Ein geheimnisvoller Brief - Lynn Messina - E-Book

Ein geheimnisvoller Brief E-Book

Lynn Messina

0,0

Beschreibung

Eigentlich galt die 26jährige Beatrice Hyde-Clare schon als Restposten auf dem Heiratsmarkt. Dass die mittellose Waise, die von ihrer Familie nur notgedrungen geduldet wird, es geschafft hat, sich den attraktivsten Junggesellen der Stadt zu angeln, findet die Londoner High Society irgendwie empörend. Doch seit die gewitzte Beatrice ihren Hang zur Hobby-Detektivin entdeckt hat, haben sich ihre und die Wege des gutaussehenden und ziemlich arroganten Duke of Kesgrave auf wundersame Weise immer wieder gekreuzt. Bis er ihr in einer durchaus gefährlichen Situation das Leben rettete und daraufhin (wohl vor Schreck) einen Antrag machte. Beatrice ist entschlossen, so rasch wie möglich zu heiraten, trotz des besorgten Händeringens von Mitgliedern der Familie oder wohlmeinenden Bekannten. Und auch trotz der Sorge ihrer Tante über den wachsenden Unmut wegen der überaus skandalösen Neigung ihrer Nichte, Mörder inmitten von gesellschaftlichen Ereignissen zu stellen. Wenig später taucht auch noch Miss Brougham auf, eine boshafte Erbin, deren Sticheleien Beatrices erfolgreiches Reüssieren auf ihrem ersten Ball verhinderten. Nur hat die Gesellschaftsmatrone diesmal ein Geheimnis zu lösen und bittet die Hobby-Detektivin kleinlaut um Hilfe. Beatrice kann nicht widerstehen und sieht die Gelegenheit gekommen, ihre Erzfeindin zu beeindrucken. Ein toter Großvater, verschwundene Juwelen, ein geheimnisvoller Brief – der Fall scheint nicht allzu schwierig. Und dann geht alles furchtbar, furchtbar schief.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 494

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



LYNN MESSINA

Ein geheimnisvoller Brief

LYNN MESSINA

Ein geheimnisvoller Brief

Beatrice Hyde-Clare löst ein Rätsel

Aus dem Englischen übersetzt von Karl-Heinz Ebnet

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

Für meine Leserinnen und Leser

1

Fast zehn Jahre lang hatte sich Vera Hyde-Clare bemüht, ihre zur Waise gewordene Nichte dem erstbesten ahnungslosen Verehrer zu überantworten, der sich für ihre Wünsche aufgeschlossen gezeigt hätte. Jetzt aber zögerte sie seltsamerweise, der jungen Dame die Heirat mit dem Duke of Kesgrave zu erlauben.

Natürlich beruhte ihr Zögern keineswegs auf irgendwelchen Bedenken hinsichtlich seiner Eignung, schließlich stellte ein Mann seines Standes eine höchst vortreffliche Wahl dar. Aber sie war nicht gänzlich ohne Vorbehalte, da die Hyde-Clares einem eher bescheidenen Geschlecht angehörten, das niemals danach getrachtet hatte, sich mit einer herzoglichen Familie zu verbinden. Eine solche Allianz würde nämlich ungewollte Aufmerksamkeit nach sich ziehen, und die Hautevolee, die der minderwertigen Spitze an den Ballkleidern ihrer eigenen Tochter bislang kaum Beachtung geschenkt hatte, würde nun jeden Aspekt ihres Lebens mit Argusaugen überwachen. Die kleineren, aber notwendigen Sparmaßnahmen, die ihr Leben in London überhaupt erst ermöglichten, würden um des großspurigen Prunks willen nicht mehr beizubehalten sein, was unweigerlich zu höheren monatlichen Ausgaben führen würde.

Eine erschütternde Aussicht, sicherlich, aber nichts lag Vera ferner, als an die Belastungen zu denken, die die erfolgreiche Vermählung ihrer Nichte Beatrice dem Haushaltsbudget aufbürden würde – was sie nun auch äußerte, als sie die junge Frau musterte, die ihr im Frühstückszimmer gegenübersaß.

»Wirklich, es liegt mir nichts ferner, als jetzt an unser Haushaltsbudget zu denken«, betonte sie noch einmal. »Aber immerhin ist es nur wenige Stunden her, dass du ein tiefgehendes emotionales Trauma erlitten hast, wie es sich kaum jemand vorstellen kann.« Sie schüttelte seufzend den Kopf, während der Diener mit einer frischen Kanne Tee ins Zimmer trat. »Und niemand auf der Welt, am allerwenigsten der Duke, würde es dir verdenken, wenn du dir eine angemessene Zeit ausbedingst, damit deine Nerven sich beruhigen können.«

Beatrice Hyde-Clare, deren sonst so blasse Wangen sich vor Aufregung röteten, wenn sie nur daran dachte, dass sie in wenigen Stunden den Duke heiraten würde, betrachtete nachdenklich ihre Tante. Die schreckliche Begegnung mit dem Mörder ihrer Eltern, zu der es am Vorabend gekommen war, belastete sie selbst kaum, aber ihr war sehr wohl bewusst, dass es Tante Vera äußerst schwerfallen musste, die überraschenden Neuigkeiten zu verarbeiten.

Zwanzig Jahre lang hatte ihre Tante geglaubt, ihr Schwager hätte seine angeblich ehebrecherische Gattin und ihr gemeinsames ungeborenes Kind in einem rasenden Eifersuchtsanfall ermordet, und jetzt hatte sie sich mit einer völlig entgegengesetzten Wahrheit abzufinden – denn die Eltern der damals noch kleinen Beatrice waren in Wirklichkeit der obsessiven Liebe eines Wahnsinnigen zum Opfer gefallen. Der Earl of Wem, aufgebracht, weil Clara sich weigerte, seine Liebesbezeugungen zu erwidern, hatte erst Clara und anschließend ihren Ehemann erdrosselt. Dann, um seine Verbrechen zu vertuschen, hatte er die Leichen zum Fluss gezerrt und sie in einem leckgeschlagenen Boot dem Wasser überantwortet, damit es aussah, als wären sie während eines Gewitters ertrunken.

Der Vorfall, in seiner Abscheulichkeit schon entsetzlich genug, wurde noch durch den Umstand verschlimmert, dass der Earl ein alter Jugendfreund ihres Vaters gewesen war. Jahrelang hatte er sich um das Paar gekümmert, hatte großes Interesse an Richards und Claras Wohlergehen geheuchelt, während er insgeheim einer Obsession verfallen war, die letzten Endes zu deren Tod geführt hatte.

Vera wusste en detail von den Verbrechen des Earl, weil Seine Lordschaft das alles höchstpersönlich auf Lord Stirlings Ball gestanden hatte. Tatsächlich wusste die gesamte High Society davon, denn weder Beatrice, die den Earl gestellt hatte, noch der wahnsinnige Mörder selbst hatten mitbekommen, dass sich während ihres hitzigen Dialogs eine große Menge um sie herum versammelt hatte, die nun alles bezeugen konnte.

Und wie verstörend war es für Beatrice gewesen, als sie sich vom schrecklichen Lord Wem abwandte und feststellen musste, dass mehrere Dutzend neugierige Augenpaare auf sie gerichtet waren.

Verstört war Beatrice inzwischen aber kein bisschen mehr.

Um ehrlich zu sein, war sie erleichtert – unendlich erleichtert, endlich zu wissen, was ihren Eltern damals zugestoßen war, erleichtert, jetzt endlich ihre Eltern zu kennen.

Den größten Teil ihres Lebens hatten ihre Tante und ihr Onkel ihr sämtliche Information über Clara und Richard Hyde-Clare vorenthalten, weil sie fürchteten, Beatrice könnte ebenso lasterhaft und verkommen werden, wie ihre Eltern es angeblich gewesen waren. Sie hatten befürchtet, sie könnte sich als so sittenlos erweisen wie ihre Mutter oder so mordlustig wie ihr Vater, und in ihrem Eifer, ihre Nichte vor den moralischen Schwächen ihrer Eltern zu schützen, hatten sie es an Liebe und Zuneigung fehlen lassen. Abgesehen davon, dass sie nicht gerade begeistert gewesen waren, als sie das kleine Mädchen nach dem Tod beider Eltern in ihrer Familie aufnehmen mussten.

Beatrices Kindheit war einsam gewesen und hatte nur wenige Gelegenheiten geboten, das zu entwickeln, was gemeinhin als gesellschaftliche Umgangsformen bezeichnet wurde. In dem Gefühl, unerwünscht und ungeliebt zu sein, hatte Beatrice sich notgedrungen durch ihre erste Ballsaison gestottert und gestammelt, bevor sie in der zweiten Saison vollends verstummt war.

Und stumm wäre sie wohl auch geblieben, hätte sie nicht ein halbes Jahr zuvor in der nächtlichen Bibliothek eines Landsitzes im Lake District vom bereits erkaltenden Leichnam eines geldgierigen Gewürzhändlers aufgesehen, nur um dem entsetzten Blick des arroganten Duke of Kesgrave zu begegnen. Unweigerlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass Seine Durchlaucht den blutigen Kerzenständer mit tödlicher Wirkung geschwungen hatte und sie nun auf die gleiche Art und Weise ins Jenseits befördern wollte. In diesem Augenblick höchster Angst, als sie schon glaubte, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen, entdeckte sie ihre Stimme wieder und gebrauchte sie von diesem Moment an vor allem dazu, den Duke zu piesacken. Zum Glück erwies sich Kesgrave als wunderlich genug, um dieses Verhalten für unwiderstehlich zu erachten, auch hatte er ihren Heiratsantrag umgehend angenommen – ein Angebot, das unterbreitet wurde, als Beatrice auf der Brust eines Mannes kniete, der nur Sekunden zuvor versucht hatte, ihr den Hals umzudrehen. Dass der Duke den Zeitpunkt nicht als unpassend empfand, zeigte nur, wie hervorragend sie beide zueinanderpassten, und erklärte zum Teil, warum sie wenig geneigt war, ihre Hochzeit aufgrund des am Vorabend erlebten tiefgehenden emotionalen Traumas zu verschieben.

Obwohl Beatrice entschlossen war, sich in – sie sah auf die Uhr – drei Stunden und siebzehn Minuten trauen zu lassen, wollte sie ihre Tante, die ihr in den vergangenen zwei Tagen mehr Herzlichkeit entgegengebracht hatte als in den zwei Jahrzehnten zuvor, nicht kränken; sie war daher um eine Antwort bemüht, die der Besorgnis ihrer Tante Rechnung trug und diese gleichermaßen zerstreute.

Ihre jüngere Cousine Flora hingegen fühlte sich nicht dazu berufen, die Gefühle ihrer Mutter zu schonen, sie lachte nur über deren Bemerkungen zur anstehenden Hochzeit.

»Na, ich glaube kaum, dass dir nichts ferner liegt, Mama«, sagte sie, und ihre haselnussbraunen Augen funkelten spöttisch, während sie zur Zuckerdose griff.

Vera, die weder den Grund für die Belustigung ihrer Tochter kannte noch wusste, worauf sich ihr Kommentar bezog, erwiderte ungeduldig, dass sie nicht auf etwas antworten könne, wenn sie den Gesprächsgegenstand nicht kenne.

»Die finanziellen Belastungen durch Beatrice' erfolgreiche Vermählung«, erklärte Flora. »Läge dir wirklich nichts ferner, als daran zu denken, hättest du sie nicht zweimal erwähnt. Mir scheint, sie gehen dir schon ein wenig durch den Kopf.«

Vera konnte es nicht abstreiten. Ein Teil ihres Verstands war ständig mit finanziellen Dingen beschäftigt, wie ihre Familie sehr wohl wusste, dennoch weckte es ihr Missvergnügen, zum Gegenstand des familiären Amüsements zu werden, weshalb sie Flora für ihre Ungezogenheit tadelte.

»Und mir scheint, du bist ein wenig vorlaut, mein Kind. Nun, wie auch immer. Ich wünsche mir jedenfalls, dass Beatrice mit nichts als Glück und Wohlgefallen im Herzen in die Ehe mit dem Duke eintritt«, erklärte sie mit unerwarteter Leidenschaft, während ihr Blick von ihrer Tochter zu der Teetasse in ihren Händen wanderte. »Ich möchte nur nicht, dass die hässlichen Vorfälle des vergangenen Abends dieses Ereignis trüben, das doch ein ganz und gar freudiges sein sollte.«

Nach zwanzig Jahren in der gleichgültigen Obhut ihrer Tante wusste Beatrice um deren Unzulänglichkeiten und war daher kaum überrascht, dass ihre Tante ihr nicht in die Augen sehen konnte, als sie ihr diese freundlichen Worte sagte. Veras seit Jahrzehnten gefestigte Meinung über sie, so ungerechtfertigt sie sein mochte, saß tief, und es würde mehr als eine schreckliche und schmerzhafte Offenbarung nötig sein, um sie vollends zu überwinden.

Beatrice dankte ihr freundlich für ihre Besorgnis und versprach, es gebe dazu wirklich keinerlei Grund. »Im Gegenteil, ich fühle mich seltsam erleichtert, nicht zu wissen, was damals geschah, hat doch schwer auf mir gelastet. Die Wahrheit zu erkennen, so heißt es doch in der Bibel, hat mich frei gemacht.«

Natürlich hätte Tante Vera nie der Bibel widersprochen. Sie nickte also nur ein wenig ungehalten, aber noch während sie ihre Tasse an die Lippen führte, konnte sie nicht widerstehen, den Spruch leicht abzuändern. »Ja, aber die Wahrheit, meine Liebe, offenbart sich doch allmählich, Schritt für Schritt, das Bild aber, das du von deinen Eltern hattest, hat sich von einem Tag auf den anderen grundlegend geändert. Alles, was du zu wissen glaubtest, war falsch. Bestimmt benötigst du einige Tage, um dich an die neue Wirklichkeit zu gewöhnen, bevor sich dann erneut alles von Grund auf ändern wird.«

Es bedurfte keines eingehenden Verständnisses von der Wirkungsweise des menschlichen Verstands, um zu erkennen, dass Tante Vera eigentlich von sich selbst sprach. Zwei Jahrzehnte lang war sie von Richards und Claras Niederträchtigkeit überzeugt gewesen, und nur weil sie jetzt bereit war, von dieser Vorstellung loszulassen, hieß das noch lange nicht, dass ihre Überzeugungen auch sie losließen. Sie brauchte Zeit, um sich von den alten Sichtweisen zu lösen.

Beatrice hatte durchaus Mitgefühl für Vera und ihre Lage, aber sie hatte nicht die Absicht, ihr Vorhaben zu ändern, in – ein weiterer Blick auf die Uhr – drei Stunden und elf Minuten – den Duke of Kesgrave zum Mann zu nehmen. Sie machte ja weder ihrer Tante noch ihrem Onkel Vorwürfe, dass sie ihren Eltern nur das Schlimmste unterstellt hatten. Ja, ihnen waren Beweise vorgelegt worden, die unzweifelhaft wahr erschienen, worauf sie aufgrund ihrer mangelnden Herzensbildung das Einzige getan hatten, was sie tun konnten: Sie hatten ihnen uneingeschränkt geglaubt. Beatrice konnte darüber jetzt nachsinnen, ohne verbittert zu sein.

Nun, musste sie zugeben, ohne allzu sehr verbittert zu sein.

Dennoch, dass sie ein schlechtes Gewissen hatten, war nun ihr Problem. All die Jahre hatten ihr Onkel und ihre Tante sie über ihre Eltern im Unklaren gelassen. Wenn sie ihr mehr von den beiden erzählt hätten und sie ihr damit etwas vertrauter gewesen wären, wäre es ihr sicher leichter gefallen, das Bild, das sie sich von ihren Eltern gemacht hatte, an die neuen Gegebenheiten anzupassen.

Beatrice sah keinen Grund, all das jetzt anzusprechen – es hätte kleinlich geklungen –, so schenkte sie ihrer Tante lediglich ein Lächeln. »Deine Besorgnis rührt mich«, sagte sie ernst, »aber es geht mir gut. Vielleicht solltest du in Erwägung ziehen, dass sich daraus auch ein ganz unerwarteter Nutzen ergibt: Unsere übereilte Hochzeit wird den spektakulären Vorfall des letzten Abends als Tagesgespräch ablösen.«

Flora fand das so amüsant, dass sie laut auflachen musste und ihr dabei sogar ein wenig Tee übers Kinn lief. »Wie herrlich, dass du die Hochzeit kaum erwarten kannst, meine Liebe, aber du darfst dir dennoch keine falschen Vorstellungen machen. Es wird Wochen, wenn nicht sogar Monate dauern, bevor die High Society von etwas anderem spricht als von Lord Wems schockierendem Geständnis eines Doppelmords. Allein diesen Morgen hat Mama mehrere Schreiben von Leuten erhalten, die uns ihre Aufwartung machen wollen. Die Geier kreisen bereits.«

Tante Vera erbleichte, als ihre Tochter die High Society mit den Raubvögeln verglich, und korrigierte sie umgehend. Es seien lediglich sechs Schreiben eingegangen. »Das sind wohl kaum ›mehrere‹. Und allein drei davon stammen von Mrs. Ralston«, sagte sie, als würde das hartnäckige Interesse von Londons größter Klatschbase die allgemeine Aufmerksamkeit relativieren. »Aber Floras Argument ist sehr stichhaltig. Würde man die Hochzeit um einige Tage, vielleicht um eine Woche oder zwei verschieben, könnte der Skandal etwas abklingen. Wenn du Kesgrave gleich am Morgen danach heiratest, lieferst du nur zusätzliches Futter. Einige Leute dürften entsetzt sein angesichts deiner mangelnden Sensibilität.«

Flora, die sich behutsam ihr feuchtes Kinn abtupfte, widersprach: So habe sie keineswegs argumentiert. »Ich habe Beatrice nur erklärt, dass ihre Hochzeit bei weitem nicht so interessant ist wie ein Doppelmord«, sagte sie, bevor sie sich an ihre Cousine wandte. »Das sage ich nicht, um dich zu kränken. Du weißt, dass für mich deine Heirat mit Kesgrave ganz bestimmt das Aufregendste ist, was unserer Familie jemals widerfahren ist. Ich kann es kaum erwarten, die Schwippschwägerin eines Duke zu werden.«

Das alles wusste Beatrice natürlich, nachdem Flora bereits mehrmals versucht hatte, Beatrice' Nähe zu Kesgrave auszunutzen; also hielt sie lieber ihre Zunge im Zaum und versicherte ihr eiligst, dass sie ihr nichts übelnehme.

Dankbar sah Flora zu Beatrice, bevor sie ein weiteres Mal wegen einer ihrem neuen Stand entsprechenden Garderobe an ihre Mutter appellierte. »Wir sollten Madame Bélanger aufsuchen, weil sie die beste Modistin Londons ist. Lady Abercrombie war schon mit Beatrice bei ihr, um deren Aussteuer zu besorgen.« Sie wandte sich ihrer Cousine zu, um sich ihre Aussage – unnötigerweise – bestätigen zu lassen. In den vergangenen Tagen hatten sich mit alarmierender Regelmäßigkeit Anspielungen auf Madame Bélanger in Floras Konversation geschlichen. Egal, worum es ging, irgendwann kam sie immer auf das Geschick und die Kunstfertigkeit der französischen Kleidermacherin zu sprechen. »Und Miss Petworth kauft dort auch ein. Es gibt also definitiv keinen anderen Ort, wo die Schwippschwägerin eines Duke ihre Garderobe erwerben sollte.«

Bei der Erwähnung der exklusiven Modistin in der Bond Street, deren Entwürfe um mehrere Pfund über den bescheidenen Kreationen von Mrs. Duval standen, wich Tante Vera die letzte Farbe aus dem Gesicht. Unter nervösem Gekicher tadelte sie ihre Tochter wegen ihres mangelnden Feingefühls. »Die arme Beatrice hat einen äußerst aufwühlenden Abend verbracht und erträgt es nicht, sich solch albernes Gerede über Kleider anzuhören. Wir müssen auf ihre Gefühle Rücksicht nehmen. Nun, meine Liebe, sag uns doch, wie wir dir deine Last erleichtern können. Würde es nicht sehr helfen, wenn wir die nächsten Stunden in stiller Kontemplation verbringen?«

Natürlich konnte Beatrice eine solch eigennützige Bemerkung nicht unkommentiert lassen. Sie wollte schon verkünden, dass nichts ihre Nerven mehr beruhigen würde als heitere Gespräche über seidene Ballkleider, als ihr Onkel den Raum betrat. Gewöhnlich brachte er die Zeitung mit, die er während des Frühstücks akribisch studierte, da sein Interesse an Nachrichten ebenso groß war wie sein Desinteresse an der Familie. Heute aber, in radikaler Abweichung von seiner Gewohnheit, hatte er einen schwarzen ledergebundenen Folianten bei sich. Neugierig betrachtete Beatrice das Buch. Es handelte sich um eine Biografie von Johannes Kepler.

Tatsächlich war es exakt die Kepler-Biografie, die sie vor kaum einer Woche selbst gelesen hatte.

Wobei, um ehrlich zu sein, lesen nicht ganz das richtige Wort war, denn ihre Beschäftigung mit dem Buch fiel in die zweiwöchige Phase, in der sie verzweifelt darüber räsoniert hatte, ob Kesgrave ihr jemals wieder seine Aufmerksamkeit schenken würde. Eigentlich hatte sie damals nur stundenlang auf die Seiten gestarrt.

Für ihren Onkel allerdings war das Buch eine seltsame Wahl. Er zeigte sich nur selten an Literatur interessiert und zog Zeitungen und Vierteljahreszeitschriften vor. Einmal hatte Beatrice ihn beim Durchblättern einer Zeitschrift gesehen, die sich den Tätigkeiten eines Landgentleman wie der Fuchsjagd oder dem Reiten widmete, aber nach einigem verächtlichen Schnauben hatte er auch davon abgelassen und sich wieder seiner geliebten London Daily Gazette zugewandt.

So seltsam das plötzliche Interesse ihres Onkels an Kepler auch war, enthielt sie sich doch eines Kommentars, da sie fürchtete, jede Bemerkung könnte als Herabsetzung seines üblichen Lesematerials aufgefasst werden.

Ihre Tante allerdings hatte keinerlei solche Bedenken und rüffelte ihren Mann sofort für das Buch, das er zum Frühstückstisch mitbrachte – denn dort sollte man sich entweder mit seiner Familie unterhalten oder sich über aktuelle Ereignisse kundig machen.

Russell, der nach seinem Vater in den Raum tat, entging die feine Unterscheidung, auf die seine Mutter gepocht hatte, und sagte ahnungslos, Lesen sei doch Lesen, gleichgültig, was gelesen werde.

Tante Vera, verärgert, weil sie dem Argument eine gewisse Stichhaltigkeit zubilligen musste, spitzte lange die Lippen, bevor sie entschieden kundtat, der Unterschied liege darin, wie sehr man sich in seine Lektüre vertiefe, denn eine Zeitung könne einen doch nie wirklich gefangen nehmen. Russell, der diese Logik nur schwer nachvollziehen konnte, zählte daraufhin eine Reihe von Gazette-Artikeln auf, die er im vergangenen Jahr gelesen habe und die ihn durchaus gefangen genommen hätten. Flora rollte darüber bloß mit den Augen und betonte, dass ihr Bruder niemals auch nur einen ganzen Artikel der Morgenzeitung gelesen, geschweige denn, sich von ihm habe gefangen nehmen lassen. Da er diesen Vorwurf natürlich nicht auf sich beruhen lassen konnte, wiederholte er seine Aufzählung in doppelter Lautstärke.

Während sich die Geschwister weiter zankten, sah Beatrice auf die Uhr und vergewisserte sich, dass sie nur noch drei weitere Stunden und sechs Minuten als Bewohnerin des Portman Square 19 ausharren musste.

»Am interessantesten an Mr. Kepler erscheint mir, dass er das Universum als ein System von einheitlichen Teilen sah, die zueinander in Harmonie stehen«, bemerkte Onkel Horace, während er dabei nicht seinen üblichen Platz am Tisch einnahm, sondern sich neben Beatrice niederließ und ihr zunickte.

Keiner ihrer Verwandten hatte ihr gegenüber jemals eine solche, noch dazu so gelassen ausgesprochene Aussage vorgebracht. Beatrice starrte ihn nur an und hatte schon Sorge, dass ein am Vorabend erlittenes tiefgehendes emotionales Trauma ihn übergebührlich beeinträchtigt habe.

Mit festem Blick fuhr er leise fort: »Ich denke, darin liegt die Grundlage all seiner Entdeckungen. Was meinst du dazu, Beatrice?«

Das war eine außergewöhnliche Frage. Beatrice rang um eine Antwort, während sie noch dahinterzukommen versuchte, welche Absicht ihr Onkel damit verfolgte. Offensichtlich wollte er ein Gespräch beginnen, indem er sie um ihre Meinung zu einem Thema bat, mit dem sie, wie er glaubte, vertraut wäre. Das allein war bemerkenswert, war er doch jemand, der seine Bequemlichkeit zu schätzen wusste und sich nur selten die Mühe machte, Interesse für die eigenen Kinder aufzubringen, ganz zu schweigen für die lästige Tochter seines verstorbenen Bruders – einer Tochter, muss angefügt werden, die in wenigen Stunden aus seiner Obhut entlassen würde. Endlich würde er damit von einer Pflicht befreit, die er nie gesucht hatte und die ihm immer eine Last gewesen war.

Dem Himmel sei Dank!

Dennoch zeugte seine Frage von dem Wunsch, etwas über sie zu erfahren, vielleicht sogar von einem Bestreben, eine Beziehung zu ihr aufzubauen; nur verwirrte es sie, dass er sich ausgerechnet diesen Augenblick, den Morgen ihrer Hochzeit, dazu ausgesucht hatte. In den langen Jahren ihrer Einsamkeit, ja, da hätte sie ihren letzten Atemzug dafür gegeben, wenn ihr Onkel von ihr Notiz genommen hätte, aber jetzt? Jetzt versuchte er sie in eine angeregte Debatte zu verwickeln?

Das war, überlegte sie weiter, eine Entscheidung, die allem Bisherigen nahezu radikal widersprach.

Natürlich traf das nicht zu. Denn seine Entscheidung erfolgte nach einer Reihe von schrecklichen Enthüllungen, unter denen die schmerzhafteste das grobe Unrecht war, das er seiner Nichte angetan hatte, indem er sie wie die Tochter eines Mörders behandelt hatte. Jahrzehntelang hatte er sie gemieden – sie, die lebendig gewordene Erinnerung an das schreckliche Ende, das sein innig geliebter Bruder genommen hatte –, hatte nur selten ein freundliches Wort für sie gehabt oder ihr Aufmerksamkeit geschenkt.

Und sie, die nichts über ihre Eltern wusste, hatte immer angenommen, sein Geizen mit Zuwendung entspringe einer angeborenen Sparsamkeit der Seele, die in Genügsamkeit und Gleichgültigkeit ihren Ausdruck fand. Das alles erschien ihr als ein so grundlegender Bestandteil seines Charakters, dass sie nie nach einer anderen Erklärung gesucht hatte. So war sie aufrichtig schockiert, als sie den tiefen Abgrund seines Leids entdeckte, der mit seinem Kummer über die scheinbar ruchlose Tat des Bruders erfüllt war. Das alles hatte sie erst vor wenigen Tagen erfahren, als Onkel Horace ihr von seiner Verzweiflung erzählte, nachdem ihm damals berichtet worden war, Richard habe kaltblütig angeblich erst seine Frau und dann sich selbst ertränkt.

Erst durch Lord Wems bizarres Geständnis war ihm bewusst geworden, wie sehr er seinen Bruder verraten hatte. Nächstenliebe und die Bande des Bluts hätten ihn dazu anhalten sollen, für Geborgenheit und Herzlichkeit zu sorgen, er aber hatte lediglich und widerwillig für ein bloßes Auskommen gesorgt. Trotz der unaussprechlichen Sünde, die sein Bruder vorgeblich begangen hatte, hätte er Richards Tochter dennoch Liebe geschuldet.

Die, erschien es Beatrice, wollte er ihr jetzt geben, indem er sie nach ihrer Meinung zu Kepler fragte.

Horace Hyde-Clare war tatsächlich übergebührlich beeinträchtigt von dem am Vorabend erlittenen tiefgehenden emotionalen Trauma.

Beatrice, die nie gelernt hatte, mit solch kleinen Gesten der Reue umzugehen, blieb stumm.

Nein, alles andere als eine kleine Geste, dachte sie dann mit einem Blick auf die mehr als vierhundert Seiten starke Biografie. Dass Onkel Horace sich als Akt der Reue auf einen so schwergewichtigen Band einließ, bezeugte sowohl die Ehrlichkeit seiner Absichten als auch sein eingehendes Verständnis ihrer Person. Sie war ein Blaustrumpf durch und durch, und es gab nichts Besseres, sich ihrer Wertschätzung zu versichern, als eine intelligente Unterhaltung über ein ihr vertrautes Thema.

Beatrice war gerührt.

Während sich Flora weiterhin über das Analphabetentum ihres Bruders ausließ, überlegte Beatrice, wie sie auf die Frage ihres Onkels antworten sollte – ihr wollte nämlich keine einzige intelligente Erwiderung einfallen. Unter allen Büchern, die er zum Zeichen seiner Bußfertigkeit hatte auswählen können, hatte er sich just für das eine entschieden, an das sie keinerlei Erinnerung hatte.

Ja, fast zwei Wochen lang hatte sie es mit sich herumgetragen, aber hatte jemand gesehen, dass sie auch nur eine Seite umgeschlagen hätte?

Nein, das hatte niemand, denn sie hatte immer nur mit leerer Miene auf die Seiten gestarrt.

Und jetzt sollte sie einen schlüssigen Kommentar zu seinem Inhalt abgeben.

Beatrice fand das ausgesprochen ungerecht.

Da ihr so gar nichts einfallen wollte, wühlte sie in ihrem Gedächtnis nach einem Band, der ein ähnliches Thema abhandelte. In Salisburys Studie über Galileis Leben wurde Kepler erwähnt, oder? Jedenfalls war es das Buch, das ihr Interesse am Astronomen geweckt hatte.

Besorgt, das Schweigen könnte sich schon zu lange hinziehen, stimmte Beatrice seiner Aussage schließlich zu, wiederholte deren Grundannahme und fügte noch an, dass die Geometrie ein harmonisches Gleichgewicht aufweise, das sie ansprechend und angenehm finde. Da sie kurz vergaß, dass sie am Nachmittag schon etwas vorhatte, nahm sie sich sogar vor, sich sofort zu Hatchards auf den Weg zu machen und eine neue Ausgabe zu erstehen. Sie würde die ganze Nacht wachbleiben und das Buch lesen, damit sie am Frühstückstisch bereit sein würde für eine gedankenvolle, gelehrte Konversation.

Onkel Horace bekundete eine ähnliche Vorliebe für die Geometrie und bemerkte, in der Schule darin ganz gut gewesen zu sein.

»Die Ordnung der Formen hat immer einen großen Reiz auf mich ausgeübt«, erläuterte er, bevor er mit einem leichten Zögern hinzusetzte: »Dein Vater glänzte in dem Fach ebenso sehr, was aber nichts Besonderes war, weil dein Vater in allem glänzte. Er hat sich wie du in Büchern vergraben.«

Es war eine ganz und gar gewöhnliche Aussage, dennoch hüpfte Beatrice' Herz vor Freude, wenn sie sich vorstellte, sie und ihr Vater seien sich in gewissen Dingen ähnlich gewesen. Begierig fragte sie, ob er sich an Bücher erinnern könne, die Richard besonders am Herzen gelegen hatten. Kurz hielt ihr Onkel gedankenverloren inne, erstellte dann aber eine geordnete Liste, die sich über viele Genres und Interessengebiete erstreckte.

»Und natürlich die Autobiografie von Benjamin Franklin«, schloss er mit Nachdruck. »Darauf ist er immer wieder zurückgekommen. Ihm hat gefallen, wie der Autor unumwunden zu seinen Fehlern steht und gelobt, es beim nächsten Mal besser zu machen.«

Eine leichte Röte stieg seinen Hals empor, während er vom amerikanischen Universalgelehrten erzählte, aber er hielt den Blick unverwandt auf sie gerichtet.

Beatrice lächelte, beugte sich vor und wollte von ihrer Erinnerung an ihren Vater erzählen, der ihr im Arbeitszimmer im Welldale House laut aus Franklins Autobiografie vorgelesen hatte. Aber bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, platzte Lady Abercrombie ins Zimmer, getrieben von kompromissloser Entschiedenheit. Ihr folgte, leicht außer Atem von der Anstrengung, hinter ihr die Stufen hocheilen zu müssen, der Butler des Hauses, Dawson.

»Ich sagte Ihrer Ladyschaft, Sie seien nicht zu sprechen«, erklärte er trotz allem würdevoll, obwohl sich in seiner Miene aufgebrachte Empörung und demütige Rechtfertigung auf komische Weise vermischten. »Aber sie wollte nicht auf mich hören.«

Ihre Ladyschaft, die ganz offensichtlich noch immer nicht auf ihn hören wollte, schritt um den Tisch herum und zog Beatrice in einer stürmischen Umarmung an sich.

»Oh, mein liebes, liebes Mädchen, welche Schrecklichkeiten Ihnen widerfahren sind«, sagte sie mitfühlend und mit bebender Stimme. »Nie ist mir ein grauenhafteres Schauspiel untergekommen, und ich habe Lord Abercrombie erlebt, wie er seine Mutter über den Tod ihres Lieblingsmeerschweinchens hinwegzutrösten versuchte, das will also einiges heißen. Hätte ich gewusst, welche entsetzlichen Wahrheiten Sie aufdecken würden, liebe Beatrice, hätte ich Sie nie gebeten, den Mord an Ihren Eltern zu untersuchen.«

»Sie waren das!«, entfuhr es Tante Vera schockiert. »Welch ungebührliches Verlangen hat Sie veranlasst, eine junge, unschuldige Dame zu beauftragen, sich mit den niederträchtigen und zweifelhaften moralischen … Verfehlungen … eines …«

Vera verstummte abrupt. Ihr wurde bewusst, dass die Worte, die ihr so ungezwungen über die Lippen kamen, der Situation nicht mehr entsprachen; denn nur dank der Hartnäckigkeit ihrer Nichte kannten sie jetzt nach zwanzig Jahren endlich die ganze Wahrheit.

Beatrice, deren Nase nach wie vor gegen Lady Abercrombies süßlich duftende Schulter gepresst wurde, konnte sich nur allzu gut Tante Veras Verwirrung vorstellen, als sich diese der neuen Realität anzupassen versuchte. Sacht löste sie sich aus der Umarmung Ihrer Ladyschaft und sah, wie Dawson sich ein Stück weit vorbeugte, um die Szene besser erfassen zu können. Ihr Onkel, dem das Interesse des Butlers nicht verborgen blieb, dankte ihm für seine Bemühungen und legte ihm nahe, auf seinen Posten zurückzukehren.

»Lady Abercrombie, ich kann Ihre Methoden nicht gutheißen«, fuhr Vera kühl fort und wusste doch, dass Ihre Ladyschaft auch dankbare Anerkennung verdient hatte. »Ich wundere mich über Ihre Urteilskraft, wenn Sie meinen, Sie müssten eine junge Frau mit einem so ungehörigen Auftrag betrauen, nachdem es doch Gesetzeshüter gibt, die sich solcher Dinge gemeinhin annehmen. Dennoch sind wir Ihnen zu Dank verpflichtet. In gewisser Weise. Hätten Sie sich nicht eingemischt, hätten wir nie von Wems Heimtücke erfahren. Ich … danke Ihnen.«

So wohlwollend diese Rede auch sein mochte, vorgetragen wurde sie ziemlich steif und förmlich, was jeder mit Ausnahme der Countess of Abercrombie befremdlich gefunden hätte. Ihre Ladyschaft zeigte sich ehrlich amüsiert und bestand darauf, von ihrer Gastgeberin als Tilly angesprochen zu werden. »Wenn wir schon eine Familie werden, dürfen wir von allen Förmlichkeiten absehen.«

Diese Aussage löste in Veras Herzen einige Bestürzung aus. Obwohl sie nichts mehr anstrebte als innige Vertrautheit mit dem Adel, brachte sie es dennoch nicht über sich, diese Adelige, die sich um den guten Namen der Hyde-Clares wenig zu scheren schien, in ihre Arme zu schließen.

Dann, als entdeckte Vera ein Schlupfloch in einem ansonsten wasserdichten Vertragswerk, sagte sie: »Aber wir sind doch gar nicht eine Familie.«

Die Gesetze der Genealogie allerdings interessierten die Countess wenig, sie beteuerte eindringlich, dass Beatrice für sie wie eine Tochter sei.

Natürlich wollte Vera eine solche Behauptung nicht unkommentiert lassen.

»Sie ist mir eine Tochter« gab sie scharfsinnig zurück, »und in diesem Sinne wünschte ich, Sie hätten sich an mich gewandt, wenn Sie die Wahrheit über Richards und Claras Tod erfahren wollten. Ich hätte Ihnen alles darüber erzählen können.«

Noch bevor Vera den Satz ganz ausgesprochen hatte, ging ihr auf, wie verstiegen diese Behauptung war. Man konnte es ihr vom Gesicht ablesen, nur, die Gewohnheiten eines halben Lebens waren eben nicht an einem einzigen Tag zu überwinden.

Ihre Tochter, die für die Inflexibilität eines Verstands im fortgerückten Alter wenig Mitgefühl aufbrachte, wies augenblicklich darauf hin, wie unrichtig diese Behauptung war. »Aber Mama, das hättest du doch gar nicht gekonnt, weil alles, was du geglaubt hast, doch falsch war. Mein Onkel hat eben nicht meine Tante und dann sich selbst umgebracht.«

Jetzt blieb Ihrer Ladyschaft die Luft weg, der Kommentar war in der Tat schockierend, und sie rügte Vera dafür, ihr diese wichtigen Informationen zwanzig Jahre lang vorenthalten zu haben. »Clara war meine liebste Freundin. Dass Ihnen das nicht gefiel, bedauere ich, aber Sie hatten kein Recht – nicht das geringste Recht –, mir die Wahrheit über ihren Tod zu verschweigen.«

Nur war es eben nicht die Wahrheit gewesen, natürlich nicht. Flora stellte das ein weiteres Mal klar, ohne allerdings von den beiden Frauen beachtet zu werden. Stattdessen versteiften sich diese auf ihre jeweiligen Argumente – Tante Vera verteidigte ihre Entscheidung, ein Ereignis, das Schande über die ganze Familie gebracht hätte, geheim zu halten, während Lady Abercrombie sie für ihre Unterstellung tadelte, Clara hätte jemals etwas Schändliches tun können. Errötend erwähnte Vera die Affäre mit Braxfield, was der Countess ein verächtliches Schnauben abnötigte, da doch nur ein Einfaltspinsel glauben könne, dass Clara auf das gefühlsduselige Gefasel des selbstgefälligen Gecken hereinfallen würde.

»Brachten Sie ihr denn gar keinen Respekt entgegen?«, fragte Lady Abercrombie, die wegen Veras niedriger Meinung von der Frau, die die Countess als Freundin geliebt und bewundert hatte, sehr aufgebracht war. »Sie waren doch ihre Schwägerin!«

»Es war dieses Manuskript«, rief Vera zu ihrer Verteidigung aus. »Hätten Sie es gelesen, hätten auch Sie kein bisschen an der Affäre gezweifelt.«

Die Witwe hatte keine Ahnung, von welchem Manuskript die Rede war, was sie allerdings nicht davon abhielt, die Aussage scharf zu verurteilen. Vera setzte zu einer Antwort an, stieß aber plötzlich einen aufgeschreckten Schrei aus, stürzte zur Wand und presste sich an die Tapete.

Beatrice hielt dieses Betragen für einen eigenartigen Ausbruch des Wahnsinns, bis sie eine Bewegung auf der Türschwelle wahrnahm und die Herzoginwitwe Kesgrave erblickte, die hinter Dawson in den Raum trat. Tante Vera, bei der die Anwesenheit Ihrer Durchlaucht einige Besorgnis auslöste, versuchte einen Öllampenfleck vor dem kritischen Auge der hochstehenden Besucherin zu verdecken. Leider hatte sie nur einen Körper, der Raum hingegen war übersät mit Makeln wie dem Kratzer auf der Tischplatte oder dem ausgefransten Saum von Floras Stuhl. Panik huschte über ihr Gesicht, während sie Beatrice in ihre Bemühungen einzuspannen versuchte und dazu bedeutungsvoll mit dem Kopf ruckte und wild mit einer Hand herumdeutete.

Obwohl keineswegs klar war, in welche Richtung Beatrice damit dirigiert wurde, nahm sie an, sie solle die fadenscheinige Stelle hinter Flora abdecken; hätte sie nämlich ihre Hand mitten auf den Tisch gelegt, wäre damit nur die Aufmerksamkeit auf den erwähnten Kratzer gelenkt worden.

Allerdings bekam sie keine Gelegenheit mehr, dem Anliegen ihrer Tante nachzukommen. Die Herzoginwitwe beanspruchte augenblicklich ihre gesamte Aufmerksamkeit und wünschte sämtliche Einzelheiten bezüglich der skandalösen Begegnung mit Lord Wem zu erfahren, die sich am vorherigen Abend ereignet hatte.

»Dem Nichtsnutz von meinem Enkel war kein anständiges Wort zu entlocken, da er im Zuge seiner Vorbereitungen zu eurer heutigen Hochzeit vom einen zum anderen springt und er mir nichts Hilfreiches über die grässliche Szene mitteilen wollte, deren Zeuge wir alle wurden«, sagte sie recht verächtlich. »Es versteht sich von selbst, dass ich nicht ganz in Unwissenheit bleiben kann. Wenn ich Sie daher um eine Erklärung bitte, geschieht das nicht, um Sie zu belästigen, egal, wie dieser Taugenichts dies bezeichnen möchte.«

Leider wurde ihr simpler Wunsch sowohl von Mr. Hyde-Clare als auch von Lady Abercrombie durchkreuzt, die beide die Informationen zur Hochzeit höchst alarmierend fanden.

»Heute?«, fragte Onkel Horace überrascht und traurig zugleich. »Mir war nicht klar, dass es so bald geschehen würde. Ich dachte, es wäre noch mehr Zeit.«

»Natürlich muss noch mehr Zeit sein«, fügte Lady Abercrombie mit entschiedener Missbilligung an. »Es ist schlicht unmöglich, Kesgrave heute zu heiraten, Beatrice. Wir haben noch gar nicht Ihre ganze Aussteuer bei Madame Bélanger in Auftrag gegeben, und ich habe vor, Ihnen zu Ehren ein Fest auszurichten. Nichts sonderlich Großes, natürlich, nur eine kleine Soirée mit der Crème de la Crème, um Sie mit den wichtigen Leuten bekannt zu machen, eine kleine Einführung in die Gesellschaft, wenn Sie so wollen, da Sie so etwas ja nie hatten.«

Tante Vera, die es noch wohlwollend zur Kenntnis genommen hatte, dass der Countess ebenso wie ihr daran lag, die Verehelichung ihrer Nichte aufzuschieben, stellte abrupt ihr Nicken ein, um gegen die unrichtige Behauptung zu protestieren. »Natürlich wurde Beatrice in die Gesellschaft eingeführt. Ihr Onkel beklagt noch heute die Ausgaben für ihr Ballkleid.«

»Donnerwetter, Vera!«, wandte ihr Gatte ein und wurde so flammend rot, dass die Anwesenden im Zimmer kaum an der Richtigkeit der Behauptung zweifeln konnten.

»Natürlich, natürlich«, räumte Ihre Ladyschaft begütigend ein. »Ich habe mich nur etwas missverständlich ausgedrückt, dafür möchte ich mich entschuldigen. Es ging mir um die angemessene Einführung in die Gesellschaft, so hätte ich das wohl formulieren sollen.«

So sehr Vera höherstehenden Adeligen ihren Respekt entgegenbrachte, diese Kränkung konnte sie nicht auf sich beruhen lassen. Sie machte drei Schritte auf die Countess zu, bevor ihr erneut der Fleck einfiel, der nun für alle deutlich sichtbar würde, worauf sie schleunigst zur Wand zurückhuschte. Lady Abercrombie, der kaum bewusst war, dass sie jemanden beleidigt hatte, versuchte die Unterstützung der Herzoginwitwe zu gewinnen und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass auch Ihre Durchlaucht gegen eine übereilte Vermählung war, da, wie sie sagte, ein gewaltiger Skandal losgetreten wurde und daher davon abzuraten sei, weiterhin Brühe ins Feuer zu gießen.

Beatrice lachte, amüsiert nicht nur über das verhunzte Sprichwort, sondern auch wegen der ganzen absurden Szene. Ihre Tante, die Herzoginwitwe, Lady Abercrombie, alle in London konnten sich die Köpfe heißreden, aber es würde nicht den geringsten Einfluss auf ihre Pläne haben. Sie würde Damien in – wieder ein Blick zur Uhr – zwei Stunden und sechsunddreißig Minuten heiraten.

Allerdings schwand ihre Entschlossenheit ein wenig, als sie die leere Miene ihres Onkels sah, der sich verlegen die Kepler-Biografie an die Brust drückte.

Russell, der seit der Ankunft der Countess of Abercrombie verstummt war, bemerkte nun an niemand Bestimmtes gerichtet, dass die Zugabe von etwas Flüssigem wie einer Brühe doch die erwünschte Wirkung zeitigen und das Feuer löschen würde.

Die Herzoginwitwe bedachte den jungen Mann mit einem einschüchternden Blick. Ob er seine Cousine in ihrem unüberlegten Plan einer übereilten Hochzeit etwa unterstütze, wollte sie wissen.

Da Russell noch nie anderes unterstützt hatte als seine eigenen Wünsche, die vor allem darin bestanden, zwei herrliche Rosse und eine Mitgliedschaft im Salon des Gentleman Jackson sein Eigen zu nennen, antwortete er prompt mit einem Nein.

Sein Vater nickte zustimmend und riet Beatrice, sich mit dem Ehegelöbnis noch ein wenig Zeit zu lassen. »Nur eine Woche oder zwei«, fügte er vorsichtig hinzu. »Dir ist, denke ich, nicht ganz klar, wie aufwühlend die Ereignisse des vergangenen Abends für die Londoner High Society sind. Denn niemals zuvor hat sich in einem Ballsaal eine so abscheuliche Szene abgespielt. Aber das sind die Menschen, mit denen du nun auszukommen hast, und es ist nichts zu gewinnen, wenn du so tust, als würden deren Meinungen nicht zählen. Es spricht für dich, dass du dir dessen nicht gewahr bist, aber die Tatsache, dass du den Duke für dich gewinnen konntest, hat doch so manchen vor den Kopf gestoßen. Du wurdest nicht als Konkurrentin gesehen, verstehst du, was deinen Triumph für viele zu einem Affront macht, und das wiederum würde dich nur zum Gegenstand boshaften Geredes machen. Indem wir deine Hochzeit um einige Tage verschieben, geben wir allen die Gelegenheit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen. Ich bin der festen Überzeugung, dass dies den Übergang für dich und Kesgrave erleichtern wird.«

Beatrice mochte unempfindlich sein gegenüber Tante Veras Argumenten, die sie seit ihrem Erscheinen im Frühstückszimmer zu hören bekommen hatte, die Überlegungen ihres Onkels aber ließen sich nicht so leicht abtun. Niemand wusste besser als sie selbst, wie unwahrscheinlich ihre Beziehung zum Duke of Kesgrave eigentlich war, und so sicher sie sich auch seiner Zuneigung war, so war sie doch auch zu vernünftig, um sich keine Sorgen zu machen, was die Heirat mit ihr für ihn bedeutete. Niemand würde es wagen, ihn öffentlich zu schneiden oder ihn vom White's Club auszuschließen, dafür war er zu wohlhabend und zu hochrangig. Aber die Leute konnten hinter seinem Rücken so manches tuscheln.

Sie verabscheute den Gedanken, Kesgrave könnte von jemand anderem außer ihr verspottet werden.

Und seiner Großmutter, natürlich. Ja, die Herzoginwitwe, die ihn seit seiner Geburt kannte, hatte höhere Anrechte auf ihn.

Obwohl Lady Abercrombie an Horaces höchst vernünftigen Worten viel Gefallen fand, musste sie doch dessen Zeitplan kritisieren. Eine Woche oder zwei waren eine kläglich ungenügende Zeitspanne, um eine kleine Soirée, so wie sie ihr vorschwebte, zu organisieren. Sie brauchte mindestens einen Monat.

»Zwei wären natürlich besser«, setzte sie hinzu. »Und damit fiele Ihre Hochzeit mitten in den Sommer, meiner Meinung nach die sehr viel verheißungsvollere Jahreszeit für eine Vermählung. Aber Sie werden feststellen, wie anpassungsfähig ich bin, meine Liebe. Zur Gewährleistung Ihres Glücks bin ich natürlich bereit, Kompromisse einzugehen.«

Noch bevor Beatrice der Countess für ihre Flexibilität danken konnte, trat – der nächste Neuankömmling – Lord Stirling mit Dawson im Schlepp in den Raum. Er begrüßte die versammelte Gesellschaft mit einem knappen Nicken und wandte sich direkt an Beatrice.

»Miss Hyde-Clare, verzeihen Sie mein Eindringen«, begann er in aller Entschiedenheit, »aber ich finde einfach keinen Seelenfrieden, bevor ich Ihnen nicht meine Aufwartung gemacht und mich selbst davon überzeugt habe, dass die unschönen Vorgänge am vergangenen Abend Sie nicht nachteilig verstört haben. Es geht Ihnen gut?«

Beatrice sah sofort, dass er ehrlich um ihr Wohlergehen besorgt war, sie hielt es gar für möglich, dass die Ereignisse des Vorabends ihn mehr mitgenommen hatten als sie selbst. So unwahrscheinlich das auch sein mochte, ergab es auf seltsame Weise auch Sinn: Denn für sie war das Gespräch mit Lord Wem nur der Endpunkt einer langen, schrecklichen Geschichte gewesen, die nun eine rasche Auflösung erfahren hatte und nach der sie sich bloß noch darum sorgen musste, wie sie von Kesgraves Butler aufgenommen würde. Für Stirling und für alle anderen war es jedoch das Eröffnungskapitel.

Die Ankunft Seiner Lordschaft brachte Tante Vera in eine fürchterliche Klemme, denn sie konnte schlecht gegen die Wand gepresst stehen bleiben, wenn ein neuer Gast begrüßt werden musste. Heftig gestikulierend gab sie Flora zu verstehen, sie möge zu ihr kommen, und kaum war ihre Tochter bei ihr, rückte sie sie vor den Fleck an der Wand und befahl ihr, sich nicht mehr zu rühren. Befreit aus ihrer Zwangslage, schob sie ihren Frühstücksteller in die Mitte des Tischs, damit er den Kratzer verdeckte, bevor sie Lord Stirling versicherte, wie sehr sie alle doch seinen Ball genossen hatten.

Kurz schwebte der überschwängliche Kommentar im Raum, bis ihr bewusst wurde, wie albern er war, und sie sich klarzustellen beeilte, sie meine natürlich, bevor es zu dieser kleinen Episode gekommen sei. Dieser Ausdruck allerdings wurde der Tragweite des Vorfalls in keiner Weise gerecht, daher probierte sie es erneut. »Das … das heißt, oder, eigentlich meine ich … ich meine, vor dem tiefgehenden emotionalen Trauma, das jeden zutiefst emotional und traumatisch berühren musste. Davor, ja davor war es ein ganz herrlicher Ball. Die Blumen … ähm … insbesondere waren schlicht umwerfend.«

Lord Stirling, der in Veras mangelnder Gefasstheit nur angemessene Empfindsamkeit sah, dankte ihr für ihre Ausführungen und nannte ihr den Namen des Blumenhändlers.

Beatrice wollte niemanden brüskieren, indem sie in schallendes Gelächter ausbrach. Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte den Blick ab. Während sie den Kopf zur Tür neigte, sah sie, wie Dawson, der nonchalant mit einer Schulter am Türrahmen lehnte, plötzlich und so unversehens Habachtstellung annahm, dass er mit dem Kopf gegen die Wand krachte. Kurz darauf schlenderte Lord Braxfield in den Raum, gefolgt von einem verlegen dreinblickenden Viscount Nuneaton, der hilflos den Kopf schüttelte, sobald er Beatrice' Blick bemerkte.

»Ah, siehst du, sie empfängt durchaus Gesellschaft«, sagte Braxfield zufrieden. »Mein Neffe wollte mir nämlich einreden, Sie würden nach den Verwicklungen des vergangenen Abends keine Besucher empfangen. Aber angesichts der Rolle, die ich unfreiwillig in dem Drama hatte, hielt ich es für meine Pflicht, mich des Wohlergehens von Miss Hyde-Clare zu versichern. Jetzt muss ich feststellen, dass Sie sogar eine kleine Gesellschaft geben. Und Nuneaton wollte mich lediglich eine Nachricht schicken lassen.«

Er brachte seine Entrüstung sehr bestimmt zum Ausdruck.

Nuneaton nickte. »Das schien mir wünschenswerter, Onkel, statt Lord Stirlings Stimme zu folgen und das Haus ungeladen zu betreten. Aber offensichtlich wusstest du es ja besser.«

Viscount Braxfield, der den Sarkasmus entweder nicht bemerkte oder sich darum nicht kümmerte, stimmte dem zu und wollte nun genauestens erfahren, wie Beatrice herausgefunden hatte, dass Lord Wem für den Tod ihrer Eltern verantwortlich war. Er fühlte sich dazu berechtigt, da sie ihn erst am Morgen davor aufgesucht und ihn zu seiner Beziehung zu ihrer Mutter befragt hatte. Wem war nämlich überzeugt gewesen, die beiden hätten eine ungestüme Affäre unterhalten – und diese Überzeugung hatte schließlich seinen mörderischen Zorn geweckt.

Aber die eingebildete Liaison war lediglich ein Vorwand gewesen, wie Beatrice rasch erkannt hatte. Erneut überkam sie eine große Traurigkeit, als sie an das tragische Ende ihrer Eltern dachte. Lord Wems Geisteszustand war bereits angegriffen, als er auf Clara und Richard losging, und hätte seine falsche Schlussfolgerung bezüglich Braxfield ihn nicht zum gewalttätigen Handeln getrieben, dann eben die nächste irrige Annahme.

Die Zeit, die Clara und Richard Hyde-Clare gemeinsam verbringen konnten, war daher nur gestundet gewesen. Obwohl ihre Eltern in Beatrice' Erinnerung lediglich schemenhafte Gestalten waren, war sie dennoch dankbar, dass sie immerhin fünf statt vielleicht nur vier oder drei Jahre mit ihnen hatte verbringen dürfen.

Während Braxfield sich also bemühte, Beatrice Informationen zu entlocken, zeigte sich Stirling überaus neugierig, in welcher Beziehung der Viscount zu dieser Sache stand, und Lady Abercrombie dankte ihnen allen, weil sie so wunderbar und sehr zweckdienlich ihre Argumente untermauerten.

»Vier Wochen«, beschied sie und nickte zufrieden. »Mindestens.«

Onkel Horace beteuerte, zwei seien völlig ausreichend, aber die Herzoginwitwe stimmte der Countess zu und bekräftigte, dass, genau wie sie gesagt habe, nach wie vor die Skandalbrühe überschwappe, wenn man sie ins Feuer gösse.

Russell erklärte daraufhin noch einmal, dass die Herzoginwitwe wohl Brennstoff meine, woraufhin Ihre Durchlaucht ihn als impertinenten Schnösel bezeichnete. Tante Vera, im Glauben, sämtliche Unvollkommenheiten des Zimmers nun abgedeckt zu haben, errötete und bedauerte, keine Tischdecke über ihren Sohn werfen zu können. Flora schlug als Kompromiss drei Wochen vor, während Lord Braxfield zu erfahren suchte, worum es bei diesem Gespräch eigentlich gehe, damit auch er seine Meinung dazu abgeben könne, und Nuneaton beugte sich vor und entschuldigte sich bei Beatrice, weil es ihm nicht gelungen war, seinen Onkel von dem Besuch abzuhalten.

»Aber ich kann Ihnen versichern, ich habe mein Bestes versucht. Tatsächlich habe ich mich nicht mehr so angestrengt, seitdem ich die Reitgerte meines Stallburschen halten musste, als er das Pferd neu beschlug«, sagte er inmitten des wilden Stimmengewirrs, das im Zimmer herrschte.

Sie musste über den eleganten Viscount lachen, dessen routiniertes Desinteresse mit jeder Begegnung mit ihr ein wenig mehr schwand, und dankte ihm für die Bemühungen, seinen energischen Onkel zurückzuhalten. »Aber dazu bestand keine Notwendigkeit«, beteuerte sie und erblickte erneut Dawson an der Tür. Würden sie tatsächlich mit einem weiteren Besucher beehrt werden? Vielleicht von Mrs. Ralston, die nicht mehr länger darauf warten wollte, dass Vera auf ihre Sendschreiben antwortete? Nein, selbst das größte Klatschmaul von ganz London würde nicht so dreist sein, an der Tür ihres Opfers aufzutauchen und Antworten einzufordern. Außerdem hatte Mrs. Ralston keine makellosen blonden Locken und, wie Beatrice überrascht bemerkte, auch keine verblüffende Ähnlichkeit mit Miss Brougham, der bornierten jungen Dame, die ihr die erste Ballsaison verdorben hatte. »Dieses Irrenhaus ist seit langem … ist seit langem …«

Es hatte keinen Zweck, fortzufahren, denn sie konnte sich nicht darauf konzentrieren, was sie sagen wollte, solange das Ebenbild der schrecklichen Miss Brougham in der Tür stand.

Nein, wurde Beatrice mit Erschrecken klar, kein Ebenbild.

Es war Miss Brougham höchstpersönlich.

2

Auf dem Weg zur Tür, wo die boshafte Person stand, die ihr gesellschaftliches Debut hintertrieben hatte, schwirrten Beatrice viele Gedanken durch den Kopf, ohne dass sie auch nur einen einzigen wirklich zu fassen bekam. Auch ihre Gefühle waren in Aufruhr, alles wirbelte wild durcheinander, so dass jede Empfindung, die sich zwischenzeitlich in den Vordergrund schob, sofort von der nächsten abgelöst wurde: Aufregung, Triumph, Angst, Neugier, Empörung, Erleichterung, Wut, Überraschung, Verdruss.

Sie hatte sich diesen Augenblick oft genug ausgemalt. Ja, sie hatte tatsächlich im Stillen pompöse Reden verfasst, die die gehässige Dame und Erbin eines großen Vermögens angesichts ihrer unbedachten grausamen Äußerungen vor Beschämung hätten erzittern lassen. Während ihrer ersten Ballsaison, als der Stachel von Miss Broughams Kommentaren noch tief saß, hatte sie sich häufig genug eine solche Begegnung vorgestellt, und immer hatte diese mit einer unterwürfigen Entschuldigung ihrer Feindin und dem Gelöbnis der Freundschaft geendet.

Aber das war jetzt einige Jahre her, und ihre Wut auf Miss Brougham hatte sich zu mildem Grimm abgeschwächt. Der beißende Spott dieser jungen Dame hatte Beatrice bei ihrem ersten Auftritt in der Londoner Gesellschaft der Lächerlichkeit preisgegeben – womit sie nach einer von Selbstverleugnung geprägten Kindheit nicht hatte umgehen können. Letztendlich aber hatten die herzlosen Bemerkungen dieser jungen Frau doch nur einen Prozess beschleunigt, der bereits eingesetzt hatte. Die wenig beeindruckende Miss Hyde-Clare würde nie eine brillante Partie abgeben, und obwohl sie ein Quäntchen an städtischer Geläufigkeit erlangt sowie die Bekanntschaft einiger attraktiver Gentlemen gemacht hatte, unter anderem die eines Mr. Byrne, der mit ihr ein Interesse an Reiseberichten und den Naturwissenschaften teilte, so war es doch seit langem ausgemacht, dass sie eine alte Jungfer war und auch bleiben würde. Ja, Miss Broughams Spott hatte nur deutlich gezeigt, wie anmaßend Beatrice' Erwartungen gewesen waren. In der Aufregung ihrer ersten Ballsaison hatte sie glatt vergessen, wo ihre Grenzen lagen, und geglaubt, sie könnte tatsächlich einen Galan für sich einnehmen, selbst wenn sie nicht über die Reize, das Selbstbewusstsein oder den Reichtum verfügte, den man von einer Debütantin erwartete.

Offensichtlich konnte sie das aber nicht, auch wenn sie ihre Sommersprossen eigentlich recht hübsch fand und sich für klug und belesen hielt.

Die Demütigung, die sie aufgrund ihrer unangebrachten Hybris erfuhr, machte sie ungewandt, und ihre Ungewandtheit ließ sie zunächst stottern und schließlich verstummen.

Es war aber nicht ausschließlich Miss Broughams Schuld gewesen, dass sie in ihren sechs Ballsaisons schlichte Fragen, die zum gesellschaftlichen Small-Talk dazugehörten, mit inkohärentem Gestammel beantwortete. Für diese Schwäche trug einzig und allein sie die Verantwortung. Schließlich konnte man es einem guten Schützen ja schlecht verdenken, dass er sein Ziel ins Visier nahm, oder einem Singvogel, dass er draufloszwitscherte.

Und dennoch, als sich Beatrice jetzt ihrer Erzfeindin näherte und deren höfliches Interesse bemerkte, entzündete sich wieder der altbekannte Zorn, und sie musste sich eingestehen, dass man auch wegen Ereignissen, die mehr als ein halbes Jahrzehnt zurücklagen, wütend werden konnte. Und das beruhte nicht nur auf der Ungerechtigkeit, denn es war von Miss Brougham nun mal scheußlich ungerecht gewesen, sie als Zielscheibe ihrer Geringschätzung auszuwählen. Es hätte zweifellos bessere Opfer gegeben, andere hoffnungsfrohe junge Damen mit Geld, Status und Ambitionen, die Miss Broughams gesellschaftlichen Erfolg wirklich hätten gefährden können. Beatrice hingegen konnte lediglich um ihre kleine Nase herum ein paar Sommersprossen vorweisen sowie den vorsichtigen Glauben, dass diese ihrem Äußeren etwas Vorwitziges, um nicht zu sagen Bezauberndes verliehen. Dass sie sich darauf etwas einbildete, machte aber auch schon ihre ganze Eitelkeit aus.

Doch wie schnell hatte Miss Brougham dem ein Ende gesetzt, indem sie Beatrice eine graue Maus genannt hatte, fade und trist und unendlich langweilig.

Fiep, fiep.

Verglichen mit den Verbrechen, die Beatrice' jüngste Ermittlungen zu Tage gefördert hatten, nahmen sich solche Beleidigungen banal aus. Worte konnten schließlich keinen körperlichen Schaden anrichten. Gleichzeitig war es naiv, anzunehmen, dass man für wahre Niederträchtigkeiten ein Messer schwingen müsse. Die größte Zerstörungskraft wohnte häufig gezischeltem Geraune und Verleumdungen inne, Geschichten, die gerade mal so viel Wahrheit enthielten, dass sie den Tatsachen ähnelten. Die Mitglieder der feinen Gesellschaft wetteiferten unablässig um Macht und Einfluss, und manchmal reichte bereits eine einzige, der richtigen Person ins Ohr gewisperte Andeutung, um einen Rivalen oder eine Rivalin auszustechen.

Das war die Crux an der Argumentation ihres Onkels, warum sie und Kesgrave mit ihrer Hochzeit besser noch ein oder zwei Wochen warten sollten. Nach ihrer außergewöhnlichen Konfrontation mit Lord Wem hatte die Gesellschaft schon genug Munition gegen sie in der Hand; es wäre wirklich dumm, sie mit noch mehr zu versorgen.

Unter all den Gedanken, die ihr auf dem kurzen Weg zur Tür durch den Kopf rasten, war dieser – die mögliche Verschiebung ihrer Hochzeit – als einziger übriggeblieben, als sie das Kinn hob und Miss Broughams freimütigem Blick begegnete. Was sie doch leicht aus der Fassung brachte, denn in den hellbraunen, aufmerksam schimmernden Augen war nicht das geringste Schamgefühl zu erkennen.

Gut, etwas peinlich war es Miss Brougham schon – wenn auch nicht unbedingt, weil sie sich sechs Jahre zuvor über Beatrice Hyde-Clare lustig gemacht hatte, sondern weil sie ihr jetzt, nach den außerordentlichen Ereignissen des Vorabends, aufwartete und sie wie ein neugieriger Ghul anglotzte. Dann sagte sie ohne Umschweife:

»Ich möchte mich für meinen Überfall entschuldigen, Miss Hyde-Clare, aber meine Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Können wir uns irgendwo unter vier Augen unterhalten?«

Am liebsten hätte Beatrice abgelehnt. Natürlich. Hier, endlich, war ihre übelste Feindin erschienen, die Urheberin all ihren Leids, und erbat sich von ihr einen Gefallen. Die Verlockung, Miss Brougham abzuschmettern, war groß, und hätte Beatrice der Sinn nach Rache gestanden, hätte sie nur leise die Tür vor ihrer Nase schließen müssen.

Ja, aber damit wäre sie weiter im Frühstückszimmer mit seinem kakophonen Stimmengewirr geblieben, das eine Verzögerung ihrer Hochzeit einforderte. Selbst jetzt drang, über den Lärm hinweg, Lord Stirlings Klage zu ihr, wie schäbig Hochzeiten seien, für die eine besondere Konzession erforderlich war.

Diese Meinung wurde offensichtlich nicht ohne provokante Hintergedanken vorgetragen.

Denn alle zusammen, sowohl ihre Tante und ihr Onkel als auch die Countess und Kesgraves Großmutter, sprachen sich daraufhin vehement gegen ihre unmittelbare Eheschließung aus, und Beatrice, die die Stichhaltigkeit der Argumente fürchtete, wollte und konnte deren Anwesenheit keine Minute länger ertragen.

Mit einem äußerst knappen Nicken stimmte sie Miss Broughams Bitte zu. »Begeben wir uns ins Arbeitszimmer meines Onkels.«

Wortlos führte Beatrice ihre Erzfeindin durch den Flur und war viel zu sehr von ihrer bröckelnden Entschlossenheit abgelenkt, um sich Gedanken darüber zu machen, was Miss Brougham von ihr wollen könnte. Stattdessen grübelte sie über die Nachteile, die eine verschobene Heirat mit sich bringen würde. Natürlich gehörte dazu, dass sie weiterhin bei ihren Verwandten wohnen müsste, vor allem aber würde sie für einen nicht akzeptablen Zeitraum von Kesgrave getrennt sein.

Nur zehn Stunden zuvor hatte er im Empfangszimmer ihrer Tante widerwillig Abschied von ihr genommen, für sie aber fühlte es sich an, als wären seitdem Jahre vergangen. Natürlich war es nicht unbedingt von Vorteil gewesen, dass sie am Morgen erst von ihrer Tante ins Gebet genommen wurde und anschließend die anderen über sie herfielen. Nun wusste sie nicht, ob diese Empfindung nicht noch verstärkt wurde, weil sie der absurden Situation entfliehen wollte oder weil sie es kaum erwarten konnte, sie mit jemandem zu teilen.

Beatrice öffnete die Tür zum Arbeitszimmer ihres Onkels, einem kleinen Raum mit einem Eichenschreibtisch, auf dem sich ein Sammelsurium an Kontobüchern und Ordnern türmte. Sicherlich wäre ihre Tante entsetzt, wenn sie geahnt hätte, dass sie einen Gast in diesem unordentlichen Allerheiligsten willkommen hieß.

Vielleicht wäre Tante Vera über die Gedankenlosigkeit ihrer Nichte sogar derart erzürnt, dass sie die junge Dame augenblicklich des Hauses verweisen würde. Damit, dachte Beatrice, wäre ihr Problem gelöst.

Allerdings war es unwahrscheinlich, dass sich ihr Dilemma auf derart elegante Weise auflösen würde. Also deutete sie auf die beiden Lehnsessel am Kamin und nahm selbst in einem Platz. »Sagen Sie mir bitte, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Erst jetzt, als sie saßen, dachte Beatrice über den möglichen Zweck des Besuchs nach und konnte nur mutmaßen, dass Miss Brougham gekommen war, um sich mit ihr zu versöhnen. Gegen jede Erwartung hatte sich die langweilige graue Maus einen Duke geschnappt, und eine Dame der Gesellschaft mit Miss Broughams fein geschliffenen Instinkten wusste natürlich, wie sie sich bei einer zukünftigen Duchess einzuschmeicheln hatte.

Nein, nicht mehr Miss Brougham, fiel Beatrice mit einem Mal ein. Schon vor Jahren hatte sie den Namen abgelegt, denn sie hatte am Ende ihrer ersten Ballsaison einen Mr. Norton aus Salisbury geheiratet. Pflichtgetreu hatte sie einen Erben und dazu noch einen weiteren Jungen in die Welt gesetzt, falls es zur äußersten Katastrophe kommen sollte. Mittlerweile gab sie in ihrem eleganten Stadthaus in der South Audley Street gut besuchte Dinnerpartys. Lady Jersey war eine ihrer Vertrauten, die Countess Lieven zählte zu ihren engen Freundinnen, und oft gesellte sich Mrs. Norton auch zu Mrs. Desmond in deren Loge in der Oper.

Natürlich, es konnte nicht sein, dass eine Frau ihres Rangs mit der zukünftigen Duchess of Kesgrave nicht auf gutem Fuß stehen würde. Es galt einiges wiedergutzumachen.

So oft schon hatte sich Beatrice vorgestellt, wie Miss Brougham sich für ihr schlechtes Benehmen entschuldigen würde, aber nie hatte sie daran gedacht, dass sich die betreffende Dame dazu bei ihr einschmeicheln wollte – das war nun doch eine überraschende Entwicklung.

Natürlich wollte sich Beatrice großmütig geben, nicht nur, weil ihre unerwartet hohe Stellung eine gewisse Freundlichkeit erforderte, sondern auch, weil ihr Zorn so schnell wieder verraucht war, wie er gekommen war. In Wahrheit quälten sie Miss Broughams Beleidigungen seit Jahren nicht mehr, und so befriedigend es auch zu sehen wäre, wie sich ihre einstmalige Feindin vor Verlegenheit wand, so konnte Beatrice ihre frühere Entrüstung nicht mehr wachrufen.

Dennoch, Beatrice war keineswegs so edel gesinnt, um nicht doch ein klein wenig Befriedigung darin zu finden, dass die erste Gelegenheit, sich als großherzig zu erweisen, ihr von ihrer alten Widersacherin geliefert wurde.

Fast war Beatrice geneigt, der jungen Dame für dieses stille Vergnügen zu danken, noch bevor auch nur ein Wort geäußert worden war.

Mrs. Norton, die kerzengerade auf dem abgewetzten Ledersessel saß, entschuldigte sich erneut für ihr unangekündigtes Auftauchen. »Ich habe nicht erwartet, Ihr Haus voller Gäste vorzufinden … nun, vielleicht hätte ich damit rechnen sollen. Verzeihen Sie mir. Mein Besuch ist gegen jede Regel, und er wäre mir weniger peinlich, wenn wir auf eine Verbindung oder eine gemeinsame Vergangenheit zurückblicken könnten. Wenn wir vielleicht im selben Jahr unsere erste Ballsaison erlebt hätten … aber als Sie in die Gesellschaft eingeführt wurden, war ich bereits mit Mr. Norton verheiratet und ans Wochenbett gefesselt.«

Beatrice zog überrascht die Augenbrauen hoch, was ihrem Gegenüber jedoch zu entgehen schien.

»Wie auch immer«, fuhr sie fort, »nun bin ich hier und entschlossen, in aller Offenheit mit Ihnen zu reden, weil ich glaube, Sie sind die einzige Person, die mir helfen kann.«

Und so, als fürchtete sie, ihrer Absicht nicht gerecht zu werden, wenn sie die Worte nicht schnell genug herausbekam, setzte sie schnell hinzu:

»Ich brauche Ihre Hilfe. Ich war gestern Abend auf Lord Stirlings Ball und wurde Zeuge Ihrer … ähm, Unterhaltung … mit Lord Wem. Es war schockierend, natürlich. Sehr, sehr schockierend. Ich bedaure … ähm … zutiefst, was Ihren Eltern widerfahren ist. Ich wusste nichts davon. Es ist … so traurig … so … traurig. Trotzdem, das Gespräch bewies Ihr Talent, Personen Informationen abzuringen, auch wenn diese nicht bereit sind, sie preiszugeben. Nun, ich brauche jemanden mit genau dieser Fertigkeit. Eine Person mit kriminalistischem Spürsinn. Ich möchte noch einmal betonen, dass mir die Ungewöhnlichkeit meiner Bitte höchst bewusst ist, und ich hätte nie die Kühnheit besessen, zu Ihnen zu kommen, wenn die Geschehnisse des vergangenen Abends ein einmaliges Ereignis gewesen wären. Aber … nun ja … es gab einiges an … nun … Gerede über den kürzlichen Vorfall mit Taunton bei Lady Hortenses Einführung in die Gesellschaft. Wie alle anderen war ich zunächst ebenfalls überzeugt, dass es auf der Terrasse lediglich zu einem unglücklichen Unfall mit einer der Fackeln gekommen wäre, wie Lord Larkwell behauptete, aber die Vorfälle des letzten Abends haben mich eines anderen belehrt. Außerdem wies Mrs. Ralston kürzlich darauf hin, dass Sie im Lakeview House zu Gast gewesen waren, als sich dort eine … gewisse Unannehmlichkeit mit einem Gewürzhändler ereignete, der auf unerklärliche Weise zu Tode kam, und sie fragte sich, ob Sie nicht Anteil daran hatten, wie der oder besser gesagt die Schuldige gefunden wurde und was in der Folge mit … was mit Lady Skeffington geschehen ist. Ich möchte damit also nur sagen, Sie scheinen mir ein beträchtliches Geschick als Ermittlerin aufzuweisen, und ich … nun, ich benötige eine Ermittlerin mit beträchtlichem Geschick.«

Beatrice lachte auf.

Eine ganz und gar schreckliche Reaktion, ja, denn Mrs. Nortons Pein, das Thema überhaupt anschneiden zu müssen, zeigte sich ganz deutlich an ihren steifen Schultern und der Eile, in der ihre Worte herausgesprudelt waren. Ja, liebend gern wäre Mrs. Norton jetzt überall gewesen, nur nicht vor dem Kamin in Mr. Hyde-Clares Arbeitszimmer, um dort dessen Nichte um einen Gefallen zu bitten.

Dennoch wollte es Beatrice nicht gelingen, ihre Heiterkeit zu unterdrücken. Es kam ihr wie eine Ironie des Schicksals vor, dass die Frau, die ihre gesellschaftliche Karriere ruiniert hatte, sich nicht im Geringsten daran erinnern konnte. Jahrelang hatte Beatrice einen Groll gegen diese Frau gehegt, und die böswillige Person besaß noch nicht einmal die Höflichkeit, sich überhaupt an sie zu erinnern. Hatte sie wirklich so viele, frisch von der Schulbank gekommene junge Mädchen beleidigt, die hoffnungsvoll zu ihrem ersten Ball gingen, dass sie sie gar nicht mehr zählen konnte, oder war Beatrice für sie schlicht und ergreifend einfach zu unbedeutend?

Sehr viel sprach für Letzteres, dachte sich Beatrice, während sie bemüht war, an sich zu halten.

Wie absurd ihre Annahme war, Miss Broughams Interesse an ihr wäre irgendetwas anderem entsprungen als reiner Zweckdienlichkeit. Der Zwischenfall auf dem Ball, der für Beatrice so einschneidend gewesen war, war für Miss Brougham eine Quantité négligeable gewesen. Damals hatte sie einfach ein leichtes Opfer benötigt, und als sie sich zu diesem Zweck umgesehen hatte, war ihr Blick zufällig auf Beatrice gefallen.

So simpel war das. Es war nicht einmal etwas Persönliches gewesen.

O ja, und es war völlig absurd, anzunehmen, Miss Brougham würde sich noch an sie erinnern, geschweige denn, sie um Verzeihung bitten.

Sie sollte ihr im Grunde dankbar sein, dachte sich Beatrice, dass die ehemalige Miss Brougham just in dem Moment ihre Eitelkeit anpikste, als diese sich aufzublähen begann. Dabei war sie gerade mal seit einer Woche mit dem Duke verlobt! Man stelle sich nur vor, wie es erst nach einem vollen Monat um ihre Selbstzufriedenheit bestellt gewesen wäre! Vermutlich hätte sie dann die Höhe und den Umfang einer Montgolfière erreicht.

Mrs. Norton presste ihre weiß gewordenen Lippen zusammen und wartete, dass der unverständliche Heiterkeitsanfall ihrer Gastgeberin abebbte. Und Beatrice, die erkannte, wie grausam es war, wenn sie diese für ihren Gast so unangenehme Erfahrung weiter hinauszögerte, verstummte abrupt.

»Verzeihen Sie«, sagte sie und beugte sich vor, als wollte sie Mrs. Nortons Hand ergreifen, um zu betonen, wie ernst es ihr war. Aber solch intimer Kontakt wäre hinsichtlich ihres Bekanntschaftsverhältnisses höchst unpassend gewesen, weshalb sie stattdessen die Sesselarme umklammerte. Und da sie die Ursache ihrer seltsamen Reaktion nicht preisgeben wollte, schrieb sie sie kurzerhand den Ereignissen des vergangenen Abends zu. »Wie Sie selbst schon sagten, war der letzte Abend sehr schockierend, vielleicht bin ich deswegen aufgewühlter, als mir selbst bewusst ist.«

Mrs. Norton nickte verständnisvoll, während ein zarter Fuchsien-Ton ihre Wangen rötete. »Ja, natürlich. Ich habe einen schlechten Zeitpunkt gewählt, fürchte ich. Verzeihen Sie, ich sollte mich besser verabschieden …«

»Nein, nein, bitte«, sagte Beatrice und fasste nun doch ihre Hand, um sie aufzuhalten. Wenn Mrs. Norton