Die unglaubliche Reise des Bruder Luh, früher bekannt als Ötzi - Gernot Werner Gruber - E-Book

Die unglaubliche Reise des Bruder Luh, früher bekannt als Ötzi E-Book

Gernot Werner Gruber

0,0

Beschreibung

Band 2 der turbulenten Komödie rund um die berühmteste Gletschermumie der Welt: Das sympathische Männerquartett Ötzi, Charly, Dimitri und der Pathologe sind wieder unterwegs, sorgen für allerlei Missverständnisse, tappen in Fettnäpfchen und unterhalten mit komischen Dialogen. Eine witzige Screwballkomödie mit Ötzi als charismatischen Anführer.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 216

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Ötzi hat einen heiligen Auftrag.

Dimitri schwört noch immer auf Wodka.

Und der Brite hat sich verliebt.

Ötzi und Charly Weger sind wieder auf den Straßen unterwegs. Sie treffen auf ihrem wilden Trip eine Motorradgang, einen bekannten Südtiroler Bergsteiger und einen ehemaligen Regierungschef. Außerdem kreuzen sie ständig den Weg von unbekannten Geheimdienstlern. Der Pathologe und Dimitri hingegen wollen die beiden finden. Gott sei Dank haben die zwei Verfolger ihre Geheimwaffen dabei: Wodka und die stets bereite Kalaschnikow.

Zum Autor

Gernot Werner Gruber, geboren 1969 in Südtirol, überzeugter Eisschwimmer und Winterbader. Studium der Politikwissenschaft.

Kommunikation und Marketing sind sein Tagesgeschäft, das Faszinationsgebiet Storytelling schließt den Kreis zur privaten Kreativität. „Die unglaubliche Reise des Bruder Luh, früher bekannt als Ötzi“ (Reanimo) ist sein zweiter Roman und Band 2 der geplanten Trilogie zum Mann aus dem Eis.

Gernot Werner Gruber

REANIMO

Die unglaubliche Reise des Bruder Luh,früher bekannt als Ötzi

Band 2

Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Südtiroler Landesregierung

Bereits erschienen:

Reanimo | Band 1: Das unendlich komplizierte Leben der Leiche Ötzi

Edition Raetia, Bozen 2018

1. Auflage

ISBN 978-88-7283-620-0

ISBN E-Book 978-88-7283-644-6

Grafisches Konzept: Typoplus

Druckvorstufe: Typoplus

Coverfotos: Foto Schwein: Anatolii / Fotolia; Foto Koffer: Talaj / Fotolia; Foto Roter Stern: Erik Svoboda / shutterstock.com

Lektorat: Melanie Knünz

Korrektur: Helene Dorner

Anregungen an [email protected]

Unser gesamtes Programm finden Sie unter www.raetia.com

Autorenwebseite: www.gernotwernergruber.com

„Wer lebt, sieht viel. Wer reist, sieht mehr.“

Arabisches Sprichwort

Inhalt

Teil 1: Das Alpha

1 Bruder Luh

2 Charly Wegers Gedächtnisstütze

Teil 2: Die Wege der Herren – De dominorum viis

3 Globale Positionen

4 Richtung Zivilisation

5 Der halbe Erdumfang

6 Make it great again

7 Die letzten Meilen

8 Die schamanische Reise

9 Die Überfahrt

10 Der Aufmarsch

11 Die Aufmerksamen

12 Die Exkommunikation

13 Die Exekution

14 Verwirrende Spuren

15 Verschlungene Wege

Teil 3: Unio mystica

16 Die Wiedervereinigung

17 Private Ermittler

18 Hunger und Gier

19 Freundschaft und Zweifel

20 Das Wunder

21 Die bescheidene Lage

22 Freundliche Helfer

23 Der Kreuzzug

24 Verzweifelte Dienste

25 Das Treffen

Teil 4: Das Omega

26 Die apokalyptischen Reiter

27 Der Zugriff

28 Die Audienz

29 Die frohe Botschaft

30 Die Reise nach Jerusalem

31 Das letzte Mal

32 Die Wut des Bruder Karl

33 Epilog

Die handelnden Personen:

Luh / Bruder Luh / Luh An: die ehemalige berühmte Gletscherleiche Ötzi, jetzt wiederbelebt und mit mächtig viel Charisma und Wissen unterwegs. Liebt Nutella.

Charly Weger: ein ehemaliger Bozner Stadtpolizist. Er kann sich nicht mehr genau an sein Leben vor dem Band 1 erinnern, aber er ist der größte Fan und Freund von Luh.

Dimitri: russischer Molekularbiologe, gemeinsam mit dem Pathologen hat er Ötzi wiederbelebt, schwört auf Wodka in jeder Lebenssituation. Hat eine wilde Vergangenheit als Agent und Rotarmist.

Der Pathologe: ehemaliger Leibarzt von Ötzi, gemeinsam mit Dimitri hat er Ötzi wiederbelebt, hätte gerne seine Ruhe, aber das kann er vergessen, denn er fühlt sich natürlich verantwortlich für seinen Eismann.

Die Direktorin des Museums für Archäologie hat durch die Wiederbelebung des Ötzi natürlich heftige Mangelerscheinungen, weil ihr das zentrale Ausstellungsobjekt fehlt. Sie kompensiert es mit einer Sinnsuche und einer konkreten Suche nach der Gletscherleiche, die ihr immer wieder entwischt.

Die Kommissarin Gambalunga war für die Aufklärung des Diebstahls der Exponate im Museum für Archäologie zuständig und geriet in Band 1 zwischen die Medien- und Geheimdienstfronten, was ihr einen nicht unwesentlichen Karriereknick versetzte.

Der Journalist glaubt, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als das, was uns die Mächtigen da vorgaukeln, und er dazu berufen ist, dieses ans Licht zu bringen. Um jeden Preis.

Teil 1:

Das Alpha

1 Bruder Luh

„Du hast das Ave-Maria heute wieder wunderbar gesungen, Bruder Karl“, sagte der Abt süßlich. Charly Weger hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass man ihn hier im Kloster bei seinem Taufnamen rief. Das war zuletzt in der Pflichtschule so gewesen. Was wiederum viel zu lange her war, um sich zu erinnern. Gerade bei jemandem wie Charly Weger, der es seit einiger Zeit ganz und gar nicht mehr so recht mit dem Erinnern hatte. Aber der Freund an seiner Seite, den alle Bruder Luh An nannten, half ihm auch dieses Mal.

„Schönes Ave“, sagte sein Kumpan und klopfte ihm zwischen die Beine.

Charly Weger stoppte seinen Löffel kurz vor dem Mund, schluckte langsam und murmelte gelangweilt ein „Des Herrn Dank ist das spärliche Brot des armen Mannes“ in die Runde. Seine Worte zauberten den bärtigen Patres an der langen Tafel ein Lächeln ins Gesicht. Zu mehr Ablenkung von der Ursuppe war Charly im Moment aber nicht bereit.

„Ihr seid heute genau ein halbes Jahr bei uns!“ Der Abt gab nicht auf. Er wollte die beiden Klosterbrüder, die aus der Menge der übrigen Klosterbrüder durch das Fehlen eines Bartes herausstachen, in ein Gespräch verwickeln.

„Auch wenn man die Zeit halbiert, vergeht sie trotzdem“, sagte Charly Wegers Freund. Niemand ahnte, welch stolzes Alter er und seine Weisheiten in sich trugen.

5.300 Jahre war ein unglaubliches Alter und eine imposante Zahl. Fast genauso viele Sprüche und Aphorismen hatten die Mitbrüder in den letzten Monaten aufgeschrieben. Die Sprüche waren im Klosteralltag willkommen, um die monotonen Wiederholungen der schon zu oft gehörten Bibelverse durch völlig neue Perspektiven zu unterbrechen.

Darüber, dass Bruder Luh freiwillig den Kochdienst übernommen hatte, weil er die Speisen von Bruder Wilfried so gar nicht mochte, waren die anderen ordentlichen Ordensbrüder unendlich seelenfroh. Das lag nicht nur daran, dass Bruder Luh eine kleine, leise Revolution angezettelt hatte, die damit endete, dass der Abt eine Festanstellung als Abräumer, Abwäscher und Küchenputzfrau erhielt, sondern wohl auch an der täglichen Vorspeise. Die Ursuppe hatte es in sich. Bei den Zutaten vertraute Luh An, die ehemalige Gletscherleiche, auf jahrtausendealtes Wissen.

Da war zunächst die Prunkrinde, die er zwischen zwei Steinen zermalmte und in die Suppe gab. Hinzu kam ein dunkler Saft von einer Konsistenz, wie man sie heute von altem Balsamico kennt. Der Sirup bestand aber aus Katzenminze, Eibennadeln, Wermut, Beifuß und Engelswurz. Besenginster und Schlafmohn machten die Suppe zu etwas Besonderem. Zu guter Letzt rührte Luh noch Stinklattich hinein und würzte mit Muskat und Habichtskraut. Es war eine Fülle an halluzinogener Botanik, die er mit seinem Gehilfen in den Wäldern rund um das Kloster sammelte. Charly Weger war sehr talentiert, um Luh An beim Aufspüren zu helfen. Das müsse wohl daher kommen, dass er früher schon beruflich einmal irgendetwas mit Schnüffeln gemacht hatte, war Charly überzeugt. „Was genau, weiß der …“, grummelte er vor sich.

Luh wollte wissen wer.

„So ein Dingstier zum Fliegen …“, erwiderte Charly. „Weiß der Geier, wie das heißt!“

Luh runzelte die Stirn und führte die Suche nach den Pflanzen für die Ursuppe fort. Denn die Jahreszeit war gut für die Spezialzutat. Und nach der schnüffelte Charly Weger in der Tat wie eine Trüffelsau. In kurzer Zeit fand er ausreichend Glücksbringerpilze. Luh An war hochzufrieden. Aber selbst ohne Spezialzutat herrschte in den Nachmittagsstunden im Kloster immer eine wunderbare Stimmung wie seit Jahrhunderten nicht mehr.

Bruder Luh war ein Meister der Bibelinterpretation, obwohl er dieses Schriftstück anfangs gar nicht kannte. Es war einfach zu neu. Nicht aus seiner Zeit. Die Bibelnachmittage liefen immer nach einem ähnlichen Muster ab. Wenn der letzte Bruder seinen Löffel niederlegte und der Abt mit dem Abräumen begann, legte Bruder Leonhard Bruder Luh die Bibel hin. Charly Weger grinste derweil mit den anderen um die Wette, wegen der Erkenntnis, dass der Abt wohl vom Abräumen komme.

Der jetzige Mönch Bruder Luh – und der im vorigen Leben als Gletscherleiche sehr berühmte Mann – öffnete das Buch der Bücher nach dem Zufallsprinzip. Er las einen oder zwei Verse und erklärte dann seinen Mitbrüdern, wie er die Dinge sah. Meist sehr praktisch, ohne viel philosophischen Schnickschnack auf den Punkt gebracht. Seine Weisheiten, die er ein paarmal wiederholte, wurden dann zu einem Mantra, das die Patres zunächst in den Bann zog. Dann in einen Sog und immer weiter hinein in eine innere Zufriedenheit, die ihre Augen nicht mehr in dieselbe Richtung schauen ließen und ihren Atem schwerer machten. Ihr Herzschlag wurde langsamer und schien zu schleichen. Bis schließlich nach kaum einer Viertelstunde ihre Köpfe nach hinten kippten. Ihre Münder öffneten sich, gleichzeitig schlossen sich ihre Augen. So ließen Charly Weger und Luh An die Patres im Speisezimmer an der großen Tafel zurück. Auch der Abt schlief regelmäßig auf die Küchentücher gebettet und zusammengekauert unter der großen Spüle.

Luh An strotzte nach dem Essen nur so vor Kraft und Wissenshunger. Charly Weger hingegen hatte einen unbändigen Drang nach Ordnung. Er räumte dann das ganze Kloster auf und wusch die Wäsche für seine Mitbrüder oder machte sämtlichem Unkraut im Klostergarten den Garaus. Ihre Motivation lag bei beiden wohl an der Tatsache, dass Luh An aus einem Flachmann, den ein russischer Freund ihm beim Klostereintritt übergab, immer einige Tropfen in die Suppenteller gab, die vor Charly Weger und ihm standen. Die Kombination aus Ursuppe und dem russischen Serum hatte eine unglaubliche Wirkung auf die kognitive Fähigkeit der beiden.

Luh An, der Mann aus dem Eis, stillte seinen Heißhunger nach Wissen seit einem halben Jahr in der Bibliothek des Klosters. Er war besonders talentiert im substanzgestützten Hochgeschwindigkeitslesen. Dabei nahm er ein Buch in die Hand, öffnete es und blickte auf einer Doppelseite nach links oben und dann nach rechts unten. Es sah so aus, als würde er nur schnell das Buch durchblättern. Während dieser intensiven Lesenachmittage hat der einstige Mensch aus der Kupferzeit über 3.000 Bücher verschlungen. Das ist sehr viel für jemanden, dessen Beruf die moderne Archäologie noch nicht einwandfrei bestätigen konnte. Die Wissenschaft konnte mit Sicherheit nur sagen, dass er lange Zeit einfach nur eine Gletscherleiche gewesen war. Unter den Werken, die Bruder Luh gelesen hatte, waren Werke von Thomas von Aquin, Pius mit irgendeiner römischen Ziffer, einem italienischen Adeligen namens Franziskus, Karl May, einige Schundromane in Heftform aus einer Burg, aber auch Il Decamerone und die Nibelungensaga. Aber auch das Autonomiestatut von Südtirol, vieles von Castaneda, Jack Berry und Edgar Wallace, die Bedienungsanleitung einer elektrischen Kettensäge, das I Ging, sämtliche Enzykliken aller möglichen Päpste, die Werke von Seneca, Platon und Aristoteles, abwechselnd dazu die 15 kompletten Jahrgänge der Zeitschrift Bravo. Dann war da noch das Tagebuch von Bruder Walter, der 1969 infolge eines LSD-Trips direkt von der Hippie-Kommune an der Côte d’Azur mit einem Citroën Méhari ins Kloster kam. Den Wagen hatte Charly Weger übrigens vor einigen Tagen in der Klosterscheune unter einer zentimeterdicken Staubschicht entdeckt und blitzblank poliert. Der Eismann las währenddessen das Handbuch dazu. Ebenso hatte sich Luh An in jede Menge Sekundärliteratur und Unmengen theologischer Abhandlungen vertieft. Alles, was man in einer Klosterbibliothek halt so fand.

Abends, als die Mitbrüder langsam wieder in die Realität zurückfanden, waren sie stolz auf die rechtschaffen gemeisterte Bibelstunde und die geleistete Putz- und Gartenarbeit. Nicht weniger stolz war natürlich Charly Weger, der in diesen Tagen von der Putzfrau Reinhilde vom Fleck weg geheiratet worden wäre. Es blieb aber keine Zeit für Romantik. Bruder Luh und Bruder Karl machten sich wieder in die Küche auf, wärmten etwas Suppe mit einigen Beilagen auf und beglückten so die ganze Runde erneut. Nach einer kurzen Abendansprache des Gletschermannes kehrte bald Ruhe ein. Für alle außer ihm selbst. Er hatte noch sehr viel zum Lesen und zum Verstehen. Meist blieb er wach bis nach vier Uhr morgens.

An einem Freitag im April um 6:04 Uhr morgens war es dann soweit. Bruder Luh wusste, dass nun der Tag gekommen war. Also bereitete er mit Charly Wegers Hilfe ein sagenhaftes Frühstück für die noch sehr schlaftrunkenen Patres zu. Die waren, einer nach dem anderen, verstört aus ihren Zellen gekrochen, weil Bruder Charly lauthals eine Heavy-Metal-Version von „Halleluja“ durch das Kloster grölte. Irgendwie schien Bruder Charly die entscheidende Entwicklung dieses Tages intuitiv zu spüren, obwohl der Gletschermann seinen treuen Kumpanen nicht darüber eingeweiht hatte, was nun im Anmarsch war.

Das Frühstück wurde in allgemeiner Heiterkeit verbracht, so als würde einer der Klosterinsassen an diesem Tag Geburtstag feiern. Gegen Ende spürten aber alle, dass Bruder Luh dem heutigen Tag mit seiner Aura ein eigenartiges Gewicht verlieh. Langsam wurde die anfängliche Ausgelassenheit von gespannter Erwartung verdrängt. Als man schließlich weder ein Kauen noch ein Schlucken mehr im Raum hörte, stand Bruder Luh, der Eismann, auf und begann zu sprechen:

„Kru war ein Mann, der vor ganz, ganz langer Zeit lebte. Seither sind viele Menschenleben vergangen. Das weiß ich. Auch meine Leben sind zwischenzeitlich vergangen. Sie waren immer so kurz wie ein Furz.“

Diese Formulierung hatte auf die Lachmuskeln von zwei der Anwesenden eine unglaubliche Wirkung: auf Charly Weger und Bruder Walter. Letzterer hatte vor ziemlich genau 48 Jahren an die Klosterpforte „geklopft“. Etwas zu vehement, wie die meisten damaligen Klosterbrüder meinten. Seine berauschte Autofahrt nahm nämlich ein abruptes Ende, als die vordere Stoßstange seines Vehikels auf das verschlossene Tor des Klosters traf. Durch die Trägheit der Masse und die eingeschränkte Reaktionsfähigkeit nach zwei Jahren Hippie-Kommune, gepaart mit der damals fehlenden Minimalausstattung mit Sicherheitsgurten, folgte dem ersten Rums ein weiterer kleinerer. Walter beendete seinen Flug über die nach vorne geklappte Windschutzscheibe mit dem Gesicht am Tor. In Erinnerung daran ahmte sein schneidezahnloses Lächeln heute noch ein offenes Tor nach. Bruder Luhs Reim sorgte bei Bruder Charly und Bruder Walter für einen veritablen Lachkrampf.

Bruder Luh ließ sich dadurch aber nicht irritieren.

„Kru war ein starker Mann. Er baute ein großes Haus. Alle Menschen, die in der Umgebung wohnten, kamen immer wieder zu ihm und priesen ihn für das, was er geschaffen hatte. Kru begann, mit den Menschen zu sprechen. Jeden Tag mehr. Dann bestimmte er, dass die Menschen nur mehr an gewissen Tagen zu ihm kommen konnten, um seinem Werk zu huldigen. Bald begann er, ihnen auch noch andere Regeln aufzuerlegen: Wie sie leben sollten, was sie nicht tun sollten, was schon, wie sie essen sollten, was sie essen sollten. Alles das verkündete er ihnen. Die Menschen begannen, sich danach zu richten. Und dann begann er sogar andere nach diesen Regeln zu richten. Das war Krus Macht. Das Leben der Menschen wurde aber nicht besser, sondern viel schlechter, weil es plötzlich Gut und Böse gab. Vorher gab es nur tun oder nicht tun. Es gab eine Frage: Brauche ich das, um zu leben? Wenn das Nein da war, war es nicht. Machte der Mensch es nicht. Später gab es immer mehr Personen wie Kru. Ihre Macht nennt ihr nun Religion. Ist nicht für die Menschen gemacht.“

Im Raum atmete man nicht mehr. Wäre ein Renaissance-Maler anwesend gewesen, hätte er den Moment wohl festgehalten unter dem Titel „Die zehn verlorenen Brüder“. Nummer 11 hatte noch Tränen in den Augen und begann wieder ein unterdrücktes Lachen, sein lückenhaftes Grinsen verriet ihn aber. Für Walter barg der Moment viele Déjà-vus in sich und erinnerte im Ansatz an den Geruch von Revolution mit einer Prise Gras. Das ließ seine Synapsen Vorfreude auf ein Comeback der lustigen Zeiten zelebrieren. Bruder Nummer 12, Charly Weger, hatte mit seinem Freund Ötzi sowieso schon dermaßen viel erlebt, dass ihn diese Erkenntnis nicht schockte, im Gegenteil, er stand geradezu auf solche Abwechslungen. Mit der Routine hatte er es sowieso nicht. Denn sie setzte voraus, sich an jede Menge Regeln halten zu müssen, und um sich daran halten zu können, müsste man sich erstmal an sie erinnern.

Charly Weger bemerkte den ernsten Blick im Gesicht des Eismannes, den er nicht zu deuten wusste. Gott sei Dank sorgte dieser selbst sofort für Aufklärung:

„All die heiligen Bücher, die nach Kru in der Zeit nach meinem ersten Leben geschrieben wurden, sind seinem Beispiel gefolgt. Mit demselben Ergebnis. Darum muss ich die Menschen von diesem falschen Weg abbringen. Dafür muss ich euch verlassen. Das ist nicht schön, aber notwendig. Charly, wir machen wieder eine Reise.“ Der Abt zitierte die Bibel in Psalm 32, 8–9: „Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst; ich will dich mit meinen Augen leiten. Seid nicht wie Rosse und Maultiere, die ohne Verstand sind.“ Die Brüder blickten ihn mit großen Maultieraugen an.

Charly schlug sofort vor, für die Reise das etwas in die Jahre gekommene Gefährt von Bruder Walter in Betrieb zu nehmen. Bruder Luh stimmte zu. Beide kramten rasch noch ein paar persönliche Dinge zusammen. Ebenso nahmen sie eine bisher ungeöffnete Reisetasche mit, die ihnen der russische Freund Dimitri und ein britischer Freund beim Klostereintritt überlassen hatten. Ihr Freund, der Pathologe, – soweit erinnerte sich der Gletschermann – nannte das Gepäckstück „Notfallkoffer“.

Der Citroën Méhari glänzte wie vor fast 50 Jahren. Der Pförtner wurde mit einem Kanister zur nächstgelegenen Tankstelle geschickt. Da der Tag ein sehr sonniger war, störte es auch nicht, dass das Verdeck des Wagens über die Jahre einigen klostereigenen Nagetieren zum Opfer gefallen war, die damit wohl ihren Nestbau vorantrieben. Alles schien perfekt für einen raschen Aufbruch. Doch anspringen wollte der Wagen nicht. Bruder Walter hatte schon wieder ein Déjà-vu. Diesen Streich spielte ihm die Karre schon damals. Da half nur anschieben. Also bat Walter einige Mitbrüder um Hilfe und gemeinsam schoben sie den Citroën an. Walter spürte aufgrund der spannenden Ereignisse zwar bereits einen zweiten Frühling, allerdings verschalteten sich seine Synapsen aufgrund der in den Endsechziger-Jahren genossenen Substanzen oft falsch oder sprangen ins Leere. Und so vergaß er, dem Chauffeur Charly die wichtige Sache mit der Kupplung und dem zweiten Gang zwecks Inbetriebnahme des Verbrennungsmotors zu erklären.

So wunderten sich Charly und Luh über die angenehm geräuscharme Talfahrt mit dem Vehikel. Als dem sonst eigentlich sehr coolen Eismann die Abfahrt etwas zu rasant wurde, bat er Charly doch langsamer zu fahren. Das gelang diesem aber nur sehr eingeschränkt. Da aber ein stilles Gebet von mehreren Klosterbrüdern, welche zwar aktuell in einer heftigen Glaubenskrise standen, trotzdem sehr hilfreich war, kamen die zwei heil unten im Tal an. Der Méhari rollte schön langsam in einer Wiese vor einer scharfen Rechtskurve aus. Da der Ex-Bruder Luh in Fahrt und Blickrichtung keine Straße mehr entdecken konnte, schaute er sich zur Orientierung um. Dabei entdeckte er am Rücksitz eine dicke handgefertigte Bibel, die der Ordensobere in den Tagen seiner noch bestehenden Klosterführung dem Eismann einmal gezeigt hatte. Sie hatte nur Text auf der ersten Seite.

Charly Weger, der just in dem Moment erkannte, dass in Sachen Steuerung des Wagens nicht mehr allzu viel von ihm erwartet wurde, klärte seinen Passagier auf: „Habe es als Notizbuch verwendet. Damit ich nicht alles vergesse. Habe mich abends immer wieder an etwas erinnert. Ist unsere ganze Geschichte drin. Habe alles aufgeschrieben. Weil du gern liest.“

Bruder Luh lächelte milde und dankbar. Charly Weger war glücklich, wusste er doch, dass es einige Menschen geben würde, die den ersten Band von „REANIMO – Das unendlich komplizierte Leben der Leiche Ötzi“ – nicht gelesen hatten. Auch ihnen konnte er helfen. Der Eismann begann zu lesen.

2 Charly Wegers Gedächtnisstütze

„Eigentlich heiße ich ja Karl-Heinz, aber schon in der Mittelschule nannten mich alle Charly. Das war so in der ersten Klasse, beim zweiten Mal in der ersten Klasse und den anderen zwei Male in der zweiten und dritten Klasse ebenso.

Woher ich das weiß? Ich habe eine Zeit lang ganz viele Briefe von einem Walter Baumeister bekommen. Der war mal Kollege bei der Polizei. Er hat sich zur Aufgabe gemacht, mir zu helfen, mich zu erinnern. Das ist nett von ihm. Obwohl er das eigentlich nur macht, weil er glaubt, mein Leben vorher sei besser gewesen. Ich weiß das nicht, dazu müsste ich mich mehr erinnern. Allerdings glaube ich das nicht. Das wüsste ich doch.

Das ist aber auch nicht wichtig. Aufgeschrieben habe ich das hier ja, um Folgendes zu erzählen:

Also, ich war Automechaniker, aber das war mir nicht genug. Also bin ich zur Stadtpolizei, weil der Staat etwas zu groß war und ich zu klein. Jedenfalls war ich da eines Abends – das hat mir Dimitri erzählt – ich war da im Dienst. Vielleicht sollte ich aber erst erklären, wer Dimitri ist. Er ist ein Russe. Richtiger Russe. Sogar noch ein bisschen aus der Sowjetunion. Dort war er bei der Roten Armee. Ich glaube, die heißen so, weil überall, wo die waren, Blut floss. Dimitri ist aber ein feiner Kerl und war auch nicht lange bei denen, weil sie dann auch die Sowjetunion geschlossen haben. Dann ist er zum KGB oder so. Was die genau machen, weiß niemand. Ist geheim. Ich glaube, nicht einmal Dimitri wusste es. Jedenfalls hat er dann auf den toten Lenin im Kremlhaus aufgepasst. Die haben sogar immer versucht, dass er wie lebendig ausschaut. Jedenfalls, das hat der Dimitri gemacht und sich damit sehr gut ausgekannt, mit toten Zellen und überhaupt mit den Zellen. Deswegen kannte er auch den Pathologen. Der heißt so, weil er sich mit den Extremfällen der Pathologie beschäftigt: den ganz Toten. Die brauchen dann keinen anderen Arzt mehr als den Pathologen. Der weiß dann alles.

Der Dimitri und der Pathologe wussten also, wie man einen toten Kupferzeitmenschen wieder gesund machen kann. Warum hätten sie das nicht tun sollen?

Ich weiß, dass die ganze Welt sich darüber aufgeregt hatte. Ich habe es selbst gesehen. Und von den anderen Dingen hat mir Dimitri oft erzählt. Um das Ganze durchziehen zu können, mussten sie natürlich den Ötzi aus dem Museum holen. Das war dann sowas wie Diebstahl. Aber es war wichtig. Nur ich wusste das nicht und bin den beiden natürlich in die Quere gekommen. War ja auch meine Arbeit, nachts zu schauen, dass nicht irgendwelche Gestalten etwas Nichterlaubtes tun. Dimitri war aber mit seiner Geheimwaffe schneller als ich mit der Pistole. Bin ihm gar nicht böse, weil das hat mir zwei Sachen gebracht. Ich habe mich nicht mehr an den ganzen Stress von vorher erinnert. Alles war irgendwie neu. Und Erinnerungen können ganz schön eine Last sein. Die habe ich nicht mehr. Und das Zweite: Ich habe jetzt den besten Freund aller Zeiten, den Ötzi, Bruder Luh.

Darum schreibe ich jetzt über ihn. Er ist schließlich der Wichtigste unter uns vier oder besser fünf, zählt man den Engländer mit. Der hat aber so einen schwer auszusprechenden Namen, dass wir ihn einfach nur den Briten nennen. Er ist immer super hilfreich, weil er wirklich reich ist. Er hat verstanden, dass es nicht genug ist reich zu sein, sondern dass man auch helfen muss, dann kann man getrost reich sein.

Jedenfalls, zurück zu Ötzi. Der lag da ja mir nichts, dir nichts in seinem Museum und war vorläufig tot. Aber das wollten Dimitri und der Pathologe nicht akzeptieren. Auch weil die Amerikaner kurz davor waren zu verstehen, wie das der Strudelwurm mit der Regeneration macht. Dazu waren diese Stammzellen notwendig. Kann man googeln, wenn man es genau wissen will.

Der Pathologe hatte Stammzellen vom Ötzimordtatort und Dimitri Zellen von dieser anderen Mumie Lenin aus Moskau. Auf einem Berg in einem Gasthaus haben sie zuerst mich und dann den Ötzi wiederbelebt. Obwohl ich nur ein paar Tage schlief und er: ein paar tausend Jahre.

Als er dann endlich wach war, wurde es richtig aufregend mit der Gletscherleiche. Er liebte Schoko-Creme-Aufstrich und kam jeden Tag zum Frühstück. Wir wurden dicke Freunde. Dann aber hat der Ötzi gemerkt, wer er ist. Und plötzlich war da auch ein Journalist, der viele eigenartige Fragen stellte. Da fanden es der Pathologe und Dimitri besser, dass wir uns dünnemachen sollten in dieser Gegend. Die zwei wussten, dass nicht alle Menschen glücklich sind, wenn ein Kupferzeitmensch wieder herumläuft wie damals. Deshalb sind wir losgefahren. Und in dem Hotel, in dem wir unterkamen, wäre alles sehr super gewesen. Wir konnten schwimmen, Party machen und vieles mehr. Aber der Pathologe wurde nervös, weil die vielen Menschen auch die Menschen anlockten, die weniger gut auf uns zu sprechen waren. Das war dann auch so.

Wir wurden von allen möglichen Leuten verfolgt. Dimitri meinte sogar, es seien Geheimdienste dabei gewesen. Einmal hatten wir sogar alle gemeinsam gegen solche Geheimdienstler gekämpft. Die waren in einem weißen Lieferwagen voller Hightech. Aber wir waren schlauer und haben die vier getrennt. Dimitri hat sich um zwei gekümmert, und die ukrainischen Erntehelfer, die Dimitri rekrutiert hatte, nahmen es ebenfalls mit zwei auf. Jedenfalls sind wir da gut weggekommen, aber ich und der Ötzi wurden vom Pathologen, Dimitri und dem Briten getrennt. Ötzi wollte dann auch noch zu dem Ort, an dem er damals gefunden wurde, weil er da das erste Mal umgebracht wurde und sich daran erinnern wollte. Ich habe den Ort sogar gefunden. Dort wurde der Ötzi allerdings furchtbar traurig. Er hat nur mehr geweint. Da habe ich richtig Angst bekommen und wusste nur mehr einen Ausweg. Wir haben kurz zuvor jemanden kennengelernt, der jeden Tag eine Sprechstunde im Fernsehen mit allen möglichen Problemmenschen hat. Da sind wir dann auch hin, weil wir auch ein Problem hatten. Der Leiter der Selbsthilfegruppen war ja auch Südtiroler. Markus hieß der.

Dort im Fernsehen haben uns unsere Freunde dann tatsächlich gesehen und rausgeholt – mit mehreren schwarz angezogenen Muskelhelden und Helikopter, Privatjet und allem Pipapo. Das war zu Beginn echt superig, aber dann mussten wir wieder auf einen Berg in eine geheime Hütte. Leider nicht geheim genug für die Geheimdienste. Die kannten sie nicht als geheim. Dann haben sie uns verfolgt. Zuerst mich, weil ich Ötzis Bogen und Beil hatte. Das war: „reingelegt“. Dann aber ist es leider so gewesen, dass der Ötzi vom Fernsehhelikopter verfolgt wurde. Bis ganz hinauf auf den Gipfel. Dort ist er dann abgestürzt. Wiedermal tot war er danach.