Das unendlich komplizierte Leben der Leiche Ötzi - Gernot Werner Gruber - E-Book

Das unendlich komplizierte Leben der Leiche Ötzi E-Book

Gernot Werner Gruber

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Beschreibung

Ötzi mag Nutella. Dimitri mag Wodka. Und der Pathologe hätte gerne seine Ruhe. Kann man Ötzi zum Leben erwecken? Man kann! Einem pensionierten Pathologen und seinem Freund Dimitri, einem russischen Molekularbiologen, gelingt das Experiment. Sie stehlen die Mumie aus dem Museum, betäuben und entführen einen Polizisten, bauen einen Berggasthof zum Labor um und machen sich an die Arbeit. Doch was dann geschieht, kann niemand vorhersehen. Ein Trip quer durch Südtirol, ein Fall für die internationalen Geheimdienste, ein Hoch auf den Nudismus.

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Gernot Werner Gruber

REANIMO

Das unendlich komplizierte Leben der Leiche Ötzi

Band 1

Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Südtiroler Landesregierung

Edition Raetia, Bozen 2017

1. Auflage

ISBN 978-88-7283-606-4

ISBN E-Book 978-88-7283-619-4

Grafisches Konzept: Typoplus

Druckvorstufe: Typoplus

Lektorat: Verena Zankl

Korrektur: Ursula Schötzig

Foto Autor: Erico Boldrer

Coverfotos: Foto Postkarte Ötzi-Rekonstruktion: Rekonstruktion by Kennis © Südtiroler Archäologiemuseum/Augustin Ochsenreiter. Foto Postkarte Drei Zinnen: Eva Simeaner. Foto Kalaschnikow: Singulyarra/Shutterstock.com. Foto Roter Stern: Erik Svoboda / Shutterstock.com. Foto Smiley Magnet: Imagine Photographer / Shutterstock.com. Foto Kühlschrank: patpitchaya / Shutterstock.com. Foto Fotorahmen: Kindlena / Shutterstock.com. Foto Zeitungsschnipsel: rzarek / Shutterstock.com

Anregungen an [email protected]

Unser gesamtes Programm finden Sie unter www.raetia.com

La cosa più seria della vita è la morte. Ma non più di tanto. Die ernsteste Sache im Leben ist der Tod. Aber auch nicht besonders.

Italienisches Sprichwort

Zum Buch:

Ötzi mag Nutella.

Dimitri mag Wodka.

Und der Pathologe hätte gerne seine Ruhe.

Kann man Ötzi zum Leben erwecken? Man kann! Einem pensionierten Pathologen und seinem Freund Dimitri, einem russischen Molekularbiologen, gelingt das Experiment. Sie stehlen die Mumie aus dem Museum, betäuben und entführen einen Polizisten, bauen einen Berggasthof zum Labor um und machen sich an die Arbeit. Doch was dann geschieht, kann niemand vorhersehen.

Ein Trip quer durch Südtirol, ein Fall für die internationalen Geheimdienste, ein Hoch auf den Nudismus.

Zum Autor:

Gernot Werner Gruber, geboren 1969 in Südtirol. Studium der Politikwissenschaft. Kommunikation und Marketing sind sein Tagesgeschäft, das Faszinationsgebiet Storytelling schließt den Kreis zur privaten Kreativität.

„Das unendlich komplizierte Leben der Leiche Ötzi“ ist sein erster Roman und Band 1 der geplanten Trilogie „Reanimo“ zum Mann aus dem Eis.

Prolog

Es kommt vor, dass man im Schlaf sich dem Tod nahefühlt. Und mit dem Tod kannte er sich aus. Das war sein Thema, ein Leben lang. Nicht aber er selbst, sondern seine Patienten, die er Klienten nannte, hatten darin Erfahrung. Die Kollegen bezeichneten sie als UO samt Nummer. UO stand für Untersuchungsobjekt, was allerdings zu lang war für die kleinen Kärtchen am großen Zeh. Zudem brachte das Kürzel eine angenehme Distanz zu den Klienten und, was noch viel wichtiger war: zum Tod. Schließlich waren Pathologen auch nur Menschen.

„Vor allem jetzt im Ruhestand“, dachte er sich, als er gerade wieder aufwachte. Kurz davor war er eingenickt über dem Versuch, seine Memoiren zu schreiben. Was sich als deutlich anstrengender herausstellte als angenommen und ihn regelmäßig zum Fluchen brachte. Bei einer Flasche Lagrein hatte er sich dazu überreden lassen. Er war zu sehr der Korrektheit verpflichtet, immer schon. Sonst wäre er wohl auch nie Chef der Pathologie in einer Provinzhauptstadt geworden. Versprochen ist versprochen.

Für große Memoiren hätte sein Leben eigentlich nicht gereicht. In der Rolle des Leichenbeschauers im öffentlichen Dienst in der Provinz wurde er zwar manches Mal zu lokal aufsehenerregenden Fällen gerufen: Unfälle, Morde oder Leichenfunde, alles jedoch global und gesamtwissenschaftlich betrachtet absoluter Kleinkram, nichts, mit dem man auf internationalen Kongressen glänzen konnte. Wäre da nicht vor zweieinhalb Jahrzehnten ein Urlauberpaar auf einem Gletscher vom Weg abgekommen und hätte damit sein zukünftiges UO 1228 beim Auftauen gestört. Durch diesen Fund war der Pathologe im letzten Karrieredrittel zum Mumienexperten wider Willen geworden. Darüber konnte er immer noch nur den Kopf schütteln.

Nach einigen Wochen der Auseinandersetzungen wegen der Staatsangehörigkeit einer Leiche, die aus einer Zeit stammte, in der es noch keine Staaten gab, hatten einige Meter Steine, Schnee und Eis den Lebensweg des Pathologen geändert.

Für die moderne Weltordnung und die lokale Verwaltung hieß es zunächst abzuklären, warum der Tote so tot war und nicht ordnungsgemäß verwest in einem Friedhof. Hinzu kamen die meldeamtlich absolut notwendigen Merkmale wie: „Seit wann?“ und die primäre Katalogisierungs-Frage: „Wer ist das überhaupt?“ Die Frage nach dem Todeszeitpunkt war dank moderner Technik am einfachsten zu klären. Er lag über 5300 Jahre zurück. Das wiederum machte aber zusätzliche Feststellungsnotwendigkeiten schwieriger. Sämtliche Fragen rund um die Leiche beflügelten nicht nur die Medienfantasien rund um den Globus, sondern sämtliche Wissenschaftszweige der Archäologie, der Medizin und aller verwandten Hilfswissenschaften. Mit der Zeit war die Sache auch für den Pathologen zu einer Passion geworden.

Und bei der Pensionierungsfeier schüttelte er einige Hände mit viel Freude zum hoffentlich letzten Mal. Schleimige Kollegen, noch schleimigere Lokalpolitiker sowie eine Armee an unfähigen Managern des Krankenhauses, sie alle ließen ihn kalt. Der tägliche Blick in das Antlitz des Todes in all seinen Formen hatte ihn abgebrüht. Nur in dem Moment, in dem er sich in die Hightech-Kühlzelle des extra für den Mann aus dem Eis adaptierten Museums begab, um sich von der Mumie zu verabschieden, gönnte er sich zwei Tränchen. Er wurde wehmütig. Für einen Moment war ihm, als hätte sie mit beiden Armen nach ihm gegriffen. Der Abschied schmerzte ihn.

Und nun das Schreiben der Memoiren. Das hatte natürlich zur Folge, dass er sich erneut jede Nacht den Kopf zermarterte: „Haben wir alle Fragen geklärt? Gibt es etwas, das wir ganz zu Beginn hätten machen sollen und das den Lauf der Dinge verändert hätte? Habe ich in all den Jahren irgendetwas übersehen?“ Wie in Trance trommelte er diese Gedanken durch sein Gehirn. Als wäre es eine Treibjagd nach Erkenntnissen. Viele dunkle Hirnwinkel gab es da nicht mehr, in die er nicht schon unzählige Male hineingeschaut hätte.

Die Fortschritte der Genforschung, die hinzugekommen waren, inklusive der Sache mit den Stammzellen, beschäftigten ihn vor allem in den ersten Wochen und Monaten seines Rentnerlebens, und da er noch äußerst fit für sein Alter war, ging er an den Fundort der Gletscherleiche und nahm Schnee- und Eisproben, systematisch, so lange, bis er Reste einer aktiven Stammzellengruppe fand. Ein Blutstropfen hatte den Weg in eine tiefe Eisschicht gefunden und war dort in einer Vakuumblase schockgefroren. Bei den darauffolgenden Versuchen im Labor hatten nur drei dieser Zellen überlebt. „Nur mehr drei übrig …“, dachte der Pathologe, als sein Handy klingelte.

Dimitri stand auf dem Display. Der Pathologe spürte einen Stich in seiner Leber, als wäre sie vor Schreck zusammengezuckt. Bevor er abhob, stärkte er sich noch rasch mit einem Bissen feinsten Apfelstrudels. Den holte er sich in der täglichen Rentnerroutine vormittags aus der besten Konditorei der beschaulichen Provinzhauptstadt.

„Towarischtsch, Genosse!“, begrüßte er in vollem Stimmvolumen den Anrufer.

„Dobraje utra“, antwortete der Moskauer Molekularbiologe.

Wieder zuckte die Leber des Pathologen, als wollte sie sich hinter den Nieren oder anderen Organen verstecken. Dimitri war ohne Zweifel sein größter Albtraum. Ein Jahrzehnt war es her, seit sich die beiden kennengelernt hatten. Der Pathologe und der Molekularbiologe hatten damals einen interessanten Austausch über die modernsten Konservierungstechniken am Beispiel des Eismannes und des deutlich rezenter verstorbenen Wladimir Iljitsch Uljanow, beide besser bekannt als Ötzi und Lenin. Der Tod des balsamierten Revolutionsführers hatte weder den Pathologen noch den russischen Molekularbiologen besonders traurig gestimmt, aber beide hatten damals schon darüber fantasiert, wie es wäre, wenn sie den Mann aus dem Eis wieder zum Leben erwecken könnten.

Stattdessen hatten sie in der Lobby eines 2-Sterne-Hotels einen anderen aufwendigen Versuch gestartet. Dabei ging es darum, den Verteilungsraum, also das Gesamtkörperwasser beider Herren, auszuloten. Das spontane Untersuchungsdesign sah vor, eine unbekannte Anzahl an 2-cl-Dosierungen eines in der Gegend stark verbreiteten Kartoffeldestillates zu resorbieren. Leider wurde vom Barkeeper, der ebenso spontan am Versuch teilnahm, die Anzahl nicht dokumentiert. Bald waren nur mehr zwei Organe in den nicht mehr aufrecht gegenübersitzenden Körpern aktiv und liefen auf Hochtouren. Sie oxidierten, was das Zeug hielt.

Was den Pathologen damals extrem verwunderte: Am nächsten Tag war Dimitri wieder fit, er steckte all das problemlos weg, und obwohl er deutlich älter war, hatte er die Blut- und Leberwerte eines jungen Mannes, wie er ihm versicherte. Die Erklärung lieferte Dimitri beim fünften alljährlichen Follow-up-Meeting inklusive Versuchsreihe mit dem Kartoffeldestillat. Sein Gesundheitszustand sei der Tatsache geschuldet, dass Dimitri seit über fünfzig Jahren das mit seinem Professor entwickelte Belka-Strelka-Serum einnehme.

Dimitri war noch ein junger Student und mit seinem Professor in das Geheimprojekt Rettet Wostok 2 involviert gewesen. Nachdem drei Jahre zuvor der Weltraumhund Laika in der zweiten Kurve – sprich Erdumrundung – aus den Pfoten gekippt war, musste sich das Sowjetsystem mit allen Mitteln erst wieder neu beweisen.

So kam es, dass der junge Dimitri von seinem Professor zwangsverpflichtet wurde und sich mit ihm gemeinsam eines Nachts nichtsahnend im Institutslabor um neue Methoden zur Destillation samt Direktverkostung kümmerte. Weit nach Mitternacht hämmerte plötzlich jemand an die Tür. Mit einem Schuh. Als der Professor die Tür öffnete und einen ehemaligen Mitschüler desselben Jahrgangs vor sich stehen sah, traute er seinen Augen kaum.

„Nikita? Was machst du hier mitten in der Nacht?“

„Ich brauche deine Hilfe“, sagte der Mann und kam dem jungen Studenten Dimitri irgendwie bekannt vor. Der nächtliche Besucher schien besorgt und begann darüber zu klagen, dass es nur noch drei Wochen bis zum Start der nächsten „behundeten“ Raumfahrtmission sein würden. Ein zweites Desaster mit einem allzu schnell verendenden Köter wäre ein Rückschlag. Dimitri hatte die Politik und deren Zusammenhänge nie wirklich verstanden, daher mochte er auch diesen Lenin nicht, um den er sich später zu kümmern hatte. Aber trotzdem klingelte es nun bei dem jungen Studenten. Während er sich weiterhin um den Überlauf kümmerte, versuchte er unbemerkt dem Gespräch zu folgen, das schlussendlich ins Stocken geriet: Der Professor kratzte sich am Hinterkopf und der Besucher zog sich, am Laborboden sitzend, den rechten Schuh wieder an.

Es waren nicht nur die kleinen Gesten großer Männer, die für diese Ruhe sorgten, sondern auch die pure Ratlosigkeit. Der oberste Funktionär der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken hatte sich den Kern des Problems von seinem Sohn, dem Raumfahrtingenieur Sergej, erklären lassen: Eine Erdumrundung bestehe – so hätten die Ingenieure herausgefunden – aus einer praktisch reinen Kurvenfahrt. Dazu seien aber Vierbeiner nicht idealtypisch geeignet, da immer zwei der vier Beine eine bereits andere Position im Kurvenradius erreichten als die beiden anderen.

Als Nikita Chruschtschow die Problemlage in groben Zügen ausgeführt hatte, brauchte der Professor einen frisch destillierten Wodka. Also tranken die beiden ein erstes Gläschen auf den traurigen Zustand des hiesigen Ingenieurwesens und die Unfähigkeit, das Kurvenschlingern einer Raumkapsel in den Griff zu bekommen, sowie die Erkenntnis, dass die Erde rund sei. Ein weiteres Gläschen tranken sie auf die Tatsache, dass der Kapitalismus wohl unweigerlich auf Dauer die Nase vorne haben würde. Beim dritten Glas widmeten sich die Herren der Frage, was denn nun am molekularbiologischen Institut um Weltalls willen machbar sei. Das vierte Gläschen sorgte für den entsprechenden Mut bei Chruschtschow, seine einfache Vorstellung der Dinge darzulegen: „Ihr müsst den Tieren was spritzen, damit sie, falls sie sterben sollten, zumindest nicht tot scheinen. Damit sie sich trotzdem bewegen, vielleicht mit dem Schwanz wedeln? Aber auf keinen Fall tot aussehen. Wenigstens für die Kamera.“

Es folgten drei Wochen intensiven Forschens im engsten Kreis, nur der Professor und sein Handlanger beim Schnapsbrennen. Da die Sache tunlichst nicht an die Öffentlichkeit und schon gar nicht an die Ohren ausländischer Geheimdienste gelangen sollte, war das Labor nach der freundlichen Verabschiedung Chruschtschows zum KGB-Sperrgebiet erklärt worden. Dimitri und sein Professor ernährten sich bis auf Weiteres von Trockenfrüchten und Flüssignahrung aus dem Destillationsapparat. Gleich daneben bauten sie eine ähnliche Anlage, mit der sie ein Serum herstellten, das später die Hunde – obwohl phasenweise klinisch tot – quietschfidel aussehen ließ.

Da Chruschtschow mit dem Ergebnis äußerst zufrieden war, wurden noch einige Tausend Liter des Serums für das sportmedizinische Institut produziert, als Ausgleich für die Höchstleistungssubstanzen, die man dort herstellte und die einen beschleunigten Alterungsprozess auslösten. Dimitri schaffte sich bei der Gelegenheit einige Kanister beiseite, die er immer noch verwahrte und aus denen er seit damals täglich einen herzhaften Schluck zu sich nahm.

Leider hatte die hohe Geheimhaltungsstufe dazu geführt, dass keinerlei Dokumentation, auch keine Rezeptur der erfolgreichen Substanz angelegt wurde. Auch die beiden Wissenschaftler konnten sich aus irgendeinem Grund nicht mehr daran erinnern. Über den drei Wochen hing ein Schleier aus Kartoffeldestillat.

Und nun war er am Telefon, dieser Dimitri, und sprach mit dem Pathologen. Da Dimitri eine ausschweifende Art in der Kommunikation pflegte, genehmigte sich der pensionierte Pathologe noch ein Stückchen Apfelstrudel.

„Der Reddin hat endlich entdeckt das Molekuhlgen“, kam Dimitri zum entscheidenden Punkt des Anrufs, „… es steckt in Strudelwurmern.“

Dem Pathologen blieb der Bissen im Hals stecken. Er blickte auf den Apfelstrudel vor sich und legte die Gabel beiseite. Als er sich des Mundinhalts in einer Serviette entledigt hatte, konnte er dem ungeduldigen Russen endlich antworten: „Strudelwürmer?“

Das war das Stichwort, auf das Dimitri gewartet hatte, um loszudozieren. „Strudelwurmer haben multipotente Stammzehlen. Das bedeutet, die Stammzehlen des erwachsenen Strudelwurms haben Fähigkeit: alle Zehlarten ihres Körpers nachzubauen, also zu regenerieren. Und jetzt weiß der Amimann, wie das der Strudelwurm macht. Kann man nachmachen.“

„Das ist schön für die zwei“, antwortete der Pathologe, „für den Amimann und seinen Strudelwurm.“

„Nicht nur fur die zwei“, rief Dimitri in das Telefon, „auch fur uns und fur Kollegä Ottsi.“

„Ich muss aber nicht regeneriert werden“, sagte der Pathologe, schob den Teller mit dem Rest Apfelstrudel von sich weg und griff auf seinen Bauch.

Dimitri wurde laut: „Du doch nicht! Aber Kollegä Ottsi!“

Der Pathologe verstand, nahm sich eine halbe Minute Bedenkzeit und sagte schließlich: „Na dann komm her. Als Erstes müssen wir ihn da rausholen.“

Die Entführung

1Die Logistik

Wieder hatte der Pathologe schlecht geschlafen, was aber in dem Fall von Vorteil war. So war er wenigstens rechtzeitig am Bahnhof. Normalerweise war er bei Zügen unerklärlicherweise immer unpünktlich.

Die halbe Stunde vor dem Eintreffen des Gastes nutzte er, um einen Plan zu schmieden. Und das ging in der Tat sehr langsam voran. Den Kollegen Eismann da rauszukriegen, würde nicht leicht werden. Die lokale Provinzregierung hatte um Ötzi herum nicht nur eine Hightech-Kühlzelle bauen lassen, sondern eine ehemalige Bank in ein komplettes Archäologiemuseum umgewandelt. Verteilt über mehrere Stockwerke und videoüberwacht. Während er sich über die Machbarkeit Sorgen zu machen begann, beobachtete er die Menschen am Bahnsteig und in den Wartesälen.

Kaum hatte er sich auf eine leere Bank niedergelassen, setzte sich auch schon eine eigenartige Gestalt zu ihm. Ein Mann, dessen kinnlanges Toupet im Farbton gar nicht zum Alter seines Gesichts passen wollte, obwohl das wiederum von einer unglaublich großen Sonnenbrille teilweise verdeckt wurde. Die Seitenbügel der Brille waren im selben Azurblau wie sein Jogginganzug aus den späten achtziger Jahren. Mit den rotweißen Streifen an den Außenseiten der Hosen und an den Ärmeln strahlte er den Charme des russischen Militärs … „Dimitri?“

Der Mann neben ihm hielt ihm sofort den Mund zu. „Keine Name in Öffentlichkeit.“

Der Pathologe gab seinem russischen Gast ein Zeichen, dass er verstanden habe. Als dieser seine Hand wieder herunternahm, wollte der Pathologe natürlich sofort wissen, was denn dieser Aufzug solle.

„Tarnung. Haben Illegales vor. So falle ich nicht auf.“

Dem letzten Satz konnte der Pathologe beim besten Willen nicht zustimmen. Er zog es aber vor, sich am heimatlichen Bahnhof auf keine Diskussion einzulassen mit einem fast achtzigjährigen, grundsätzlich eher dogmatischen Ex-Sowjet-Wissenschaftler im Militärsportanzug, mit billigen überdimensionalen Dior-Sonnenbrillen und einer Damenperücke.

„Gut, lass uns gehen“, sagte der Pathologe zum Undercover-Gast. Der war einverstanden und bat um Hilfe beim Gepäck. Der Pathologe blickte auf einen kleinen schweinsledernen Koffer, der für jeden Billigflieger nicht das Mindestmaß erreicht hätte. Als er ihn an sich nehmen wollte, schnappte Dimitri den Koffer und sagte: „Nimm du anderes.“

Etwas verwirrt stand der Pathologe da und musste erkennen, dass er nicht auf einer Bank gesessen hatte, sondern auf einer Metall-Transporttruhe. Dimitris eigentliches Gepäck. Wahrscheinlich aus demselben Armeebestand wie das Sportdress.

„Was um Gottes willen ist da drin?“, versuchte er zu erfahren, als er die Truhe unter größter Anstrengung anzuheben versuchte. Der Richtung Ausgang schlendernde Dimitri unterbrach sein gutgelauntes Pfeifen eines sibirischen Volksliedes mit drei Worten: „Dies und das.“

Eine Viertelstunde später war es dem Pathologen gelungen, die Metallkiste aus dem Bahnhof hinaus und zum Wagen zu schleifen. Völlig außer Atem und mit einem festen Ruck ließ er die Kiste in den Kofferraum fallen. Schlagartig sprang Dimitri in ein nahes Gebüsch. Der Pathologe atmete mehrmals tief durch. Dimitri kam zum Wagen zurück. Er schien erschrocken.

„Du bist verruckt. Kann alles gehen in Luft!“

Der Pathologe drehte seine Augen in Richtung Stirnhöhle und sagte zum Russen, er solle sofort einsteigen. Er startete den Motor und wollte gleichzeitig wissen, was in der Kiste sei. „Ein paar Geräte und Instrumente, die wir brauchen für die Regeneration fur unser altes Freund“, führte er nun deutlich entspannter aus.

„Und was soll da bitte in die Luft gehen?“, bohrte der Pathologe nach.

„Na, passt er auf“, begann Dimitri darzulegen. Auch er hatte einen Plan: „Wenn wir Ottsi da rausholen, ist er weg. Merkt sogar ganz dumme Polizei. Also muss es im Museum eine Gasexplosion geben in Anlage von Kuhlzelle. Arme Wissenschaft. Gletscherleiche für immer verloren. Puff.“

Der Pathologe machte eine Vollbremsung, rund dreißig Meter vor einer grünen Ampel. „Du willst das Archäologiemuseum in die Luft sprengen? Hast du sie nicht mehr alle?“ Der Pathologe war außer sich.

„Hast du besseres Plan? Wenn nicht alle glauben, Leiche zerstört, wird man immer suchen armes Ottsimann.“

Der Pathologe fluchte irgendetwas in halb Italienisch und dem hier üblichen Tiroler Dialekt und fuhr weiter. „Wir tauschen ihn aus!“, knallte er dem für seinen Geschmack etwas zu radikalen Russen hin.

„Tauschen aus?“, entgegnete Dimitri und begann, schallend zu lachen. „Tauschen aus?“, wiederholte er und lachte noch lauter. Sein Lachen ging nun über in ein Hecheln, so als würde er keine Luft mehr bekommen, bis er sich wieder fing und aus der Seitentasche des Jogginganzugs einen Flachmann zog. Er nahm einen herzhaften Schluck daraus und fragte den Pathologen: „Tauschen aus mit einem toten gegrillten Huhnchen?“

Sein Lachen steigerte sich noch mehr. Der Pathologe schüttelte den Kopf und sagte in einer kurzen Atempause des Russen: „Tokio 1999 – Die Mumienausstellung.“

Dimitri unterbrach sein Gelächter, drehte sich zum Pathologen, küsste ihn auf die Wange, hob seinen Flachmann an und sprach einen russischen Trinkspruch auf die „dummen Japaner“. Der Pathologe seinerseits war wenig erfreut über den feuchten Wodkafleck auf seiner Wange. Allerdings war er höchst zufrieden über die Tatsache, dass für die Mumienausstellung Tokio 1999damals die Transport- und Versicherungskosten so hoch gewesen waren, dass man sich entschlossen hatte, ein täuschend echtes Imitat der Gletscherleiche anfertigen zu lassen. Dieses Imitat lag noch im Keller des Archäologiemuseums und ahnte nicht, dass es bald zum Primus Mortem aufsteigen würde, während zwei pensionierte Wissenschaftler mit einer noch nicht abgeklärten Menge an KGB-Spezialsprengstoff im Kofferraum in eine der beschaulichsten Wohnstraßen der Landeshauptstadt einbogen.

„Nimm die Brille und die Perücke ab und verhalte dich still!“, forderte der Pathologe Dimitri auf, als er seinen Nachbarn beim Rasenmähen erblickte. Dimitri parierte entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten sofort. Der Pathologe hatte vorhergesehen, was nun passieren würde. Und das war für jemanden seines Gewerbes etwas Erstaunliches. Er hielt den Wagen vor dem Eingangstor an, stieg aus und schaffte es gar nicht bis an das Gitter, als der Nachbar sich schon über den Gartenzaun gewuchtet hatte und nun vor ihm stand.

„Herr Doktor, Herr Doktor, grüß Gott!“

Dimitri beobachtete die Szenerie vom Beifahrersitz aus.

Er verstand nicht immer alles, aber doch so viel, dass der Nachbar sich vom Pathologen Ratschläge zu seiner Befindlichkeit holte und anfing zu jammern über die Tatsache, dass er trotz seiner Rückenprobleme drei Monate in einem einsamen Berggasthaus nach dem Rechten sehen müsse. Dimitri glaubte, sich verhört zu haben, als der Pathologe dem Nachbarn nun tatsächlich anbot, das für ihn zu übernehmen.

Dimitri brauchte einen ordentlichen Schluck aus dem Flachmann und verlangte sofortige Aufklärung, als der Pathologe sich wieder in den Wagen setzte. Der fuhr mit seinem völlig verdutzten russischen Gast in die Garage und lächelte zufrieden.

Im Haus erzählte er Dimitri vom Sohn des Nachbarn, der im Sommer ein Berggasthaus führe und im Herbst drei Monate im warmen Thailand verbringe. Das Gasthaus sei der ideale Ort für ihr Projekt: abgelegen und mit einer Kühlzelle ausgestattet. Darum habe er dem Nachbarn angeboten, das für ihn zu übernehmen.

Jetzt lächelte auch Dimitri, klopfte dem Pathologen auf die Schulter und sagte, dass er sich um den Nazi kümmern werde. Der Sprengstoff würde sonst ja nicht mehr gebraucht. Die humanistische Bildung und ebensolche Haltung des Pathologen gab ihm die Zuversicht, dass der russische Freund früher oder später alle Feinheiten der deutschen Sprache erlernen würde, um Sprache generell als das einzig gültige Konflikt-Lösungsmittel zu akzeptieren. Und falls nicht, war er ebenso zuversichtlich, dass er sich auf seine in jungen Jahren angeeigneten Judo-Künste verlassen konnte, um ihm die nötige Abreibung zu verpassen.

Nun war aber erst mal Verpflegung angesagt. Dimitri wünschte sich die für die Gegend typischen „Knöllchen“.

„Knödel heißt das“, belehrte ihn der Pathologe und begann das Brot zu schneiden sowie die anderen Zutaten herzurichten. Beim Essen gab es dann noch jede Menge organisatorischer Fragen in Bezug auf das geplante Vorhaben zu klären.

„Brauchen Kuhlung für Transport“, merkte Dimitri mit einem Knödel links in der Backe und einem rechts an. Dann lobte er ausführlich und überschwänglich den Geschmack der Speckknödel, die der Pathologe so liebevoll zubereitet hatte. Als er damit fertig war und mit vollem Genuss Knödel Nummer sieben zu verdrücken begann, warf der Pathologe ein, dass sie sich einen Kühlwagen leihen sollten. „So einen wie diese Lebensmittel-Transportwagen.“

Man einigte sich dann aber, erst am darauffolgenden Tag sich weiter damit zu befassen. Dimitri hatte nach dem Essen ein unerwartetes, aber vordringliches Problem: Das Völlegefühl ließ sich wohl nur mit einem Schlückchen des mitgebrachten Destillats bekämpfen.

Während der Pathologe sich ganz bewusst zur Nachtruhe zurückzog, da ihn seine Leber in Richtung Schlafzimmer zog, setzte sich Dimitri mit einer Doppelliterflasche und dem örtlichen Telefonbuch auf den Balkon. Die Leber des Pathologen war über den erfolgreichen Rückzug so glücklich, dass sie alle angrenzenden Organe im Körper ihres Herrn dazu überredete, diesen just in dieser Nacht den besten Schlaf seit Jahrzehnten schlafen zu lassen.

Allerdings nur bis 5:34 Uhr. Das war der Zeitpunkt, an dem ein Garagentor seinen Halt in der Begrenzungsmauer verlor. Nicht aus eigenem Antrieb, sondern ausgelöst durch einen Zwei-Tonnen-Klein-Kühltransporter eines lokalen Gastronomie-Produkte-Großhändlers, der wiederum ebenfalls mit dieser Sache nichts zu tun hatte. Nur insoweit, als dass ein sich derzeit im Lande verweilender Russe unter „Ausleihen“ ein nicht durch den Eigentümer autorisiertes, einstweiliges Verwenden verstand und dass der Gastronomie-Produkte-Großhändler das Pech hatte, an oberster Stelle im hiesigen Telefonbuch zu stehen.

Nachdem also die Nacht ihre Ruhe und das Gartentor seinen Halt verloren hatten, war nun der Pathologe an der Reihe, seine Fassung zu verlieren. Was aber nichts half, da der Adressat seiner Schimpftirade, kurz nachdem er den Lkw im Garten zum Halten gebracht hatte, am Steuer eingeschlafen war. Die am Beifahrersitz angeschnallte Doppelliterflasche war leer. Ansonsten hätte sich in diesem Moment der Pathologe, trotz Protests seiner Leber, liebend gern einen kräftigen Schluck gegönnt.

2Die Befreiung

So verliefen einige Tage ohne große Schwierigkeiten, was der Tatsache geschuldet war, dass Dimitri der Kopf brummte und er sich zudem ruhig verhielt, weil sein gastgebender Pathologe versprochen hatte, ihm genau diesen Schädel abzureißen, falls er es wagen würde, einen weiteren Alleingang zu starten.

Die Tage waren gefüllt mit ausgiebigen Besuchen des Archäologiemuseums und akribischen Beobachtungen der Abläufe. Nach drei Tagen waren sich der pensionierte Pathologe und der ebenso pensionierte russische Molekularbiologe einig: Es war so weit.

Also machten sich am darauffolgenden Tag zwei Herren, rund eine Stunde, bevor das Museum schloss, auf den Weg. In Hawaiihemden, kurzen beigefarbenen Hosen, weißen Socken, Sandalen, Schirmmützen und überraschend dezenten Sonnenbrillen begannen sie ihre erste und vermeintlich letzte Entführung.

Dimitri ging etwas gebückt an diesem Tag. Grund dafür war sein Brustbeutel, den er mit einer Reihe überlebenswichtiger Utensilien gefüllt hatte, allesamt Leihgaben seines Vetters dritten Grades, Vladimir, der früher beim KGB diente und jetzt in der Politik tätig war.

Die Tarnung als Touristen hielt der Eingangskontrolle stand. Jetzt musste es aber auch gelingen, unbemerkt in den Keller zu gelangen, um dort bis zur Schließung des Museums und zum Einbruch der Dunkelheit zu warten. Zunächst tippelten beide Herren im Touristenoutfit eine gute Viertelstunde vor der Kellertreppe auf der Stelle, bis eine freundliche Ausstellungsbetreuerin die beiden fürsorglich, aber bestimmt dazu aufforderte weiterzugehen. Ein Aufenthalt von Besuchern genau an dieser Stelle war offensichtlich weder im Museumskonzept noch in der Aufgabenstellung der Dame im schwarzen Outfit vorgesehen. Dimitri versuchte den keinerlei Fremdsprachen mächtigen Osteuropäer zu mimen, was jedoch die Ordnungskraft ganz und gar nicht beeindruckte, sondern ihre Anweisungen eher vehementer machte.

Da die Herren erst nach weiterem Drängen Folge leisteten, entschied sich die Ordnungskraft – motiviert durch ein diffuses Gefühl – kurzerhand, am Zugang zum Keller einen Beobachtungsposten zu beziehen. Und zwar für die verbleibenden dreißig Minuten der Öffnungszeit.

Das hatte natürlich Folgen für die Rentnerbande mit zwei Mitgliedern. Es brauchte einen sofortigen Plan B. Diese Erkenntnis stand beiden ins Gesicht geschrieben, als sie sich, die Dame beobachtend, gegenseitig „Scheiße“ und das russische Pendant „Говно′