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Über ihre ersten beiden Mordfälle stolperte Miss Beatrice Hyde-Clare sozusagen zufällig, doch nun ist die junge Frau auf den Geschmack gekommen, und das hat einen tieferen Grund. Nicht nur hat die mittellose Waise ihr kombinatorisches Talent entdeckt (von dem sie vorher gar nicht wusste, dass sie es hatte) – durch eine absurde Laune des Schicksals hat sie sich in den für sie völlig unerreichbaren Duke of Kesgrave verliebt. Und sucht nun verzweifelt nach etwas, womit sie sich ablenken könnte. Eine Leiche käme da wie gerufen ...Zum Glück meldet sich ein Gast der Hausgesellschaft im Lake District genau damit. Der Liebhaber der Mutter seiner Verlobten ist an ebendiesem Morgen unter mysteriösen Umständen gestorben, die auf eine Vergiftung schließen lassen. Statt die Behörden einzuschalten, möchte der junge Mann allerdings – ganz unkonventionell – Beatrice den Fall übergeben. Und so beginnt sie mit ihren Ermittlungen und findet sich bald schon in der Gesellschaft des wortkargen Duke of Kesgrave wieder, der offenbar auch entschlossen ist, dem Mord an Mr. Wilson nachzugehen. Was in höchstem Maße irritierend ist, denn Sinn und Zweck der Ermittlungen war es doch gerade, den attraktiven Duke zu vergessen. Und plötzlich weiß Beatrice nicht mehr, was die größere Herausforderung ist – den Giftmord aufzuklären oder dem süßen Gift der Liebe zu widerstehen …
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Seitenzahl: 386
Veröffentlichungsjahr: 2025
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LYNN MESSINA
LYNN MESSINA
Beatrice Hyde-Clare kommt auf den Geschmack
Aus dem Englischen übersetzt
von Karl-Heinz Ebnet
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Vera Hyde-Clare brachte ihrer Nichte, die als Opfer eines Überfalls ziemlich übel zugerichtet worden war, durchaus ihr Mitgefühl entgegen. Sie musste sich allerdings eingestehen, dass die Verletzungen auch den einen oder anderen Vorteil hatten. Natürlich wünschte sie niemandem zwei zugeschwollene Augen, schon gar nicht diesem armen elternlosen Kind, das mehr als zwanzig Jahre zuvor ihrer Obhut übergeben worden war – selbst wenn diese Waise, die ihr doch nichts als Gehorsam und Dankbarkeit geschuldet hätte, sich dann überraschenderweise als ziemlich eigensinnig und respektlos entpuppte. Aber Vera konnte es nun mal nicht gutheißen, dass sich Beatrice in der Kleidung ihres Cousins heimlich aus dem Haus geschlichen hatte, um an der Beerdigung ihres ehemaligen Verehrers teilzunehmen, eines Kanzleischreibers, den in der Blüte seines Lebens der Tod dahingerafft hatte. Es verstand sich von selbst, dass sie solch ein skandalöses Unterfangen ausdrücklich untersagt hätte, wäre sie denn um Erlaubnis gefragt worden. Aber sie war nicht gefragt worden, und so erschien es Vera nur recht und billig, ihrer Nichte, die inzwischen offenbar ihren Fehler eingesehen hatte, auch die Verantwortung für den unglückseligen Vorfall zuzuschreiben.
Vera hatte diese missliche Situation ja nicht heraufbeschworen, deshalb fühlte sie sich auch nicht von Ge
wissensbissen geplagt, als sie den Überfall vorschob und äußerte, Beatrice sei noch viel zu mitgenommen, um am Ball des Duke of Pemberton teilzunehmen.
»Natürlich wünschte ich mir um deinetwillen, meine Liebe, dass du mitkommen könntest, denn es muss einem sauer aufstoßen, wenn man drei Wochen ans Haus gefesselt ist. Allerdings musst du selbst zugeben, dass es mehr als skandalös wäre, wenn du dich mit derart verfärbtem und verunstaltetem Gesicht in der Öffentlichkeit blicken ließest.«
Beatrice Hyde-Clare, die sich im Spiegel neben der Standuhr betrachtete, beharrte darauf, dass ihr Gesicht doch schon wieder völlig normal aussehe. Nicht das geringste Anzeichen deute auf den Überfall hin.
Worauf ihre Tante nur entrüstet den Kopf schüttelte und ihrer Sorge Ausdruck verlieh, dass die Schläge, die Beatrice abbekommen hatte, ihr Augenlicht offenbar dauerhaft beeinträchtigt hätten. »Ich darf dir versichern, die Zeichen deiner Verletzungen sind für jeden, der auch nur einen Blick auf dich wirft, offenkundig. Nein, du brauchst mindestens noch eine Woche, bis du dich wieder vollständig erholt hast.«
Der Gedanke, eine weitere Woche wie ein Huhn im Hühnerstall eingesperrt zu sein, entsetzte Beatrice.
»Liebe Tante, ich glaube wirklich nicht …«
Doch Tante Vera wollte nichts weiter hören. Es sei ihre heilige Pflicht, beharrte sie, den Ruf ihrer Nichte ebenso zu schützen wie das Ansehen ihrer Familie. »Erst wenn nichts mehr von deinem schrecklichen Überfall zu erkennen ist, wird es dir erlaubt sein, an gesellschaftlichen Ereignissen teilzunehmen oder Besucher zu empfangen. Bis dahin, schlage ich vor, ziehst du dich auf dein Zimmer zurück und denkst darüber nach, wie glücklich du dich schätzen darfst, von einer so hingebungsvollen Familie treu umsorgt zu werden. Andere, weniger fürsorgliche Verwandte würden dich möglicherweise vor die Tür lassen und damit nur Missbilligung und Peinlichkeiten heraufbeschwören. Und jetzt sei so gut und erlaube mir, nach Mrs. Emerson zu sehen. Ich muss mit ihr die Speisenabfolge für den morgigen Abend besprechen.«
Nur allzu gern hätte Beatrice Widerspruch erhoben, aber sie wusste, dass es aussichtslos war. Ihre Tante, die darauf bestand, dass Beatrice' Gesicht nach wie vor Spuren der Schläge aufweise, hatte damit endlich ein Mittel gefunden, den Bewegungsradius ihrer unberechenbaren Nichte einzuschränken, und war offenbar nicht gewillt, dieses auch nur eine Sekunde früher als nötig wieder aufzugeben. Im Höchstfall konnte Tante Vera sie also noch eine Woche festhalten. Und obwohl Beatrice es kaum erwarten konnte, dem Stadthaus am Portman Square zu entkommen, konnte sie sich mit sieben weiteren Tagen der Gefangenschaft hinlänglich anfreunden. Trotz aller Unannehmlichkeiten war es ihrer Tante ja kaum zu verdenken, dass sie die Umstände für ihre Zwecke nutzte, ja, Beatrice war sogar ein wenig beeindruckt, wie erfolgreich Tante Vera ihre Interessen durchzusetzen wusste. Weder die an den Tag gelegte Gerissenheit noch Skrupellosigkeit hatte sie der sechsundvierzigjährigen Frau zugetraut.
Abgesehen davon war Tante Veras Auslegung der Ereignisse ja nicht ganz falsch: Beatrice war, wenn natürlich nur zu einem geringen Teil, selbst verantwortlich für den Überfall. Sie hatte sich nun mal in Russells Kleidung aus dem Haus gestohlen, um sich in Dinge einzumischen, die sie im Grunde nichts angingen. Im Großen und Ganzen aber lag ihre Tante natürlich falsch, denn die Geschichte, die Beatrice ihrer Familie aufgetischt hatte, war von vorn bis hinten erfunden. Nein, sie war nicht heimlich auf der Beerdigung des unglückseligen Theodore Davies gewesen, des Kanzleischreibers, mit dem sie angeblich eine Liebesaffäre unterhalten hatte. Und nein, sie war nicht von dessen Vater tätlich angegriffen worden, der angeblich meinte, sie würde mit seiner trauernden Schwiegertochter schäkern – nicht vergessen, sie trug die Kleidung ihres Cousins! –, der sie allerdings nur ihr Beileid zum Ausdruck bringen wollte. Natürlich konnte man nicht erwarten, dass Mr. Davies in seiner Trauer zu einer vernünftigen Reaktion fähig gewesen wäre, wenn er einen fremden, merkwürdig attraktiven jungen Mann erblickte, der der untröstlichen schönen Mutter seiner Enkelkinder seine ungebührliche Aufmerksamkeit schenkte.
Was für ein Aufruhr! Und so war die arme Beatrice angeblich von dem leidgeprüften Vater verprügelt worden, bis seine Gattin ihren erbosten Mann endlich von ihr wegziehen konnte.
Natürlich war das alles kompletter Unfug. Es hatte nie einen Galan gegeben, der vorgeblich als niederer Kanzleischreiber in der Chancery arbeitete. Beatrice hatte in ihren sechsundzwanzig Jahren überhaupt noch keinen Galan gehabt. Sie war eine eher unscheinbare junge Frau mit braunen Augen, schmalen Lippen, einer blassen Haut und Sommersprossen auf Wangen und Nase. Ihre Mitgift war mehr als bescheiden, ihre Fähigkeit zur Konversation begrenzt, ihr gesellschaftlicher Erfolg so gut wie nicht vorhanden. Das bisschen Selbstvertrauen, das sie aus ihrem Aussehen schöpfte – es war nicht viel und beruhte auf dem Glauben, dass besagte Sommersprossen doch eigentlich ganz reizend seien –, war augenblicklich von der heimtückischen Miss Brougham zunichtegemacht worden, die sie bei ihrem ersten Ball schadenfroh als fade Person bezeichnet hatte. Das war bitter, aber man musste konzedieren, dass Beatrice, bevor sie im vergangenen Herbst zusammen mit der Familie ihres Onkels, die sie als Kind so gnädig aufgenommen hatte, an der Hausgesellschaft von Lord und Lady Skeffington im Lake District teilgenommen hatte, kaum dazu in der Lage gewesen war, in der Öffentlichkeit mehr als drei zusammenhängende Sätze herauszubringen.
Doch dann war sie nachts in der Hausbibliothek unversehens über den erschlagenen Thomas Otley gestolpert, einen Gewürzhändler, der in Indien ein Vermögen gemacht hatte, und damit hatte sich alles geändert. Mit einem Mal war sie in einen mysteriösen Todesfall verwickelt. Da niemand sonst im Haus daran interessiert schien, herauszufinden, wer den Gewürzhändler mit einem Kerzenständer erschlagen hatte, betrachtete es Beatrice als ihre Aufgabe, heimlich in dieser Mordsache zu ermitteln, was sie mit überraschendem Geschick und Erfolg dann auch getan hatte.
Um dieser größeren Sache also auf die Spur zu kommen, hatte sie eine kleinere Lügengeschichte ersonnen und zu diesem Zweck einen Mr. Theodore Davies erfunden, den Kanzleischreiber. In der Annahme, eine der jüngeren Frauen in Lakeview Hall unterhalte eine unzulässige Beziehung zu einem für sie ungeeigneten Heiratskandidaten, dachte sich Beatrice kurzerhand für sich selbst eine unzulässige Beziehung zu einem ungeeigneten Kandidaten aus. Damit wollte sie ihr Mitgefühl demonstrieren, vor allem aber ihrer Gefährtin Vertraulichkeiten entlocken.
Stattdessen schuf sie damit eine so komplizierte und absurde Situation, dass sie noch fünf Monate später damit zu tun hatte, sich aus ihrer eigenen Lügengeschichte herauszuwinden.
Das Problem war natürlich ihre Tante, die sich daraufhin nämlich partout in den Kopf gesetzt hatte, die weitere Zukunft ihrer Nichte würde in deren Vergangenheit liegen. Und deshalb wollte sie diesen bemerkenswerten jungen Kanzleischreiber aufsuchen, um von ihm jene Wesenszüge und Merkmale zu erfahren, die ihre Nichte so anziehend fand, so dass sie einen noch verfügbaren Heiratskandidaten mit ähnlichen Eigenschaften finden konnte. Dies schien jedenfalls vielversprechender als das Festhalten an ihrem gegenwärtigen Plan, das halsstarrige Mädchen mit irgendeinem drittgeborenen Sohn oder einem Kleriker mit einem kleinen Sprengel auf dem Land zu vermählen, ein Unterfangen, das in sechs Ballsaisons noch keinerlei Früchte getragen hatte. Darüber hinaus ließ die unerhörte Kühnheit, die Beatrice im Lake District an den Tag gelegt hatte, nach Veras Dafürhalten eine Verbindung außerhalb der adeligen Gesellschaft angeraten erscheinen, um dem mit einem Mal so unkonventionellen Verhalten der jungen Frau Einhalt zu gebieten.
Wenn doch nur dieser Mr. Davies ausfindig gemacht werden könnte!
Es war klar, dass Beatrice ihre Tante nicht monatelang einem Phantom hinterherjagen lassen konnte, sie konnte aber auch nicht zugeben, dass sie die ganze Geschichte nur erfunden hatte. Daher erfand sie für den imaginären Mr. Davies einen tragischen vorzeitigen Tod. Sie verfasste eine Todesanzeige und brachte sie zur Zeitung. Das hätte das Ende der Affäre sein sollen und wäre es sicherlich auch gewesen, hätte sich nicht der Earl of Fazeley ausgerechnet diesen Zeitpunkt dafür ausgesucht, ihr im Eingang der London Daily Gazette tot vor die Füße zu fallen.
Dieser Vorwurf war ungerecht, da ein Mann, dem ein vierzehn Zoll langer Dolch in den Rücken gerammt worden war, sich nicht aussuchen konnte, vor wessen Füße er fallen wollte. Beatrice hatte lediglich das Pech, ihm am nächsten zu sein, als die Beine des stadtbekannten Dandys dessen Körper nicht mehr zu tragen vermochten und sein Herzschlag aussetzte.
Und mit einem Mal war sie in einen weiteren rätselhaften Mordfall verwickelt.
Bei der Jagd nach dem Mörder Seiner Lordschaft hatte sie sich die beiden Veilchen zugezogen, was sie ihrer Familie natürlich auf keinen Fall gestehen konnte. Zu ihrem Entsetzen hätten ihre Verwandten dann nämlich erfahren, dass Beatrice sich selbst als eine Detektivin sah und sich in dieser Eigenschaft auf Dinge eingelassen hatte, die sie nichts angingen. Wie leichtsinnig! Wie ungebührlich! Wie eigennützig! Ihre Familie war sowieso bereits davon überzeugt, dass Beatrice' Geisteskräfte durch den Anblick des blutüberströmten Mr. Otley Schaden genommen hatten. Und zudem ging die Familie davon aus, dass Beatrice in tiefer Trauer für Mr. Davies sei, da es naturgemäß außerhalb des familiären Vorstellungsvermögens lag, dass eine benachteiligte junge Frau wie sie nicht am Boden zerstört gewesen wäre, nachdem sie die einzige Chance, jemals ihr Glück zu finden, unwiderruflich verloren hatte. Ja, trotz der Tatsache, dass ihr angeblicher Galan sich mit Frau und zwei Kindern in Cheapside niedergelassen hatte, glaubte ihre Familie offenbar, sie hätte sich nach wie vor Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm gemacht.
Es war ein demütigender neuer Tiefpunkt, zu erfahren, als wie hoffnungslos verzweifelt andere sie offenbar sahen.
Dennoch unternahm sie nichts, um diese Ansicht zu korrigieren. Je weniger ihre Verwandten von ihren heimlichen Aktivitäten wussten, desto besser konnten diese gedeihen. Hätte ihre Tante gewusst, dass sie eine ganze Woche lang jeden einzelnen Besitzer des Jadedolchs befragt hatte, mit dem der Earl of Fazeley gemeuchelt worden war, hätte sie sie sicherlich umgehend in die Irrenanstalt Bedlam einweisen lassen. Würde sie herausfinden, dass Beatrice die Ermittlungen zusammen mit dem Duke of Kesgrave durchgeführt hatte, würden ihr vor Entsetzen die Augen aus dem Kopf fallen und die Eingangsstufen vor dem Haus hinunterkullern.
Beatrice verstand diese Reaktion. Sie selbst konnte sich ja kaum erklären, warum der hochgeschätzte Duke of Kesgrave einfach so – weder um des Geldes, des Ansehens noch der Gesellschaft wegen – seinen Spaß daran hatte, ihr bei der Jagd nach Mördern zu helfen. Es bestand für ihn keinerlei Notwendigkeit, sie in die Ermittlungen mit einzuschließen, denn er besaß ungehinderten Zugang zu allen Gesellschaftsschichten und konnte so völlig unabhängig von ihr jeder aufgedeckten Information nachgehen.
Dennoch wandte er sich an sie, versorgte sie mit Neuigkeiten und hatte sie einmal sogar zu einem Tanz aufgefordert, auch wenn ihr Walzer auf dem Leland-Ball keinem ersichtlichen Zweck gedient hatte als dem, Lord Fazeleys Mörder zu finden.
Fast hätte das alles nur dafür gesorgt, einem dummen Mädchen den Kopf zu verdrehen.
Zum Glück war Beatrice nicht dumm.
Sie mochte leichtsinnig genug sein, um sich in diesen Mann, der so völlig außerhalb ihrer Reichweite war, zu verlieben, aber sie war zu intelligent, um auch nur einen Augenblick zu glauben, dass der Duke ihre Gefühle jemals erwidern könnte.
Diese Klarsichtigkeit, mutmaßte sie, war ihre Rettung. Denn sie bewahrte sie davor, einem unerreichbaren Duke hinterherzuschmachten. Nein, sie würde fest zu ihrem gefassten Entschluss stehen, sich in eine neue, verzehrende Leidenschaft zu stürzen. Dazu brauchte sie nur eine Beschäftigung, die sie von Kesgraves kristallblauen Augen, seinem markanten Kinn, den blonden Locken und seinem unverschämten Humor ablenkte …
Einen Mord!
Ja, ein Mord wäre genau das, was sie brauchte, damit sie nicht unentwegt an den gutaussehenden Duke denken musste. Sobald sie aus ihrer häuslichen Gefangenschaft entlassen würde, wollte sie alles unternehmen, um sich einen neuen Fall zu suchen.
Während der drei Wochen Hausarrest hatte sie gründlich darüber nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass dies das einzige Mittel gegen ihre aussichtslose Schwärmerei war. Mithilfe des eigenen Verstandes einen Mordfall zu lösen hatte etwas Berauschendes, und fanden sich erst einmal Hinweise, denen sie nachgehen konnte, würde sie sehr schnell an nichts anderes mehr denken.
Die ideale Lösung also.
Die Tatsache, dass sie Kesgrave versprochen hatte, nicht mehr in Mordfällen zu ermitteln, über die sie zufällig stolperte, war in diesem Fall bedeutungslos, da sie sich ja vorgenommen hatte, sich selbst einen Mord zu suchen. Der Unterschied mochte manchem als Wortklauberei anmuten, ihr aber reichte er, um mit reinem Gewissen weiterzumachen. Auf diese Weise könnte sie Ablenkung finden und gleichzeitig ihr Wort halten.
Alles war gut.
Wenn nur der Duke nicht ständig ihrer Tante seine Aufwartung machen würde, um über ihre Genesung auf dem Laufenden zu bleiben.
Jedes Mal machte ihr Herz einen Satz, wenn ihre Cousine Flora sie darüber in Kenntnis setzte, dass der Duke unten sei und sich nach ihrer Gesundheit erkundige. Seine Besorgnis, wusste sie, war aufrichtig, schließlich war er während des Überfalls zugegen gewesen und hatte die Blessuren in ihrem Gesicht höchstpersönlich begutachten dürfen.
Es hatte ihn sehr aufgewühlt, dass eine Frau so entsetzlich verprügelt wurde. Mehr aber auch nicht. Sein Interesse an ihrem Wohlergehen war nichts Persönliches. Beatrice war der festen Überzeugung, dass jedes ähnlich misshandelte Wesen – ob Stallknecht, Lakai oder Gaul – ihn ebenso aufgewühlt hätte und nur die Bestimmtheit ihrer Tante, sie so lange wie möglich zu Hause zu behalten, ihn mit der Sorge erfüllte, dass die Verletzungen vielleicht schlimmer seien, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Hätte er gewusst, dass Tante Vera diesen unerwarteten Vorfall lediglich für ihre Zwecke nutzte, würde er längst nicht mehr jeden dritten oder vierten Tag vorbeikommen, um sich nach ihrem Zustand zu erkundigen.
Wahrscheinlich, vermutete Beatrice, wusste Tante Vera nur allzu gut, dass Kesgraves Besuche ein Ende finden würden, sobald ihre Nichte als gesund genug galt, um in die Gesellschaft zurückzukehren. Was ihr einen weiteren Grund lieferte, ihre Genesung weiter hinauszuzögern. Denn nachdem nun eine der gefragtesten Partien von ganz London ihr regelmäßig seine Aufwartung machte, war ihre Aktie beträchtlich im Wert gestiegen. Die Hyde-Clares, von den höchsten Adelsrängen so weit entfernt wie Mäuse von Tigern, hatten sich am Rand der adligen Gesellschaft bequem eingerichtet und pflegten dort mit gelassener Regelmäßigkeit Umgang mit anderen derart gestellten Familien. Die Aufmerksamkeit des Duke allerdings hatte Vera mit einem Mal ins Zentrum der High Society katapultiert, und Gastgeberinnen, die bislang nur flüchtig das Haupt in ihre Richtung geneigt hatten, suchten nun das Gespräch mit ihr. Angeblich ließ sie das alles nur über sich ergehen, um die Aussichten ihrer zwanzigjährigen Tochter Flora zu verbessern. Aber es war für jeden ersichtlich, dass sie selbst die Aufmerksamkeit sehr genoss. Tatsächlich versetzte sie das alles in so gute Laune, dass sie sogar ihrem Sohn endlich Faustkampfunterricht im Salon des Gentleman Jackson erlaubte. Eine erstaunliche Kehrtwende, schließlich war sie vor Zorn außer sich gewesen, als er offenbarte, er habe gegenüber Kesgrave, dessen Zuwendung er in letzter Zeit eifrigst suchte, möglicherweise Beatrice' Verletzungen erwähnt. (Wie das Gespräch überhaupt auf seine Cousine hatte kommen können, blieb Russell ein Rätsel, Beatrice allerdings vermutete den Duke dahinter.)
Kesgrave war nicht das einzige Mitglied der High Society, das ein Interesse an Beatrice' Wohlergehen hatte, denn ebenso glückselig war Tante Vera über ihre andere Besucherin: die überschwängliche Countess of Abercrombie. Aus unerfindlichen Gründen hatte die schöne Witwe, die berühmt war für ihre Schlagfertigkeit, Kühnheit und ihre zahllosen Affären, Beatrice in der anstehenden Ballsaison zu ihrem ganz besonderen Projekt erkoren. Sie hatte sich das Unmögliche vorgenommen – eine unscheinbare Jungfer fashionabel zu machen – und ließ sich davon auch nicht abbringen, egal, wie sehr Vera sie zu überreden versuchte, sich einer anderen jungen Dame anzunehmen. Dazu hatte sich Vera genötigt gesehen, da das Ziel Ihrer Ladyschaft, ihre merkwürdige, unberechenbare Nichte ins Rampenlicht der Gesellschaft zu rücken, ihren Interessen ja völlig entgegenstand. Ursprünglich hatte sich Tante Vera nämlich für ihren eigenen entzückenden Nachwuchs stark gemacht, als ihr aber der Wunsch Ihrer Ladyschaft nach einer bedeutsamen Herausforderung bewusst wurde, hatte sie ihren Fokus auf Mrs. Marltons Tochter gelegt, eine hübsche junge Dame, deren auffälliges Hinken ihrer breiteren Beliebtheit hinderlich war.
Aber nein, Lady Abercrombie hielt hartnäckig an Beatrice fest und schickte Vera Hyde-Clare regelmäßige Anfragen, wann sie sich mit ihrem Schützling treffen könne, um ihre Pläne für die Ballsaison zu besprechen. Die ebenso brüsken wie schwärmerischen Sendschreiben trieben Tante Vera noch in den Wahnsinn, da sie überzeugt war, diese Frau würde nach wenigen Tagen das Interesse an ihrer Nichte verlieren. Wurde ihr doch nachgesagt, über einen Geist wie ein Schmetterling zu verfügen, der ständig von der einen Sache zur nächsten flatterte.
Jetzt aber, nachdem sie sich auf Beatrice kapriziert hatte, schien sie mit einem Mal ein Gedächtnis wie ein Elefant zu haben.
Das war entschieden ungerecht.
Wie ihre Tante hatte auch Beatrice angenommen, dass das Interesse der Countess bald erlöschen würde, daher war es ihr schleierhaft, warum diese so beharrlich an ihrem Plan festhielt. Als Frau, die sich ihrem fünfundfünfzigsten Lebensjahr näherte, hatte sie offensichtlich ein Faible für das Neue und Ungewöhnliche. So hielt sie sich ein Löwenjunges als Haustier und hatte ihren Salon so extravagant im orientalischen Stil eingerichtet, dass er mit dem Royal Pavilion in Brighton wetteifern konnte. Alte Jungfern aber waren keine seltenen Vögel, deren Anblick man zu erhaschen suchte. Sie waren so allgegenwärtig wie der Schmutz in einem Londoner Tanzsaal, und falls Lady Abercrombie sich in den Kopf gesetzt hatte, ein solches Wesen zu fördern, dann hätte sie mit Leichtigkeit eines finden können, das nicht fast einen Monat lang von der Gesellschaft abgesondert wurde.
Anscheinend hatte Ihre Ladyschaft einen anderen Grund für ihr Interesse. Zunächst hatte Beatrice angenommen, es läge daran, dass sie die Affäre der Witwe mit einem Freund des eigenen Sohnes aufgedeckt hatte. Lady Abercrombie hatte gehofft, die Tändelei, die sie während der Weihnachtsferien mit Lord Duncan eingegangen war, geheim halten zu können, und hatte dazu scheinbar einen Tauschhandel vorgeschlagen: das Versprechen, für Beatrice' gesellschaftlichen Zuspruch zu sorgen, gegen ein Schweigegelübde. Zu diesem Zeitpunkt hatte Beatrice sie tatsächlich des Mordes an Lord Fazeley verdächtigt, denn die Witwe hatte sowohl einen Grund, ihn tot sehen zu wollen (der Earl hatte versucht, sie zu erpressen), als auch Gelegenheit dazu gehabt, ihn umzubringen (sie war die ehemalige Besitzerin des Jadedolchs, durch den er ums Leben gekommen war).
Beatrice aber ließ sich auf den Handel nicht ein, sie wies das Angebot der Countess zurück und erwartete, dass dies das Ende ihrer Beziehung wäre. Die Countess hatte sich davon allerdings keineswegs abschrecken lassen.
Es war Beatrice ein Rätsel.
Reichte das, um ihre Gedanken auf etwas anderes zu bringen als den Duke of Kesgrave? Über diese Frage dachte Beatrice nach, als sie die Treppe zu ihrer Schlafkammer hinaufstieg.
Sofort sah sie seine blauen, lachenden Augen vor sich, mit denen er eine ihrer Bemerkungen quittierte.
Nein, es reichte nicht.
Sie brauchte etwas, was grausam, überwältigend, ganz und gar unerklärlich war.
Wie so oft in den vergangenen Wochen wandte sie sich der Frage zu, wie sie so etwas finden konnte. Ihr fiel kein einziger offensichtlicher Weg ein, um an ungeklärte Mordfälle zu kommen. Natürlich boten sich die Zeitungen als logischer Ausgangspunkt an, weshalb sie es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, die London Daily Gazette zu lesen, sobald Onkel Horace das Blatt freigab. Sie war die Aufgabe mit großer Begeisterung angegangen, nach drei Wochen eingehender Lektüre aber war sie kurz davor, es wieder sein zu lassen. Tag für Tag die gleichen ermüdenden politischen Artikel, Theaterkritiken und Schiffsmeldungen. Es fand sich kein einziger gewaltsamer, verdächtiger oder unerklärlicher Todesfall auf den Seiten. In der gesamten Zeit ihrer Zeitungslektüre war nur ein Toter aus dem Fluss gezogen worden, ein mit Whisky abgefüllter Seemann, der betrunken über die Reling gestürzt und mit dem Kopf gegen eine im Wasser treibende Planke geschlagen war. Fünf seiner Kameraden hatten den Vorfall beobachtet, es gab also nicht den Hauch einer Chance, dass er ins Wasser gestoßen worden war.
Es gab ein paar Annoncen, die sich auf Straßenräuber und gestohlene Güter bezogen, aber Beatrice hatte keinerlei Interesse, geklaute Halsbänder und vermisste Schnupftabakdosen zu finden. Ihre Ambitionen waren höher, und ihre Fähigkeiten hatten eine größere Herausforderung verdient.
Offensichtlich war ein anderer Ansatz nötig. Wie dieser aber aussehen sollte, musste sie erst noch herausfinden. Selbst mit ihrer neugewonnenen Couragiertheit, die es ihr erlaubte, sich ganz offen über einschüchternde, blauäugige Dukes lustig zu machen, konnte sie sich nicht dazu durchringen, auf eigene Faust die ärmeren Bezirke der Stadt zu durchstreifen oder unbegleitet den Hafen aufzusuchen. Ein solches Verhalten wäre töricht und gefährlich gewesen, und so sehr sie auch auf eine Beschäftigung aus war, die sie völlig mit Beschlag belegte, sie musste das Schicksal nicht herausfordern. Bislang war sie bei ihrem Streben nach Gerechtigkeit zweimal tätlich angegriffen worden: Einmal hatte sie Prügel bezogen, die jüngst zu den beiden Veilchen geführt hatten, und beim anderen Mal war sie nach einem Schlag auf den Kopf in einen Schuppen eingesperrt worden. Letzteres hatte sich während ihrer Ermittlungen zum Mord an Mr. Otley im Lake District ereignet und sie genötigt, sich Brett für Brett aus dem altersschwachen Gerätehäuschen zu befreien, das zu ihrem Glück so morsch war, dass ihr die Flucht glückte.
Nein, besser wäre es wohl, sich mit einem Bow-Street-Büttel anzufreunden, der bereits mit der Untersuchung eines Verbrechens beauftragt war, und ihn um Informationen zu bitten. Diese Methode hatte ihre eigenen Tücken, denn Beatrice war nicht recht klar, wie sie ein solches Treffen arrangieren sollte. Die Dienststelle der Büttel lag in der Bow Street, vielleicht würde es daher reichen, eine der nahegelegenen Tavernen aufzusuchen, wo die Männer nach einem anstrengenden Tag der Verbrecherjagd sich auf ein Pint Bier niederließen.
Der Plan war nicht völlig abwegig, denn sie hatte schon einmal einen recht überzeugenden jungen Mann gespielt, als sie sich die Kleidung ihres Cousins Russell geborgt hatte. Wie ihre Tante nicht müde wurde zu betonen, hatte sie eckige Schultern (»ideal zum Fechten, meine Liebe, aber für eine Frau nur umso enttäuschender«), ein Umstand, der diesem Unterfangen eine gewisse Glaubwürdigkeit verlieh. Außerdem war sie geübt darin, ihre Stimme eine ganze Oktave zu senken, so dass sie sich entfernt wie ein Mann anhörte. Probleme bereitete natürlich der Zeitpunkt, denn sie konnte sich schlecht am Ende des Tages aus dem Haus schleichen.
Niemand würde ihre Abwesenheit nachmittags bemerken, aber am frühen Abend erwartete jeder, dass sie aus ihrem Zimmer kam und am Dinner der Familie teilnahm.
Aber wenn sie es irgendwie schaffen könnte …
»Komm«, sagte Flora im drängenden Tonfall, als sie, ohne anzuklopfen, in Beatrice' Zimmer stürzte. »Komm schon, bevor sie es merkt.«
Beatrice fuhr auf dem Absatz herum und sah verwirrt zu ihrer Cousine, deren haselnussbraune Augen vor Mutwillen nur so funkelten. »Wohin?«
»In den Salon«, erklärte sie, hakte sich bei Beatrice unter und zog sie aus dem Zimmer. »Du hast Besuch, aber Mama weiß noch nichts davon, und wenn du vor ihr unten bist, kann sie nichts dagegen tun. Denk nur, Beatrice, Gesellschaft! Nach all den Wochen. Du musst doch verrückt werden, wenn du niemanden außerhalb der Familie zum Reden hast. Ich jedenfalls würde verrückt werden.«
Beatrice lächelte nur. Endlich ein Buch nach dem anderen lesen zu können, ohne durch lästige soziale Verpflichtungen gestört zu werden, war kaum ein Umstand, der ihre geistige Gesundheit beeinträchtigte. Im Gegenteil, ihr größtes Glück bestand darin, allein in einem gemütlichen Zimmer voller Bücherregale zu sitzen, in einem kuscheligen Sessel samt einem Teller mit warmen Scones.
Dennoch musste sie ihrer Cousine zugestehen, dass es nicht ganz falsch war, was sie sagte. Jede Woche, die vorüberging, erfüllte sie mit größerer Unruhe, einem Kribbeln in den Gliedern, das nur als Rastlosigkeit zu beschreiben war. Etwas hatte ihr gefehlt, und wenn sie jetzt darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass man dieses »etwas« als die Gesellschaft anderer Menschen bezeichnen könnte.
Dieser Gedanke erstaunte sie so sehr, dass sie ihn sogleich wieder weit von sich weisen wollte. Wenn es irgendetwas auf der Welt gab, wonach sich Beatrice Hyde-Clare nicht sehnte, dann die Gesellschaft anderer Menschen. Sie war ein ungeschicktes Wesen, unsicher bis zur völligen Lähmung, und neigte dazu, selbst einfache Fragen wie die nach ihrem Befinden stammelnd zu beantworten. Sogar wenn sie genau wusste, was sie sagen wollte, und die Worte in ihrem Kopf bereits in geordneter Abfolge arrangiert waren, brachte sie sie nicht ohne ein Stottern über die Lippen.
Von Anfang an, seitdem sie sechs Jahre zuvor das gesellschaftliche Parkett Londons betreten hatte, war sie für sich selbst und ihre Familie eine einzige Enttäuschung gewesen.
Aber das hatte sich mittlerweile geändert. Seit den Ereignissen in Lakeview Hall ließ sie sich von über ihr stehenden, erlauchten Persönlichkeiten nicht mehr ganz so einschüchtern.
Die Begegnung mit Kesgrave um zwei Uhr morgens in Skeffingtons verlassener Bibliothek, während der erschlagene Mr. Otley zwischen ihnen lag, hatte unwiderruflich etwas in ihr verändert. In diesem Moment, als sie Kesgrave für den Mörder hielt und annehmen musste, dass er sie als mögliche Zeugin seiner Schurkentat ebenfalls umbringen wolle, hatte sie wahre Schreckensangst ausgestanden, gegenüber der sich die Panik, die sie in den diversen Salons und Ballsälen stets überkommen hatte, gänzlich unbedeutend ausnahm. Selbst sie war nicht so furchtsam, dass sie sich vor etwas Unbedeutendem fürchten musste.
Was für eine schockierende Entdeckung, die sie im hohen Alter von sechsundzwanzig Jahren machte – dass man sich nach der Gesellschaft anderer sehnen konnte! Ihr gesamtes Leben war der Isolation gewidmet gewesen, dem Grundsatz, die Qualen der gesellschaftlichen Verpflichtungen zu überstehen, damit man sich danach in ein ruhiges Zimmer zum Lesen zurückziehen durfte. Kein Versuch war unternommen worden, ihre Beziehungen zu anderen Menschen zu fördern, keinerlei Bemühungen hatten stattgefunden, einen Mann zu finden, mit dem sie die Freuden einer lebhaften Konversation genießen konnte.
Ah, dachte sie wehmütig und zugleich amüsiert, es ging also doch wieder um den Duke of Kesgrave.
Alles in ihrem Kopf drehte sich um den Duke of Kesgrave.
Aber nein, meldete sich entschieden eine andere Stimme zu Wort, es ging auch um den Viscount Nuneaton, einem weiteren Mitglied ihrer kleinen Gesellschaft im Lake District, der dazu ein charmanter Dandy war und der sie zum Lachen brachte. Es ging sogar um Lady Abercrombie und um ihren absurden Plan, sie fashionabel zu machen.
»Komm schon, Dummchen«, beharrte Flora und zerrte sie zur Treppe. »Du musst in den Salon, bevor Mama es mitbekommt. Unterhältst du dich erst mal mit deinem Gast, kann sie nicht mehr behaupten, dass dein Gesicht so verunstaltet wäre, dass du heute Abend nicht mit zum Pemberton-Ball kommen und mit dem Duke of Kesgrave flirten kannst.«
Abrupt blieb Beatrice auf der obersten Stufe stehen und starrte ihre Cousine an. »Was?«
Flora schmunzelte. »Du flirtest mit ihm seit Monaten. Du prangerst seine Selbstgefälligkeit an, und er verwahrt sich gegen deine Dreistigkeit. So geht das hin und her, und er genießt das ebenso sehr wie du. Das ist mir inzwischen klar geworden. Vorher war ich zu sehr von Mr. Davies abgelenkt, seitdem sich aber Kesgrave tagtäglich nach deiner Gesundheit erkundigt, weiß ich, worum es wirklich geht.«
Was ihre Cousine vorbrachte, war so lächerlich, dass Beatrice der Atem stockte. Entschieden schüttelte sie den Kopf und beharrte darauf, dass der Duke sich nicht tagtäglich nach ihr erkundigte. »Sondern nur zweimal in der Woche.«
Ihre Cousine lachte nur und schob sie sacht die Treppe hinunter. »Hörst du dich selbst, meine Liebe? Der Duke ist so um dein Wohlergehen besorgt, dass er zweimal in der Woche hierherkommt. Offensichtlich ist er hin und weg von dir.«
So viele Gedanken drängten sich nach dieser lächerlichen Bemerkung in Beatrice' Kopf, dass sie nicht wusste, wo überhaupt anfangen.
Nein, das stimmte nicht. Sie wusste ganz genau, wo sie anfangen sollte – mit der Tatsache, dass diese Aussage vielleicht doch nicht so absurd war, wie sie eigentlich hätte sein sollen. Obgleich ihre Erfahrung mit Männern begrenzt war, hatte sie mittlerweile genug Zeit mit Kesgrave verbracht, um zu wissen, dass er ihr Gefühle entgegenbrachte. Nicht Liebe, natürlich nicht, noch nicht einmal Schwärmerei. Aber sicherlich zog ihn immer wieder etwas an ihre Seite. Sie wusste, dass er das selbst nicht ganz verstand, aber falls doch, würde es keine Rolle spielen. Er gehörte zu den privilegiertesten Menschen in England, und allein schon durch seine Erziehung erwartete er Vollkommenheit in allen Dingen. Nie und nimmer würde er eine mausgraue Jungfer als Gemahlin akzeptieren. Er würde zwischen allen Unvergleichlichen auswählen können und sich für eine elegante Gastgeberin entscheiden, die sein Anwesen mit Anmut und Schönheit schmückte. Da er auf das dreiunddreißigste Lebensjahr zuging, war anzunehmen, dass er in Kürze seine Entscheidung treffen würde.
»Du versteht das nicht«, sagte Beatrice leicht verzweifelt bei dem Gedanken an all die Dinge, die ihre Cousine nicht wissen konnte – wie zum Beispiel den eigentlichen Grund für die regelmäßigen Besuche des Duke. Gleichgültig, was Kesgrave empfand oder nicht empfand, er kam einzig und allein deswegen zu ihnen, weil er sich dazu verpflichtet fühlte und sich ihrer Genesung versichern wollte, nachdem er persönlich Zeuge des brutalen Angriffs auf sie geworden war. Das war alles. Es war keineswegs das Resultat einer untragbaren Schwärmerei. »Du kannst das nicht verstehen.«
Ihre Entschiedenheit aber amüsierte ihre Cousine nur umso mehr. »Gut, meine Liebe, wir müssen jetzt nicht darüber streiten. Aber bitte, beeil dich.« Wieder zerrte sie an Beatrice' Arm. »Ich glaube, ich höre schon Mama, die mit Mrs. Emerson das morgige Abendessen durchgeht. Sie kann nicht mehr weit sein.«
Beatrice war so erleichtert über den Themenwechsel, dass sie Flora für deren Rücksichtnahme beinahe gedankt hätte. Natürlich hielt sie den Mund, um nicht ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen, die sie weder sich selbst noch ihrer Cousine eingestehen wollte. Und in der Tat, mit jeder Sekunde, die sie unten an der Treppe verweilten, war Tante Vera vernehmlicher zu hören, während sie der Haushälterin entschieden versicherte, dass an der wässrigen Mandelsulz niemand Gefallen gefunden hatte.
Eile war geboten, also liefen sie durch den Flur und hielten erst abrupt am Eingang zum Salon an, um sich ihres würdevollen Auftritts zu versichern. Beatrice, die mit einem Mal glaubte, dass hinter den Auslassungen ihrer Tante keine eigennützigen Machenschaften standen, sondern wirkliche Sorge, fürchtete plötzlich, dass ihr Gesicht tatsächlich noch Anzeichen des tätlichen Angriffs aufwies. Sie ergriff die Hand ihrer Cousine, bevor sie die Tür öffnete, und sagte: »Mein Gesicht ist wieder heil, oder? Es gibt nicht noch irgendwelche Spuren, die ich im Spiegel nicht sehen kann?«
Flora lachte. »Dein Gesicht ist seit langem wieder heil. Ich weiß nicht viel über den üblichen Verlauf, den blaue Flecken so nehmen – über Lila und Gelblich-Braun –, aber du scheinst dich ungewöhnlich schnell erholt zu haben. Es sei dir gesagt, dass Mama völlig verzweifelt war darüber, wie schnell die Blessuren verheilt sind. Und jetzt komm, nicht mehr gezaudert. Wir müssen in den Salon, oder wir schaffen es nie mehr.«
Beatrice nickte. Erst jetzt, als ihre Cousine die Tür öffnete, merkte sie, dass die vergangenen Minuten so sehr von Kesgrave und ihrer Isolation bestimmt gewesen waren, dass sie keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wer ihr Besucher überhaupt sein mochte. Umso mehr war sie dann verwirrt, als sie den attraktiven braunen Haarschopf des Skeffington-Erben erblickte.
Mit erwartungsvoller Miene schwebte Flora in den Salon, als würde sie einen lang vermissten Freund begrüßen.
»Mein lieber Mr. Skeffington«, sagte sie und machte einen Knicks, als er sich am Kaminsims zu ihr umdrehte. »Was für eine nette Überraschung. Wie sehr uns Ihr Besuch freut. Bitte nehmen Sie doch Platz. Dawson wird jeden Moment mit einer frischen Kanne Tee eintreffen. Ich hoffe doch, Sie haben Zeit, um mit uns eine Tasse zu trinken.«
Der junge Mann, der mit sorgenvollem Blick kurz zu Beatrice hinübersah, wurde leicht rot und murmelte eine Erwiderung, die ein Ja oder Nein oder auch eine Bemerkung zum Wetter hätte sein können.
Flora machte es sich auf der Polsterbank bequem, und Beatrice, den Blick auf ihren Besucher gerichtet, ließ sich auf dem Armsessel daneben nieder. Andrew Skeffington erwog die verbliebenen Möglichkeiten und nahm schließlich auf einer Bergère aus Rosenholz Platz. Dann verschränkte er fest die Hände und betrachtete sie mehrere Sekunden lang. Was immer ihn zu den Hyde-Clares geführt hatte, er schien sich dabei nicht besonders wohl zu fühlen.
Obwohl Beatrice guten Grund gehabt hätte, sich über sein Unbehagen zu freuen, bedauerte sie merkwürdigerweise den jungen Mann – den jungen Mann, der ihr im Lake District eine Holzlatte über den Schädel gezogen und sie in einen verfallenen Schuppen gesperrt hatte. Während sie in dem schrecklichen Verlies ausgeharrt, unter rasenden Kopfschmerzen gelitten und befürchtet hatte, Mr. Otleys Mörder würde zurückkehren, um ihr das Lebenslicht auszublasen, hatte sie nicht wissen können, dass der Schurke, der sie dort eingesperrt hatte, der Annahme war, sie selbst wäre die Schurkin.
Mr. Skeffington hatte sie nämlich bei ihren geheimen Ermittlungen zum Mord am Gewürzhändler beobachtet und war zu der Überzeugung gelangt, dass Beatrice selbst die Täterin wäre. Was, aus seiner Perspektive betrachtet, eine vollkommen vernünftige Schlussfolgerung gewesen war, wie selbst sie eingestehen musste. Zum einen hatte er gesehen, wie sie sich auf der Suche nach Informationen in sein Zimmer geschlichen hatte. Zum anderen hatte er nach ihrem Aufenthalt in seinem Zimmer belastende Indizien gefunden – einen blutbefleckten silbernen Kerzenständer. Natürlich musste der junge Erbfolger annehmen, dass sie ihn als den Mörder hinstellen wollte, um die eigene Schuld zu verschleiern.
Nachdem sie das Motiv für sein Verhalten verstand, konnte sie ihm seinen Überfall auf sie nicht mehr übelnehmen. Denn er hatte sie nicht umbringen, sondern lediglich im Schuppen festhalten wollen, damit er seine Eltern aus dem Haus holen und seine Anklagepunkte vorbringen konnte. Dass die gesamte Hausgesellschaft inklusive ihrer Tante und des Duke ihn schließlich auf das Feld begleitete, hatte nicht zu seinem ursprünglichen Plan gehört, diese Kränkung konnte sie ihm daher nicht anlasten. Hätte sie geduldig auf seine Rückkehr gewartet, statt sich mühevoll selbst zu befreien, hätte sie nicht wie eine verwahrloste Wilde ausgesehen, als sie schließlich aus dem Schuppen aufgetaucht war.
Was sie ihm aber übelnahm, waren seine anmaßende Haltung und die Weigerung, ihren Argumenten zuzuhören, mit denen sie ihr eigenes Verhalten zu erklären versuchte. Stattdessen hatte er ihr eine unschickliche Affäre mit dem toten Mr. Otley unterstellt und dabei als Beweis für ihre fragwürdigen Moralvorstellungen auf die Geschichte verwiesen, die ihm über ihre Beziehung zu dem gänzlich erfundenen Mr. Davies zu Ohren gekommen war. Außerdem behauptete er, sie und Kesgrave hätten sich gegen ihn verschworen, er zeigte sich erstaunt über das Interesse des Duke, das er dem Umstand zuschrieb, dieser würde sich auf dem Land langweilen. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er sie in diesem Zusammenhang als »grillenhafte Zerstreuung« bezeichnet.
Eine schlimmere Demütigung, ausgesprochen in einem einzigen Satz, gab es für eine junge Frau nicht. Ihm das zu verzeihen fiel ihr schwerer als die Wunde an ihrer Stirn.
Wenn sie ihn jetzt aber sah, wie er auf seine verschränkten, unter dem großen Druck allmählich weiß werdenden Finger starrte, erkannte sie, dass sie ihm sogar diese Schrecklichkeit nachsehen konnte. Sie musste an seinen Blick denken, als die Wahrheit endlich ans Licht gekommen war. Mit vierundzwanzig war er wahrlich kein Kind mehr, dennoch, als er von der grausamen Abgebrühtheit seiner Eltern erfuhr, schien er wieder zu einem ratlosen kleinen Jungen zu werden. Das Letzte, was sie von ihm damals gesehen hatte, war, als er von dem unerwartet sanften Viscount Nuneaton, einem entfernten Verwandten, aus dem Salon geführt wurde.
Obwohl er geneigt schien, seine Hände auf unbestimmte Zeit zu inspizieren, sah er plötzlich auf und begann äußerst nachdrücklich: »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Miss Hyde-Clare, für mein entsetzliches Verhalten in Lakeview Hall vergangenen Herbst. Sie müssen mich für einen niederträchtigen Schuft halten, der Ihren guten Namen in den Schmutz ziehen wollte, während mein eigener … während mein eigener …« Seine Stimme verlor sich, seine Knöchel wurden noch weißer, dann aber fuhr er fort, als wäre nichts gewesen. »Während mein eigener zum Synonym für Falschheit und Verrat geworden ist. Ich weiß, nichts davon kann ich ungeschehen machen, auch wenn ich ehrlich und offen heraus spreche, aber ich bin entschlossen, die Schande der Familie wiedergutzumachen, indem ich das Richtige tue.«
Es war eine ehrwürdige Rede von nobler Gesinnung, und selbst wenn Beatrice ihm für seinen Anteil an der Affäre nicht bereits vergeben hätte, jetzt hätte sie ihm kaum ihre Zustimmung verweigern können. Bevor sie aber etwas erwidern konnte, betrat Dawson mit einem Tablett den Raum, unmittelbar gefolgt von Tante Vera, die sich wunderte, warum in einem leeren Salon Tee aufgetragen wurde. Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie Mr. Skeffington auf der Rosenholz-Bergère entdeckte, und ihr Blick wurde finster, als sie ihre Nichte bemerkte, die diesem gegenübersaß. Der junge Erbfolger, nicht vertraut mit den Verhältnissen innerhalb der Familie, wurde kreidebleich, da er mit einem harschen Tadel seitens der Tante jener Frau rechnete, die er so misshandelt hatte. Er sprang auf.
Auch Beatrice erhob sich und versuchte ihn zu beruhigen, indem sie die Aufmerksamkeit ihrer Tante auf sich lenkte.
»Wie schön, dass du dich von der Planung des morgigen Abendessens losreißen konntest, liebe Tante, und dich auf eine Tasse Tee zu uns gesellst. Ich weiß, du kannst nur wenige Minuten erübrigen, weil noch so viel zu tun ist, bevor wir heute Abend zum Pemberton-Ball aufbrechen. Dawson, ich werde einschenken, stellen Sie nur den Tee auf dem Tisch ab. Mr. Skeffington wollte uns von seinen Plänen für die Saison erzählen. Werden Sie die ganze Ballsaison bleiben?«
Obwohl Beatrice noch nie Gelegenheit hatte, die anmutige Gastgeberin zu spielen, fand sie sich leicht in die Rolle ein und reagierte auf den finsteren, wütenden Blick ihrer Tante mit einem besänftigenden Lächeln. Argwöhnisch, als wäre sie immer noch unsicher, was sich hier eigentlich zutrug, trat die ältere Frau ins Zimmer und ließ sich neben ihrer Tochter nieder. Mr. Skeffington verneigte sich linkisch vor ihr, bevor er wieder Platz nahm.
»Nun«, sagte Beatrice, schenkte die erste Tasse Tee ein und bot sie ihrem Gast an. »Ist es nicht sehr gemütlich hier? Ich bin sehr erfreut, dass Sie uns Ihre Aufwartung machen, Mr. Skeffington.«
Es war nicht angeraten, sich hämisch zu freuen, wie Beatrice sehr wohl wusste, aber sie konnte nicht anders. Jahrelang hatte sie den Kopf eingezogen, war still und sanftmütig gewesen und hatte befürchtet, ihre Tante und ihr Onkel würden sie beim geringsten Gefühlsausbruch verstoßen. Mittlerweile wusste sie, dass das nie passieren würde. Ihre Tante würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie an einen Mann zu ketten, irgendeinen Mann, ja, es spielte keine Rolle, von welch niedrigem Stand er war – der Dorfschmied genügte vollauf, danke sehr –, aber nie würde sie die Tochter ihres Schwagers aus der Familie verstoßen. In einer kleinen Ecke ihres knickrigen Herzens liebte Vera Hyde-Clare ihre Nichte.
Das jedenfalls redete Beatrice sich ein.
Mr. Skeffington dankte ihr für den Tee und lehnte den angebotenen Zucker ab.
»Sie sehen gut aus«, sagte ihre Tante, obwohl die Farbe noch nicht in sein Gesicht zurückgekehrt war. »Es freut mich umso mehr nach … ähm …«
Und damit, nach nicht einmal zwei Sätzen, war Tante Vera in tückisches Fahrwasser geraten und nur noch einen Hauch davon entfernt, die unschönen Vorgänge in Lakeview Hall zu erwähnen. Die Hyde-Clares zogen es gemeinhin vor, über abscheuliche Ereignisse den Mantel des Schweigens zu breiten, vor allem ihre Tante hatte eine besondere Aversion dagegen, da sie es für äußerst ungehobelt erachtete, sich über unerfreuliche Dinge auszulassen.
Nun war ihr an einem schnellen Themenwechsel gelegen, weshalb sie kurzerhand »nach der schrecklichen Ermordung von Mr. Otley durch Ihre Mutter« durch nach unserem Besuch ersetzte.
»Ich kann mich nicht entsinnen, wann wir das letzte Mal einen so … ähm … interessanten Aufenthalt auf dem Land genießen durften«, fuhr sie fort, bemüht, sich unbeeindruckt zu geben. »Ich bin überzeugt, den anderen erging es ebenso. Wenngleich natürlich …«
Auch hier brachte sie es nicht über sich, einmal von den Prinzipien der Familie abzuweichen, verlegen verstummte sie, allerdings nicht ohne einen wütenden Blick zu Beatrice, als wäre auch dies – das Unbehagen in ihrem eigenen Salon – allein deren Schuld. Nach wie vor hielt sie einzig und allein Beatrice verantwortlich für die Entlarvung von Lady Skeffington als Mörderin und nahm es ihr übel, damit von der vorwitzigen jungen Dame gezwungen worden zu sein, sich der Wahrheit zu stellen.
Vera Hyde-Clare war fest davon überzeugt, dass abscheuliche Nachrichten anmutig zu umgehen seien und die Wirklichkeit ausschließlich mit einer hübschen Zuckerglasur serviert werden müsse.
Mr. Skeffington allerdings mangelte es an ihrer Diskretion, denn er kam ohne Umschweife auf das Thema zu sprechen, ja, würdigte sie sogar, weil sie das Thema als Erste angesprochen hatte. »Ich bin froh, dass Sie es erwähnen, Mrs. Hyde-Clare, denn ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Die schrecklichen Ereignisse im vergangenen Herbst sind nun einmal geschehen, es bringt nichts, so zu tun, als hätte es sie nie gegeben«, begann er in herausforderndem Ton, obwohl er es vermied, die Vorfälle explizit beim Namen zu nennen. »Meine Eltern halten sich jetzt in Italien auf und haben vor, nach Griechenland weiterzureisen, wenn das Wetter wärmer wird. Ich weiß nicht, ob Sie gehört haben, wie die Sache vom Magistrat entschieden wurde.«
Sie hatten es gehört – natürlich hatten sie es gehört. Es kam nicht alle Tage vor, dass eine Baroness von den lokalen Behörden wegen Mordes an einem ihrer Gäste in Gewahrsam genommen wurde. Trotzdem schwiegen nun alle Anwesenden im Zimmer, da keiner ihren Gast oder, in diesem Fall, Tante Vera selbst in Verlegenheit bringen wollte.
»Es lief nicht so glatt, wie mein Vater es sich erhofft hatte«, erläuterte Mr. Skeffington. »Gosport war durchaus geneigt, bei der Sache Vernunft walten zu lassen, aber auch er konnte die Tatsache nicht leugnen, dass meine Mutter im Beisein eines Büttels das Verbrechen gestanden hatte. Er befand sich damit in einer sehr misslichen Lage – er konnte die Sache nicht fallen lassen, wollte sie aber auch nicht an die Krone weiterleiten –, also stellte er meine Mutter unter Hausarrest und zwang meinen Vater, sie still und leise aus seinem juristischen Zuständigkeitsbereich zu entfernen.«
Obwohl die Flucht vom heimischen Landsitz, um sich der Strafverfolgung zu entziehen, kaum als Aufbruch zu einer Grand Tour bezeichnet werden konnte, sah Tante Vera im Übersetzen auf den Kontinent den Beginn einer touristischen Reise. »Wie wundervoll. Helen hat sich schon immer danach gesehnt, mehr von der Welt zu sehen. Als wir zusammen auf der Schule waren, hat sie oft von den großartigen Abenteuern gesprochen, die sie als Erwachsene erleben wollte. Vor allem war sie am Parthenon interessiert, daher überrascht es mich nicht im Geringsten, dass sie bald nach Griechenland reisen möchte. Und Ihr Herr Vater freut sich darüber sicherlich ebenso, ist er doch ein großer Angler, und das Mittelmeer ist ja bekannt für seinen Fischreichtum.«
Mr. Skeffington allerdings ließ ihre tröstlichen Illusionen gleich zerplatzen. »Eigentlich geht es den beiden ganz erbärmlich. Meine Mutter hasst Unbequemlichkeiten jeder Art, mein Vater ist Fremden gegenüber von Grund auf misstrauisch, und im Moment sind sie mit beidem konfrontiert. Ich vermute, mein Vater wird dafür sorgen, dass Mutter sich in Athen niederlässt, während er nach England zurückkehrt. Er hat in den Briefen an seinen Verwalter wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass er nichts Unrechtes getan habe und daher keinen Grund sehe, warum er ebenfalls bestraft werden solle.«
Unerwartet heftig setzte er die Teetasse ab, die klirrend gegen die Untertasse schlug, und wandte sich eindringlich an Beatrice. »Mein Vater und meine Mutter, sie sind Ungeheuer, Miss Hyde-Clare«, sagte er. Er schien sich mit ihr verbunden zu fühlen nach der Tortur im Schuppen, die sie beide allerdings höchst unterschiedlich durchlitten hatten. Was er an Gewalt erfahren hatte, war rein seelischer Natur gewesen, hatte aber dennoch seine Narben hinterlassen. »Sie sind absolute Ungeheuer. Ich weiß nicht, wie das sein konnte – sie waren es schon mein Leben lang, aber ich habe es einfach nicht gesehen.«
Der Kummer in seiner Stimme war unüberhörbar. Mit Schrecken dämmerte Beatrice, dass er möglicherweise zum Portman Square gekommen war, weil er sich von ihr in irgendeiner Form Erleichterung erhoffte. Wie ihre Tante betrachtete er sie als Hauptverursacherin am Niedergang seiner Eltern, und vielleicht glaubte er nun, dass dieser Umstand ihr besondere Kräfte verlieh, die die Sache besser oder mindestens anders machten.
Überwältigt von diesen Erwartungen, denen sie niemals gerecht werden konnte, verspürte Beatrice den unwiderstehlichen Drang, aus dem Zimmer zu stürmen. Es war ebenso wenig ihre Aufgabe, seinen Kummer zu lindern, wie er für die ungeheuerlichen Taten seiner Eltern verantwortlich war. Außerdem war sie bereits zur Genüge mit ihren nicht eben einfachen Verwandten beschäftigt, unter anderem einer Tante, die sie am liebsten in einen Turm sperren und den Schlüssel dazu wegwerfen würde, sofern das Haus nur über eine solche architektonische Ausstattung verfügt hätte.
Aber die Pflicht folgte nicht dem strengen Gebot der Schicklichkeit, sondern setzte sich ganz offen über sie hinweg.
Mit einem tiefen Seufzer musterte Beatrice den jungen Gentleman, dessen prächtige schwarze Brauen in irritierendem Kontrast zu seinen hellgrünen Augen standen. Er war nur zwei Jahre jünger als sie und schien dennoch eine ganze Generation von ihr getrennt. »Sie gehen viel zu hart mit sich ins Gericht, Sie sind schließlich der Sohn. Ihr Blick auf Ihre Eltern kann nicht ungetrübt sein und wird beeinflusst von der gegenseitigen Zuneigung, die Sie und Ihre Eltern füreinander empfinden. Aber selbst jene, die den Vorteil einer weniger gefühlsbeladenen Beziehung genießen, haben ihr wahres Wesen nicht viel klarer wahrgenommen. Ist es nicht so, Tante Vera?« Damit wandte sie sich an die Frau, die Lady Skeffington schon gekannt hatte, als diese noch eine Miss Poole gewesen war. »Du bist mit Helen befreundet, seitdem ihr zusammen auf Mrs. Crawford's School for Girls gewesen wart, und du hättest ihr doch sicher niemals zugetraut, dass sie einem Mann so lange mit einem Kerzenständer auf den Kopf schlägt, bis dieser tot ist, oder?«
