbar für die Unterstützung, die sie dem Buch in allen Stadien zuteilwerden ließen.

Aus ganzem Herzen danke ich meiner Familie für ihre Liebe und Ermutigung: Harry, Roslyn, Susan, Martin, Robert und Kris. Meine größte Wertschätzung gilt Rebecca Newberger Goldstein, die nicht nur Substanz und Stil des Buches verbesserte, sondern mich auch mit ihrem Glauben an den Wert des Projekts ermutigte und mehr als jeder andere dazu beitrug, meine Weltsicht zu prägen. Dieses Buch ist meiner Nichte, meinen Neffen und meinen Stieftöchtern gewidmet: Mögen sie sich einer Welt erfreuen, in der die Gewalt weiter auf dem Rückzug ist.

Kapitel 1 Ein fremdes Land

Die Vergangenheit ist ein fremdes Land;

dort gelten andere Regeln.

L. P. Hartley

Wenn die Vergangenheit ein fremdes Land ist, dann ist dieses Land erschreckend gewalttätig. Man vergisst nur allzu leicht, wie gefährlich das Leben früher war, wie tief Brutalität sich einst durch das ganze Gewebe des Alltagslebens zog. Die kulturelle Überlieferung macht die Vergangenheit friedlich und hinterlässt uns nur verblasste Erinnerungsstücke, deren blutige Entstehungsgeschichte verblichen ist. Wenn eine Frau ein Kreuz um den Hals trägt, denkt sie nur in den seltensten Fällen darüber nach, dass dieses Folterinstrument in der Antike ein allgemein übliches Mittel der Bestrafung war, und wer von einem Prügelknaben spricht, denkt nicht an die alte Sitte, ein unschuldiges Kind anstelle eines Prinzen, der sich falsch verhalten hat, zu schlagen. Wir sind von Anzeichen für die boshafte Lebensweise unserer Vorfahren umgeben, aber sie sind uns kaum bewusst. Genau wie das Reisen, das den geistigen Horizont erweitert, so kann auch eine wortgetreue Betrachtung unseres kulturellen Erbes in uns die Erkenntnis wecken, dass in der Vergangenheit völlig andere Regeln galten.

In einem Jahrhundert, das mit dem 11. September, dem Irak und Darfur begonnen hat, mag die Behauptung, wir lebten in einer ungewöhnlich friedlichen Zeit, wie ein Mittelding zwischen Halluzination und Obszönität erscheinen. Aus Gesprächen und Umfragen weiß ich, dass die meisten Menschen sich weigern, es zu glauben.[5] In den nachfolgenden Kapiteln werde ich meine Aussage mit Datumsangaben und Zahlen begründen. Aber zuerst möchte ich Sie ein wenig weichklopfen, indem ich Sie an einige einschlägige Tatsachen aus der Vergangenheit erinnere, über die wir schon immer Bescheid gewusst haben. Damit möchte ich nicht nur Überzeugungsarbeit leisten. Wissenschaftler unterwerfen ihre Schlussfolgerungen häufig einer Plausibilitätsprüfung. Mit einer Stichprobe von Phänomenen aus der Wirklichkeit versichern sie sich, dass sie nicht irgendeinen Fehler in ihren Methoden übersehen haben und vorschnell zu einer Aussage gelangt sind. Die kurzen Szenen in diesem Kapitel sind eine Plausibilitätsprüfung für die Daten, die ich später anführen werde.

Wir machen jetzt eine kurze Rundreise durch jenes fremde Land namens Vergangenheit; sie führt uns vom Jahr 8000 v.u.Z. bis in die 1970er Jahre. Es ist keine große Bildungsreise durch die Kriege und Gräueltaten, deren wir ohnehin wegen ihrer Gewalttätigkeit gedenken, sondern eine Reihe kleinerer Blicke hinter täuschend altvertraute Orientierungspunkte, die uns daran erinnern sollen, welche Heimtücke sich dahinter verbirgt. Natürlich ist die Vergangenheit kein einzelnes Land, sondern umfasst eine Vielzahl von Kulturen und Gebräuchen. Was sie aber alle gemeinsam haben, ist der Schrecken früherer Zeiten: ein Hintergrund aus Gewalt, die man erduldete und sich oft auf eine Weise zu eigen machte, über die ein empfindlicher Bewohner der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts nur staunen kann.

Die Vorgeschichte der Menschen

Im Jahr 1991 stolperten zwei Wanderer in den Tiroler Alpen über eine Leiche, die aus einem schmelzenden Gletscher ragte. In dem Glauben, es handele sich um das Opfer eines Skiunfalls, befreiten Rettungskräfte den Körper mit Presslufthämmern aus dem Eis, wobei sie den Oberschenkelknochen und seinen Rucksack beschädigten. Erst als ein Archäologe eine Kupferaxt aus der Jungsteinzeit entdeckte, wurde klar, dass dieser Mann 5000 Jahre alt war.[6]

Ötzi oder der »Mann aus dem Eis«, wie er heute genannt wird, wurde zu einer Berühmtheit. Er zierte die Titelseite des Magazins Time und war der Gegenstand zahlreicher Bücher, Dokumentarfilme und Zeitschriftenartikel. Seit Mel Brooks’ 2000 Year Old Man (»ich habe über 42 000 Kinder, und keines kommt mich besuchen«) konnte uns kein tausendjähriger Mensch mehr so viel über die Vergangenheit erzählen. Ötzi lebte in jener entscheidenden Übergangszeit unserer Vorgeschichte, als die Landwirtschaft an die Stelle des Jagens und Sammelns trat und als man Werkzeuge erstmals nicht nur aus Stein, sondern auch aus Metall herstellte. Neben seiner Axt und dem Rucksack trug er einen Köcher mit gefiederten Pfeilen, einen Dolch mit Holzgriff und ein in Rinde gewickeltes glühendes Stück Holz, das zu einem raffinierten Besteck zum Feuermachen gehörte. Seine Kleidung bestand aus einer Bärenfellmütze mit ledernen Kinnriemen, Beinkleidern aus zusammengenähten Tierhäuten und wasserdichten Schneeschuhen aus Leder und Fasern, die mit Gras isoliert waren. An seinen arthritischen Gelenken hatte er Tattoos, vermutlich ein Anzeichen für Akupunktur, außerdem hatte er Pilze mit medizinischen Eigenschaften bei sich.

Zehn Jahre nachdem man den Mann aus dem Eis entdeckt hatte, machte eine Arbeitsgruppe von Radiologen eine beunruhigende Entdeckung: In Ötzis Schulter steckte eine Pfeilspitze. Anders als die Wissenschaftler ursprünglich angenommen hatten, war er nicht in eine Gletscherspalte gefallen und erfroren, sondern umgebracht worden. Als man den Körper kriminaltechnisch untersuchte, rückte schemenhaft ein Verbrechen ins Blickfeld. Ötzi hatte nicht verheilte Schnitte an den Händen sowie Wunden an Kopf und Brust. Die DNA-Analysen zeigten Blutspuren von zwei anderen Menschen an einer seiner Pfeilspitzen, Blut von einem dritten an dem Dolch und das Blut eines vierten an seinem Mantel. Einer Rekonstruktion zufolge gehörte Ötzi zu einer Gruppe, die Überfälle beging und mit einem Nachbarstamm aneinandergeraten war. Er tötete einen Mann mit einem Pfeil, holte sich die Waffe zurück, tötete einen zweiten, holte sich wiederum die Waffe und trug einen verwundeten Kameraden auf dem Rücken davon, bevor er einen erneuten Angriff abwehren musste und selbst einem Pfeil zum Opfer fiel.

Ötzi ist nicht der einzige jahrtausendealte Mensch, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts berühmt wurde. Im Jahr 1996 bemerkten die Zuschauer eines Motorbootrennens in Kennewick im US-Bundesstaat Washington einige Knochen, die aus einem Ufer des Columbia River ragten. Wenig später bargen Archäologen das Skelett eines Mannes, der vor 9400 Jahren gelebt hatte.[7] Sofort rückte der Kennewick-Mann in den Mittelpunkt öffentlichkeitswirksamer juristischer und wissenschaftlicher Konflikte. Mehrere Stämme der amerikanischen Ureinwohner stritten sich um das Sorgerecht für das Skelett und um das Recht, es entsprechend ihren Traditionen zu bestatten. Ein Bundesgericht wies die Ansprüche jedoch zurück und stellte fest, keine Kultur der Menschen habe jemals über neun Jahrtausende hinweg ununterbrochen existiert. Als man die wissenschaftlichen Untersuchungen wiederaufnahm, stellten die Anthropologen zu ihrer Verblüffung fest, dass der Kennewick-Mann sich anatomisch stark von den heutigen amerikanischen Ureinwohnern unterschied. Ein Bericht vertritt die Ansicht, er habe europäische Gesichtszüge gehabt; nach einem anderen passte er zu den Ainu, den Ureinwohnern Japans. Beide Theorien würden bedeuten, dass Amerika durch mehrere unabhängige Einwanderungswellen besiedelt wurde, aber das widerspricht den Befunden der DNA-Analysen, wonach die amerikanischen Ureinwohner die Nachkommen einer einzigen, aus Sibirien eingewanderten Gruppe sind.

Es gibt also eine Fülle von Gründen, warum der Kennewick-Mann bei den wissenschaftlich Interessierten zum Objekt der Faszination wurde. Ich möchte noch einen weiteren nennen. Im Beckenknochen des Kennewick-Mannes steckt ein Steingeschoss. Der Knochen war zwar teilweise verheilt, was darauf hindeutet, dass er nicht an der Wunde starb, der kriminaltechnische Beleg ist aber eindeutig: Auf den Kennewick-Mann war geschossen worden.

Das sind nur zwei Beispiele für berühmte prähistorische Überreste, die uns grausige Nachrichten über das Ende ihrer Eigentümer überbringen. Viele Besucher des Britischen Museums waren vom Lindow-Mann gefesselt, einer nahezu vollständig erhaltenen, 2000 Jahre alten Leiche, die man 1984 in einem englischen Torfmoor entdeckt hatte.[8] Wie viele seiner Kinder ihn besuchten, wissen wir nicht, aber wie er starb, ist bekannt. Sein Schädel wurde mit einem stumpfen Gegenstand zertrümmert, und der Hals war durch eine verdrehte Schnur gebrochen; zu allem Überfluss hatte man ihm dann auch noch die Kehle durchgeschnitten. Möglicherweise war der Lindow-Mann ein Druide, den man auf dreierlei Weise rituell geopfert hatte, um drei Götter zufriedenzustellen. Auch Spuren an vielen anderen männlichen und weiblichen Moorleichen aus Nordeuropa deuten darauf hin, dass man diese Menschen erdrosselt, erschlagen, erstochen oder gefoltert hatte.

Während der Recherchen zu diesem Buch stieß ich in einem einzigen Monat auf zwei neue Geschichten über bemerkenswert gut erhaltene menschliche Überreste. Der eine ist ein 2000 Jahre alter Schädel, der in einer Schlammgrube in Nordengland ausgegraben wurde. Der Archäologe, der den Schädel reinigte, spürte eine Bewegung, blickte durch die Öffnung an der Schädelunterseite und sah im Inneren eine gelbliche Substanz: Sogar das Gehirn war erhalten geblieben. Auch hier war der ungewöhnlich gute Erhaltungszustand nicht die einzige bemerkenswerte Eigenschaft des Fundes. Der Schädel war absichtlich vom Körper abgetrennt worden, was nach Ansicht des Archäologen darauf schließen ließ, dass es sich um ein Menschenopfer handelte.[9] Die andere Entdeckung war ein 4600 Jahre altes Grab in Deutschland mit den Überresten eines Mannes, einer Frau und zweier Jungen. Die DNA-Analyse zeigte, dass sie alle zu einer einzigen Kleinfamilie gehörten – der ältesten, die man in der Wissenschaft kennt. Alle vier waren zur gleichen Zeit bestattet worden, nach Aussagen der Archäologen ein Zeichen, dass sie bei einem Überfall ums Leben gekommen waren.[10]

Woran liegt es, dass die prähistorischen Menschen uns offenbar keine interessante Leiche hinterlassen konnten, ohne auf gewalttätige Methoden zurückzugreifen? In manchen Fällen findet sich vielleicht eine harmlose Erklärung in der Taphonomie, das heißt in den Vorgängen, durch die Leichen erhalten bleiben. Vielleicht wurden zu Beginn des ersten Jahrtausends nur die Leichen von Menschen, die man rituell geopfert hatte, in Mooren versenkt, wo sie für die Nachwelt konserviert wurden. Bei den meisten Leichen besteht aber kein Anlass zu der Vermutung, sie seien nur deshalb erhalten geblieben, weil sie ermordet wurden. Später werden wir noch kriminaltechnische Untersuchungen kennenlernen, mit denen man anhand der Art, wie ein Körper auf uns überkommen ist, genau analysieren kann, wie er den Tod fand. Vorerst vermitteln prähistorische Überreste eindeutig den Eindruck, dass die Vergangenheit ein Land war, in dem für die Menschen eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, körperlich zu Schaden zu kommen.

Das Griechenland Homers

Was wir über Gewalt in prähistorischer Zeit wissen, hängt davon ab, welche Leichen einbalsamiert wurden oder als Fossilien erhalten geblieben sind; unsere Kenntnisse sind also ungeheuer unvollständig. Nachdem sich aber die geschriebene Sprache verbreitet hatte, hinterließen die Menschen der Antike uns bessere Informationen darüber, wie sie ihre Angelegenheiten regelten. Die Ilias und Odyssee von Homer gelten als die ersten großen Werke der abendländischen Literatur und nehmen in vielen Leitfäden über literarische Kultur breiten Raum ein. Sie spielen in der Zeit des Trojanischen Krieges um 1200 v.u.Z., verfasst wurden sie aber viel später, zwischen 800 und 650 v.u.Z.; nach heutiger Kenntnis spiegelt sich in ihnen das Leben der Stämme und Stammesfürstentümer wider, die es zu jener Zeit im östlichen Mittelmeerraum gab.[11]

Oft liest man heute, der totale Krieg, der auf eine ganze Gesellschaft und nicht nur auf ihre Armee zielt, sei eine moderne Erfindung. Als Ursachen wurden die Entstehung der Nationalstaaten, Ideologien mit Alleinvertretungsanspruch und eine Technologie zum Töten aus der Entfernung genannt. Wenn Homers Beschreibungen aber stimmen (und tatsächlich stimmen sie mit den einschlägigen Befunden aus Archäologie, Ethnographie und Geschichtsforschung überein), war der Krieg im archaischen Griechenland ebenso total wie ein beliebiger Konflikt aus der Neuzeit. Agamemnon erklärte dem König Menelaos seine Pläne für den Krieg so:

»Du, Menelaos, mein Lieber, warum begünstigst du derart

unsere Feinde? Die Troer behandelten dich wohl daheim aufs

beste? Nicht einer von ihnen entrinne dem jähen Verderben,

keiner unseren Fäusten! Auch nicht das Knäblein im Schoß der

Mutter, auch das nicht! Nein, sie sollen verschwinden aus Troja, ausnahmslos alle, verschwinden ohne Bestattung und spurlos!«[12]

Der Literaturwissenschaftler Jonathan Gottschall erläutert in seinem Buch The Rape of Troy, wie Kriege damals geführt wurden:

In schnellen Booten mit geringem Tiefgang rudert man an die Strände, und die Siedlungen am Meer werden gebrandschatzt, bevor Nachbarn ihnen zu Hilfe eilen können. Die Männer werden in der Regel getötet, Vieh und andere transportable Wertgegenstände werden geplündert, und die Frauen werden mitgenommen; sie müssen unter den Siegern leben und ihnen sexuelle und niedere Dienste leisten. Die Männer lebten zu Homers Zeiten mit der Möglichkeit eines plötzlichen, gewaltsamen Todes; die Frauen hatten ständig Angst um ihre Männer und Kinder, und fürchteten sich vor den Segeln am Horizont, die unter Umständen ein neues Leben voller Vergewaltigung und Sklaverei ankündigten.[13]

Heute liest man ebenfalls häufig, die Kriege des 20. Jahrhunderts hätten eine beispiellose Zerstörungswirkung gehabt, weil sie mit Maschinengewehren, Artillerie, Bombern und anderen auf große Entfernung wirkenden Waffen geführt wurden, welche die Soldaten von ihrer natürlichen Hemmung gegenüber dem Kampf Mann gegen Mann befreiten und die Möglichkeit schufen, gnadenlos eine große Zahl gesichtsloser Feinde zu töten. Nach dieser Überlegung waren Handwaffen nicht annähernd so tödlich wie unsere Hightech-Methoden der Kriegsführung. Aber Homer lieferte lebendige Beschreibungen über das Ausmaß der Schäden, die Krieger auch zu seiner Zeit anrichten konnten. Gottschall nennt ein Beispiel für solche Schilderungen:

Von kalter Bronze erstaunlich leicht durchbrochen, strömt der Inhalt des Körpers in zähflüssigen Strom heraus: Stücke von Gehirnen werden am Ende zitternder Speere sichtbar, junge Männer halten mit verzweifelten Händen ihre Gedärme zurück, Augen werden ausgestochen oder aus dem Schädel geschnitten und schimmern blicklos im Staub. Scharfe Spitzen schaffen sich immer neue Zu- und Ausgänge in jungen Körpern: mitten in der Stirn, in den Schläfen, zwischen den Augen, am unteren Ende des Halses, sauber durch Mund und Wangen und auf der anderen Seite wieder hinaus, durch Flanken, im Schritt, durch Gesäß, Hände, Nabel, Rücken, Magen, Brustwarzen, Brust, Nase, Ohren und Kinn … Speere, Spieße, Pfeile, Schwerter, Dolche und Steinbrocken gieren nach dem Geschmack von Fleisch und Blut. Blut spritzt hervor und bildet Nebel in der Luft. Knochenstücke fliegen herum. Aus frischen Stümpfen quillt das Knochenmark.

Nach der Schlacht fließt Blut aus tausend tödlichen oder verstümmelnden Wunden, verwandelt den Staub in Schlamm und düngt das Gras der Ebenen. Männer, die durch schwere Kampfwagen, Hengste mit scharfen Hufen und die Sandalen der Männer in den Boden gepflügt wurden, sind bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Das Feld ist von Waffen und Rüstungen übersät. Leichen liegen überall, verwesen und werden zum Festmahl für Hunde, Würmer, Fliegen und Vögel.[14]

Im 21. Jahrhundert wurden sicher zu Kriegszeiten Frauen vergewaltigt, aber das gilt schon lange als grausiges Kriegsverbrechen, das von den meisten Armeen zu verhindern versucht und von den anderen geleugnet oder verschleiert wird. Für die Helden der Ilias dagegen war weibliches Fleisch eine legitime Kriegsbeute. Frauen waren dazu da, dass man an ihnen Spaß hatte, sie als Besitz betrachtete und nach Belieben wieder wegwarf. Menelaos beginnt den Trojanischen Krieg, als seine Frau Helena entführt wird. Agamemnon bring Unglück über die Griechen, weil er sich weigert, eine Sexsklavin an ihren Vater zurückzugeben, und als er schließlich nachgibt, eignet er sich eine an, die Achilleus gehört – und diesem bietet er später achtundzwanzigfachen Ersatz an. Achilleus seinerseits liefert folgende knappe Beschreibung seiner Karriere: »ebenso opferte ich auch zahlreiche schlaflose Nächte, wirkte die Tage hindurch in der blutigen Arbeit des Krieges, focht mit den Feinden, um jene mit Frauen nur zu versorgen!«[15] Als Odysseus nach zwanzigjähriger Abwesenheit zu seiner Frau zurückkehrt, ermordet er die Männer, die ihr den Hof gemacht haben, während alle glaubten, er sei tot; und als er feststellt, dass die Männer sich auch mit dem Dutzend Konkubinen seines Haushalts vergnügt haben, lässt er die Konkubinen von seinem Sohn ebenfalls hinrichten.

Solche Berichte über Blutbad und Vergewaltigung sind auch nach den Maßstäben der heutigen Kriegsberichterstattung beunruhigend. Sicher, Homer und seine Gestalten bedauerten die Überflüssigkeit des Krieges, sie nahmen ihn aber wie das Wetter als unvermeidliche Tatsache des Lebens hin – als etwas, über das alle reden, ohne dass irgendjemand daran etwas ändern könnte. Odysseus formuliert es so: »Uns hat Zeus das Schicksal beschieden, unser Leben mit schmerzhaften Kriegen hinzubringen, von unserer Jugend an bis wir alle vergehen.« Bei allem Erfindungsreichtum, den die Männer so erfolgreich auf Waffen und Strategie anwandten, standen sie mit leeren Händen da, wenn es um die prosaischen Ursachen des Krieges ging. Statt in der Geißel des Krieges ein menschliches Problem zu erkennen, das von Menschen gelöst werden kann, brauten sie sich Phantasien von hitzköpfigen Göttern zusammen und führten ihre eigenen Tragödien auf deren Eifersüchteleien und Launen zurück.

Die hebräische Bibel

Wie die Werke von Homer, so spielt auch die hebräische Bibel (das Alte Testament) gegen Ende des 2. Jahrtausends v.u.Z., aber geschrieben wurde sie erst mehr als 500 Jahre später.[16] Im Gegensatz zu den Werken Homers wird die Bibel heute von Milliarden Menschen verehrt: Sie sehen in ihr die Quelle ihrer ethischen Werte. Die Bibel ist das meistverkaufte Buch der Welt, wurde in 3000 Sprachen übersetzt und liegt auf der ganzen Welt in den Nachttischen der Hotels. Orthodoxe Juden küssen sie mit ihrem Gebetsschal; Zeugen in amerikanischen Gerichtshöfen legen ihre Hand darauf, wenn sie einen Eid schwören. Selbst der Präsident berührt eine Bibel, wenn er den Amtseid ablegt. Aber trotz all dieser Verehrung ist die Bibel ein einziges langes Loblied der Gewalt.

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Und Adam nannte sein Weib Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen. Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Bei einer Weltbevölkerung von genau vier Menschen ergibt das eine Mordquote von 25 Prozent, ungefähr das Tausendfache der entsprechenden Quoten in den heutigen westlichen Demokratien.

Die Vermehrung der Menschen begann erst, als Gott zu dem Schluss gelangt war, dass sie Sünder sind und dass Völkermord die einzig angemessene Bestrafung ist. (In einem Sketch von Bill Cosby wird Noah von einem Nachbarn um eine Erklärung gebeten, warum er die Arche baut. Darauf erwidert Noah: »Wie lange kannst du auf Wasser laufen?«) Als die Flut zurückgeht, erteilt Gott dem Noah seine moralische Lektion, den Kodex der Blutrache: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.«

Die nächste wichtige Figur in der Bibel ist Abraham, der spirituelle Urvater von Juden, Christen und Muslimen. Abraham hat einen Neffen namens Lot, der sich in Sodom niedergelassen hat. Da die Bewohner dieser Stadt sich mit Analsex und ähnlichen Sünden vergnügen, verbrennt Gott alle Männer, Frauen und Kinder mit himmlischem Napalm. Auch Lots Frau wird für das Verbrechen, sich umzudrehen und einen Blick auf das Inferno zu werfen, zum Tode verurteilt.

Abrahams moralische Werte werden auf den Prüfstand gestellt, als Gott ihm befiehlt, seinen Sohn Isaak auf einen Berggipfel zu bringen, zu fesseln, ihm die Kehle durchzuschneiden und die Leiche als Geschenk für den Herrn zu verbrennen. Isaak wird nur deshalb verschont, weil ein Engel im letzten Augenblick die Hand seines Vaters festhält. Jahrtausendelang rätselten die Leser über der Frage, warum Gott auf dieser entsetzlichen Prüfung bestand. Nach einer Interpretation griff Gott nicht deshalb ein, weil Abraham die Prüfung bestanden hätte, sondern weil er durchgefallen war, aber das ist anachronistisch: Gehorsam gegenüber göttlicher Autorität und nicht Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben war die Kardinaltugend.

Isaaks Sohn Jakob hat eine Tochter namens Dina. Diese wird gekidnappt und vergewaltigt, was damals offenbar die übliche Form der Brautwerbung war: Die Familie des Vergewaltigers bietet an, Dina ihrer Familie abzukaufen und dem Vergewaltiger zur Frau zu geben. Darauf erklären Dinas Brüder, dieser Transaktion stehe ein wichtiges moralisches Prinzip im Weg: Der Vergewaltiger ist nicht beschnitten. Also machen sie ein Gegenangebot: Wenn alle Männer in der Stadt sich die Vorhaut abschneiden, ist Dina die Ihre. Während die Männer mit blutenden Penissen außer Gefecht gesetzt sind, dringen die Brüder in die Stadt ein, plündern und zerstören sie, ermorden die Männer und nehmen Frauen und Kinder mit. Als Jakob sich Sorgen macht, die Nachbarstämme könnten aus Rache zum Angriff übergehen, erklären die Söhne, das Risiko habe sich gelohnt: »Durfte er unsere Schwester denn wie eine Hure behandeln?«[17] Wenig später bekräftigen sie erneut ihr Engagement für die familiären Werte, indem sie ihren Bruder Joseph in die Sklaverei verkaufen.

Jakobs Nachkommen, die Israeliten, gelangen schließlich nach Ägypten und werden für den Geschmack des Pharao zu zahlreich. Also versklavt er sie und befiehlt, alle Jungen gleich nach der Geburt umzubringen. Moses entgeht dem Massenmord an den Kindern – er wächst heran und fordert vom Pharao, dieser solle sein Volk ziehen lassen. Aber obwohl Gott, der doch allmächtig ist, das Herz des Pharao hätte erweichen können, macht er es stattdessen nur härter; das verschafft ihm den Grund, alle Ägypter mit schmerzhaften Pusteln und anderen Leiden zu schlagen, bevor er nun ihre erstgeborenen Söhne tötet. (Das Wort Pessach – engl. Passover – ist eine Anspielung auf den Todesengel, der an den Häusern mit hebräischen Erstgeborenen vorübergeht.) Auf diesen Massenmord lässt Gott einen zweiten folgen, als er die ägyptische Armee, die den Israeliten durch das Rote Meer folgt, ertränkt.

Die Israeliten versammeln sich am Berg Sinai und hören die Zehn Gebote, jenen großen Moralkodex, der in Stein gehauene Bilder und das Begehren von Haustieren verbietet, aber einen Freibrief für Sklaverei, Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung und Völkermord benachbarter Stämme ausstellt. Als die Israeliten darauf warten, dass Moses mit einem erweiterten Gesetzeswerk zurückkehrt, welches die Todesstrafe für Gotteslästerung, Homosexualität, Ehebruch, Widerspruch gegen die Eltern und Arbeit am Sabbat vorschreibt, werden sie ungeduldig. Um sich die Zeit zu vertreiben, formen sie die Statue eines Kalbes und beten sie an; auch dafür ist die Strafe – wie könnte es anders sein – der Tod. Auf Gottes Befehl töten Moses und sein Bruder Aaron insgesamt 3000 Gefährten.

Anschließend verwendet Gott sieben Kapitel des 3. Buchs Mose darauf, den Israeliten Anweisungen für die Schlachtung jenes stetigen Stromes von Tieren zu geben, die er von ihnen fordert. Aaron und seine beiden Söhne bereiten die Stiftshütte für das Opfer vor, aber die Söhne vertun sich und benutzen das falsche Räucherwerk; daraufhin lässt Gott sie verbrennen.

Als die Israeliten weiter in Richtung des gelobten Landes ziehen, treffen sie auf die Midianiter. Auf Gottes Befehl erschlagen sie die Männer, verbrennen ihre Stadt, plündern die Viehbestände und nehmen sowohl die Frauen als auch die Kinder gefangen. Als sie zu Moses zurückkommen, ist er empört: Sie haben die Frauen verschont, obwohl manche von ihnen die Israeliten verführt haben, Konkurrenzgötter anzubeten. Also befiehlt er seinen Soldaten, den Völkermord zu vollenden und sich mit den heiratsfähigen Sexsklaven zu belohnen, die sie nach ihrem Gutdünken vergewaltigen dürfen: »So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben.«[18]

In den Kapiteln 20 und 21 des 5. Buchs Mose stellt Gott den Israeliten einen Freibrief für den Umgang mit Städten aus, die ihre Herrschaft nicht anerkennen: Zerschmettert die Männer mit des Schwertes Schneide und entführt Kühe, Frauen und Kinder. Natürlich steht der Mann mit einer hübschen neuen Gefangenen vor einem Problem: Da er gerade die Eltern und Brüder der jungen Frau erschlagen hat, ist sie vielleicht nicht in der richtigen Stimmung für die Liebe. Gott sieht diese Beeinträchtigung voraus und bietet folgende Lösung an: Der Sieger sollte ihr den Kopf rasieren, die Fingernägel schneiden und sie einen Monat in seinem Haus einsperren, während sie sich die Augen ausweint. Dann kann er hineingehen und sie vergewaltigen.

Bei einer Liste genau benannter anderer Feinde (Hetiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter) muss der Völkermord vollständig ausgeführt werden: »Du sollst nicht leben lassen, was Odem hat, sondern sollst an ihnen den Bann vollstrecken … wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat.«[19]

Diese Anordnung setzt Josua in die Tat um: Er besetzt Kanaan und zerstört die Stadt Jericho. Nachdem die Stadtmauern zusammengestürzt sind, »vollstreckten [seine Soldaten] den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, Jung und Alt, Rindern, Schafen und Eseln«.[20] Und es bleibt noch mehr verbrannte Erde zurück: »So schlug Josua das ganze Land auf dem Gebirge und im Süden und im Hügelland und an den Abhängen mit allen seinen Königen und ließ niemand übrig und vollstreckte den Bann an allem, was Odem hatte, wie der Herr, der Gott Israels, befohlen hatte.«[21]

Die nächste Phase in der Geschichte der Israeliten ist das Zeitalter der Richter, das heißt der Stammeshäuptlinge. Der berühmteste unter ihnen, Samson, begründet seinen Ruf dadurch, dass er während seiner Hochzeitsfeier 30 Männer umbringen lässt, weil er ihre Kleidung braucht, um damit seine Wettschulden zu begleichen. Dann metzelt er 1000 Philister nieder und setzt ihre Felder in Brand, um Rache für den Mord an seiner Frau und ihrem Vater zu nehmen, und nachdem er der Gefangennahme entgangen ist, tötet er noch einmal 1000 mit dem Kieferknochen eines Esels. Als er schließlich gefangen genommen wird und man ihm die Augen ausstechen will, verleiht Gott ihm die Kraft für einen Selbstmordanschlag in der Art des 11. Septembers: Er bringt ein großes Gebäude zum Einsturz, wobei 3000 Männer und Frauen zermalmt werden, die darin gerade beten.

Saul, der erste König Israels, gründet ein kleines Reich, das ihm die Gelegenheit verschafft, eine alte Rechnung zu begleichen. Einige Jahrhunderte zuvor waren die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten von den Amalekitern drangsaliert worden, und Gott hatte ihnen befohlen, »den Namen Amalek auszulöschen«. Als nun der Richter Samuel Saul zum König salbt, erinnert er diesen an die göttliche Anweisung: »So zieh nun hin und schlag Amalek und vollstrecke den Bann an ihm und an allem, was es hat; verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.«[22] Saul befolgt den Befehl, aber Samuel ist wütend, als er erfährt, dass Saul den feindlichen König Agag verschont hat. Also »hieb Samuel den Agag in Stücke vor dem Herrn«.

Saul wurde schließlich von seinem Schwiegersohn David gestürzt. Dieser gliederte die südlichen Stämme Judas an, eroberte Jerusalem und machte es zur Hauptstadt eines Königreiches, das viele Jahrhunderte überdauern sollte. David wurde in Geschichten, Liedern und Skulpturen verherrlicht, und sein sechszackiger Stern wurde für 3000 Jahre zum Symbol seines Volkes. Später verehrten ihn auch die Christen als Vorläufer Jesu.

Aber David war nicht nur der »süße Sänger Israels«, der feinsinnige Dichter, der Harfe spielte und Psalmen komponierte. Nachdem er sich mit der Tötung Goliaths einen Namen gemacht hatte, rekrutierte er eine Guerillabande, erleichterte seine Mitbürger mit vorgehaltener Klinge um ihren Reichtum und kämpfte als Söldner für die Philister. Saul wurde wegen solcher Leistungen neidisch: Die Frauen an seinem Hof sangen »Saul hat Tausende getötet, David aber Zehntausende«. Also schmiedete Saul ein Komplott, um ihn töten zu lassen.[23] David entkam mit knapper Not und inszenierte anschließend einen Staatsstreich.

Nachdem David König geworden war, machte er seinem hart erarbeiteten Ruf, Zehntausende getötet zu haben, weiterhin Ehre. Sein General Joab »verwüstete das Land der Ammoniter«, und anschließend führte David »das Volk darin heraus und ließ sie mit Sägen und eisernen Hacken und Äxten Frondienste leisten«.[24] Dann aber tut er etwas, das für Gott eine heimtückische Sünde ist: Er ordnet eine Volkszählung an. Um David zu bestrafen, tötet Gott 70 000 seiner Untertanen.

In der Königsfamilie selbst gehen Sex und Gewalt Hand in Hand. Als David eines Tages auf dem Palastdach spazieren geht, betätigt er sich als Spanner: Er sieht die nackte Batseba, und was er sieht, gefällt ihm. Also schickt er ihren Mann in die Schlacht, damit er ums Leben kommt, und nimmt sie in seinen Harem auf. Später vergewaltigt eines von Davids Kindern ein anderes und wird aus Rache von einem dritten ermordet. Der Rächer Absalom sammelt eine Armee um sich und bemüht sich, Davids Thron zu besetzen, indem er mit zehn von dessen Konkubinen schläft. (Was die Konkubinen davon hielten, wird wie üblich nicht berichtet.) Als Absalom vor Davids Armee flieht, bleibt er mit den Haaren in einem Baum hängen, und Davids General stößt ihm drei Speere ins Herz. Aber auch damit sind die Familienstreitigkeiten nicht zu Ende. Der greise David wird von Batseba mit einem Trick dazu veranlasst, ihren gemeinsamen Sohn Salomo zum Nachfolger zu salben. Der legitime Erbe, Davids älterer Sohn Adonija, protestiert und wird in Salomos Auftrag umgebracht.

Dem König Salomo werden weniger Morde zugerechnet als seinen Vorgängern. Er blieb in Erinnerung, weil er den Tempel in Jerusalem erbaute und die Bücher der Sprüche Salomos, der Prediger Salomo und das Hohelied Salomos verfasste. (Angesichts eines Harems von 700 Prinzessinnen und 300 Konkubinen wandte er allerdings sicher nicht seine ganze Zeit für die Schriftstellerei auf.) Vor allem aber wurde er für seine sprichwörtliche »salomonische Weisheit« bekannt. Zwei Prostituierte, die sich ein Zimmer teilen, bringen im Abstand von wenigen Tagen Kinder zur Welt. Eines der Babys stirbt, und beide Frauen behaupten, der überlebende Junge sei ihr Kind. Der weise König entscheidet den Fall, indem er ein Schwert zieht und droht, das Baby zu zweiteilen und jeder Frau eine Hälfte des winzigen Leichnams zu übergeben. Daraufhin zieht eine Frau ihren Anspruch zurück, und Salomo spricht ihr das Baby zu. »Und ganz Israel hörte von dem Urteil, dass der König gefällt hatte, und sie fürchteten den König; denn sie sahen, dass die Weisheit Gottes in ihm war, Gericht zu halten.«[25]

Die Distanz zu solchen Geschichten lässt uns leicht vergessen, in was für einer brutalen Welt sie spielen. Man stelle sich nur vor, ein heutiger Familienrichter würde einen Streit um die Mutterschaft entscheiden, indem er eine Kettensäge herauszieht und droht, das Baby vor den Augen der Prozessparteien zu zerlegen! Offenbar vertraute Salomo darauf, dass die humanere Frau (ob sie die Mutter war, erfahren wir nie) sich offenbaren würde, während die andere so boshaft war, dass sie die Tötung des Babys vor ihren Augen zulassen würde – und er hatte recht! Aber für den Fall, dass er sich irrte, muss er auch bereit gewesen sein, das Blutbad tatsächlich anzurichten – sonst hätte er seine Glaubwürdigkeit ein für alle Mal verspielt. Die Frauen wiederum müssen geglaubt haben, dass ihr weiser König tatsächlich in der Lage war, den grausigen Mord zu begehen.

Durch unsere moderne Brille gesehen, zeichnet die Bibel eine Welt von atemberaubender Grausamkeit. Menschen versklaven, vergewaltigen und ermorden Angehörige ihrer eigenen Familien. Kriegsherren metzeln Zivilisten einschließlich der Kinder unterschiedslos hin. Frauen werden gekauft, verkauft und gestohlen wie Sexspielzeuge. Und Jahwe foltert und ermordet die Menschen zu Hunderttausenden wegen banalen Ungehorsams oder völlig ohne Grund. Diese Gräueltaten sind weder Einzelfälle noch rätselhaft. An ihnen sind alle Hauptfiguren des Alten Testaments beteiligt, jene Gestalten, die von Kindern in der Sonntagsschule mit Buntstiften gemalt werden, und sie sind Teil eines Handlungsstranges, der sich über Jahrtausende erstreckt: von Adam und Eva über Noah, die Patriarchen, Moses, Josua, die Richter, Saul und David bis zu Salomo und darüber hinaus. Nach Angaben des Bibelforschers Raymond Schwager enthält die hebräische Bibel »mehr als 600 Passagen, in denen ausdrücklich davon die Rede ist, wie Nationen, Könige oder Einzelpersonen andere angreifen, zerstören und ermorden … Neben den ungefähr 1000 Versen, in denen Jahwe selbst als unmittelbarer Vollstrecker gewalttätiger Bestrafungen auftritt, und den vielen Texten, in denen der Herr den Verbrechern ans Messer liefert, erteilt Jahwe an mehr als 100 Stellen ausdrücklich den Befehl, Menschen zu töten.«[26] Matthew White, der sich selbst als Gräueltaten-Forscher bezeichnet und eine Datenbank mit den geschätzten Opferzahlen der wichtigsten Kriege, Massaker und Völkermorde der Geschichte unterhält, zählt bei den Massenmorden, für die in der Bibel ausdrücklich Zahlen genannt werden, rund 1,2 Millionen Opfer (wobei er die halbe Million Opfer in dem Krieg zwischen Juda und Israel, der in 2. Chronik 13 beschrieben wird, nicht mitzählt, weil er die Zahlenangaben für historisch nicht plausibel hält). Die Opfer der Sintflut summieren sich insgesamt zu weiteren rund 20 Millionen.[27]

Die gute Nachricht lautet natürlich: Das meiste davon hat in Wirklichkeit nie stattgefunden. Es gibt nicht nur keinerlei Beleg dafür, dass Jahwe den Planeten überschwemmte und seine Städte anzündete, sondern auch die Patriarchen, der Auszug aus Ägypten, die Eroberung und das jüdische Reich sind mit ziemlicher Sicherheit Fiktionen. Historiker haben in ägyptischen Schriften keinen Hinweis auf den Abmarsch von einer Million Sklaven entdeckt (was ihrer Aufmerksamkeit kaum hätte entgehen können), und ebenso haben Archäologen in den Ruinen Jerichos oder seiner Nachbarstädte keine Indizien für eine Eroberung um 1200 v.u.Z. gefunden. Und wenn es zu Beginn des 1. Jahrtausends v.u.Z. ein Reich Davids gab, das sich vom Euphrat bis zum Roten Meer erstreckte, so ist es offenbar zu jener Zeit sonst niemandem aufgefallen.[28]

Moderne Bibelforscher haben nachgewiesen, dass die Bibel ein Wiki ist. Sie wurde im Laufe eines halben Jahrtausends von Autoren zusammengestellt, die sich unterschiedlicher Stile, Dialekte, Personennamen und Gottesbegriffe bedienten, und anschließend wurde sie einem chaotischen Redaktionsprozess unterworfen, der viele Widersprüche, Doppelungen und unlogische Folgerungen hinterließ.

Die ältesten Teile der hebräischen Bibel entstanden wahrscheinlich im 10. Jahrhundert v.u.Z. Sie enthielten Entstehungsmythen für die Stämme und Ruinen der Region sowie gesetzliche Vorschriften, die aus Nachbarkulturen im Nahen Osten übernommen wurden. Die Texte dienten vermutlich als Gesetzeswerk für die einfache Justiz der eisenzeitlichen Stämme, die Viehherden hielten und auf den Hügelterrassen am südöstlichen Rand Kanaans Ackerbau betrieben. Die Stämme sickerten in Täler und Städte ein, plünderten hier und da oder zerstörten sogar die eine oder andere Stadt. Schließlich übernahm die gesamte Bevölkerung Kanaans ihre Mythologie, die sie mit einer gemeinsamen Abstammung und einer glorreichen Geschichte ausstattete. Ein System von Tabus hielt sie davon ab, zu fremden Völkern überzulaufen, und ein unsichtbarer Herrscher hielt sie davon ab, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Ein erster Entwurf wurde zwischen Ende des 7. und Mitte des 6. Jahrhunderts v.u.Z. mit einer zusammenhängenden historischen Erzählung abgerundet; damals eroberten die Babylonier das Königreich Juda und zwangen seine Bewohner, ins Exil zu gehen. Die letzte Fassung wurde im 5. Jahrhundert v.u.Z., nach ihrer Rückkehr nach Juda, fertiggestellt.