Das unheimliche Herrenhaus - Lynn Messina - E-Book

Das unheimliche Herrenhaus E-Book

Lynn Messina

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Beschreibung

Eigentlich müsste Beatrice Hyde-Clare als frischgebackene Duchess of Kesgrave überglücklich sein. Doch nach der lang herbeigesehnten Hochzeit geht ihr Mann Damien seinen überaus wichtigen Geschäften nach, die herrschaftliche Residenz am Berkeley Square mit ihrer Unzahl an Zimmern ist verwirrend, und jedes Mal, wenn eines der Dienstmädchen sie mit »Euer Durchlaucht« anspricht, zuckt Beatrice zusammen. Am schlimmsten aber ist Mr. Marlow, der einschüchternde Butler, der keine Gelegenheit auslässt, ihr und dem gesamten Personal zu verstehen zu geben, was er von der neuen Hausherrin hält – nämlich gar nichts. So hatte sich Beatrice ihr Leben an der Seite des Dukes eigentlich nicht vorgestellt. Doch gerade, als sie zu verzweifeln beginnt, gibt es einen Lichtblick! Im Nachbarhaus ist der französische Koch Auguste Alphonse Réjane auf furchtbare Art ums Leben gekommen. Und obwohl der herbeigerufene Constabler seinen Tod für einen tragischen Unglücksfall hält, kann Beatrice nicht glauben, dass jemand so unvorsichtig sein könnte, »aus Unachtsamkeit« seinen Kopf zu verlieren. Entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, macht die Duchess of Kesgrave ihre Aufwartung im düsteren Herrenhaus der Familie Mayhew. Denn so verwirrend ihr neues Leben auch ist – wenn es um Mord geht, kennt Beatrice sich aus ...

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Seitenzahl: 531

Veröffentlichungsjahr: 2025

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LYNN MESSINA

Das unheimliche Herrenhaus

LYNN MESSINA

Das unheimliche Herrenhaus

Beatrice Hyde-Clare bringt Licht ins Dunkel

Aus dem Englischen übersetzt von Karl-Heinz Ebnet

INHALT

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Den vielen fantastischen Geschichtsfans und Regency-Autorinnen und Autoren, deren Websites und Blogs dafür sorgen, dass ich mich mit meinen in dieser Zeit spielenden Cozy Crime Novels nicht blamiere – danke!

1

Beatrice Hyde-Clare war nicht gewillt gewesen, die von ihrem Verlobten vorgeschlagene Änderung ihres Ehegelübdes zu akzeptieren; hätte sie allerdings gewusst, dass seine Großmutter darin eine Gelegenheit sah, eine nicht unbeachtliche Gästeschar einzuladen, die das glückliche Ereignis bezeugen sollte, wäre sie seiner Bitte sicher augenblicklich nachgekommen. Ein Gelübde, das man bei seiner Eheschließung ablegte, war bindend, keine Frage, allerdings hätte Beatrice ganz bestimmt Mittel und Wege gefunden, sich solch einem Gelöbnis zu entziehen. Sah dieses doch vor, nicht mehr in Mordfällen zu ermitteln, sollte sich dazu erneut eine Gelegenheit ergeben – was ihr angesichts der jüngsten Leichenflut in ihrem Leben zwar höchst unwahrscheinlich, jedoch nicht unbedingt unmöglich erschien. Ihre Überzeugung, sich jedem Gelübde entziehen zu können, beruhte auf der Tatsache, dass sie während ihrer kurzen Verlobungszeit mit dem Duke of Kesgrave eine wahre Meisterschaft darin entwickelt hatte, rhetorisch überzeugende Argumente vorzubringen. Dabei störte sie es wenig, dass ihre Gedankengänge nicht immer seinen rigorosen Maßstäben der Genauigkeit entsprachen, es reichte ihr vollkommen, wenn sie den ihren genügten.

Leider hatte sie sich so sehr gefreut über Kesgraves Kühnheit, Änderungen in dem anglikanischen Gebetbuch vorzunehmen – und warum sollte er sich diese Freiheit auch nicht erlauben, schließlich konnte das Gebetbuch nur auf eine dreihundertjährige Geschichte zurückblicken, während seine eigene Abstammungslinie ein halbes Jahrtausend umfasste –, dass ihr gar nicht aufgefallen war, dass die Herzoginwitwe an einem Tisch in der Ecke des Salons still vor sich hin gekritzelt und Einladungen geschrieben hatte. Erst als jetzt aus der Eingangshalle das vertraute Geträllere ihrer Tante heranwehte, dessen missbilligende Untertöne nicht zu überhören waren, erkannte sie ihren taktischen Fehler.

»Flora, ich glaube nicht, dass sich Beatrice den heutigen Tag für ihre Hochzeit mit der ausdrücklichen Absicht auserwählt hat, dass du dich von deinem Krankenbett erhebst«, erklärte Vera Hyde-Clare mit gerade so viel Zweifel in der Stimme, um diese Möglichkeit nicht ganz auszuschließen. »Denn ich denke mir, sie ist dir sehr zugetan und würde sich niemals wünschen, dass du einen gravierenden Rückfall erleidest und deiner Gesundheit dauerhaft Schaden zufügst. Dennoch bist du jetzt hier in der Clarges Street, obwohl du nur ein Schatten deiner selbst bist und dich kaum auf den Beinen halten kannst. Ich kann nur auf den ungünstigen Zeitpunkt hinweisen, der wirklich äußerst unglücklich ist. Unnötig zu sagen, dass ich mir wünschen würde, du hättest den Teller mit den verdorbenen Austern nicht gegessen. Aber nachdem du diese unbedachte Entscheidung getroffen hast – und noch dazu eine so ungewöhnliche, denn ich hätte schwören wollen, du würdest solch ein Meeresgetier nicht mögen –, sollte dir gestattet sein, dich von den Folgen angemessen zu erholen, statt an einer Hochzeit teilzunehmen, die doch eigentlich erst in drei Tagen hätte stattfinden sollen. Eine solche Gedankenlosigkeit kann ich nicht billigen. Meine Arme, wie schrecklich blass du bist. Komm, lass dich stützen, damit du auf dem erlesenen Marmorboden der Herzoginwitwe nicht auch noch zusammenbrichst.« Hier hielt sie kurz inne, bevor sie – leiser – fortfuhr: »Wirklich ein ganz erlesener Marmor, und so elegant marmoriert. Ob er wohl aus Italien stammt? Aus Livorno vielleicht? Oder Carrara?«

So ehrlich besorgt Vera auch um die Gesundheit ihrer Tochter war, ihre Ängste konnten sich nicht mit ihrer unwillkürlichen Bewunderung für solcherart Qualität messen. Nachdem Vera die Stimme gesenkt hatte, stellte Beatrice sich vor, wie ihre Tante ehrfürchtig mit dem Finger über den glatten Marmor strich – eine tiefsitzende Reaktion auf die Opulenz dieser Hallen und ein Impuls, den sie ebenso wenig kontrollieren konnte wie den eigenen Herzschlag. Beatrice lächelte amüsiert und sah ihre Tante schon einen Moment an der Himmelspforte kauern, wo sie, überwältigt von deren Pracht und Herrlichkeit, nicht imstande sein würde einzutreten.

Fraglos ein ganz und gar absurdes Bild – Tante Vera, den armen Petrus mit der Frage quälend, von welchem Meeresgrund die Perlen in der himmlischen Pforte wohl stammten, während er im Buch des Lebens nach ihrem Namen suchte –, und ein Bild, das Beatrice zum Lachen brachte. Dann aber wurde sie von Floras Stimme aus ihren Gedanken gerissen, die ihrer Mutter versicherte, sie fühle sich bereits wieder überaus kräftig und wundersam genesen. »Wirklich, ich fühle mich, als wäre ich nie krank gewesen, Mama. Ich kann das nur deiner außergewöhnlichen Pflege zuschreiben. Danke, meine Liebe, dass du dich so fürsorglich um mich gekümmert hast.«

Diese Behauptung entsprach nun überhaupt nicht den Tatsachen. Denn Floras angebliche Magenbeschwerden waren nichts anderes gewesen als eine List, damit sie am Morgen das elterliche Haus am Portman Square 19 unbemerkt hatte verlassen können. Ihr gesamter Plan hatte ja auf dem Kalkül beruht, dass das Unbehagen, das ihre Mutter jeglicher Krankheit entgegenbrachte, diese von ihrem Krankenbett fernhalten würde; eine Mutmaßung, die sich als richtig erweisen sollte, da Vera ihrer Tochter sofort mehrere Stunden ungestörter Bettruhe verordnete. Flora hatte sich bereitwillig in ihre Schlafkammer verbannen lassen, war anschließend in die Kleidung ihres Bruders geschlüpft, durch die Küche aus dem Haus geschlichen und mit einer Mietdroschke zum Strand gefahren. Dort hatte sie sich nicht nur Zugang zu dem Theater verschafft, in dem Beatrice und der Duke den Mord an einem Schauspieler aufzuklären versuchten, sondern sie auch vor einem qualvollen Tod in der pechschwarzen Finsternis des Kellergewölbes errettet.

Dass Kesgrave sich und Beatrice bereits aus den Fesseln befreit hatte und seine Aufmerksamkeit der verschlossenen Kellertür widmen wollte, sobald seine Verlobte mit ihren Dankesbezeugungen zu einem Ende gekommen war, focht Flora nicht weiter an, weshalb sie sich selbst als die heroische Heldin dieser Rettungsaktion betrachtete. Als solche betrat sie nun mit besitzergreifendem Interesse den Salon und versicherte ihrer Mutter, schlimm wäre nur, wenn das Paar ohne das Beisein ihres Schutzengels heiraten würde.

Vera, deren Aversion gegenüber Gebrechen jeder Art so tief in ihrer Seele verankert war, dass sogar sie die Lobpreisung ihrer krankenpflegerischen Fertigkeiten mit Argwohn entgegennahm, starrte bei der Erwähnung des engelhaften Beistands nur verwirrt vor sich hin und sah sich dann im Raum um, ob nicht eventuell noch eine biblische Gestalt, ein Noah vielleicht oder ein Hiob, am Kamin lehnte.

Zum Glück erblickte sie dort nur ihre Nichte, deren übliche Blässe sie daran erinnerte, warum sie überhaupt so verärgert war. Mit brüsker Ungeduld schalt sie Beatrice daher sogleich, dass sie ihr Versprechen, bis zum Ablegen des Ehegelübdes noch eine volle Woche warten zu wollen, einfach so gebrochen hatte. »Ich kann es nicht fassen, Beatrice. Nein, ich fasse es nicht. Wenn du schon entschlossen bist, meinen Rat zu ignorieren, warum dann erst, nachdem wir bei Madame Bélanger waren? Gebietet es nicht der Anstand, dich dem allen zu widersetzen, bevor deinetwillen eine beträchtliche Investition getätigt wurde? Ich finde dein Verhalten ärgerlich, äußerst ärgerlich.«

Da Beatrice dem Erwerb der ungemein verschwenderischen Aussteuer ebenso wenig abgewinnen konnte, hielt sie die Frage für durchaus gerechtfertigt. Unumwunden richtete sie daher den Blick auf Kesgrave, schließlich hatte er die Entscheidung getroffen, von ihrem vereinbarten Zeitplan abzuweichen. Da ihn aber weder Vera Hyde-Clares Anwesenheit noch deren scharfe Missbilligung einschüchtern konnte, erwiderte er nur ungerührt Beatrice' Blick, wobei seine leuchtend blauen Augen vor Entschlossenheit strahlten – ja, er war mehr als gewillt, die Sache jetzt in die Tat umzusetzen. Wie dies aber bewerkstelligt würde – mit einem Mindestmaß an Würde oder unter lautstarkem Genörgel – interessierte ihn nicht, und Beatrice, die wusste, dass sein rationales Denkvermögen sehr gelitten hatte, nachdem sie am Vormittag von einem mordlüsternen Schauspieler mit einer Pistole bedroht worden war, spürte ein seltsames Kribbeln im Bauch, wenn sie an seine unnachgiebigen Absichten auch nur dachte.

Tatsächlich war es viel schlimmer als ein Kribbeln, wie sie jetzt bemerkte. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

Und wie sollte sie auch nicht erröten, wenn sie doch nur allzu gut wusste, was dem Duke durch den Kopf ging? Denn sie teilte ja seine Gedanken, und da sie sich sehr bewusst war, wie wenig sich diese für den Salon der Herzoginwitwe eigneten, wurde ihr unangenehm heiß.

Was war sie doch für ein verkommenes Geschöpf, dass sie sich im Beisein ihrer Familie solchen Gedanken hingab!

Der Fall war in der Tat hoffnungslos, wenn sogar ihr Verdruss über ihre mäkelige Tante nicht den erwartungsvollen Schauer unterdrücken konnte, den die unumstößliche Entschiedenheit des Duke, was die sofortige Hochzeit betraf, bei ihr auslöste.

Sie hatte Angst, dass jeder im Raum ihre ungewöhnliche Röte bemerkte, aber Flora zog die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich, indem sie die Beschwerde ihrer Mutter mit einer schroffen Handbewegung abtat.

»Wir können doch nicht zulassen, dass Beatrice in diesem Lumpengewand Kesgrave heiratet. Sie ist doch kein Aschenputtel, das den Ruß aus unserem Kamin kehrt und in einer Abstellkammer nächtigen muss. Sie ist ein geliebtes Mitglied unserer Familie, und ich weiß, du würdest nie wollen, dass sie in einem mit Stachelbeermarmelade bekleckerten Kleid eine Runde um den Berkeley Square dreht. Einem der Nachbarn könnte das doch auffallen. Immerhin ist das nicht mit dem Riss in meinem Kleid zu vergleichen, der so klein ist, dass ihn noch nicht einmal die Herzoginwitwe bemerken würde.«

Als hätte er ein Eigenleben, flog Tante Veras Zeigefinger zu Floras Lippen, damit diese nicht mehr von Schrecklichkeiten wie Marmeladenflecken oder Rissen in Stoffen sprachen. Obwohl sich die Herzoginwitwe in der Halle befand, wo sie sich mit dem Butler besprach, konnte sich Tante Vera nicht des Eindrucks erwehren, dass das Adlerauge der hohen Adeligen ihr irgendwie über die Schulter spähte und jede Unvollkommenheit ihrer Familie aufspürte. Das Gefühl war ihr nicht unvertraut, da sie in ständiger Sorge lebte, den Ansprüchen der Herzoginwitwe nicht zu genügen – eine Angst, die ihre Tochter regelmäßig dazu nutzte, um in den Besitz einer Garderobe aus dem Haus Madame Bélangers zu kommen.

Oder, wenn schon nicht einer vollständigen Garderobe, so doch wenigstens einiger neuer Kleider der exquisiten Modistin.

Beatrice, die bereits bei mehreren Gelegenheiten Zeugin von Floras taktischen Manövern geworden war, wusste sofort, worauf ihre Cousine abzielte – und musste sich überrascht eingestehen, dass sie mit einem Mal Mitgefühl für Tante Vera empfand, die in ihrer Panik nicht mehr sah, dass das Kleid ihrer Tochter ohne Fehl und Tadel war. Flora selbst verhinderte, dass Beatrice dem seltsamen Impuls nachgab, ihre Tante zu trösten, da sie ungeniert weiterredete und darauf hinwies, dass das glückliche Paar schon jetzt unglaublichen Langmut bewiesen habe, weil es so lange gewartet hatte.

»Statt uns gegenseitig Vorhaltungen zu machen, sollten wir uns für die beiden freuen, Mama«, äußerte sie aufgedreht. »Das Leben ist ein kostbares Geschenk, wir müssen froh sein, dass sie gesund und munter sind, um dieses wunderbare Ereignis begehen zu können, denn niemand weiß, was die Zukunft noch bringen mag. Selbst heute hätte ihnen Schreckliches widerfahren können, hätte nicht eine göttliche Kraft über sie gewacht. Carpe diem, quam minimum credula postero!«

Vera, die nach wie vor ängstlich das Kleid ihrer Tochter auf Unvollkommenheiten hin musterte, atmete scharf ein und rief nach ihrer Kutsche, weil sie meinte, sie müsse auf der Stelle zum Portman Square zurückkehren. »Wir müssen mein liebes Töchterlein in ihr Krankenbett zurückverfrachten, denn sie plappert schon unsinniges Zeug«, sagte sie und warf Beatrice einen wütenden Blick zu. »Ich wusste doch, es ist noch zu früh.«

Der unausgesprochene Vorwurf hing nur kurz im Raum, denn in diesem Augenblick erschien ihr Sohn in Begleitung seines Vaters.

»Es ist nicht nötig, Mama, so viel Staub aufzuwirbeln«, sagte Russell. »Flora spricht nicht wirr, sondern lediglich Latein.«

Obwohl Russell seine Mutter beruhigen wollte, war sie nun noch beunruhigter. Flora – einer Fremdsprache mächtig? Jahrelang war sie über das Unvermögen ihrer Tochter verzweifelt, Französisch zu erlernen. Konnte sich das widerspenstige Kind nicht einmal nur anstrengen! Der subjonctiv war doch nicht so schwer.

Ebenso erstaunt schien Onkel Horace, der seine Tochter überrascht anstarrte, als versuchte er, hinter das Rätsel ihrer plötzlichen Gelehrsamkeit zu kommen. Schließlich sagte er amüsiert und verwundert zugleich:

»Russell hat recht. Die Worte bedeuten: ›Genieße den Tag, und vertraue möglichst wenig auf den folgenden!‹ Sie stammen aus den Oden. Ich muss gestehen, Flora, ich kann mich nicht erinnern, dass Miss Higglestone Horaz auf deinen Stundenplan gesetzt hat. Und dennoch muss es so sein, denn deine Aussprache ist ungewöhnlich gut.«

Flora überkam sichtlich der Stolz bei diesem Kompliment, während Vera die Tugenden ihrer ehemaligen Gouvernante pries, deren Fähigkeiten doch niemals bezweifelt worden seien, auch wenn sie diese höchstpersönlich ein- oder zweimal in Abrede gestellt hatte.

Russell, der es nicht ertrug, dass sich seine Schwester allein im elterlichen Beifall sonnen durfte, zählte schnell die vielen lateinischen Sentenzen auf, die er während seiner kurzen, aber herausragenden Karriere in Oxford gelernt hatte, aus der Georgica, den Eclogae, der Aeneis.

Er hatte kaum Vergils Werke genannt, als die Tür aufflog und die Countess of Abercrombie, eingehüllt in eine süßlich duftende Parfümwolke, in den Raum rauschte.

»Ach, meine Liebe«, entfuhr es ihr in ihrem Gefühlsüberschwang, als sie Beatrice am Kamin neben Kesgrave entdeckte. »Sie sind doch die allerschönste Braut.« Mit einem tiefen Seufzer betupfte sie sich die Augen, die vielleicht oder vielleicht auch nicht mit Tränen benetzt waren. Dann durchquerte sie den Raum, bis sie nur noch wenige Zentimeter vor Beatrice stand, schlang sanft die Arme um sie und murmelte leise:

»Die schönste, allerschönste Braut!«

Beatrice, vertraut mit den theatralischen Vorlieben Ihrer Ladyschaft, ließ alles widerstandslos über sich ergehen. Für ihre Tante jedoch war es eine Provokation, die sie nicht einfach so stehen lassen konnte. Vergessen war die Frage, ob ihre Tochter an einem Fieber litt, als sie die euphorische Witwe jetzt mit entsetzt aufgerissenen Augen anstarrte.

»Aber … aber … ihre … Wangen, sie sind doch so fahl«, rief Vera verwirrt aus, »und ihr Kleid ist … ist … so …« Das rechte Wort, mit dem das strapazierfähige Kleid in seinem gewöhnlichen Blauton zu beschreiben war, wollte ihr jedoch nicht über die Lippen kommen, so gab sie ihre Bemühungen auf und entschied sich für einen unartikulierten Ausruf der Verzweiflung. »Sie sehen doch selbst, wie unzureichend es ist. Man muss zu seiner Hochzeit nicht unbedingt im Hofstaat erscheinen, aber etwas Besseres als dieses … dieses …« Wieder fehlten ihr die Worte, während sie auf ihre Nichte deutete. »Wir müssen etwas Angemesseneres von zu Hause kommen lassen oder – und das wäre ein doch wohl sehr viel besserer Plan – warten, bis eine von Madame Bélangers wunderbaren Anfertigungen fertig ist. Sie stimmen mir sicherlich zu, Mylady, dass Beatrice den Duke of Kesgrave doch wohl nicht in diesem … diesem …« Hier endlich hatte sie eine Eingebung und verfiel auf das Wort, das schon ihre Tochter verwendet hatte: »In diesem Lumpengewand heiraten kann.«

Ihre Ladyschaft zeigte sich nun ihrerseits überrascht, denn sie konnte an Beatrice' Aussehen nichts finden, woran es etwas auszusetzen gab. Sie schob die junge Frau etwas von sich weg, damit sie sie besser begutachten konnte, und konnte nur erkennen, dass ihre Augen vor Aufregung nur so strahlten.

»Ja, doch«, beschied Lady Abercrombie in inniger Glückseligkeit, »eine wunderschöne Braut.«

Es wäre maßlos untertrieben gewesen, zu behaupten, dass Beatrice sich in diesem Moment gewünscht hätte, alle Anwesenden würden verschwinden und sich einfach mit einem Fingerschnippen in Luft auflösen. Sie hatte bislang ein eher ruhiges und stilles Leben geführt – hatte still für sich gelesen, still für sich genäht, hatte still ihrer Tante gelauscht, wenn diese wieder einmal mit ihren Kindern aneinandergeriet, die mit ihren übertriebenen Forderungen nach Geld und Aufmerksamkeit bei ihr stets neue Ängste weckten – jetzt konnte sie kaum begreifen, wie sie sich in so kurzer Zeit so grundlegend hatte verändern können. Kein halbes Jahr zuvor hatte sie in Skeffingtons Speisesaal im Lake District gesessen und stumm Aal à la tartare genossen, und jetzt wurde sie im Salon der Herzoginwitwe Kesgrave von einer fast schmerzhaften Kakophonie von Stimmen belagert.

Sie wollte doch nur mit dem Duke allein sein.

Und dennoch konnte sie sich kaum ein Lachen verkneifen, als Tante Vera mit fassungslosem Blick Lady Abercrombies erstaunliche Aussage zu begreifen versuchte. Nur fünf Tage zuvor hatte Ihre Ladyschaft die Hyde-Clares in deren Frühstückszimmer aufgesucht – ohne dazu eingeladen worden zu sein, versteht sich, denn niemand wäre so verwegen gewesen, Gäste zu Eiern und Bücklingen zu laden – und hatte darauf bestanden, dass Beatrice und ihr Enkelsohn mit ihrer Vermählung wenigstens bis zum Mai warteten. Denn zuvor müsse sie noch einen Ball ausrichten, um Beatrice mit Glanz und Gloria in die Gesellschaft einzuführen, wie es einer zukünftigen Duchess zustand – eine Entwicklung, die ihre Verwandten kaum vorhergesehen hatten, als sie sieben Saisons zuvor und mit sehr viel weniger Aufwand Beatrice' gesellschaftliches Debüt ausgerichtet hatten.

Natürlich fand Tante Vera diese Aussicht erschreckend, da damit Gott und der Welt klargemacht würde, dass sie diese Aufgabe beim ersten Mal nur unzureichend erfüllt hätten. Dennoch war sie dankbar um die Unterstützung der Countess, die Heirat hinauszuschieben, und glaubte, deren Wort habe dazu beigetragen, dass das Paar zumindest noch eine Woche warten wollte.

Und jetzt? Jetzt schenkte die Herzoginwitwe Beatrice ein herzliches Lächeln und wischte sich Tränen der Rührung aus den Augen, als würde sie nichts glücklicher machen als Beatrice' übereilte Heirat mit Kesgrave.

Verstand Ihre Ladyschaft nicht, was hier geschah? Begriff sie nicht mehr den Lauf der Zeit? War sie vielleicht in einen Zustand der Entrückung verfallen und glaubte nun, sie sei eine ganze Woche später wieder aufgewacht?

Das wäre eine plausible, aber höchst unwahrscheinliche Erklärung, denn Lady Abercrombie sprühte vor Gesundheit und Lebensfreude. Und ihre Augen funkelten zufrieden, als sie erneut murmelte:

»So eine schöne Braut.«

Bei jeder Wiederholung dieser ganz und gar nicht nachzuvollziehende Aussage runzelte Vera noch mehr die Stirn, und Beatrice mutmaßte bereits, dass ihre Tante Ihrer Ladyschaft ein höchst geheimes, höchst hinterhältiges Motiv unterstellte. Bestimmt trieb die Countess ein seltsames Spiel, das nur noch niemand durchschaut hatte.

Ach, aber was konnte es bloß sein?

Während Vera noch damit beschäftigt war, die vielen Fäden von Lady Abercrombies durchtriebenem Plan zu entwirren, war Russell nach wie vor darauf erpicht, seine umfangreichen Lateinkenntnisse zum Besten zu geben. Nach der Auflistung von Vergils Werken war er nun bei Ovid angelangt – den Heroides, der Ars amatoria, den Epistulae ex Ponto –, aber seine Schwester, deren Bildung umfangreicher war als die aller anderen in der Familie, bemerkte nur, dass Buchtitel keineswegs ganze Sätze, geschweige denn Sentenzen seien. Suchend griff er in die Schatzkiste seiner klassischen Bildung und bekam die letzten Worte des Kaisers Augustus zu greifen, die er prompt falsch zitierte.

»Acta est fabula, plaudite«, korrigierte sein Vater ihn sofort.

Flora lachte über die Schmach ihres Bruders, Lady Abercrombie aber brachte nur ihr Missfallen zum Ausdruck und meinte, sie wolle keineswegs applaudieren, denn das Spiel fange doch gerade erst an. Onkel Horace beeilte sich zu erklären, er habe doch nur das Latein seines Sohns verbessert und nie und nimmer das Ende von irgendetwas postuliert, schon gar nicht von Beatrice' und Kesgraves Glück, während Russell erneut seine Fähigkeit unter Beweis stellen wollte und diesmal Senecas Ausspruch darüber, dass allzu großes Glück gierig mache, verhunzte.

Ihre Ladyschaft war kurz abgelenkt, und Beatrice nutzte die Gelegenheit, um sich dem festen Griff der Countess zu entwinden und einen vorwurfsvollen Blick in Richtung Kesgrave zu senden.

»Siehst du, was du mit deinem Gezerre angerichtet hast? Hättest du den Text der Trauungszeremonie nicht umformuliert, damit er deinen egoistischen Zwecken dient, wären wir längst verheiratet und hätten mit diesem ganzen Wahnsinn nichts mehr zu schaffen. Ja, wir säßen längst in deiner Kutsche und wären auf dem Weg nach Kesgrave House.«

Obwohl Beatrice erwartete, er würde gegen diese flapsige Auslegung der Sorgen, die er sich um sie und ihre Sicherheit machte, Protest einlegen, lachte er nur und erwiderte, sie würde eine recht offensichtliche Tatsache übersehen.

»So sehr ich für dich alles sein möchte, nicht zuletzt die Zielscheibe für deinen Unmut – wie hast du es gestern in der Kutsche so treffend ausgedrückt: Spick mich mit so vielen Nadeln, wie es nötig ist, um deine gute Laune wiederherzustellen –, so kann ich doch nicht Bräutigam und Geistlicher in einer Person sein. Und selbst wenn ich nicht der Bräutigam wäre, könnte ich die Trauung kaum vollziehen, weil ich eben keine Priesterweihe empfangen habe.«

Dagegen ließ sich kaum etwas einwenden, daher betonte Beatrice ein weiteres Mal die Unterschiede zwischen dem ruhigen, eleganten Salon seiner Großmutter, in dem sie nun geduldig auf den Priester warteten, und den Zuständen in Bedlam.

Wie zur Bestätigung der Gegensätze sprach Lady Abercrombie nun erstmals den Duke an und bemerkte, dass sein Aufzug für den Anlass nun nicht gerade überzeugend sei.

»Ich möchte sagen, Kesgrave, hat die Liebe Sie so benebelt, dass Sie nicht mehr erkennen, dass Ihr Cutaway seit einem Jahrzehnt aus der Mode ist? Mit dem geraden Schnitt und den breiten Aufschlägen sehen Sie mir aus wie ein den Pachtzins eintreibender Gerichtsdiener. Oder hat Ihr Kammerdiener damit sein Missfallen zu der Verbindung zum Ausdruck bringen wollen? Falls dem so wäre, sollten Sie ihn auf der Stelle entlassen – allerdings erst, nachdem Sie sich einer für den Anlass passenderen Garderobe versichert haben. Eilen Sie zurück zum Berkeley Square und wechseln Sie die Kleidung. Und verschwenden Sie an uns keinen Gedanken, wir warten gern.«

Tante Vera, deren scharfsichtiges Auge nur auf die Makel der eigenen Familie gerichtet war, äußerte nun ebenfalls ihre Überraschung und befürwortete augenblicklich dieses Ansinnen. »Wir können warten, bis sich Seine Durchlaucht umgezogen hat, nicht wahr? Ich meine, es gibt keinen Grund, warum wir irgendetwas überstürzen sollten. Vielleicht möchte er ja die Gelegenheit nutzen und den neuen Frack höchstpersönlich auswählen, was vermutlich einige Zeit in Anspruch nehmen sollte. Wir wollen ihm keinesfalls das Gefühl geben, dass Eile geboten sei, gewiss nicht unseretwillen, ja, wir könnten sogar zum Portman Square zurückkehren als Zeichen unserer großen Geduld. Dazu wollen wir auch die Gastfreundschaft der Herzoginwitwe nicht über Gebühr strapazieren. Ja, wahrscheinlich ist es das Beste, wenn wir alles abblasen und uns zu einem späteren Zeitpunkt wieder einfinden. Ich bin überzeugt, das wäre für alle das Beste.«

Der hoffnungsvolle Ton in Tante Veras Stimme – als könnte der verheißungsvolle Plan das Paar wirklich dazu bewegen, sich ihm anzuschließen – war zu viel für Beatrice, sie konnte ein Lachen nicht mehr unterdrücken. Der Grund für die irrationale Hartnäckigkeit ihrer Tante war ihr schlichtweg schleierhaft. Die Hochzeit würde stattfinden, entweder jetzt oder in drei Tagen, und wie ihre Cousine Flora vor kurzem schon deutlich gemacht hatte, auch eine in unziemlicher Eile abgehaltene Zeremonie würde kaum ihr sehr viel skandalöseres Verhalten auf Lord Stirlings Ball in den Schatten stellen, bei dem sie einen Mörder dazu gebracht hatte, inmitten der adeligen Gäste seine Untaten zu gestehen.

Die neue Duchess of Kesgrave würde so oder so verrufen sein, ungeachtet, wie schnell oder langsam sie den Bund der Ehe mit dem Duke of Kesgrave einging – und umso mehr, wenn sich auch noch ihre neueste Eskapade im Particular herumsprach, was unweigerlich geschehen würde. Ein illustres Mitglied des Adels konnte sich kaum zwei Tage lang als Theaterbesitzer aus Bath ausgeben, ohne Gerede heraufzubeschwören. Wenn schon nicht die Schauspieler von der dramatischen Enthüllung des verkleideten Duke tuschelten, dann sicherlich der Bow-Street-Büttel, der gerufen worden war, um den mörderischen Schurken in Gewahrsam zu nehmen. Der verwirrte junge Mann, der nicht recht zu begreifen schien, welches Interesse der Duke an der ganzen Sache hatte, würde bestimmt mit seinen Kollegen ausführlich darüber reden.

Ihren Ermittlungen war es im Übrigen auch geschuldet, dass Kesgraves Cutaway nicht der gegenwärtigen Mode entsprach; während er allerdings sonst großen Wert darauf legte, als untadeliger Sportsmann zu gelten, wollte er in diesem Fall nicht einsehen, dass seine Garderobe einen Aufschub erforderte. Dennoch dankte er Mrs. Hyde-Clare für ihre Überlegungen.

Natürlich verwirrte es Beatrice' Tante, dass ausgerechnet auf seiner Hochzeit nicht die allerneueste Mode vonnöten war, ihr Onkel aber wusste die praktische Einstellung sehr zu schätzen und versicherte dem Duke, dass sein Jackett keinerlei Anlass zu Missfallen bot. Lady Abercrombie, durchaus Anstoß daran nehmend, begann allen Ernstes die vielen Details zu benennen, die ihr als nicht au courant erschienen. Flora, die wusste, warum der Duke einen alten Cutaway trug, wandte ein, dass er höchstwahrscheinlich mit sehr viel wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt sei, um der neuesten Mode zu entsprechen, und Russell, im Versuch, die vorhergehende Scharte auszuwetzen, verkündete in sehr penibler Aussprache: »Non omnia possumus omnes.«

Bedlam, dachte sich Beatrice amüsiert-bedauernd, musste verglichen damit ein geradezu beschaulicher Ort sein.

»Ah, da ist er ja«, murmelte Kesgrave leise und wandte den Kopf. Beatrice, die annahm, der Priester, der sie vermählen sollte, wäre eingetroffen, sah auf. Aber es war kein Priester gekommen. Nein, es war Viscount Nuneaton, bei dessen Anblick – er durchquerte ebenso geschmeidig wie gemächlich den Raum – ihr dann doch ein Angstschauer über den Rücken lief. Sein plötzliches Erscheinen erinnerte sie an sein ebenso plötzliches Erscheinen einige Tage zuvor, was ihr nun als ein schlechtes Omen erschien, weshalb sie vor Panik zu zittern begann.

Natürlich war es absurd, die beiden Situationen überhaupt miteinander zu vergleichen. An jenem Tag, an dem sie eigentlich hätten getraut werden sollen, hatte sie sich von ihrem frisch aufkeimenden Wohlwollen gegenüber ihrer eigenen Familie und Kesgraves unvoreingenommenen Argumenten dazu überreden lassen, von einer übereilten Hochzeit abzusehen. Heute lagen keine dieser Bedingungen vor. Gewiss mochte sie ihre Familie – insbesondere Flora, deren überschwängliche Bewertung der eigenen Heldentaten doch auch etwas sehr Liebenswertes hatte –, aber die Zuneigung zu ihren Verwandten war nur eine Tasse lauwarmen Tees verglichen mit der alles verzehrenden Achtung, die sie Kesgrave entgegenbrachte. Und auch die Fügsamkeit des Duke hatte sich dramatisch abgeschwächt, was auf die doppelläufige Steinschlosspistole zurückzuführen war, die ihnen den Vormittag so verdorben hatte.

Prinny höchstselbst hätte sich in der Clarges Street einfinden und versuchen können, das Prozedere zu stoppen, Kesgrave hätte ihn nur wie einen flohverseuchten Straßenköter zur Seite gewischt.

Ja, es gab keinen Grund zur Besorgnis, und nachdem ihr Herz wieder in normalem Tempo schlug, lächelte sie dem Dandy zu, der in seiner Satinhose und mit seiner eleganten Krawatte wie immer eine höchst exquisite Erscheinung abgab.

»Ich könnte mich nicht mehr für Sie freuen, Miss Hyde-Clare«, sagte er herzlich und beugte sich über ihre Hand, die er ergriffen hatte. »Nie habe ich andere Männer und deren Umstände beneidet, weil ich meine eigenen immer sehr vollkommen fand, aber ich würde der Wahrheit nicht gerecht, wollte ich einen kleinen Anflug von Eifersucht auf Kesgraves großes Glück leugnen. Sie, meine Liebe, sind nämlich einzigartig.«

Natürlich konnte Beatrice ein so überschwängliches Kompliment nicht ohne Einwände entgegennehmen, weshalb sie augenblicklich die Ernsthaftigkeit Seiner Lordschaft bezweifelte, indem sie ihm Hintergedanken unterstellte.

»Ich sehe, Sie schmeicheln mir nach wie vor, weil Sie zu erfahren hoffen, was sich damals in Lakeview Hall zugetragen hat«, entgegnete sie frohgemut.

Nuneatons Interesse an der Sache war verständlich, da er ebenfalls zu Lord und Lady Skeffingtons Gästen gezählt hatte, als Mr. Otley nachts in der Bibliothek ermordet wurde, und ihm immer noch unerklärlich war, wie es einer schlichten, bedeutungslosen Jungfer ohne das geringste Talent zur Konversation gelingen konnte, den Mörder zu überführen. Der Viscount hatte sich seitdem mehrmals bemüht, die ganze Geschichte in Erfahrung zu bringen, aber Beatrice hatte bislang widerstanden, ihm alles zu enthüllen – zunächst, weil sie ihm keine Informationen anvertrauen wollte, die möglicherweise ihrem Ruf schaden konnten, dann, später, weil sie Gefallen an dem Versteckspiel gefunden hatte. In ihren sechsundzwanzig Jahren hatte sie selten mit anderen Spielchen gespielt, schon gar nicht mit attraktiven Dandys, daher wollte sie dieses nur ungern aufgeben, selbst jetzt kurz vor ihrer Hochzeit mit Kesgrave.

Um einen schelmisch-ironischen Ton bemüht, beglückwünschte sie Nuneaton für seine unermüdliche Entschlossenheit und versicherte ihm, dass alle jungen Damen ganz versessen darauf wären, drangsaliert zu werden. »Wir betrachten das als eine äußerst anziehende Eigenschaft bei einem Gentleman.«

Obwohl der Viscount berühmt war für seinen prominent zur Schau gestellten Ennui und sich kaum zu einem Schulterzucken aufraffen konnte, wenn er sich bemüßigt fühlte, die modischen Fehlgriffe der High Society zu kommentieren, lachte er laut schallend und versprach, dass sie ihn bald unwiderstehlich finden würde. »Denn ich werde nicht eher ruhen, bis ich nicht alles über Ihre zahlreichen Ermittlungen weiß.«

Beatrice wollte schon einwenden, dass ihre Ermittlungen in fünf Mordfällen kaum als zahlreich bezeichnet werden konnten – die Bemerkung wäre an sich schon entlarvend gewesen, denn selbst wenn der Viscount mutmaßen sollte, dass die Taunton-Affäre mehr war als ein simpler Unfall mit einer Fackel, so konnte er doch nichts von ihrer Beteiligung an Fazeleys Ermordung wissen –, doch Kesgrave unterbrach sie mit einem ostentativen Räuspern. »So sehr ich es auch genieße, dass meine Verlobte mit einem anderen Mann flirtet, gehe ich doch davon aus, dass du, Nuneaton, einen wichtigen Grund für dein Erscheinen hast. Du hast dich des Gegenstands bemächtigen können?«

Seine Durchlaucht klang ganz ruhig, fast gelangweilt, dennoch glaubte Beatrice in seinem Ton einen Anflug von Gereiztheit herauszuhören, was sie irritierte. Es war nicht das erste Mal, dass er Bemerkungen zum Interesse des Viscounts an ihr machte, allerdings hatte sie immer angenommen, er hätte sie damit nur aufgezogen, eine Vermutung, die durch die komische Art, wie er jetzt ihre Aufmerksamkeit erregte, untermauert wurde. Jemand, der über alle Vorzüge von Reichtum, Privilegien und Abstammung verfügte, war über eine so vulgäre Empfindung wie Eifersucht doch erhaben.

Das war in jeder Hinsicht unter seiner Würde.

Nuneaton aber gab durch nichts zu verstehen, dass ihm das Verhalten seines Freundes seltsam erschien, er griff nur in seine Tasche und zog einen kleinen Seidenbeutel heraus. »Ja, habe ich. Aber es ging nicht ohne Schwierigkeiten, der Juwelier hatte nämlich die Schließe noch nicht repariert und musste erst dazu bewogen werden, etwas schneller zu arbeiten. Wäre es nach ihm gegangen, hätte es wohl noch mehrere Tage gedauert.«

Was, fragte sich Beatrice, konnte so wichtig sein, dass Kesgrave es nur wenige Minuten – zumindest hoffte sie, es wären nur Minuten – vor seiner Vermählung in den Salon seiner Großmutter anliefern ließ? Dann sah sie etwas Goldenes schimmern, gefolgt von einem blauen Funkeln.

Voller Erstaunen starrte sie auf das geliebte Saphir-Armband, das ihre Mutter an jedem Tag ihrer Ehe getragen hatte, bis es ihr von ihrem Mörder vom Handgelenk gerissen wurde – nachdem er sie mit einem Kissen erstickt hatte. Das letzte Mal hatte sie das Erbstück in Lord Wems Arbeitszimmer gesehen – die Taschenuhr Seiner Lordschaft war mittels der zierlichen Kettenglieder an der Weste befestigt gewesen. Sie hatte kaum darauf geachtet, als es im Sonnenlicht glitzerte, sie hatte es einfach nur für ein hübsches Schmuckstück gehalten, das einem sehr praktischen Zweck diente. Aber später, als sie inmitten des Trubels auf Lord Stirlings Ball mit ihm sprach, hatte sie sich wieder an das Funkeln der Saphire erinnert und sofort gewusst, um was es sich handelte.

Seit dieser schrecklichen Begegnung mit Lord Wem hatte sie kein einziges Mal an das Armband gedacht. So vieles hatte für Zerstreuung gesorgt: erst ihre geplante Hochzeit, dann deren Verschiebung, dann Mrs. Nortons fehlender Diamant, dann der unglückselige Schauspieler, der angeheuert worden war, um ihren gesellschaftlichen Ruin herbeizuführen, und dabei durch eine Reihe von Missverständnissen sein Leben verlor.

Alle diese Ereignisse hatten sie so sehr abgelenkt, dass sie keinen einzigen Gedanken an das Armband verschwendet hatte, und obwohl sie wusste, dass es nur ein Gegenstand war – nur Gold und Edelsteine –, konnte sie sich jetzt nicht des schrecklichen Gefühls erwehren, dass sie damit im Grunde auch ihre Mutter vergessen hatte. Nachdem sie die Wahrheit über ihre Eltern, über deren Leben und ihren gewaltsamen Tod herausgefunden hatte, hatte sie sich anderen Dingen zugewandt und zugelassen, dass sie in der Ferne entschwanden wie ein Schiff, das hinter den Horizont versank.

So schrecklich das alles auch war, bedauerte sie es doch nicht angesichts der großzügigen Geste ihres zukünftigen Ehemannes, die von Anstand und Güte zeugte.

Einigermaßen sprachlos hob Beatrice den Kopf und sah Kesgrave in die strahlend blauen Augen. Wie konnte sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen, diese seltsame, verwirrende Mischung aus Scham und Stolz, die sie empfand?

Das alles hier war doch um so vieles mehr, als sie es sich jemals hätte vorstellen können.

Sicherlich, sie hatte ihre Träume gehabt. Wie jedes Mädchen kurz vor ihrer ersten Ballsaison hatte sie sich eine Vorstellung von ihrem idealen Verehrer gemacht, das vage Bild eines freundlichen, gütigen Gentlemans mit ebenmäßigen Gesichtszügen, sittsamen Manieren und einem Interesse an Biografien und Reiseberichten. Wie ihr gemeinsames Leben aussehen sollte, war ebenso nebulös gewesen und erschöpfte sich in der Vorstellung von meist angenehmen Nachmittagen, die sie in gemeinschaftlicher Stille verbrachten, während sie Seite an Seite, in ihr jeweiliges Buch vertieft, auf der Polsterbank saßen. Höchst zufrieden würde sie dann gelegentlich ihre Lektüre unterbrechen und glücklich aufseufzen über die stille Schicklichkeit ihres Gemahls.

Aber die Hochachtung, die sie hier und jetzt erfuhr und die ihr schier den Atem raubte, ihre ungezügelte, überwältigende Gefühlsaufwallung machte sie schwindlig, und dass sie das alles erneut erlebte, heute, am Tag aller Tage, an dem er sie bereits im pechschwarzen Keller des Particular in Erstaunen versetzt, als er unbekümmert ihre Fesseln gelöst hatte, war im Grunde unerträglich.

Ein reiner Glücksfall, das launische Tun eines gleichgültigen Gottes hatte sie in den Salon in der Clarges Street geführt, hierher zum Duke of Kesgrave. Sie wusste es, und jetzt spürte sie in ihrem Innersten, wie fragil das Leben war. Eine kleine Änderung im Gewebe der Zeit – hätte sie am Abend von Otleys Ermordung den Pfarrer von Wakefield weitergelesen, statt sich in Skeffingtons Bibliothek eine interessantere Biografie zu suchen –, und sie hätte ihr gesamtes Leben ohne den Duke verbracht.

Beinahe drohte die Dankbarkeit gegenüber Fortunas kapriziösem Wirken sie zu überwältigen, doch dann schob sie all ihre Überlegungen zur Seite und suchte nach Worten der Dankbarkeit, weil er an das Armband ihrer Mutter gedacht hatte.

Als sie jedoch den Mund öffnete, um ihm ihren Dank auszusprechen, verlor sie jede Gefasstheit, und alles, was sie zustande brachte, war ein leises, verlegenes Stammeln:

»Du musst unbedingt damit aufhören, bitte!«

Das war nicht die Reaktion, die Kesgrave erwartet hatte.

O nein. Nachdem er von Anfang an von ihrem Mut, ihrer Kühnheit beeindruckt gewesen war – obwohl es ihn immer wieder auch aufbrachte, wenn sie sich seiner Autorität widersetzte –, hatte er sich nie vorstellen können, dass das Überreichen eines einfachen Armbands sich so katastrophal auf ihre unerschütterliche Ruhe auswirken könnte.

Kesgraves Verwirrung, die sich an seiner gerunzelten Stirn und seinen gespitzten Lippen zeigte, milderte Beatrice' Bestürzung sofort. Nachdem sie zwei Jahrzehnte lang nicht imstande gewesen war, die unvernünftigen Erwartungen ihrer Tante zu erfüllen, war es für sie immer noch ein Wunder, wie leicht sie die seinen übertreffen konnte.

Kesgrave, sichtlich schockiert über ihr Unbehagen, kam ihrer Bitte sofort nach und versprach, so etwas nie mehr zu wiederholen. »Was ich auch gar nicht könnte, selbst wenn ich wollte«, versicherte er ihr. »Denn das Armband ist ja der einzige Gegenstand deiner Mutter, den du wieder in deinen Besitz nehmen kannst.«

Einfach perfekt, dachte sich Beatrice, wie pedantisch seine Antwort war und wie typisch. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie darauf eine liebenswert-spöttische Entgegnung parat gehabt. Aber alles an diesem Augenblick erschien ihr bemerkenswert, sogar das Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel und alles in einen goldenen Schein hüllte, und so antwortete sie mit entwaffnender Ehrlichkeit:

»Du musst damit aufhören, dass ich dich immer noch mehr liebe, Damien. Dieses Gefühl ist jetzt schon so überwältigend, dass ich kaum noch Luft bekomme.«

Er verzog keine Miene, aber seine Augen – o ja, seine Augen – strahlten, und er hob die Hand, als wollte er sie berühren. Aber dann ließ er die Hand wieder sinken und seine Lippen wölbten sich nachdenklich, während er den Kopf schüttelte und ihre Bitte abschlägig beschied.

»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Beatrice, nein. Der einzige Vorteil, den ich in unserer Beziehung habe, liegt in diesen kurzen Phasen, in denen es dir die Sprache verschlägt, und ich bin nicht willens, darauf zu verzichten.«

Der Duke sprach leise, entschieden, und Beatrice wartete darauf, dass seine Augen vor Heiterkeit funkelten, denn sie wusste ja, er neckte sie bloß, aber sein Blick blieb so leidenschaftlich wie zuvor. Plötzlich spürte sie den übermächtigen Drang, sich ihm zu nähern und ihre Lippen auf die seinen zu pressen, und nur wegen des Beiseins ihrer Familie verharrte sie an Ort und Stelle. Undeutlich nahm sie wahr, dass sich Nuneaton diskret entfernte, nachdem er Russells Aussprache von vixere verbessert hatte (»Mit einem W, mein lieber Freund, nicht mit einem V«). Sie hörte Tante Vera, die sich beim Viscount für die Aufmerksamkeit bedankte, die er ihrem Sohn schenkte, während ihr Sohn nur grummelte, er wisse schon, wie das Lateinische ausgesprochen würde, danke schön. Flora lachte über die Verlegenheit ihres Bruders und erkundigte sich bei Lady Abercrombie nach Beatrice' Aussteuer.

Kesgrave, dem nicht bewusst war, dass er Beatrice mit einem einzigen, glühenden Blick aus der Fassung bringen konnte – ein weiterer Vorteil, dachte sie sich zähneknirschend, den er in ihrer Beziehung besaß –, hielt das Armband hoch und sagte:

»Darf ich?«

»Ja, bitte«, antwortete sie, hielt ihm ihr Handgelenk hin und bewunderte sofort das feingliedrige Band, das sich um ihren Arm schloss. Es war fraglos ein wunderbares Schmuckstück mit herzförmigen Gliedern und Steinen in Navetteform, außergewöhnlich aber war es, weil es Raum und Zeit überdauert hatte, um heute, an ihrem Hochzeitstag, von ihrer Mutter auf sie überzugehen.

Ach, wie hättest du ihn geliebt, Mama, dachte sie, und es schnürte ihr die Kehle zu, als Ihre Durchlaucht mit dem Priester im Schlepptau den Raum betrat.

Schroff, als gäbe es an dem Nachmittag noch eine zweite Trauungszeremonie abzuhalten, die es erforderlich machte, das erste Paar schnell durchzuschleusen, ordnete die Herzoginwitwe die Anwesenden neben dem offenen Kamin zu einem Halbkreis und schob Beatrice und Kesgrave in die Mitte. Den Geistlichen positionierte sie vor sie, leicht links vom üppigen Blumengebinde, das den Kaminsims zierte.

Beatrice hatte keine Ahnung, warum die Herzoginwitwe sich plötzlich genötigt sah, sie zur Trauung zu scheuchen – kaum eine Woche zuvor hatte sie zu den vielen Stimmen gehört, die Rücksichtnahme und Zurückhaltung gefordert hatten –, jetzt aber war die sachlich-nüchterne Art dieser älteren Dame Balsam für Beatrice und ihre aufgewühlten Gefühle und erlaubte ihr, wieder einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Ruhig, den Blick auf Kesgraves strahlendes Gesicht gerichtet, wartete sie, dass der Priester sein Gebetbuch aufschlug und mit der Trauung begann. In ernstem, weihevollem Ton erklärte er das heilige Sakrament der Ehe, und Beatrice, die seine Feierlichkeit ein wenig übertrieben fand, spürte, wie sich ihr Herz in trunkener Freude überschlug, als der Duke ungeduldig mit den Augen rollte.

Selbst Englands eifrigster Pedant hatte seine Grenzen.

Sie unterdrückte das Kichern, das ihr in den Hals stieg, und war von neuem über das Wunder erstaunt, dass sie einen Mann heiratete, dessen Gedanken so vollkommen zu ihren eigenen passten. Und dann, teils ihren Gefühlen nachgebend, teils ihrer Schelmenhaftigkeit, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie überhaupt besaß – nicht, bevor sie dem Duke of Kesgrave in Skeffingtons dunkler Bibliothek begegnet war –, beschloss sie, seiner Bitte nach einer kleinen Änderung der Trauungszeremonie nachzukommen. Er hatte ganz klar die Sache nicht durchdacht, denn hätte er nur einen Gedanken daran verschwendet, wie es bei ihren Gästen ankommen musste, hätte er den Vorschlag nie unterbreitet.

Geduldig hörte Beatrice Mr. Bertrams scheinbar endloser Litanei zu – gehorche, diene, liebe, ehre, bewahre, entsage – und willigte ein, dies alles zu geloben. Dann verkündete sie, dass sie eine kleine Änderung vorzuschlagen habe.

Der Priester sah von seinem Gebetbuch auf und runzelte die Stirn. »Eine Änderung?«

Beatrice nickte ernsthaft. »Ich möchte ein weiteres Gelübde ablegen.«

Entsetzt über dieses Unterfangen, neigte der Geistliche den Kopf zur Seite und wollte sich bestätigen lassen, dass er sie richtig verstanden hatte. »Sie wollen ein zusätzliches Gelübde anfügen?«

»Das möchte ich, ja«, sagte sie im Plauderton, so, als würde sie über eine Nichtigkeit wie das Wetter reden. »Wenn Sie so freundlich sein wollen, dann sagen Sie bitte: ›Willst du geloben, nicht mehr in den schrecklichen Todesfällen zu ermitteln, die deines Weges kommen?‹ Dann werde ich darauf antworten: ›Ja, ich will.‹«

Die Bitte hatte unmittelbare Auswirkung auf die versammelte Gesellschaft – natürlich. Am Gebetbuch der anglikanischen Kirche herumzulaborieren war eine nicht hinnehmbare Dreistigkeit, aber noch dazu einen dermaßen ungeheuerlichen Zusatz vorzuschlagen war der Gipfel der Unverschämtheit. Diese Frechheit, bei einem so freudvollen Ereignis auf die Erbärmlichkeit von Mordfällen hinzuweisen! Diese Chuzpe, das heilige Sakrament der Ehe mit pietätlosem Humor zu untergraben!

Mr. Bertram starrte finster zur Braut, bevor er seinen Blick samt seiner leidenschaftlichen Missbilligung auf die Herzoginwitwe richtete, die solche Respektlosigkeit in ihrem Salon tolerierte. Ihre Ladyschaft öffnete den Mund, wollte wohl etwas gegen den unausgesprochenen Vorwurf einwenden, nur wollte ihr kein zusammenhängender Satz über die Lippen kommen. Flora kicherte wissend, Lady Abercrombie schnalzte missbilligend mit der Zunge, und Russell rief für alle hörbar: »Beatrice, ich meine, das ist nicht ganz der richtige Text.« Nuneaton murmelte »Brava«, während Onkel Horace sich einigermaßen verstört umsah und sich offenbar nicht ganz sicher war, ob er alles richtig verstanden hatte.

Nur Tante Veras Reaktion – ein empörter Schrei, der aus ihrem tiefsten Inneren kam – nötigte Beatrice, zu ihrem frisch angetrauten Ehemann aufzublicken und verschmitzt zu grinsen.

2

Es wäre nicht korrekt gewesen zu sagen, dass Beatrice jedes Mal zusammenzuckte, wenn sie in ihrem neuen Zuhause mit »Eure Durchlaucht« angesprochen wurde. Wenn Kesgrave ihr zum Beispiel eine Haarsträhne aus den entrückten Augen strich und sie anlächelte – während sein sonst so gepflegtes Erscheinungsbild nach den jüngsten Aktivitäten ebenso zerzaust und aufgelöst war wie ihres – und sie leise fragte: »Bist du glücklich, Euer Durchlaucht?«, dann wand sie sich kein bisschen. Nein, ganz im Gegenteil, zur Antwort drückte sie sich dann noch mehr an ihn und bewies ihm damit das Ausmaß ihres Entzückens.

Nein, dass sie unbehaglich zusammenzuckte, geschah erst einige Stunden später, wenn das Hausmädchen, das das Frühstückstablett brachte, sie mit höchster Ehrerbietung und einem tiefen Knicks begrüßte, jeglichen Augenkontakt mied und jeden Satz mit einem »Euer Durchlaucht« beschloss.

Guten Morgen, Euer Durchlaucht.

Das Frühstück, Euer Durchlaucht.

Pflaumenkuchen, Euer Durchlaucht.

Tee, Euer Durchlaucht.

Euer Durchlaucht, Euer Durchlaucht, Euer Durchlaucht.

Wenn das Dienstmädchen dann den Raum verließ, war das entspannte Gefühl des Angekommenseins, mit dem Beatrice in Kesgraves Armen aufgewacht war, von flattriger Unruhe ersetzt, die sie kaum zu unterdrücken wusste.

Natürlich versuchte sie es, strahlte, wenn Kesgrave in das Schlafzimmer zurückkehrte, formlos nur mit langen Hosen, einem weißen Musselin-Hemd und einer Weste bekleidet. Hilfreich war zweifellos, dass sich beim Anblick seiner wunderbaren Gestalt ihr Puls beschleunigte, und solange er im Zimmer war, konnte sie an nichts anderes denken als daran, wie herrlich er ohne sein Hemd aussah …

Irgendwann aber kehrte dann die Vernunft zurück und mit ihr die Einsicht, dass die vom Hausmädchen gezeigte Ehrerbietung alles andere als übertrieben war. Ganz im Gegenteil: Sie entsprach exakt ihrer neuen Stellung als Duchess.

Als Beatrice klar wurde, was das bedeutete, zuckte sie erneut zusammen.

Eine Stunde später, als ein weiteres Dienstmädchen das extravagante Ankleidezimmer betrat und die neue Hausherrin ebenso beängstigend oft mit ihrem Titel ansprach, wurde Beatrice ganz blass, was das gut geschulte Hausmädchen geflissentlich übersah. Zu Beatrice' Überraschung hielt sie ihr ein Kleid entgegen, das noch aus ihrer Garderobe am Portman Square stammte. Beatrice war zwar erleichtert, etwas Vertrautes anlegen zu können, es beunruhigte sie aber auch, wie mühelos das Kleidungsstück seinen Weg in ihr neues Zuhause gefunden hatte. Naiverweise hatte sie gedacht, sie würde dem Haus Nummer 19 einen Besuch abstatten müssen, um ihre Habseligkeiten einzupacken, während Flora sie mit Fragen zu den Herrlichkeiten von Kesgrave House löcherte und Tante Vera über die Schwierigkeiten stöhnte, die die Aufsicht über ein so umfangreiches Dienstpersonal mit sich brachte.

Fraglos war Beatrice froh, dass ihr diese Mühe erspart geblieben war, sie konnte aber auch nicht ganz genießen, dass ihr das jemand abgenommen hatte. Die neue Bequemlichkeit machte nur deutlich, wie ihr zukünftiges Leben sich gestalten würde. Viele Frauen hätten sich sicher gefreut, wenn sich vor ihnen ein mit Rosenblüten bestreuter Weg aufgetan hätte, Beatrice jedoch konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie es als Unannehmlichkeit empfand, wenn man ihr jede Unannehmlichkeit abnahm.

Natürlich war ihr nur allzu bewusst, wie lächerlich diese Klage war – man stelle sich vor: zu bejammern, dass alles zu einfach wäre! –, und während sie sich also den Handreichungen des Dienstmädchens überließ, beschloss sie, ihrem Schicksal mit unerschütterlichem Gleichmut entgegenzutreten. Der hohe Stand, den sie nun erlangt hatte, erforderte die eine oder andere Anpassung, sicherlich, letztlich aber wären diese Veränderungen doch nur oberflächlicher Natur. Es ging ja nicht darum, ihr innerstes Wesen zu ändern. Sie hatte Kesgraves Respekt erworben, indem sie einfach sie selbst gewesen war. Also wäre es doch höchst unvernünftig von ihm, wenn er sich nun wünschte, sie wäre eine andere.

Nein, er verlangte nur, dass sie sich langsam an die unvergleichliche Pracht seines Daseins gewöhnte. Dies war leicht zu bewerkstelligen und erforderte nur einen geringen Aufwand – im Unterschied zu ihrem glühenden Wunsch, die Zuneigung ihrer Tante und ihres Onkels zu gewinnen, was eine ungleich schwerere Aufgabe gewesen war, die noch dazu durch die jahrzehntelange Voreingenommenheit des Ehepaars gegen sie und ihre Eltern unmöglich gemacht wurde. Den Großteil ihres Lebens war Beatrice bestrebt gewesen, sich der Liebe ihrer Verwandten als würdig zu erweisen. Aus diesem Grund hatte sie sich immer mehr zurückgenommen und war irgendwann auf die Größe einer Erbse zusammengeschrumpft, die keinen stören wollte, um dadurch ihre Gunst zu erlangen.

Zu lernen, leichtfüßig auf Rosenblüten einherzugehen, war verglichen damit wie ein Spaziergang im Hyde Park an einem lauen Frühlingsnachmittag.

Beatrice fühlte sich durch diesen Gedanken ermutigt, und dennoch zuckte sie zusammen, als das Dienstmädchen mit dem Frisieren ihrer Haare fertig war und wieder »Das hätten wir, Euer Durchlaucht« sagte.

Sie konnte nicht anders.

Als Beatrice sich jetzt im Spiegel betrachtete – ihre glatten braunen Haare, die zu kunstvollen, das schmale Gesicht umspielenden Locken aufgesteckt waren –, hätte sie am liebsten alle Klämmerchen und Zierblumen herausreißen und auf ihnen herumtrampeln wollen.

Es war einfach zu viel und passte nicht zu ihr: die rotgeschminkten Wangen, die glänzenden Locken, die getuschten Wimpern, die ihre hellen Augen betonten. Fast war ihr, als säße eine Fremde vor ihr, und diese Erfahrung hier an diesem Morgen, an dem sie sich bereits beim Aufwachen so verändert gefühlt hatte, rief in ihr die Vorstellung hervor, sie wäre durch jemand anderes ausgetauscht worden: durch eine Braut, eine Ehefrau, eine Duchess.

Die Empfindung war bestürzend, so unerwartet wie unwillkommen. Wenn überhaupt, dann hatte sie befürchtet, dass Kesgrave sich durch ihre Ehe verändern würde. Nachdem die obligatorischen Höflichkeiten der Brautwerbung hinter ihm und die zahlreichen Privilegien eines Ehemanns vor ihm lagen, wäre es durchaus nachvollziehbar gewesen, hätte er sie von nun an als seinen Besitz betrachtet, als einen weiteren Gegenstand, den er in seinem verschwenderisch eingerichteten Haus am Berkeley Square oder in einem seiner vielen Anwesen auf dem Land besaß.

Diese heimtückische Vorstellung hatte sich am späten Abend in ihr Bewusstsein geschlichen, als die letzte Kerze flackernd ausgegangen war und sich ihre Augen schlossen. Ihr Verstand sagte ihr, dass diese Angst unbegründet war, aber ihr erschöpfter Geist war nicht mehr in der Lage, das Gefühl, in seinem Besitz zu sein, in Einklang mit ihrem Wissen zu bringen, dass er sie eben nicht »besaß«.

Aber jetzt war es Morgen, und Kesgrave erschien ihr so vertraut wie immer – selbst die blonden Locken waren ihm ganz wunderbar in die Stirn gefallen –, während sie selbst aussah, als wäre sie eine andere Person.

Ihre Unruhe würde sich ja kaum legen, wenn sie wegen ihres veränderten Aussehens einen Anfall bekäme. Im Gegenteil, es würde alles nur verschlimmern; welch beschämendes Bild würde die neue Duchess abgeben, wenn sie ihren ersten offiziellen Auftritt mit einem Tobsuchtsanfall einleitete? Welchen Klatsch und Tratsch in den Unterkünften der Bediensteten würde sie damit – zu Recht – auslösen? Der arme, überlastete Kesgrave, an eine Verrückte gekettet, die nicht in den Spiegel blicken konnte, ohne für Wirbel zu sorgen, und die ihre Wut an unschuldigen Haarnadeln abreagierte, die seit Generationen im Besitz der Familie waren.

Wie schnell wäre der einstmals große Name durch die Wahl einer ungeeigneten Braut zerstört!

Das wäre nie geschehen, hätte sich der Duke nur an den ursprünglichen Plan gehalten und die wunderschöne und unerträglich elegante Lady Victoria nach Hause geführt.

Ach, aber damit, mit dem wichtigtuerischen und aufgebrachten Geschwätz des Dienstpersonals hätten die Demütigungen ja noch kein Ende gefunden. Es wäre mit weiteren Konsequenzen zu rechnen, denn ihre Zofe Dolly – ihr Name lautete Dolly! – wäre ob ihres Ausbruchs sicherlich sehr verstört und würde unweigerlich annehmen, sie wäre dafür verantwortlich. Beatrice würde ihr versichern, dass sie nichts falsch gemacht habe, aber das Mädchen, der von der Wiege auf Ehrerbietung gegenüber Höhergestellten eingetrichtert worden war, würde sich davon nicht überzeugen lassen. Die ebenso ungerührte Haushälterin würde das Mädchen kurzerhand entlassen, und damit wäre Beatrice schon am ersten Morgen ihres ersten Tags als Duchess schuld daran, dass eine liebenswerte junge Zofe, die das Pech hatte, ihren Pflichten mit mehr Geschicklichkeit nachzukommen, als ihre neue Herrin mit Gleichmut ertragen konnte, von nun an ein Leben in Armut und Elend führen müsste.

Aber auch das war absurd, wurde Beatrice klar, denn wenn ihre neue Stellung einen Vorteil hatte, dann, dass sie sich über jede Haushälterin hinwegsetzen konnte. Als Duchess of Kesgrave genoss sie das Vorrecht, in ihrem Dienstpersonal so viele unerhört fähige Zofen zu beschäftigen, wie sie wollte. Wie auch immer, es war heilsam, sich ihre dramatisch veränderte Lage in Erinnerung zu rufen. Miss Hyde-Clare konnte auf so vielen Haarnadeln herumtrampeln, wie ihr beliebte, ohne dass es irgendwelche Folgen hatte. Noch nicht einmal Tante Vera würde die Augenbrauen hochziehen, außer dass sie vielleicht anmerkte, wie unschicklich sich ein solches Verhalten für eine junge Dame ausnehme, es sei denn, es geschehe auf Anordnung von Höhergestellten – und natürlich würde sie die haarsträubenden Kosten von verbogenen Haarnadeln beklagen.

Als sich Beatrice das nur allzu vertraute Missfallen ihrer Verwandten vorstellte, beruhigte das ihre Nerven enorm, und sie konnte ihre Anspannung so weit zügeln, dass sie Dolly für ihre Bemühungen dankte und das Mädchen sogar zu ihrer beneidenswerten Kunstfertigkeit beglückwünschte.

Dolly, erfreut über das Kompliment, schlug die Augen nieder und knickste. »Sehr gern, Euer Durchlaucht.«

Beatrice zuckte zusammen.

Trotz aller Anspannung drückte sie mit einer Entschlossenheit, die sie selbst kaum verspürte, die Schultern durch und hielt den Rücken gerade. Im angrenzenden Ankleidezimmer schlug die Uhr elf. Natürlich war es dumm, dem unbelebten Gegenstand Boshaftigkeit zuzuschreiben, aber ihr war, als machte sich der Zeitmesser über ihre Zaghaftigkeit lustig. Der Morgen war halb vorbei, und sie hatte immer noch nicht ihre Schlafkammer verlassen.

Unhaltbar – welch feiges Benehmen!

Sicherlich, sie war aus härterem Holz geschnitzt, als ihr erbärmliches Auftreten vermuten ließ. Sie rief sich den schrecklichen Augenblick in Skeffingtons Bibliothek in Erinnerung, als sie geglaubt hatte, der Duke of Kesgrave würde ihr jeden Moment mit einem Kerzenhalter den Schädel einschlagen. In dem Moment hatte sie beschlossen, dem Tod ohne Angst entgegenzutreten.

Warum sollte sie also jetzt Angst davor haben, dem Dienstpersonal entgegenzutreten?

Aber es war verrückt, diese beiden Situationen miteinander zu vergleichen, denn die Konfrontation mit einem vermeintlichen Mörder hatte wenig mit der etwas peinlichen Begegnung mit seinen Untergebenen zu tun. Dass sie die beiden Ereignisse gleichstellte, deutete nur auf die eingeschränkte Fähigkeit ihres Verstandes hin, einen klaren Gedanken zu fassen.

Das Schlafzimmer selbst trug wenig zur Steigerung ihres Denkvermögens bei. Die luxuriösen Möbel – eine Rosenholz-Chaiselongue mit Messingintarsien, eine gepolsterte Fensterbank mit Seidenstickereien, ein vergoldeter Spiegel mit Schneckenverzierungen – zeugten von verschwenderischem Reichtum und fünfhundert Jahren britischem Empire. Wohin ihr Blick auch fiel, sie wurde an Rosenblüten erinnert.

Nein, sie konnte hier nicht ruhigen Gewissens bleiben und darauf warten, dass Kesgrave ihren Weg mit Rosen bestreute. Es war doch wohl der Gipfel der Heuchelei, zu behaupten, es verlange einem nach Unannehmlichkeiten, nur um ihnen dann, wenn sich die ersten abzeichneten, auszuweichen.

Sie holte tief Luft, erhob sich und ging entschlossenen Schritts zur Tür.

Wenn es schon getan werden musste, dann sollte es schnell getan werden.

Nach kurzer Überlegung entschied sie sich für das Quartier der Bediensteten, das sie aufsuchen wollte. Sie wollte sich erst der Zustimmung der Haushälterin versichern, bevor sie sich der enormen Herausforderung stellte, sich beim Butler Marlow einzuschmeicheln, dessen Miene so einschüchternd war wie seine Körpergröße.

Hätten sie und der Duke sich an ihren ursprünglichen Hochzeitstermin gehalten, hätte beim Eintreffen der neuen Herrin am Berkeley Square das gesamte Dienstpersonal von Kesgrave House der Reihe nach Aufstellung genommen.

Aber nichts an ihrem Liebeswerben war nach Plan gelaufen – was auch gut war, dachte Beatrice, da die gesellschaftlichen Regeln eben nicht vorsahen, dass eine Jungfer einem Duke den Hof machte. Aber wie immer war es die Dienerschaft, die unter diesem Mangel an Konventionalität und, ja, auch das musste gesagt werden, an Rücksichtnahme zu leiden hatte. Nachdem der Bräutigam so viel Geistesgegenwart bewiesen hatte, das Armband von Beatrice' Mutter zum Tag der Zeremonie fertigstellen zu lassen, hatte er andere, banalere Dinge übersehen und es verabsäumt, das Dienstpersonal über die unmittelbar bevorstehende Trauung in Kenntnis zu setzen.

Als Folge davon war Mrs. Wallace am Vortag flammend rot geworden, als sie feststellen musste, dass sie die neue Duchess of Kesgrave lediglich in ihrer zweitbesten Schürze begrüßen konnte.

So verlegen sie auch gewesen war, die schätzenswerte Haushälterin hatte schnell ihre Fassung wiedergewonnen, hatte Beatrice freundlich willkommen geheißen und ein leichtes Mahl im Salon auftragen lassen inklusive der Rosinenbrötchen, die Miss Hyde-Clare … ähm ..., die Duchess bei ihrem letzten Besuch so sehr gemocht hatte.

Ein kleiner Ausrutscher nur, so klein, dass man ihn kaum bemerkt hätte, wäre die Haushälterin nicht von neuem rot geworden, und wenn auch ihre Miene nichts von ihren Gedanken verriet, war Beatrice überzeugt davon, dass Mrs. Wallace sie für den bedauerlichen Bruch der Etikette verantwortlich machte.

Und Kesgrave?

Er hatte absolut nichts unternommen, um die Lage zu verbessern. Statt mit Hilfe banaler Anstandsregeln die Nerven der Haushälterin zu beruhigen, hatte der für seine Arroganz berüchtigte Duke die Gelegenheit ergriffen, sich respektlos und schnippisch zu geben, und hatte Beatrice mit seiner offensichtlichen Ungeduld beschämt, endlich mit ihr allein sein zu dürfen. Kaum hatte sie die Teetasse an die Lippen geführt, stellte er die seine schon auf dem Tisch ab und bestand darauf, dass sie mit ihm eine Tour durchs Haus absolvieren müsse.

»Wie Mrs. Wallace aufgrund ihrer eingehenden Kenntnisse bestätigen kann, ist Kesgrave House recht groß und umfasst Aberdutzende Zimmer«, sagte er und erhob sich mit solcher Eleganz und Zielstrebigkeit, dass Beatrice' Magen vor Aufregung zu kribbeln begann. »Meine Vorfahren waren ein hochtrabendes Völkchen, das seine Kritiker mit einer übertriebenen Zurschaustellung von Reichtum einzuschüchtern versuchte. Eine bedauerliche Praxis, darf ich dir versichern, denn je greller das Federkleid, desto mickriger der Vogel. Daher plage ich mich jetzt mit einem außergewöhnlich großen Haus und einer übertriebenen Zahl von Zimmern herum, und wenn wir die Führung noch vor Einbruch der Dunkelheit beenden wollen, müssen wir sofort aufbrechen. Mrs. Wallace wird das sicher verstehen.«

O ja, Mrs. Wallace hatte es verstanden. Ihre Miene gab nichts preis, aber natürlich kannte sie ganz genau den Grund für die Eile des Frischvermählten, und der Gedanke daran ließ Beatrice knallrot werden.

Wie entsetzlich, dass das Dienstpersonal von ihrem Tun wusste, und irgendwie war der leere Gesichtsausdruck der Haushälterin schlimmer gewesen als Lady Abercrombies vielsagender Blick, den sie in ihre Richtung geworfen hatte, als Kesgrave seine Absicht verkündete, den Lunch zu verlassen, den die Herzoginwitwe nach einem Toast auf ihr gemeinsames Glück hatte auftragen lassen.

Den Blick fest zu Boden gerichtet, hatte sich Beatrice vom Duke also aus dem Raum führen lassen.

Kesgrave hatte Wort gehalten und sie mit auf eine kursorische Tour durch ihr neues Zuhause genommen, hatte sie auf erwähnenswerte Räume hingewiesen (»mein Arbeitszimmer, natürlich großzügig mit Mahagoni ausgestattet, zur Beförderung von tiefgehenden Gedanken«) und sie auf wichtige Kunstwerke aufmerksam gemacht (»Die Entstehung der Milchstraße, eines von drei Gemälden, die Tintoretto nach dem Herakles-Mythos gestaltet und das mein Großvater auf seiner Grand Tour erworben hat«).

Allerdings hatte sie seine Behauptung angezweifelt, der dritte Duke habe die große griechische Vase, die im Korridor im zweiten Stock stand, aus dem Palais des Tuileries geschmuggelt, indem er seinen Diener angewiesen hatte, sich als einen Buckligen auszugeben (»Natürlich gehe ich nicht davon aus, dass der Kammerdiener des Duc d'Orléans zuvor schon mal einen Mann mit Buckel gesehen hat, aber er war mit der Vase vertraut, die auf dem Türsturz des Salons stand«), und gleich darauf war Kesgrave an der offenen Tür zu seiner Schlafkammer stehen geblieben.

»Und jetzt, meine Liebe«, hatte er mit einem tiefen Seufzer der Zufriedenheit gesagt und ihr seine Lippen sanft erst gegen die Stirn und dann gegen die Wange gedrückt. »Und jetzt verspreche ich dir, dass du keinen Grund haben wirst, Einwände gegen meinen etwas übertriebenen Hang zur Gründlichkeit vorzubringen.«

Ihr Herz hätte vor Aufregung fast ausgesetzt, dennoch war ihr ein spöttisches »etwas übertriebenen Hang, Euer Durchlaucht?« gelungen, bevor sie murmelnd die Namen der drei Kriegsschiffe, die an der Schlacht bei Abukir teilgenommen hatten, in falscher Reihenfolge aufzählte.

Diesmal hatte er keine Anstalten unternommen, sie zu korrigieren.

Nachdem er sie am Ehebett abgeliefert hatte, hatte die angeblich so wichtige Tour durch das Haus ihre Funktion erfüllt, aber darin hatte sich ihr praktischer Nutzen auch schon erschöpft. Denn als Beatrice nun in den Gang trat, hatte sie keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollte. Sie erinnerte sich an eine elegante weiße Marmortreppe mit einer wunderbaren verzierten Balustrade, aber sie wusste nicht mehr, ob es links oder rechts zu den Bedienstetenunterkünften ging.

Sie konnte sich noch nicht einmal mehr daran erinnern, wo die griechische Vase stand.

War das nicht neben der Gainsborough-Landschaft mit den Kühen, die aus einem Teich tranken. Wie hatte Kesgrave das Gemälde genannt? Die Wasserstelle.

Sehr gut, Euer Durchlaucht, dachte sie etwas angesäuert, denn der Name des Gemäldes half ihr kaum dabei, es wiederzufinden.

Da ihr die eine Richtung als ebenso gut erschien wie die andere, wandte sie sich nach links und wurde augenblicklich mit einer Treppe belohnt. Allerdings war es nicht jene, die sie am Tag zuvor hochgestiegen war. Sie erfüllte zwar dieselbe Funktion und brachte sie nun ins Erdgeschoss, aber leider in einen ganz anderen Teil des Hauses. Aufs Geratewohl ging sie nach rechts. Ein langer Korridor mündete in einen etwas kürzeren Korridor, der sie in ein reizendes Musikzimmer mit blassgelben Tapeten und einer einschüchternden Zahl von Schlaginstrumenten brachte. Ein weiterer Gang führte sie an Tintorettos Werk vorbei – endlich ein Orientierungspunkt, den sie wiedererkannte –, und ihr wurde bewusst, dass sie nicht weit von Kesgraves Arbeitszimmer sein konnte.

Wie leicht wäre es gewesen, ihren Plan, Mrs. Wallace für sich zu gewinnen, aufzugeben und stattdessen dem Duke einen Besuch abzustatten. Er würde sich bestimmt freuen, sie zu sehen, denn vermutlich vermisste er sie ebenso sehr wie sie ihn.

Aber er war mit Mr. Stephens verabredet, um über die vielen Verwaltungsangelegenheiten zu reden, die er in der vergangenen Woche, in der er um sie herumscharwenzelt war, vernachlässigt hatte.

Nun, sie wollte gerecht sein: Herauszufinden, wer Mr. Hobson ermordet hatte, war keine triviale Beschäftigung gewesen, aber nur weil er sich einer lohnenswerten Aufgabe widmete, konnte er nicht alle anderen, die ebenfalls seine Aufmerksamkeit erforderten, ignorieren. Und wenn er jetzt seinen Pflichten nachkam, konnte er sich später ganz und ausschließlich ihr widmen – was Beatrice aus ganzem Herzen befürwortete und was der Hauptgrund war, warum sie ihn bei seinem Verwalter jetzt nicht stören wollte.

Nun, das und die fürchterliche Feigheit, die ein Umschwenken jetzt bedeutet hätte.

Streng wandte sie sich in die entgegengesetzte Richtung und marschierte mit entschiedenen Schritten an mehreren einladenden Räumen vorbei, unter anderem einer Rotunde mit Oberlicht und einem von einer rosaroten, violetten und gelben Blütenpracht erfüllten Wintergarten. Dieser Raum vor allem weckte ihr Interesse, am liebsten hätte sie ihn sofort näher in Augenschein genommen, weil er ihr als ein wunderbarer Ort erschien, um dort mehrere Stunden mit einem Buch zuzubringen, und weil eine eingehendere Begutachtung das Unvermeidliche weiter aufgeschoben hätte.

Nein, das musst du dir als Belohnung verdienen, sagte sie sich und nahm sich vor, den Raum erst wieder aufzusuchen, nachdem sie die Unterstützung der Haushälterin gewonnen und ihr versprochen hatte, sich nicht in die häuslichen Dinge einzumischen.

Ich bin nicht hier, wollte sie ihr in aller Ehrlichkeit versichern, um Sie in Ihrer Ordnung zu stören und Chaos zu schaffen. Ich möchte nur dafür sorgen, dass der Duke auch weiterhin alle Bequemlichkeiten genießt, für die Sie anscheinend ja so wundervoll sorgen. Sagen Sie mir bitte, was ich tun kann, um Ihnen dabei behilflich zu sein.