Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Lange Zeit galt Beatrice Hyde-Clare als schwer vermittelbares Mauerblümchen auf dem Heiratsmarkt der High Society. Doch dann stolperte die aufgeweckte junge Frau über ihre erste Leiche und entdeckte ihr Talent als scharfsinnige Detektivin – an der Seite des attraktiven und absolut nervtötenden Dukes of Kesgrave, der ihr stets auf wundersame Weise bei ihren Ermittlungen in die Quere kam.Als dieser begehrteste Junggeselle Londons Beatrice überraschend einen Heiratsantrag macht, steht die Welt Kopf – nicht nur für die zukünftige Duchess, die sich mit einem Mal nicht mehr vor Einladungen in exklusive Tee-Salons retten kann, sondern auch für ihre Tante Vera, die sofort anfängt, ihren Hausstand zu planen. Das ist selbst für eine unerschrockene Hobby-Detektivin zu viel, und Beatrice flüchtet sich in den Salon ihrer Vertrauten, der Countess von Abercrombie.Lady Abercrombie hat ihr vor kurzem einen neuen Fall in Aussicht gestellt – ein mysteriöser Todesfall, der offenbar schon viele Jahre zurückliegt. Doch nun gibt sich die ältere Dame plötzlich zögerlich. Es dauert eine Weile, bis Beatrice begreift, dass es in dem neuen Fall um ihre eigenen Eltern geht, die bei einem tragischen Bootsunfall ums Leben kamen, als sie ein Kind war. War es ein Unfall? Als Beatrice beginnt, in der Vergangenheit zu graben, erkennt sie mit zunehmendem Entsetzen, dass nichts in ihrer Familie so ist, wie es scheint …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 369
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
LYNN MESSINA
LYNN MESSINA
Beatrice Hyde-Clare gräbt in der Vergangenheit
Aus dem Englischen übersetzt
von Karl-Heinz Ebnet
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Für Jill Smith, deren großartiges erzählerisches Talent Beatrice und den Duke lebendig werden lässt
Hätte Beatrice Hyde-Clare nur für eine Sekunde geglaubt, die Zuneigung eines hochrangigen Adeligen würde sie vor den Folgen bewahren, die die Entlarvung eines Mörders während eines glanzvollen gesellschaftlichen Ereignisses mit sich brachte, so wäre sie von ihrer Tante augenblicklich eines Besseren belehrt worden. Diese fühlte sich nämlich von dem schamlosen Verhalten ihrer Nichte derart gedemütigt, dass sie ihr gütiges Lächeln kaum aufrechterhalten konnte.
Natürlich täuschte sie höchste Freude vor, während sie Beatrice für diesen unerträglichen Verstoß gegen die Etikette insgeheim aber aufs Schärfste verurteilte. So erschüttert sie auch vom skandalösen Verhalten ihrer Nichte war – diese war doch tatsächlich einem Gentleman auf die Terrasse gefolgt, hatte ihn einer unmoralischen Handlung bezichtigt und sich noch dazu seinem tätlichen Angriff ausgesetzt –, noch schlimmer wäre es gewesen, wenn die ehrwürdige Gesellschaft, die sich auf dem Ball der Larkwells eingefunden hatte, ihre Missbilligung bemerkt hätte. Keiner durfte auch nur ahnen, wie sehr das Verhalten ihrer Nichte sie erzürnte.
Oh, und wie erzürnt sie war!
Wie konnte diese liederliche junge Frau ihrer Familie erneut etwas Derartiges antun? Schon schlimm genug, dass sie nur wenige Monate zuvor eine vornehme Lady in deren eigenem Salon als Mörderin enttarnt hatte. Welch schamloser Mangel an Diskretion, lauthals zu behaupten, die Gastgeberin habe einem ihrer Gäste mitten in der Nacht mit einem Kerzenständer den Schädel eingeschlagen! Behauptungen dieser Art sollten von einer jungen Dame streng vertraulich oder, besser noch, überhaupt nicht geäußert werden, liefen sie doch den allgemeinen Anstandsregeln einer Hausgesellschaft völlig zuwider.
Aber nein, ihre kapriziöse Nichte musste die Anschuldigungen im Beisein aller Anwesenden – eingeschlossen des Ehemanns der Übeltäterin und ihres Sohns – herausposaunen. Fehlte ihr denn jeder Sinn für Anstand und Benimm?
Offensichtlich, denn soeben hatte sie die Untaten des Marquess of Taunton öffentlich gemacht, und das während Lady Hortense' Einführung in die Gesellschaft.
Dabei hätte es Beatrice doch eigentlich besser wissen müssen nach all den Vorträgen, die ihre Tante ihr gehalten hatte.
Allerdings – dies sei der Gerechtigkeit halber erwähnt – hatte Vera Hyde-Clare nicht daran gedacht, einen Ballsaal in ihre umfangreiche Aufzählung von Orten aufzunehmen, an denen es sich nicht schickte, einen Mörder zu entlarven. Selbstverständlich hatte sie den Salon erwähnt und das Speisezimmer sowie die Bibliothek, das Arbeitszimmer und den Rosengarten, falls an einem besonders milden Tag der Tee im Freien serviert würde. Dass sie den Ballsaal nicht eigens erwähnt hatte, war ein Versehen gewesen; ein Versehen, das jedoch aufgewogen wurde durch ihr nachdrückliches Insistieren, dass Mörder allenfalls in Ställen und, wenn es gar nicht anders ging, notfalls noch in der Küche demaskiert werden sollten.
Den Ballsaal zu vergessen, so gestand sich Vera ein, war ein unglückseliger Lapsus, den sie umgehend korrigieren würde, wenn sie wieder in der Kutsche saßen. Leider hatte sie den Verdacht, dass ihre widerspenstige Nichte sich das alles nicht wirklich zu Herzen nehmen würde. Selbst bei einem umfassenderen Katalog an Örtlichkeiten hätte sich Beatrice wohl gerade so verhalten, wie sie wollte. Ihre Nichte, die während ihrer ersten sechsundzwanzig Lebensjahre so ruhig und fügsam gewesen war, hatte sich in letzter Zeit unerklärlicherweise geweigert, irgendeinen Rat zu befolgen, und machte nur noch, was ihr selbst richtig erschien. Ihre Familie, die weit davon entfernt war, Beatrice' Halsstarrigkeit einer neuen inneren Stärke zuzuschreiben, nahm an, dass ihr Verstand durch die schrecklichen Ereignisse der letzten Zeit schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war. In rascher Folge war Beatrice in einer dunklen Bibliothek über einen Toten gestolpert, in einem Schuppen eingesperrt worden und hatte dann noch erfahren, dass die Liebe ihres Lebens, ein niedriger Kanzleischreiber aus Cheapside, bei einem Kutschenunfall ums Leben gekommen war.
Vera seufzte tief.
Beatrice, die ahnte, welche Gedanken ihrer Tante durch den Kopf gingen – in den zurückliegenden Monaten hatte diese zumindest nie einen Hehl aus ihrer Missbilligung gemacht –, versuchte, eine hinlänglich zerknirschte Miene aufzusetzen. Tante Vera fühlte sich durch ihr Verhalten nun mal zutiefst gekränkt. Ihrer Enttäuschung Rechnung zu tragen – oder dies zumindest vorzugeben –, war deshalb das Wenigste, was Beatrice für sie tun konnte.
Aber so ernsthaft Beatrice auch um einen reuevollen Anschein bemüht war, so wenig wollte ihr das gelingen. Dafür war sie viel zu trunken vor Glück, was sich in nichts anderem als einem breiten Grinsen äußerte.
Nur wenige Minuten zuvor hatte Damien Matlock, der Duke of Kesgrave, eingewilligt, ihr Ehemann zu werden. Der Duke of Kesgrave, der Hauptgewinn auf dem Heiratsmarkt der ehrenwerten Londoner Gesellschaft, der alles hatte, was man sich nur wünschen konnte – fantastisches Aussehen, Status, Reichtum –, dieser Mann liebte sie; sie, die unscheinbare Beatrice Hyde-Clare mit ihren Sommersprossen und ihrer spröden Art, der schon das Schicksal einer alten Jungfer beschieden schien.
Ungewöhnlicheres hatte sich nie ereignet.
Ihr Herz schlug freudig erregt, und im selben Moment sah sie alles mit einer bemerkenswerten Klarheit, denn nachdem der Duke ihr nun seine Gefühle erklärt hatte, kam es ihr vor, als hätten die Dinge sich zwangsläufig so ereignen müssen.
Wochenlang hatte sie in ihrem Zimmer gelitten, hatte sich selbst einen Dummkopf genannt, weil sie es auf eine so hohe Persönlichkeit wie den Duke of Kesgrave abgesehen hatte. Ein absurdes Verlangen, da nicht einen Augenblick lang zu hoffen war, dass der gebieterische Adelige seinen seltsamen Zwang, ihre Gegenwart zu suchen – einen Zwang, den er ihr gegenüber sichtlich verwirrt sogar eingestanden hatte – als das erkennen würde, was er war: als Liebe.
Und sie? Hatte so viele Stunden ihr Elend beklagt, während der Duke, der alsbald die wahre Natur seiner Gefühle erkannt hatte, alle möglichen Versuche unternahm, diese ihr zu offenbaren.
Nun, dachte Beatrice belustigt, er hatte eben nicht alles versucht. Hätte er sich anderer Mittel bedient statt der konventionellen Briefe und vormittäglichen Aufwartungen, hätten sie diese Sache bereits vor Urzeiten in der Annehmlichkeit der eigenen vier Wände regeln können statt auf der Terrasse der Larkwells und im Beisein des gewalttätigen Lord Taunton, dessen Versuch, sie zu erwürgen, damit endete, dass seine Haare in Brand gesteckt wurden.
Bei dem Gedanken daran musste sie unwillkürlich kichern, da ihr die Szene schon jetzt ganz unwirklich erschien: Taunton halb bewusstlos auf dem Boden liegend, sie auf seiner Brust kauernd, um ihn festzuhalten, während Kesgrave ihre Schultern umklammerte und ihr seine Liebe erklärte.
Der Duke hatte die Situation mit einem Augenzwinkern gemeistert – er hatte sie zärtlich geküsst, ohne sich um den halb Bewusstlosen zu kümmern, und ihren Antrag angenommen, der eigentlich mehr ein Vorschlag gewesen war –, was ihre Freude nur noch verstärkte, denn es war ja sein Humor, den sie von Anfang an so anziehend gefunden hatte. Trotz seiner manchmal unerträglichen Arroganz und Pedanterie besaß Kesgrave die erstaunliche Fähigkeit, sich über sich selbst lustig zu machen. Obwohl er aufgrund seines Rangs und seiner Abstammung hohes Ansehen genoss, erhob er sich nur selten über andere, so dass er alles recht realistisch einschätzte, unter anderem auch sich selbst.
Beatrice sprach ihm zwar eine bewundernswerte Klarsichtigkeit zu, war jedoch nicht davon ausgegangen, dass diese sich auch auf die Wahl seiner Ehefrau erstrecken würde. Mit Generationen von Matlocks im Rücken, die sich mit nichts Geringerem zufriedengeben würden als einer perfekten Ehefrau, hatte sie angenommen, dass der Duke dem familiären Wunsch nach Vollkommenheit natürlich pflichtgetreu nachkommen und sich ein Musterbeispiel an Anmut und Schönheit erwählen würde, um makellose, engelgleiche Kinder zu zeugen, deren brave Mienen die Galerie der Familienporträts im ersten Stock weiter veredeln würden. Dieser Diamant erster Güte, der seine zukünftige Frau sein sollte, würde nicht nur vorbildliches Auftreten auf dem gesellschaftlichen Parkett in die eheliche Verbindung einbringen, sondern auch große Ländereien und einen tadellosen Stammbaum.
Die zweckdienliche Natur der Verbindung, die Kesgrave unweigerlich eingehen würde, missfiel Beatrice, aber sie konnte es ihm kaum verdenken, wenn er sich den Erwartungen seiner Familie fügte. Immerhin war er der sechste Duke of Kesgrave.
Und genau diesen Aspekt der Situation konnte sie nicht verstehen, obwohl er es ihr schon so oft und ausführlich dargelegt hatte. Er war in der Tat der sechste Duke of Kesgrave und würde aus ebendiesem Grund keine Entscheidung treffen, die ihm nicht behagte.
Und obwohl ihm alle Möglichkeiten offenstanden, hatte er sich für sie, Beatrice, entschieden.
Das war eine atemberaubende Vorstellung, an die sie sich erst gewöhnen musste – was ihr schwerfiel und vielleicht immer schwerfallen würde.
Zum Glück verschaffte ihr Tante Vera viel Zeit, sich mit dieser Vorstellung vertraut zu machen, da sie keine Unterbrechung ihres Monologs zuließ. Onkel Horace hatte bislang zwei vergebliche Versuche unternommen, aber seine Frau dachte nicht daran, ihm die Bühne zu überlassen, und die anderen Gäste waren viel zu höflich, um sich in die scheinbar vertrauliche Familienangelegenheit einzumischen. Mrs. Hyde-Clare täuschte so überzeugend ihre Freude vor, dass Beatrice sehr verdutzt war, als sich ihre Tante unversehens über das Aussehen ihrer Nichte ausließ.
»Wie fürchterlich! Wie sieht denn nur dein Kleid aus?«, stieß Tante Vera hervor und senkte dabei ihre Stimme, während ihr Lächeln noch breiter wurde. Davon unberührt blieb nur ihr Blick, der so verhangen und düster war wie sieben Tage Regenwetter, während sich ihre Nasenlöcher vor Empörung weiteten. »Das ist nun schon das zweite Kleid, das du innerhalb weniger Monate ruinierst. Ich kann nur vermuten, ihm ist das gleiche gewaltsame Schicksal wie dem anderen widerfahren. Musst du dich immer auf Rangeleien mit aufgebrachten Gentlemen einlassen? Wirklich, Beatrice, wie kannst du nur so nachlässig sein? War ich nicht voller Verständnis, als du dich im Lake District in den Schuppen hast sperren lassen? Ich musste dich mit deinem zerrissenen Kleid und verschrammten Gesicht nur ansehen und habe sofort gewusst, dass du von diesem nichtsnutzigen Skeffington-Erben, der dich hineingestoßen und die Tür verriegelt hat, auf das Schändlichste misshandelt wurdest. Angesichts der Schwere dieser Verfehlung habe ich ihn im Namen deines Onkels getadelt. Und als du auf Mr. Davies' Beerdigung, der du hättest niemals beiwohnen dürfen, tätlich angegriffen wurdest, habe ich deine Wunden gepflegt. Aber jetzt ist es zum dritten Mal passiert, und ich frage mich allmählich, wie viel Mitgefühl du von mir noch erwartest. Sollte es grenzenlos sein? Ganz offensichtlich nicht, denn es scheint dich nur zu noch mehr Missgeschicken zu ermuntern.«
Nach dieser langen Ausführung musste Tante Vera Luft holen. Beatrice blickte zu ihrem Onkel, um zu sehen, ob er einen weiteren Versuch unternehmen wollte, selbst etwas zum Gespräch beizutragen. Im Gegensatz zum aufgesetzten Lächeln seiner Frau schien Horace' Freude echt zu sein. Zweifellos dachte er an das viele schöne Geld, das er sich sparen würde, sobald er sein lästiges Mündel dem Duke aufgehalst hatte. Obwohl er sich nie als besonders großzügig erwiesen und bei den Einkäufen immer darauf geachtet hatte, für Beatrice stets die billigere Variante zu nehmen, hielt er sich ihr gegenüber selbst doch für recht spendabel. Vielleicht musste man es als die größte Leistung ihrer Verwandten ansehen, dass sie sich für großzügig erachteten, während sie gleichzeitig an Geld und Zuneigung sparten.
Onkel Horace erfasste einen Moment zu spät, was Beatrice mit ihrem Blick andeuten wollte. Als er endlich zu einigen Worten ansetzte, nahm seine Frau ihren Vortrag schon wieder auf und wetterte nun gegen Beatrice' Impertinenz, für sich ein ausgeprägteres Gerechtigkeitsgefühl in Anspruch zu nehmen, als Vera das für sich tat.
»Nur weil ich nicht in Gesellschaft weitreichende Anschuldigungen gegen hochstehende Person vorbringe, heißt das noch lange nicht, dass ich ungesetzliches Verhalten gutheiße. Ich bin zutiefst beunruhigt über Mrs. Lamberts wiederholte Versuche, den Fischhändler in den Bankrott zu treiben. Der Fischhändler kann mir nicht die von mir gewünschte Makrele besorgen, wenn er kein Geld hat, um Waren einzukaufen. Aber schelte ich Mrs. Lamberts deswegen öffentlich und setze sie dem Tadel anderer Adeliger aus? Um Himmels willen, nein! Die feine Gesellschaft kann nicht funktionieren, wenn wir alle Todesängste ausstehen müssen, weil über unsere kleineren Sünden so freimütig gesprochen wird wie über das Wetter.«
Beatrice wunderte es kaum, dass ihre Tante Geiz mit Mord gleichsetzte, schließlich maß sie die Schwere einer Verfehlung am gesellschaftlichen Unbehagen, das dadurch ausgelöst wurde. Was sie allerdings bestürzte, war die Vehemenz, mit der Tante Vera behauptete, die Gefühle des Duke in dieser Sache zu kennen. Da dessen Gefühle ihrer Ansicht nach mit ihren eigenen in Einklang standen – bequemerweise, wie Beatrice mit nüchternem Zynismus feststellte –, konnte sie auch sehr entschieden dessen Verlegenheit artikulieren bei der Aussicht, eine Frau zu ehelichen, die zwischen einem Walzer und einer Quadrille einen Mörder entlarvte.
»Keiner will eine Frau, deren Sinn für Anstand dermaßen beeinträchtigt ist, dass sie in den Privatangelegenheiten anderer Leute herumschnüffelt, weil sie hofft, deren Geheimnisse aufzudecken«, erklärte ihre Tante.
Ein schelmischer Impuls reizte Beatrice, Tante Vera zu versichern, dass der Duke kein Problem mit ihren investigativen Aktivitäten habe, dann beschloss sie aber, die arme Frau nicht noch weiter zu provozieren. Wie es aussah, brauchte es der Provokation nicht, denn ihre Tante zeterte auch so unvermindert fort, bejammerte Kesgraves Ungemach und leitete von dort geschickt dazu über, ihr eigenes zu beklagen.
Beatrice konnte getrost stolz darauf sein, sich einen Duke geschnappt zu haben, natürlich, und Tante Vera konnte es ihr auch nicht verübeln, die Gelegenheit ergriffen zu haben, um sich ihre Zukunft zu sichern und ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern. Allerdings wäre es für alle Beteiligten besser gewesen, wenn der Duke an der grandiosen Partie festgehalten hätte, die seine Großmutter für ihn arrangiert hatte. Die vornehme Lady Victoria mit ihren rabenschwarzen Haaren, ihrem altehrwürdigen Namen und den großen Ländereien, die sich gleich nördlich des Matlock'schen Anwesens erstreckten, hätte sich sehr viel besser zur Herzogin geeignet.
Genau dafür war eine Hochzeit doch da – für die prosperierende Verbindung zweier alteingesessener Familien.
Die Hyde-Clares, erklärte Tante Vera mit vorwurfsvoller Stimme, machten hingegen nicht viel her. Sie waren von tadelloser Herkunft, ja, tatsächlich äußerst tadelloser Herkunft, nannten einen bescheidenen Familiensitz in Sussex ihr Eigen und hatten ein ebenso bescheidenes Motto »Si non est molestum« (»Wenn es keine Mühe macht«) gewählt. Aber zu den grundlegenden Eigenschaften der Familie gehörte es, die eigenen Grenzen zu kennen, und sie waren stolz darauf, den Blick fest auf den Boden der Tatsachen zu richten und niemals in schwindelerregenden Höhen nach den Sternen zu greifen und sich größer zu machen, als sie waren.
Das alles hatte Beatrice nun zunichtegemacht, indem sie sich einem Duke aufgedrängt hatte.
Dieses unbescheidene Gör!
Hatte sie denn nicht bedacht, was ihre Verlobung für den Rest der Familie bedeutete? Ihr gesamtes Leben würde umgekrempelt werden, denn nun würden von ihnen gewisse Dinge erwartet. Man würde sich nach der letzten Mode kleiden müssen – man würde feinste Seide tragen, beste Pferde einspannen, ausgefallenste Gesellschaften geben müssen.
Großer Gott, sie würde Kesgraves Großmutter zum Tee einladen müssen!
Als Tante Vera diese Schrecklichkeit bewusst wurde, welkte ihr Lächeln vollends dahin. Sie sah die respekteinflößende Herzoginwitwe in ihrem eigenen Salon vor sich, wie sie mit abschätzigem Blick über den abgewetzten Damast der Polsterbank strich.
Der Bezug musste dringend erneuert werden, ebenso die vom Sonnenlicht ausgebleichten Vorhänge. Und der Zustand des Teppichs war alles andere als makellos.
Vera erblasste, als sie an die vielen Mängel des Salons dachte und ihr bewusst wurde, wie viel es kosten würde, wenn sie alles ersetzen wollten – und mit »allem« meinte sie jedes einzelne Möbelstück in ihrem Londoner Haus.
Die Aufregung um Beatrice und den Duke hatte sich kaum gelegt, und schon war die Behaglichkeit, in der die Hyde-Clares lebten, in Frage gestellt. Jedenfalls würde sich ihre Lage nur weiter verschlimmern, wenn sie nun gezwungen würden, in Saus und Braus zu leben.
Während ihre Tante die erdrückenden Verpflichtungen beklagte, die die Verbesserung ihres Heims mit sich bringen würde, musste Beatrice unwillkürlich lachen. Aber nicht Veras gewohnt übertriebene Reaktion amüsierte sie, obwohl sie überzeugt davon war, dass zumindest die Stühle in Onkel Horace' Arbeitszimmer vor den mäkeligen Blicken der Herzoginwitwe sicher sein würden. Es war eher der absurde Gedanke, dass sie, die ruhige und fügsame Beatrice Hyde-Clare, auch nur einen Gedanken daran verschwendet hätte, was es bedeutete, eine Herzogin zu sein. Noch nicht einmal zu Beginn ihrer ersten Saison, als sie sich, noch frisch von der Schulbank, in dem Glauben wähnte, die Sommersprossen um ihre Nase würden ihr etwas Reizend-Charmantes verleihen – eine Hoffnung, die schnell zunichtegemacht wurde, als die gehässige Miss Brougham sie als fades Geschöpf bezeichnete –, hatte sie jemals daran gedacht, etwas anderes erwarten zu können als die Ehe mit einem zweitgeborenen Sohn aus einer Mitteklassefamilie.
Tante Vera ließ sich zu einem finsteren Blick hinreißen. Sie konnte nicht erkennen, was an den Kosten für neue Stoffe so komisch sein sollte, schließlich war der Preis für Seide sehr hoch. Und auch Onkel Horace, der den Grund für die Erheiterung seiner Nichte ebenso missverstand, versteifte sich am ganzen Körper. Wenn ihm etwas noch mehr zuwider war als unnötige Ausgaben, dann der leichtfertige Umgang mit unnötigen Ausgaben.
Mehrere hundert Pfund an Erneuerungen waren keine Kleinigkeit.
Beatrice war klar, dass die Lage entschärft werden musste. Auch die anderen Gäste, die interessiert im Ballsaal herumstanden und nur darauf warteten, sich bei der zukünftigen Duchess of Kesgrave einzuschmeicheln, würden bald bemerken, dass die von allen erwartete Freude ihrer Tante nur vorgetäuscht war. Aber in Beatrice' Kopf herrschte eine seltsame Leere. Die Ereignisse der letzten halben Stunde – einem Mörder gegenüberzutreten, einen gewaltsamen Tod abzuwenden, zu erfahren, dass der Duke sie liebte, diesbezügliche Glückwünsche entgegenzunehmen, dem Missfallen ihrer Tante ausgesetzt zu sein – hatten ihren flinken Verstand arg in Verlegenheit gebracht. In der Tat, in diesem Augenblick, in dem eine intelligente Erwiderung vonnöten gewesen wäre, um ihre Verwandten zu besänftigen, konnte sie nur an ihren zunehmenden Durst denken. Nach der schrecklichen Auseinandersetzung mit Taunton war ihre Kehle wie ausgedörrt, ein Zustand, der immer schlimmer wurde, je länger ihre Tante sprach. Beatrice sehnte sich derart nach einem Glas Ratafia, als wäre sie seit Stunden durch die Wüste geirrt.
Und nach einem ruhigen Plätzchen, wo sie ihr Getränk zu sich nehmen könnte, dachte sie, obwohl ihr klar war, dass die Unterhaltung mit ihrer Tante nicht die letzte des Abends sein würde.
Selbst wenn es Beatrice irgendwie gelingen sollte, der Aufmerksamkeit der übrigen Gäste zu entgehen, konnte sie nicht aufbrechen, ohne mit Kesgraves Großmutter ein paar Worte zu wechseln, eine ebenfalls wenig verlockende Aussicht. Tante Veras Bedenken, wiewohl übertrieben, waren nicht ganz von der Hand zu weisen, denn Beatrice war schon einmal von der scharfzüngigen Herzoginwitwe gemustert und für unzulänglich befunden worden.
Und natürlich konnte sie sich auch nicht ihrer Cousine und ihrem Cousin entziehen, deren überschwängliche Glückwünsche sie noch entgegennehmen musste und die begierig darauf warteten, sie nach Hause zu begleiten.
Beide waren vom Duke sehr beeindruckt und dementsprechend aufgekratzt über die große Neuigkeit, und bei dem Gedanken an das aufgeregte Geschnatter, das sie erwartete, beschloss Beatrice, Zuflucht zu einer List zu nehmen, der sich ihre Verwandten kaum würden erwehren können.
»Du musst an Flora denken, liebe Tante«, sagte sie.
Tante Vera, deren Gedanken so gut wie immer um ihre geliebte Tochter kreisten, nahm ihr die eindringlichen Worte sowie die Unterstellung, sie könnte Flora auch nur einen Moment vergessen haben, etwas übel. »Flora?«, fragte sie und straffte die Schultern.
»Als Schwippschwägerin des Duke of Kesgrave wird Flora in den Genuss so mancher Vorteile kommen und sich eine brillante Partie sichern können«, erläuterte Beatrice, bevor sie sich vergegenwärtigte, worauf es ihre Tante wirklich abgesehen hatte. »Nun ja, sagen wir, eine gute Partie. Die Verbindung der Familie zu Kesgrave wird Flora genügend Gelegenheiten geben, Bewerber angemessenen gesellschaftlichen Standes kennenzulernen, und ich weiß, dass sie als umsichtige junge Dame dich nicht so enttäuschen wird wie ich, indem sie zu hoch hinauswill.«
Diese Annahme, so wusste Beatrice, war falsch, denn ihre jüngere Cousine war zwar freundlich, aber kaum der Inbegriff von sorgfältigen Erwägungen. Tante Vera als liebevolle Mutter stimmte aber natürlich augenblicklich mit ein. Auch Onkel Horace fand die Äußerung wohl zutreffend, und die beiden ergingen sich in überbordenden Komplimenten, mit denen sie den imaginären Bewerber überhäuften, dessen Verwandten sich kaum dazu berufen fühlen würden, den Zustand der Polstermöbel zu begutachten.
Dankbar, dass die beiden sich mit einem Thema beschäftigten, das nichts mit ihr zu tun hatte, wandte sich Beatrice ihrem drängendsten Problem zu – wie konnte sie an ein Glas Ratafia kommen, ohne wegelagernden Matronen und deren Töchtern in die Hände zu fallen, die sie zum Tee einladen wollten. Sie hatte schon jetzt ein Dutzend solcher Einladungen erhalten und konnte den Gedanken nicht ertragen, ein Dutzend weitere absagen zu müssen.
Sechs Jahre, in denen sie die gesellschaftliche Saison stets in komfortabler Unsichtbarkeit verbracht hatte, hatten sie kaum darauf vorbereitet, welche Aufmerksamkeit die Frau eines Duke auf sich ziehen würde.
Kesgrave – verflucht sei seine Anmaßung – hatte das natürlich vorausgesehen. Genau davor hatte er sie gewarnt, als sie auf dem Absatz kehrtgemacht hatte, um in den Ballsaal zurückzukehren, wo sie sofort von einem Schwarm Damen der feinen Londoner Gesellschaft umringt wurde, die um ihre Gunst buhlten. Der Duke scheuchte sie fort, bevor eine von ihnen den bewusstlosen Lord Taunton auf der Terrasse zu Gesicht bekam, und wies einen Diener an, nach einem Büttel zu rufen. Beatrice erwartete noch, darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, wie es um die Wiedererlangung der Marquess'schen Geisteskräfte bestellt sei, aber sie ging davon aus, dass sie noch an diesem Abend aufgerufen würde, ihre Ermittlungen gegen ihn darzulegen.
Davor aber lockte sie der Tisch mit den Erfrischungen. Leider befand er sich auf der anderen Seite des Ballsaals und damit außerhalb ihrer Reichweite. Um das Risiko zu vermeiden, erneut umschwärmt zu werden, fragte sie ihren Onkel, ob er so freundlich sein könne, ihr ein Glas zu besorgen.
Das schien ihr eine höfliche Bitte, doch sowohl Horace als auch seine Frau starrten sie nur entsetzt an. Tante Vera verschlug es glatt den Atem.
»Halten wir uns jetzt schon für etwas Besseres?«, entgegnete sie spitz.
Das nun war eine ganz und gar lächerliche Anschuldigung, dennoch war Beatrice klar, warum ihre Tante sie vorbrachte. In den zwanzig Jahren, seitdem sie als Waise in ihre Obhut gegeben worden war, um vom Bruder ihres Vaters aufgezogen zu werden, hatte sie beschämend selten um irgendetwas gebeten. Beatrice, nach dem tragischen Tod ihrer Eltern gewaltsam in unbekannte Gefilde geworfen, war von der wohlmeinenden Familie wiederholt eingetrichtert worden, gefügig und brav zu sein, ein Rat, dem das eingeschüchterte Mädchen inbrünstig nachgekommen war, da es nicht unbekannten Dorfbewohnern im nächsten Cottage überantwortet werden wollte. Dass sie es nun wagte, eine Bitte zu äußern, musste dem Paar als eine unverfrorene Frechheit erscheinen.
»Oh, meine liebe Tante, ich fürchte, das habe ich getan«, erwiderte Beatrice mit übertriebener Verlegenheit, die sie keineswegs empfand. »Was bin ich nur für eine schamlose Person. Es versteht sich natürlich von selbst, dass ich auf dich und Onkel Horace baue, damit ihr mich lehrt, weiterhin bescheiden und demütig zu sein. Tante, ich bitte dich, sei streng mit mir, und lass dir deine Urteilskraft nicht durch deine Zuneigung für mich zunichtemachen.«
Beatrice gab häufig Kommentare ab, deren ironische Natur an ihrer Tante völlig vorbeiging, die Vorstellung aber, dass sie sich in ihrem Verhalten gegenüber der Nichte von Zuneigung leiten lassen könnte, war so absonderlich, dass noch nicht einmal sie dies für bare Münze nehmen konnte. Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen und musterte Beatrice' ruhige Miene nach Anzeichen von Spott. Als sie nichts dergleichen entdecken konnte, schnaubte sie unwirsch und schlug dann vor, dass Beatrice ihr ein Glas Ratafia holen sollte, während sie den Tisch mit den Erfrischungen aufsuchte.
»Ja, genau so sollte es sein«, erklärte Beatrice, unterdrückte ein Lachen, das ihr als Verächtlichkeit hätte ausgelegt werden können, was es aber keineswegs war. Sie bewunderte aufrichtig die Neigung ihrer Tante zur konsequenten Unfreundlichkeit. »Ich spüre schon, wie mein unangemessenes Selbstwertgefühl von Sekunde zu Sekunde schwindet. Du bist wirklich viel zu gut zu mir.«
Huldvoll neigte Tante Vera das Haupt, während Onkel Horace versprach, ebensolche Anstrengungen zu unternehmen, um ihren Stolz im Zaum zu halten. Beatrice, die es nun nicht mehr länger aushielt, entschuldigte sich, um die Getränke zu holen. Sie hatte kaum zehn Schritte zurückgelegt, als Miss Petworth sich bei ihr unterhakte, als wären sie seit ihrer Kindheit beste Freundinnen, und darauf bestand, dass sie ihr alles erzähle.
»Und keine falsche Schüchternheit, meine Liebe«, meinte sie verschwörerisch, »denn zwischen uns sollten keine Geheimnisse sein.«
Oh, in der Tat, viele konnten es wirklich nicht sein, dachte Beatrice, die ebenso amüsiert wie erstaunt war über die Chuzpe der jungen Frau, mit der sie bis zu diesem Augenblick kein einziges Wort gewechselt hatte. Vermutlich wäre die junge Dame überfordert gewesen, auch nur irgendetwas an ihr richtig zu beschreiben, mit Ausnahme der Haarfarbe vielleicht, aber auch die wäre wohl eher geraten. Trotzdem strahlte Miss Petworth sie nun mit verheißungsvoll glänzenden Augen an und versuchte sie dazu zu überreden, ein interessantes Ondit herauszurücken, das sie sogleich in die Gerüchteküche werfen konnte.
»Ich werde es auch niemandem erzählen«, versprach Miss Petworth dreist. »Alles, was Sie sagen, bleibt ganz entre nous. Ich bin überaus angetan, meine Liebe, überaus angetan, und habe immer gewusst, dass Ihnen einmal etwas Spektakuläres gelingen wird – nicht wie meine Mutter, die gar nicht glauben wollte, dass es Sie überhaupt gibt, als Mrs. Alcester uns die wundervollen Neuigkeiten mitteilte. Sie glaubte, ihre Freundin würde sich einen Spaß erlauben, natürlich hatte sie nämlich gehofft, der Duke würde sich mir geneigt zeigen. Aber wie sollte er auch nur einen Blick für so ein schlichtes Ding wie mich übrighaben, wenn Sie im Raum sind?«
Da Miss Petworth eine außergewöhnlich schöne junge Dame war – mit großen, grauen Augen, kastanienbraunen Locken und rosenfarbenen Wangen –, war diese Bemerkung im besten Fall gedankenlos, im schlimmsten Falle grausam. Miss Petworth war ebenso alt wie Flora, hatte sich im selben Monat vor der Königin verneigt und zur großen Verärgerung ihrer Cousine sofort die Aufmerksamkeit sämtlicher attraktiver Gecken auf sich gezogen. Ihr Vermögen bewegte sich in einer vernünftigen Größenordnung, war also groß genug, um Interesse zu wecken, aber nicht so gewaltig, um Mitgiftjäger anzulocken. Sie besaß eine leise, raue Stimme, die es erforderlich machte, sich ihr zuzuneigen, wenn man sich mit ihr unterhalten wollte, und einen lebhaften, pointierten, aber keineswegs tendenziösen Verstand.
Flora, die mit ihren glatten rotbraunen Haaren und ihren haselnussbraunen Augen von ansprechender Niedlichkeit war, konnte sie nicht ausstehen. Wäre Miss Petworth nur ein klein wenig älter gewesen als die zwanzig Jahre zählende Flora, hätte diese sie aufrichtig angehimmelt, da Beatrice Cousine gesellschaftlich Hochstehenden natürlich großen Respekt entgegenbrachte. Aber die Errungenschaften der Unvergleichlichen waren nun mal ein wenig zu groß, und es schien Flora wohl so, als ziehe diese junge Frau auf ihre Kosten alle Aufmerksamkeit auf sich.
Da Beatrice wusste, wie wenig ihre Cousine Miss Petworth ertragen konnte, war sie nun keineswegs überrascht, sie mit zielgerichteten Schritten und aufgebrachter Miene auf sie zueilen zu sehen. Beatrice konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie absurd sich ihr scheinbar vertraulicher Umgang mit Miss Petworth ausnehmen musste, weshalb sie nun den Kopf neigte, um ihr Amüsement darüber deutlich zu machen. Aber bei Flora kam nichts davon an. Wenn überhaupt, so nahm deren Zorn noch zu. Entschlossen hakte sie sich an Beatrice anderer Seite unter und zerrte an ihrem Arm, um sie von der Rivalin loszureißen. Durch die abrupte Bewegung geriet Beatrice ins Taumeln und Miss Petworth ins Stolpern, beide rangen um ihr Gleichgewicht, während Flora sie heroisch stützte.
»Meine liebe Miss Petworth«, sagte Flora mit überzeugend nachdenklich gerunzelter Stirn. »Ich fürchte, Sie leiden an Gleichgewichtsstörungen. Wie schlimm für Sie. Sie müssen sich sofort setzen, damit der Schwindel vorübergeht. Schaffen Sie es noch bis zu einem Stuhl, ohne hinzufallen, oder sollen wir Ihnen jemanden suchen, der Sie begleitet? Lord Dawlish scheint momentan frei zu sein. Er wird Ihnen sicherlich hocherfreut seine Hilfe anbieten.«
Bevor Miss Petworth noch etwas darauf erwidern konnte, sprach Flora bereits den siebzigjährigen Lord an, der seinerseits zur Wahrung des Gleichgewichts auf einen Stock angewiesen war, und bestand darauf, dass er der armen jungen Dame helfe, bevor sie gänzlich kollabiere. Miss Petworth, durchaus davon überzeugt, auf eigenen Beinen stehen zu können, protestierte entschieden, noch dazu, als sie sah, wie der Earl sich jetzt schwankend in ihre Richtung in Bewegung setzte. Aber Flora prangerte sie daraufhin bloß der Unhöflichkeit an, wenn sie Dawlish des Vergnügens beraube, ihr seine Unterstützung anzubieten. Seine Lordschaft, die kurz zuvor noch recht zögerlich auf die Bitte reagiert hatte, fühlte sich jetzt in der Tat beleidigt, worauf Miss Petworth eine Entschuldigung stammelte, während Flora sie dazu drängte, den von ihm angebotenen, zittrigen Arm anzunehmen. Die junge Schönheit erblasste, der ältliche Adelige erbebte, und Flora schob das Paar von sich fort, gerade so, als hätte Dawlish ebenfalls versucht, sich Beatrice' Vertrauen zu erschleichen.
Es war ein schreckliches Spektakel, von Anfang bis Ende, und Beatrice, peinlich berührt vom Verhalten ihrer Cousine, erkannte, dass ihre Verlobung mit dem Duke of Kesgrave, die doch eigentlich ein vorteilhaftes Ereignis im Leben der Hyde-Clares hätte sein sollen – immerhin hatten sie fast ein Jahrzehnt lang versucht, ihre Nichte irgendeinem arglosen Bewerber aufzubürden –, stattdessen nun die geistige Verfassung der ganzen Familie zu unterminieren drohte.
Zwanzig Jahre hatte Beatrice ihrer Tante zugehört, die scheinbar endlos über Themen wie den Gebrauch eines Stickrahmens parlieren konnte oder, warum sich Rotbraun für junge Damen mit roten Haaren nicht eigne (eine so unlogische Aussage, dass sie sich noch Jahre später wunderte, woher ihre Tante das hatte). Beatrice war in all diesen Jahren jedenfalls zu der Überzeugung gelangt, dass sie alles ertragen könne. So hatte sich Tante Vera während einer besonders zermürbenden Sitzung im Salon des Wellsdale House einmal über die Spitzenmuster am Hof von Elizabeth I. ausgelassen. Ihr Vortrag behandelte den Vorzug der Nadelspitze gegenüber der Klöppelspitze, in Wahrheit aber war es um die Unzulänglichkeiten von Monarchinnen gegangen.
Und nun, eingeschlossen im Salon ihrer Tante, während draußen der erste warme Frühlingstag zu genießen gewesen wäre und die Luft so erfüllt war vom süßen Duft des sonnenschweren Flieders, dass Beatrice meinte, ihn noch durch die Vorhänge riechen zu können, hatte sie, die Hände sittsam im Schoß verschränkt, jegliche Ungeduld in sich erstickt und stundenlang ernst und ruhig vor sich hingelächelt.
Und dennoch, als Tante Vera nun einen achten Lakaien zur Liste der Diener hinzufügte, der ihre Nichte als Herrin eines großen herzoglichen Anwesens vorstehen würde, erkannte Beatrice, dass sie doch nicht so stark war, wie sie angenommen hatte.
Die Liste hatte in der Küche mit einem temperamentvollen französischen Chefkoch ihren Anfang genommen, dessen Vorliebe für komplizierte Saucen mehrere Beiköche erforderte, und war so irritierend lang, dass Beatrice versucht war zu glauben, ihre Tante erfinde nur Märchen, um ihr einen Schrecken einzujagen. Der achte Lakai war sicherlich ebenso echt wie die Hexe im Wald, die arme Kinder verspeiste, die sich dort verlaufen hatten.
Leider mangelte es ihrer Tante an der nötigen Fantasie, um sich so etwas auszudenken, wie Beatrice nur allzu gut wusste. In der Tat, an Tante Veras Ernsthaftigkeit war keinesfalls zu zweifeln, denn mit jedem neuen Bediensteten, den sie aufführte, geriet sie mehr und mehr aus der Fassung, als würde eines Tages auch sie dazu aufgerufen werden, eine so verwirrend große Dienerschaft zu leiten.
Nein, Vera wollte ihre Nichte lediglich mit der korrekten Anzahl der bald unter ihrer Aufsicht stehenden Bediensteten vertraut machen, und Beatrice, die fürchtete, von den vielen Informationen überwältigt zu werden, sprang auf, bevor die unselige Tante ihrer Liste noch einen neunten Lakaien hinzufügen konnte.
»Großer Gott, Beatrice!«, entfuhr es Tante Vera erschreckt. »Eine zukünftige Duchess springt nicht herum wie ein Frosch am Teichufer. Sie erhebt sich mit Anmut und Gelassenheit, wobei die Schultern so entspannt und locker bleiben, dass man kaum wahrnimmt, dass sie sich überhaupt bewegt.« Als wäre ihr die Unmöglichkeit der soeben gestellten Herausforderung bewusst geworden, schüttelte Vera den Kopf und seufzte bedauernd. »Mehr als je zuvor wünschte ich, Mr. Davies wäre nicht so nachlässig gewesen, als er vor die Kutsche trat. Wie wunderbar du dich zur Frau eines Kanzleischreibers geeignet hättest!«
Tante Vera betrauerte sehr häufig den vorzeitigen Tod von Beatrice' vermeintlichem ehemaligem Galan – »vermeintlich« deswegen, weil der fragliche Mann, ein gewisser Theodore Davies, nichts weiter war als eine Erfindung, ersonnen um einer jungen Dame vertrauliche Informationen zu entlocken, nachdem Beatrice sie im Lake District des Mordes an ihrem eigenen Vater verdächtigt hatte.
Das widersinnige Klagen ihrer Tante, keinen niedrigen Kanzleischreiber in der Familie begrüßen zu dürfen, ließ Beatrice amüsiert lächeln.
»Das ist fürwahr eine Tragödie«, stimmte sie ihr zu. »Aber vergiss nicht, Mr. Davies war verheiratet und hatte zum Zeitpunkt des Unfalls zwei wunderbare Kinder. Nicht die Kutsche verhinderte eine glückliche Verbindung, sondern seine Gattin.«
So vernünftig dieser Punkt auch sein mochte, ihre Tante ließ sich darauf nicht ein, denn wahre Liebe konnte doch sicherlich alles überwinden – alles, nun ja, bis auf den Tod.
Betrübt wegen dieses nicht zu überwindenden Hindernisses, seufzte Tante Vera und kehrte frohen Mutes zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurück, nämlich ihrer Nichte eine korrekte Vorstellung ihrer anstehenden Pflichten zu vermitteln. Es lag keineswegs in ihrer Absicht, die junge Frau von der Hochzeit mit dem Duke abzubringen, natürlich nicht, allerdings wäre es höchst unaufrichtig gewesen, diese Möglichkeit nicht wenigstens in Betracht zu ziehen.
»Du musst nicht fürchten, man würde streng über dich urteilen, falls du beschließen solltest, deine Antwort noch einmal zu überdenken«, fügte Tante Vera tröstend an. »Ich bin mir ganz sicher, man wird sehr viel besser über dich denken, wenn du diesen Moment der Schwäche seitens Kesgraves – denn etwas anderes kann es ja nicht gewesen sein – nicht ausnützt. Wenn ich es richtig verstehe, war er nach deinem Intermezzo mit Lord Taunton um deine körperliche Unversehrtheit besorgt und hat entsprechend gehandelt.«
Beatrice erbleichte, als sie den bösartigen Klatsch der High Society zu hören bekam. Sie war nicht naiv oder dumm. Sie wusste sehr genau, dass die feine Gesellschaft sehr grausam sein konnte, allerdings war sie seit ihrer ersten Ballsaison dem Urteil dieser Leute nicht mehr ausgesetzt gewesen. Ihre Jungfernschaft hatte sie, aller Unannehmlichkeiten zum Trotz, bisher vom grellen Glanz der Hautevolee abgeschirmt, denn eine Frau, die ihrem Zweck nicht gerecht wurde, verschwand in der Versenkung.
Jetzt aber war sie mit einem Mal wieder sichtbar geworden.
Kesgraves Aufmerksamkeit hatte ihr Gestalt und Form gegeben.
Der Druck auf ihrer Brust war nicht mehr schmerzhaft, sondern unerträglich, wenn sie daran dachte, wie viele Leute der gleichen Meinung waren wie ihre Tante – dass sie die Situation unehrenhaft ausgenutzt hatte, um ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern.
Beatrice merkte, wie sie keine Luft mehr bekam. Sie drehte sich um und ging eilig zur Tür.
Vera, die sich unerklärlicherweise mit dem Rücken ihrer Nichte konfrontiert sah, rief ihr verwirrt hinterher.
»Aber wo willst du denn hin? Wir haben uns doch noch gar nicht über die Dienstmädchen unterhalten, mit denen du zu tun haben wirst. Es gibt so viele: obere und untere Hausmädchen, Küchenmädchen und Wäschemädchen und Spülmädchen und Milchmädchen.«
So schnell Beatrice auch aus dem Zimmer stürmte, der Litanei an Dienstmädchen entkam sie ebenso wenig wie der Tatsache, dass sie wirklich existierten. Anders als beim achten Lakaien wusste sie, dass es diese Dienstboten wirklich gab. Gelegentlich hatte sie deren diverse Dienste nämlich selbst schon in Anspruch genommen – nicht an einem einzigen Wochenende, auch nicht in einer einzigen Woche, aber in einer so überschaubaren Zeitspanne, um zu wissen, dass eine derart umfangreiche Schar an Personal im Haushalt eines Duke nichts Ungewöhnliches war.
Beatrice lief zur Treppe und wollte sich in ihrer Schlafkammer einschließen, hatte aber kaum zwei Stufen genommen, als ihr klar wurde, dass sie den beengten Raum nicht ertragen würde.
Sie brauchte Luft.
Ohne anzuhalten, ohne ihren Pompadour mitzunehmen, ging sie zum Eingang und trat hinaus in den Märztag, der allerdings etwas kühler war, als die strahlende Sonne versprach.
Egal, dachte Beatrice, als sie auf dem Bürgersteig stand und ihre Optionen durchging: links oder rechts? Es war seltsam, ohne Ziel zu sein. Jetzt, während sie so dastand, wurde ihr bewusst, dass sie das Londoner Haus nie ohne eine feste Absicht verlassen hatte. So verhielt man sich nicht in der Stadt, man streifte nicht müßig durch die Straßen, wie man es in einem ländlichen Park tun würde.
Sie brauchte ein Ziel.
Aber wohin?
Das Archiv und der Lesesaal des Montague House mit seinen grünen Ledersesseln, seiner freskengeschmückten Decke und den Holzvertäfelungen an den Wänden standen ihr vor Augen. Wie ruhig sie sich dort gefühlt hatte, als sie sich mit der Geschichte des Dolchs beschäftigt hatte, mit dem, wie sie glaubte, der Earl of Fazeley ermordet worden war. Der gutbetuchte Dandy war ihr tot vor die Füße gefallen, als sie gerade die Redaktionsräume der London Daily Gazette verlassen wollte, und obwohl ihre Ermittlungen offiziell nicht notwendig gewesen wären, hatte sie sich gezwungen gesehen, ihren Vermutungen zu der Mordwaffe nachzugehen.
Auch Kesgrave war damals im Museum aufgetaucht und hatte sich mit einer erstaunlichen Leichtfertigkeit, die sie jetzt als Hingezogenheit zu ihr erkannte, in ihre Ermittlungen gedrängt. Dass sie den Raum mit Kesgraves beruhigender Anwesenheit assoziierte, erklärte den Reiz, den dieser Lesesaal auf sie ausübte. Sie sehnte sich danach, Kesgrave nahe zu sein, indem sie einen Ort aufsuchte, an dem sie einst zusammen gelacht hatten.
Das, dachte sie, war doch nur natürlich.
Die Ereignisse des letzten Abends waren so seltsam und verstörend gewesen, dass sie sich insgeheim beinahe fragte, ob sie sich alles nur eingebildet hatte. Aber sie wusste, dass der Marquess of Taunton tatsächlich versucht hatte, sie zu töten, denn sie hatte Schrammen am Rücken, dort, wo er sie gegen die Steinbalustrade gedrückt hatte. Und die schwarzen Brandflecke auf ihrem Kleid bezeugten, dass sie seiner tödlichen Umklammerung nur deshalb entkommen war, weil sie ihm eine Fackel ins Gesicht gestoßen hatte. Keine greifbaren Beweise gab es allerdings dafür, dass Kesgrave sie geküsst hatte, sie konnte sich lediglich auf ihre Erinnerung verlassen, die ihr jedoch, je länger sie darüber nachdachte, immer unwirklicher erschien. Der einzige unleugbare Beweis für ihre Verlobung waren die hinterhältigen Versuche ihrer Tante, diese zu hintertreiben. Ihre Tante hätte keinen Grund dafür gehabt, wäre das Verlöbnis einzig und allein Beatrice' Fantasie entsprungen.
Hätte sie an dem Abend doch bloß noch Gelegenheit gefunden, mit Kesgrave zu reden! Dann würden jetzt keine nervtötenden Zweifel an ihr nagen. Aber leider war der Duke, nachdem er sie mit einer Horde liebedienerischen Matronen fortgeschickt hatte, mit dem Gastgeber in einem Zimmer verschwunden und nur einmal kurz wieder aufgetaucht, um Lord Hartlepool aus dem Ballsaal zu holen. Sie hatten sich flüchtig über den Tanzboden hinweg angesehen, aber kein Wort gewechselt, auch von den vertraulichen Gesprächen hinter der verschlossenen Tür hatte sie nichts mitbekommen.
Beatrice wäre gern länger auf dem Ball geblieben, um mehr über Tauntons Schicksal zu erfahren, aber Tante Vera, in Sorge, dass die abendlichen Ereignisse den fragilen Geisteszustand ihrer Nichte noch weiter schwächten, hatte darauf bestanden, sofort nach dem Abendessen aufzubrechen. Obwohl diese geistige Hinfälligkeit eine reine Erfindung ihrer Tante war, um die neue Aufmüpfigkeit ihrer sonst so gehorsamen Nichte zu erklären, war Beatrice einfach zu erschöpft gewesen, um dagegen zu protestieren. Vielleicht hätte sie größere Anstrengungen für einen weiteren Verbleib unternommen, wenn sie geglaubt hätte, von ihrem Gastgeber oder von Kesgrave nützliche Informationen zu erhalten, aber während des Essens, das sich ewig in die Länge zog, hatte sie nur eines erfahren: Einer zukünftigen Duchess war es kaum vergönnt, ihre Mahlzeit in Ruhe einzunehmen.
Spöttische Kommentare zu ihrem Aussehen – von denen sich nur die Hälfte auf ihren zerzausten Zustand nach der Auseinandersetzung mit Taunton bezog – wechselten sich ab mit irritierten Fragen zum Liebeswerben des Duke. Niemand hatte bemerkt, dass sich zwischen ihnen eine Beziehung entwickelt hatte, was sie alle übelnahmen und wofür sie Beatrice verantwortlich machten.
Oh, was sind Sie doch für eine findige junge Dame!
Es war nicht als Kompliment gemeint.
Beatrice, die zumindest einen Teil der Aufmerksamkeit auf das perfide Tun Tauntons zu lenken versuchte, denn seine Vergehen waren sicherlich schlimmer als die ihren, wollte erklären, dass ihr Kleid während einer tätlichen Auseinandersetzung mit dem Marquess Schaden genommen hatte, aber niemand hörte ihr zu. Offenbar schien man anzunehmen, dass sie irgendeine Dummheit mit den Fackeln auf der Terrasse angestellt habe und der verbrecherische Taunton zu ihrer Rettung herbeigeeilt sei.
Was für eine äußerst ärgerliche Behauptung!
Selbst die Countess of Abercrombie, eine ehemalige Verdächtige im Fall Fazeley, die Beatrice bei den Ermittlungen zum Marquess sekundiert hatte und bei der man sich üblicherweise darauf verlassen konnte, dass ihr eine intelligente Erwiderung über die Lippen kam, benahm sich recht tölpelhaft, als die Neuigkeiten ihrer Verlobung die Runde machte. Nur eine Stunde zuvor hatte sie Beatrice noch gerügt, weil sie in einer wichtigen Angelegenheit ihrer Bitte nicht nachgekommen war, und jetzt rühmte sie sich ihrer nachgerade lachhaft und versicherte jedem in Hörweite, dass das Arrangement aufgrund ihrer Bemühungen zustande gekommen sei.
Es war absurd, wirklich.
Ja, Ihre Ladyschaft hatte Beatrice Trost gespendet, als diese daran gezweifelt hatte, dass der Duke ihre Gefühle jemals erwidern würde, aber zu unterstellen, sie habe die Verbindung herbeigeführt, war nun gänzlich unbegründet. Tatsächlich hatte Lady Abercrombie den Duke als einen hoffnungslosen Fall angesehen und ihr zur Ablenkung von ihrem Kummer angeboten, irgendwelche Ermittlungen für sie durchzuführen. Sie hatte ihr doch nie einen Grund gegeben …
Beatrice hielt inne, während sie noch unschlüssig auf der Straße stand und sich das Gespräch mit Lady Abercrombie Wort für Wort durch den Sinn gehen ließ. Ablenkung. Das war genau das, was sie jetzt brauchte. Wenn sie auf andere Gedanken kommen wollte, gab es nichts Besseres, als einen neuen Fall zu lösen.
Die Sache war entschieden. Beatrice wandte sich nach links und marschierte entschlossen in Richtung Lady Abercrombies Stadthaus am Grosvenor Square. Sie war froh, eine Aufgabe zu haben. Und nicht nur irgendeine Aufgabe – sondern eine, in der sie sich bereits hervorgetan hatte.
Auch wenn niemand ernsthaft erwarten konnte, dass einer Dame adeliger Herkunft bei der Ermittlung von Mordfällen Erfolg beschieden war, am allerwenigsten ihr, so war es doch eine Aufgabe, die ihr seltsamerweise vollkommen lag. Die jahrelange stille Beobachtung ihrer Familie hatte ihren Blick für Details geschärft, und die ausufernde Lektüre verschiedenster Bücher hatte ihr umfangreiche Kenntnisse über alle möglichen abseitigen Wissensgebiete verschafft, was sich als überraschend nützlich erwiesen hatte.
Entdeckt hatte sie ihre Neigung zum Kriminalistischen während einer Hausgesellschaft im Lake District, als einer der Gäste mitten in der Nacht in der Bibliothek ermordet worden war. Sicherlich ging der unangenehme Vorfall sie nicht das Geringste an, aber die Entscheidung des Duke of Kesgrave, den Mord als Selbstmord zu inszenieren, ließ ihr keine andere Wahl – sie musste eingreifen und die Wahrheit herausfinden. Nachdem sie den Fall auf zufriedenstellende, wenngleich etwas missliche Weise gelöst hatte (sie brauchte keinen Vortrag ihrer Tante, um zu wissen, dass es sich in der behaglichen Eleganz eines Salons nicht schickte, eine Mörderin zu entlarven), wurde sie einige Zeit später mit einem weiteren Toten konfrontiert, diesmal war es Lord Fazley, der ihr sozusagen vor die Füße fiel und in dessen Rücken ein kostbarer Dolch steckte. Auch diesen Fall konnte sie lösen. Als sie dann das nächste Mal einen Leichnam inspizierte – einen ehemaligen, kurz zuvor aus Indien zurückgekehrten Opiumschmuggler –, basierte das nicht mehr auf einem Zufall. Ihre Expertise war von einem der Gäste bei der Hausgesellschaft im Lake District ausdrücklich angefragt worden, nachdem er von ihrer Fähigkeit wusste, Indizien und Beweise zu einer kohärenten Geschichte zusammenzufügen.
Und jetzt, so hoffte sie, würde Lady Abercrombie sie mit einem weiteren faszinierenden Rätsel beglücken, in das sie sich vertiefen konnte. Ermittlungen waren perfekt geeignet, um die Gedanken fortzulenken von Tante Veras endlosem Geplapper über Lakaien und überrumpelte Dukes.
Wenig später stand sie in Lady Abercrombies Salon, und die schöne Witwe kam, extravagant im orientalischen Stil gekleidet, hereingeschwebt und war wie immer eine hinreißende Erscheinung. Beatrice erinnerte sich noch gut an ihre erste Begegnung. Damals wie heute hatte Ihre Ladyschaft ein tief ausgeschnittenes Kleid getragen, das ihre zahlreichen körperlichen Vorzüge – ihre grüblerischen Augen, die vollen Lippen, die glänzendschwarzen Locken und den üppigen Busen – aufs Beste zur Geltung brachte. Kesgrave, der die Countess liebevoll Tilly nannte, hatte sich damals sofort höfische Manieren zugelegt und vor ihr gekatzbuckelt, worüber sich Beatrice ausgiebig mokiert hatte, nachdem sie gegangen waren.
Die Erinnerung weckte liebevolle Gedanken an den Duke, und sie schenkte Lady Abercrombie ein warmes Lächeln.
»Ah, meine Liebe, ich bin hocherfreut, dass Sie mich besuchen«, sagte Ihre Ladyschaft, ergriff Beatrice' beide Hände und zog sie zur Polsterbank. »Morton bringt uns Tee und Gebäck, damit wir uns nett unterhalten können. Sie müssen mir alles erzählen. Ich will alles hören, jede Einzelheit. Was für ein Triumph! Seitdem die Gunning-Schwestern die Stadt im Sturm genommen haben, ist die High Society nicht mehr so überrascht worden. Die Verlobung mit einem Duke! Ihre Mutter wäre außer sich vor Freude. Und nicht nur
