Der fliegende Dandy - Lynn Messina - E-Book

Der fliegende Dandy E-Book

Lynn Messina

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Beschreibung

Eigentlich hat Miss Beatrice Hyde- Clare sich vorgenommen, die Finger von Dingen zu lassen, die sie nichts angehen. Als ihr daher vor dem Gebäude der London Daily Gazette ein Dandy tot vor die Füße fällt, fühlt sie sich kaum dazu berufen, eigene Ermittlungen anzustellen. Wirklich nicht. Nur dass der Dolch, der im Rücken des bedauernswerten Opfers steckt, ihr auf irritierende Weise bekannt vorkommt. So macht sie sich auf zum British Museum, um etwas zu überprüfen. Und dann – Überraschung! – taucht plötzlich der Duke of Kesgrave wie durch Zauberhand an ihrer Seite auf …

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Seitenzahl: 359

Veröffentlichungsjahr: 2025

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LYNN MESSINA

Der fliegende Dandy

LYNN MESSINA

Der fliegende Dandy

Beatrice Hyde-Clare hat einen Verdacht

Aus dem Englischen übersetztvon Karl-Heinz Ebnet

Für Dawn Yanek – die arme Dawn, die meinte, sie wolle mein Buch lesen und mir ein Feedback geben, und jetzt sind wir schon sieben Bücher weiter.

Du bist eine Heldin.

Inhalt

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1

Beatrice Hyde-Clare verdankte ihren neuen Status im Haushalt ihres Onkels einer aberwitzigen Geschichte. Ersonnen hatte sie diese während eines einwöchigen Aufenthalts auf einem Landsitz im Lake District, weil sie einer jungen Dame von unvergleichlicher Schönheit Vertraulichkeiten entlocken wollte. In der Absicht, etwas über die unglückliche Liebe dieser jungen Dame zu einem Gentleman von niedrigem Stand zu erfahren, hatte sie für sich selbst eine unglückliche Liebe zu einem Gentleman von niedrigem Stand erfunden. Sie hatte diesem Gentleman einen Namen, einen Beruf, einen unerschütterlich missbilligenden Vater sowie eine Narbe verpasst, die sich von der rechten Schläfe bis zum linken Nasenflügel zog.

Entsetzt über die Entdeckung, dass sie, das Mauerblümchen von bislang sechs erfolglosen Saisonteilnahmen, nicht nur eine Vergangenheit, sondern sogar eine leidenschaftlich-glühende Vergangenheit aufzuweisen hatte, begann die Familie ihre Rückkehr auf den Heiratsmarkt zu planen. Natürlich waren die Aussichten mit bereits sechsundzwanzig Jahren nach wie vor gering, aber würde man mit Aspiranten von minderer Qualität kalkulieren, würde sich diesmal vielleicht auch ein Ehemann finden lassen.

Amüsiert über diesen Plan, hatte Beatrice nichts dagegen einzuwenden, wenn sich das Augenmerk wieder auf ihre Zukunft richtete, sofern ihre leidenschaftlichglühende Vergangenheit als vergangen angesehen würde. Leider war ihre Tante entschlossen, das Vergangene in die Gegenwart zu holen, und war von dessen Gelingen obendrein sehr überzeugt, denn eine Narbe, die sich quer über das ganze Gesicht eines Mannes zog, war doch schließlich ein bemerkenswertes Kennzeichen. Nur dass es diesen Mann in Wirklichkeit eben gar nicht gab.

»Natürlich weiß ich um die Schwierigkeit, unter den vielen Angestellten in der Chancery Lane, im Lincoln's Inn und dem Old Bailey einen ganz bestimmten Schreiber zu finden«, räumte Tante Vera großmütig ein. »Aber wie viele von denen haben eine derart fulminante Narbe im Gesicht?« Mit angestrengt gerunzelter Stirn, so als versuchte sie einen sehr klein gedruckten Satz zu entziffern, wandte sie sich an ihre Nichte. »Und du sagst, die Narbe zieht sich quer über sein Auge?«

Beatrice unterdrückte ein Seufzen. Seitdem sie in der Woche zuvor in London eingetroffen waren, hatte sie diese Frage gut ein Dutzend Mal beantwortet. Mit ihrer Rückkehr in die Hauptstadt, in der Erwartung der neuen Saison, hatte die Jagd auf Mr. Davies begonnen. Was sie in dieser Form keineswegs vorhergesehen hatte. Warum hätte sich ihre Familie schon für einen verflossenen Galan interessieren sollen? Die Tatsache, dass sie die Faszination ihrer Verwandten, was diesen Mann anging, unterschätzt hatte, zeugte offensichtlich und wie ihr jetzt klar wurde von ihrer unzureichenden Fantasie – auch wenn die Geschichte, um gerecht zu sein, nie für die Ohren der Familie bestimmt gewesen war. Sie hatte sie ausschließlich für Miss Otley erfunden, die, wie sie jetzt wusste, offensichtlich nicht in der Lage war, ein Geheimnis für sich zu behalten. »Ja, von seiner rechten Schläfe bis zum linken Nasenflügel.«

»Dann ist sie also mehrere Zoll lang«, stellte Tante Vera fest und sah sich am Tisch um, als erhoffte sie sich von sämtlichen Anwesenden die Bestätigung, dass eine Linie, die die beiden fraglichen Punkte miteinander verband, exakt von dieser Länge sein musste.

»Ich weiß nicht, ob ich mehrere sagen würde«, erwiderte Beatrice vorsichtig, da sie keine Ahnung hatte, wie viele Zoll die angegebene Strecke wirklich maß. Während ihrer vertraulichen Unterhaltung mit Miss Otley im Lake District hatte sie sich dieses Merkmal kurzerhand aus den Fingern gesogen und es nicht mit einem Lineal abgemessen. »Ein paar vielleicht.«

Ihre Tante nahm die Antwort mit Gleichmut hin. »Gut. Wie viele Schreiber in den Kanzleien der Chancery Lane, im Lincoln's Inn und dem Old Bailey können schon eine mehrere Zoll lange Narbe im Gesicht aufweisen? Vielleicht fünf oder sechs, mit Sicherheit ist ihre Zahl nicht zweistellig.«

Was, fragte sich Beatrice, taten solche Kanzleischreiber nach dem Dafürhalten ihrer Tante denn, damit sich so viele von ihnen sich eine so außergewöhnliche Entstellung zuziehen konnten?

»Aber der Name sollte doch genügen, um ihn zu finden«, warf Flora ein und hatte ihre haselnussbraunen Augen vor Verwirrung weit aufgerissen.

Ihr Bruder Russell, der mit seinen kastanienbraunen, à la Brutus zerzausten Haaren das hübsche Aussehen seiner haselnussäugigen Schwester teilte, nickte und meinte, »Theodore Davies« klinge doch recht unverwechselbar. Es sei äußerst seltsam, dass ihr Vater diesen Mann bislang nicht hatte ausfindig machen können.

Russells Zustimmung war für Beatrice ein besonders alarmierendes Zeichen, denn ihr Cousin und ihre Cousine waren in der Regel in so gut wie allem uneins. Wenn also etwas so klar auf der Hand lag, dass keiner der beiden die Argumente des anderen zerpflücken konnte und sie sich unvermeidlich einig waren, dann musste die Wahrheit allen nur allzu bekannt sein.

Angstvoll wartete Beatrice, dass sich Onkel Horace zu seiner vollen Größe von eins achtundsiebzig aufrichtete, seine schwerlidrigen Augen zusammenkniff und verkündete, dass Mr. Theodore Davies das Hirngespinst seiner verkommenen Nichte sei.

Es war feige, sie wusste es, dennoch senkte sie den Kopf und starrte den Räucherhering auf ihrem Teller an, statt sich der Verachtung zu stellen, die im Blick ihres Onkels ganz gewiss loderte.

Aber die bestürzende Offenbarung blieb aus. Stattdessen seufzte Onkel Horace nur, versicherte seinem Sohn, dass er alles Menschenmögliche tue, und versprach seiner Familie, auch weiterhin Erkundigungen einzuziehen.

Was für ein entmutigender Tagesanfang für alle, die am Frühstückstisch saßen, insbesondere für Tante Vera. Denn für sie war der mysteriöse Gentleman, von dem sie vier Monate zuvor, bis zum Septemberaufenthalt im Lake District, noch gar nichts gewusst hatten, zwangsläufig der Schlüssel zum Glück ihrer Nichte.

Mit »Glück« meinte sie natürlich deren Verlobung, Heirat und Entfernung aus dem Haushalt der Hyde-Clares, dem Beatrice, seitdem sie fünf war, angehörte, nachdem ihre Eltern bei einem tragischen Bootsunglück ums Leben gekommen waren.

Das eifrige Bestreben ihrer Tante, sie aus dem Haus zu schaffen, war nicht gerade schmeichelhaft, aber Beatrice nahm es ihr nicht übel. Sie wusste, wie sehr ihre Anwesenheit ihre Tante quälte. Vera Hyde-Clare, geborene Harkness, frisch verheiratet und nur drei Monate davon entfernt, eine eigene Kinderwiege aufzustellen, hatte zu jenem Zeitpunkt schlichtweg nicht erwartet, dass sie sich – noch vor dem eigenen Nachwuchs – um das Kind des älteren Bruders ihres Gatten zu kümmern hatte, dem sie nur einmal flüchtig begegnet war. Vera hatte damals nicht gewusst, warum ihr Ehemann seinem Bruder eine solche Antipathie entgegenbrachte, nur dass sie sehr gravierend war und auf einem lang zurückliegenden Vorfall beruhte – und das hatte ihr genügt, um sie zu teilen.

Vor wenigen Jahren nun, nach der ersten, wenig verheißungsvollen Saison, hatte Tante Vera sich in das Unvermeidliche gefügt und sich damit abgefunden, dass Beatrice wohl auch weiterhin im Haushalt bleiben würde. Denn die junge Dame war weder aufgeweckt noch interessant, noch war sie hübsch oder wohlhabend oder intelligent genug, um Bewerber anzulocken, die um ihre Hand anhielten.

Und jetzt, plötzlich, wie aus heiterem Himmel, gab es eine Geschichte, die jener widersprach, die sie seit fast einem Jahrzehnt postulierte. Ihre Nichte hatte die Liebe gefunden! Ja, sie hatte sie bei einem ärmlichen Kanzleischreiber gefunden, der weit unter ihrem Stand war und den sie nie an ihren Tisch laden würden, dennoch war das eine Leistung, die ihr niemand zugetraut hätte. Die Affäre hatte für Beatrice jedoch ein verzweifelt trauriges Ende gefunden, denn die Liebe ihres Lebens hatte schließlich eine andere geheiratet und sich mit ihr und den Kindern in Cheapside in trauter Häuslichkeit niedergelassen.

Tante Vera allerdings ließ sich von diesem tragischen Ende keineswegs schrecken. War zu einem Kanzleischreiber die Liebe erblüht, konnte sie auch zu einem anderen erblühen.

Obwohl ihr persönlich schleierhaft war, was ein heiratsfähiger junger Mann an ihrer Nichte Bewundernswertes finden mochte, wusste sie doch, dass die Wege des Herzens der Vernunft häufig ein Schnippchen schlugen. Dass Mr. Davies Beatrice' dürftigen Reizen erlegen war, bewies unwiderlegbar, dass die Liebe eine durchaus irrationale Angelegenheit war. Inzwischen war sie überzeugt davon, dass sie, würde es ihr nur gelingen, diesen Kanzleischreiber ausfindig zu machen und eingehend zu studieren, sie dann auch erkennen könnte, was er an Beatrice so anziehend und umgekehrt was Beatrice an ihm so anziehend gefunden hatte. Wollte sie Beatrice zu einem eigenen Hausstand verhelfen, benötigte sie dazu lediglich einige weitere Informationen über die Art von Mann, die für sie passte.

Natürlich war dieser Plan lächerlich. Beatrice wollte nicht glauben, dass ihr Onkel sich darauf einlassen konnte oder ihr Cousin und ihre Cousine ihn dabei unterstützten. Aus den seltsamen Neigungen, die das Herz bewegten, ließen sich doch keine Charaktereigenschaften herausdestillieren, von denen man irgend etwas hätte ableiten können. Wäre Mr. Theodore Davies wirklich ein Wesen aus Fleisch und Blut gewesen und kein Fantasiegebilde, erschaffen, um Miss Otley Vertraulichkeiten zu entlocken, hätte er sicherlich etwas unbeschreiblich Einzigartiges an sich gehabt.

Doch es wäre vergeblich gewesen, ihrer Tante diese selbstverständliche Wahrheit nahezubringen, das wusste Beatrice. Denn so unerbittlich das Herz in seinem Begehren sein konnte, so biegsam war es auch in seiner Unvoreingenommenheit, zumindest im Vergleich zu der Frau, die sie aufgezogen hatte.

Der Gerechtigkeit halber musste gesagt werden, dass nicht nur Tante Vera ihre Nichte völlig anders wahrnahm, seitdem bekannt geworden war, dass diese offenbar einen heimlichen Verehrer gehabt hatte; auch ihr Cousin und ihre Cousine sahen sie jetzt mit anderen Augen. Für die einundzwanzigjährige Flora, die in nur wenigen Tagen ihre zweite Saison beginnen würde, war es ungeheuer verwegen, dass ihre Cousine eine Romanze mit einem ihr völlig unbekannten Mann angebahnt hatte. Flora fand es schon schwierig genug, eine ernstzunehmende Beziehung zu einem Gentleman einzugehen, der ihr durch eine oder mehrere gemeinsame Bekannte vertraut war. Die Vorstellung, dass Beatrice mit einem attraktiven und einschüchternden Fremden einfach so ins Gespräch gekommen war, verblüffte sie. Das hätte sie ihrer Cousine selbst in den wildesten Träumen nicht zugetraut, zumindest hatte diese im Ballsaal oder Salon nie eine solche Kühnheit an den Tag gelegt.

Auch Russell hatte Beatrice für zu einfältig und zu schlicht gehalten für ein solch skandalöses Betragen. Dass es ihr gelungen war, hinter dem Rücken seiner Eltern eine ganze Liebesgeschichte zuwege zu bringen, ermutigte ihn zu Überlegungen, nach welchen Heimlichkeiten er selbst streben konnte. Wiederholt wollte er Tipps von seiner Cousine, wie der Aufmerksamkeit seiner Eltern zu entkommen sei. Die Mitgliedschaft im Box-Salon des Gentleman John Jackson war dem Zweiundzwanzigjährigen ausdrücklich untersagt, aber wenn Beatrice zu einer ganzen Affäre in der Lage gewesen war, dann sollte er doch wenigstens ein oder zwei Trainingssitzungen arrangieren können.

Jahrelang hatte sich Beatrice eine innigere Beziehung zu ihrem Cousin und ihrer Cousine gewünscht, denn sie kamen Geschwistern nun mal am nächsten – der Tenor ihres jetzigen Interesses aber war ihr entschieden unangenehm. Als ältere Cousine hatte sie gehofft, von den beiden wie eine große Schwester um Rat und Tat gefragt zu werden, nicht jedoch um Tipps für das Aushecken von überzeugenden Lügen und Heimlichkeiten.

Ihre eigene kleine Lüge, die ihr damals ganz harmlos erschienen war, hatte sich zu einem beträchtlichen Problem ausgewachsen, und Beatrice wusste nicht recht, wie sie nun damit umgehen sollte. Nachdem sie sich eben erst den Respekt ihrer Familie erworben hatte, wollte sie ihn nicht gleich wieder verlieren, dennoch war die Situation, so wie sie war, untragbar. Onkel Horace konnte nicht ständig Briefe verfassen und nach einem Mann mit einer riesigen Narbe im Gesicht suchen, und sie konnte nicht weiter so tun, als könnte er ihn irgendwann finden. Mit jedem Tag wog die Last der Lüge schwerer.

Dies war umso schmerzlicher, als ihr während des Aufenthalts im Lake District tatsächlich etwas gelungen war, womit sie sich die Anerkennung der Familie verdient hatte. Wenn sie in Lakeview Hall nicht gerade Damen von unvergleichlicher Schönheit mit Lügengeschichten umgarnte, war sie nämlich damit beschäftigt gewesen, die wahren Umstände hinter dem rätselhaften Tod von Mr. Otley aufzudecken.

Jawohl, das hatte sie!

Einem der Gäste von Lord und Lady Skeffingtons eleganter Hausgesellschaft war mit einem Kerzenständer der Schädel eingeschlagen worden, und Beatrice hatte ihr detektivisches Talent entdeckt und alle notwendigen Informationen zusammengetragen, um die Mörderin am Ende zu überführen.

Ihrer Meinung nach war dies eine durchaus beachtliche Leistung.

Die Tante zeigte sich ebenfalls beeindruckt von den kombinatorischen Fähigkeiten ihrer Nichte und – dies sei zu Tante Veras Ehrenrettung gesagt – auch erleichtert, dass ihre Nichte bei der Aufdeckung der Wahrheit nicht zu Schaden gekommen war. Mehr noch aber hatten Beatrice' Scharfsinn und ihre unerhörte Kühnheit sie nachgerade entsetzt.

Niemand hatte sich vorstellen können, dass sich hinter dem stillen Wesen, das so fügsam den Ansprüchen ihrer Familie nachkam, ein flinker Verstand verbarg, der unterschiedliche Informationen zu einem logischen Ganzen zusammenfügen konnte. Natürlich schien Beatrice der Welt eine gewisse Neugier entgegenzubringen – schließlich steckte ihr Kopf ständig in Büchern über ferne Länder und historische Persönlichkeiten, aber die Aufnahme von Wissen war ja nicht gleichbedeutend mit der Abgabe von Weisheit.

Wann war Beatrice so klug geworden?

Gleichgültig, wie oft Tante Vera ihrer Familie – ihrem Mann, ihren Kindern, sogar ihrer Nichte – diese Frage stellte, niemand hatte eine befriedigende Antwort darauf.

Das besonders Erschütternde an dem unerwarteten Scharfsinn ihrer Nichte war jedoch, wie freizügig sie diesen mit einem Mal zur Schau stellte. Jeder andere aus der Familie der Hyde-Clare hätte in Gegenwart einer angesehenen Persönlichkeit wie zum Beispiel des Duke of Kesgrave, der ebenfalls zu den Gästen im Lake District gehört hatte, vor Ehrfurcht den Mund gehalten. Nicht aber Beatrice. Sie sprach den ehrenwerten Duke unumwunden an, forderte ihn ganz offen heraus und reizte ihn sogar mit spöttischen Bemerkungen, die zu verstehen gaben, dass sie sich ihm ebenbürtig wähnte.

Diese unerhörte Dreistigkeit war einfach untragbar gewesen und etwas, was Seine Durchlaucht in seinen zweiunddreißig Lebensjahren zweifellos noch nie untergekommen war. Tante Vera konnte sich die Veränderung im Verhalten ihrer Nichte nur durch den schrecklichen Zwischenfall erklären, der sich in Lakeview Hall ereignet hatte und bei dem Beatrice plötzlich dem Anblick des brutal ermordeten Thomas Otley ausgesetzt gewesen war.

Wie gedankenlos von dem Gewürzhändler, sich ausgerechnet in der Bibliothek des eleganten jakobinischen Herrenhauses erschlagen zu lassen, wo eine junge Dame mit Schlafproblemen über seinen blutüberströmten Leichnam stolpern konnte.

Hätte sich Beatrice doch nur dazu durchringen können, die Lektüre des mitgebrachten Pfarrers von Wakefield zu beginnen, statt auf der Suche nach einem anderen Buch durch die nächtlichen Gänge zu streifen, dann hätte sie nie mit den Ermittlungen zum Tod von Mr. Otley begonnen, hätte nie andere Hausgäste befragt oder sich heimlich in die Räumlichkeiten der Gentlemen begeben, um deren Sachen zu durchwühlen oder hochstehende Dukes zu provozieren.

Tante Vera war in höchster Sorge, was die neu in Erscheinung getretene Unverfrorenheit ihrer Nichte für den Erfolg der Familie bei der anstehenden Saison bedeuten würde. Gewiss, die junge Frau hatte sich in den zurückliegenden vier Monaten so ruhig wie eh und je verhalten, hatte ihre Stunden mit den üblichen Zerstreuungen zugebracht, hatte in der Bibliothek gelesen und lange Spaziergänge auf dem Land unternommen. Aber die Gesellschaft in Bexhill Downs zeichnete sich durch Beschaulichkeit und Langeweile aus, es gab nur wenige Lichtblicke und sicherlich keine Dukes. Nichts dort konnte eine neuerdings vorlaut gewordene Jungfer dazu provozieren, ihre ungehörigen Ansichten kundzutun.

Jetzt aber, nach ihrer Rückkehr nach London, würde es solche Gelegenheiten zuhauf geben. Unausweichlich schien es, dass das junge Ding etwas wirklich Beschämendes tat, etwas, das Floras Chancen auf einen Ehemann schmälern oder Horaces Ansehen im Club schädigen oder sie die Eintrittskarten zum Almack's kosten konnte.

Vor allem der Duke of Kesgrave schien Beatrice' Widerspruchsgeist anzustacheln. Obwohl sich Vera an sein in Cumbria gegebenes Versprechen klammerte, der Familie in London seine Aufwartung zu machen – der Besuch einer so hochgestellten Persönlichkeit wäre Glanz- und Höhepunkt für die freundlich zurückhaltenden Hyde-Clares –, so hoffte sie nun, dass er seinen Einfluss mäßigte. Die Wirkung, die der Duke auf ihre Nichte zu haben schien, war viel zu gefährlich.

Von daher, dachte Beatrice amüsiert, war es kein Wunder, dass ihre Tante so dankbar die Existenz von Mr. Davies mitsamt seiner adelnden Narbe begrüßte, denn er war ihr ein Hoffnungsschimmer in düstersten Zeiten. Wenn ihre Nichte Männer der Juristerei mochte, die ernsthafte Interessen verfolgten, dann würden sie für ihre Nichte einen solchen Mann mit ernsthaften Interessen finden.

Im Licht dieser Erkenntnis gab sich Tante Vera an dem Umstand, dass Beatrice immer noch unverheiratet war, nun zum Teil selbst die Schuld. Sie hatte die geringen Erwartungen, die sie für ihre Nichte hegte, nie explizit zum Ausdruck gebracht. Hätte sie dem Mädchen, als es frisch von der Schulbank kam, doch bloß erklärt, dass sie um ihr schüchternes, unscheinbares Wesen wussten und sich daher glücklich schätzen würden, wirklich sämtliche Bewerber in Betracht zu ziehen, mochten sie aus noch so unkonventionellen Verhältnissen stammen.

Die hohen Maßstäbe der Hyde-Clares, die sie für ihre eigenen Kinder ansetzten, wenn es darum ging, eine gute Partie zu finden, waren für die unscheinbare Waise in ihrer Mitte zur Gänze verhandelbar.

Leider hatte Tante Vera es versäumt, so offen mit Beatrice zu sprechen. Dafür konnte sie sich jetzt nur entschuldigen und hoch und feierlich geloben, diesen Fehler auf keinen Fall zu wiederholen. Sie würde für ihre Nichte einen Kanzleischreiber niedrigen Stands finden, bevor die Saison vorüber war.

So absurd die Absichten ihrer Tante auch waren, Beatrice hatte Verständnis für deren missliche Lage, denn sie selbst war ja ein wenig beunruhigt wegen ihres veränderten Verhaltens. Hatte sie sich bislang in ihrem Leben stets den Bedürfnissen der Familie ihres Onkels gefügt, so nur deshalb, weil sie nicht wusste, dass sie eine Wahl hatte. Als sie als kleines Mädchen im Londoner Stadthaus ihrer Tante und ihres Onkels eintraf, traurig und einsam und voller Angst, was ihr neues Leben bringen mochte, da hatte sie bei ihren Verwandten wenig Trost oder Herzlichkeit gefunden. Nach einer kühlen Umarmung wurde sie dem Butler übergeben, der sie in die Obhut der Haushälterin gab, die ihr Gesellschaft leistete, bis eine Gouvernante gefunden war. Bei jeder Übergabe wurde ihr gesagt, sie möge brav sein, sie möge dankbar sein und sie möge ruhig und ehrerbietig und gehorsam sein. Ihr wurde eingetrichtert, sich möglichst unauffällig zu verhalten und keine Probleme zu bereiten, oder man würde sie zu einer fremden Familie aufs Dorf schicken, wo sie den Rest ihres Lebens in der Spülküche verbringen müsse.

Beatrice hatte alles geglaubt, Wort für Wort, und sich in den folgenden zwanzig Jahren davon ihr Leben bestimmen lassen – bis zu dem Tag, als sie in einem vollbesetzten Salon stand und den Namen einer skrupellosen Mörderin verkünden konnte, der sie mit detektivischem Spürsinn auf die Schliche gekommen war.

Das war das Extravaganteste, was eine Hyde-Clare jemals getan hatte, und dennoch hatte ihre Familie sie nicht sofort verstoßen.

Freilich war ihr Verhalten nicht ganz folgenlos geblieben. In den Monaten danach hatte sie eine endlose Reihe von Belehrungen über sich ergehen lassen müssen, und alle waren dem Thema gewidmet, wie sich eine anständige junge Dame zu betragen habe, eingeschlossen der sich alltäglich zu vergegenwärtigenden Frage, was sie tun solle, wenn sie auf einen Leichnam stieß (sich für die Störung entschuldigen, sich leise entfernen und einen Hausdiener suchen, der sich eingehender um die Sache kümmern könne). Die Sitzungen mit Tante Vera waren streng, lang und ermüdend, aber für eine junge Frau, die erwartet hatte, für einen solch unerhörten Fehltritt verstoßen zu werden, hatte die Beharrlichkeit ihrer Tante, sie in tadellosem Benehmen zu unterweisen, auch etwas Tröstliches. Tatsächlich kam darin überzeugender deren Zuneigung zum Ausdruck als in der besorgten Umarmung auf der Wiese der Skeffingtons, nachdem sich Beatrice dort aus einem verfallenen Schuppen befreit hatte, in dem sie bei ihren Ermittlungen eingesperrt gewesen war.

Dass ihre Verwandten ihr in diesem Moment überhaupt eine Art Zuneigung entgegenbrachten, war für Beatrice eine Offenbarung gewesen. Doch ob die Tatsache, dass sie selbst sich aus den Fesseln der Angst befreit hatte, nun auch bedeutete, dass ihr Verhalten in London ein grundsätzlich anderes sein würde, konnte sie noch nicht sagen. Beatrice glaubte eher nicht daran, trotz ihrer neugewonnenen Sicherheit. Schließlich war sie nach wie vor ein unscheinbares Nichts, daran hatte sich leider nichts geändert. Mit ihren Gesichtszügen, die so unauffällig waren, dass ihr Onkel sie einmal als zaghaft beschrieben hatte – zaghaftes Kinn, zaghafte Nase, zaghafte Lippen, die sie fest zusammenpresste, wenn sie sich unbehaglich fühlte –, schien sie mit so gut wie jedem Umfeld zu verschmelzen. Und mit ihren braunen Augen, den schmalen Brauen und ihrem Haar, von dem man nicht sagen konnte, welche Farbe es eigentlich hatte, war sie eine blasse Erscheinung sowohl im Salon als auch im Ballsaal, ein Umstand, der ihre Tante verärgerte, da sie gehofft hatte, die junge Frau einer anderen Familie aufhalsen zu können, bevor ihre eigene Tochter in die Gesellschaft eingeführt würde.

Wenn die Vergangenheit ein Vorgriff auf Kommendes war, dann würde Beatrice Hyde-Clare der anstehenden Saison mit dem gleichen ratlosen Desinteresse begegnen wie den vorangegangenen sechs.

Allerdings war da noch ihr Umgang mit dem Duke of Kesgrave zu berücksichtigen, denn darin zeigte sich ihre andere Seite: eine intelligente Frau, die nicht zögerte, dem Blick eines Herausforderers standzuhalten, seine Entscheidungen in Frage zu stellen und an seinem Ego zu kratzen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.

Die arme Tante Vera!

Diese Frau war nicht dafür gemacht, mit Unwägbarkeiten umzugehen, denn es gefiel ihr, wenn alles und jeder an seinem Platz war, vor allem die zur Waise gewordene Nichte, die ihr alles andere als gelegen gekommen war. Deshalb glaubte Beatrice auch, dass ihre Tante nicht von der Hoffnung lassen würde, sie an den erstbesten Kanzleischreiber mit einer interessanten Verunstaltung zu ketten, der ihres Weges kam. Tatsächlich konnte der junge Mann – der nicht per se jung zu sein hatte – aus jedem Umfeld stammen, solange er über die Mittel verfügte, Frau und Familie zu unterhalten.

Oder vielleicht auch nur eine Frau.

Im Grunde brauchte er nur ein Cottage, in das er sie heimführen konnte.

Und natürlich würde im Notfall auch eine armselige Hütte reichen, da es keinen Grund gab, sich allzu hehren Ansprüchen hinzugeben.

Beatrice zweifelte nicht, dass ihre Tante sie freudig mit jedem verarmten Dorfbewohner verheiraten würde, wenn sie sich damit nur ihrer verwandtschaftlichen Verpflichtung entledigen konnte.

Nein, dachte sie belustigt, Tante Vera und Onkel Horace würden sie nie einer Spülküche überantworten. Das würden sie freudig ihrem zukünftigen Ehemann überlassen.

Beatrice verstand durchaus die Sorgen ihrer Tante, hielt sie aber doch für übertrieben, da sie nicht die außergewöhnlichen Umstände berücksichtigten, denen sie sich in Lakeview Hall ausgesetzt gesehen hatte. Gemeinhin stolperte man ja nicht über die Leiche eines Ermordeten, der zu den Gästen der Hausgesellschaft gehört hatte, und sicherlich war man nicht oft gezwungen, Stillschweigen zu wahren, während der Constable auf Drängen des Duke of Kesgrave den offensichtlich nicht selbstverschuldeten Tod als Selbstmord einstufte. Es handelte sich also um zwei höchst ungewöhnliche Ereignisse, und hätte sie nicht über den toten Mr. Otley hinweg Kesgrave ins herzogliche Antlitz gestarrt, hätte sie mit ihm wahrscheinlich nie ein Wort gewechselt. Statt ihn offen mit Beleidigungen zu belegen, hätte sie sich sicher mit der Vorstellung zufriedengegeben, ihm eine Auswahl der aufgetragenen Speisen – Fischfrikadellen mit Olivenpaste, gefüllte Tomaten, Kalbskoteletts, pochierte Eier, Meringue mit Kompott – ans erlauchte Haupt zu werfen.

Daran dachte Beatrice täglich, da sie es insgeheim kaum erwarten konnte, den Duke of Kesgrave wiederzusehen und ihn auf neuem Terrain herauszufordern. Natürlich war das ein lächerlicher Wunsch, denn die Bedächtigkeit eines Salons hatte nun mal nichts mit dem Wagemut am Schauplatz eines Mordes gemein. In der Umgebung, in der sie sich am wenigsten wohl fühlte, würde sie zweifelsohne wieder in ihr übliches Schweigen verfallen.

Auch Kesgrave würde nicht der Gleiche sein. In Lakeview Hall hatte sich die Gesellschaft auf Skeffingtons Gäste beschränkt, eine kleine Auswahl, die in keiner Weise das Umfeld repräsentierte, in dem sich der Duke of Kesgrave sonst aufhielt. Wenn er Beatrice sein Interesse geschenkt hatte, dann nur, weil ein gemeinsames Ziel sie geeint hatte und es sonst wenig Zerstreuung gab, die seine Aufmerksamkeit beanspruchen konnte. In London allerdings bot sich einem Mann wie Kesgrave, der alle Privilegien seines Reichtums, seines Standes und seines Naturells genoss, eine schier unendliche Zahl von Zerstreuungen. Im Gegensatz zu ihrer Tante, die sich darum sorgte, ob er ihnen auch wirklich seine Aufwartung machte, ging Beatrice davon aus, dass der Duke sein lediglich aus Höflichkeit gegebenes Versprechen längst vergessen hatte. Wahrscheinlich würde er sich noch nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern, falls sie sich zufällig im Park oder bei einer Gesellschaft begegnen sollten.

Obwohl sie sich ihres Pragmatismus rühmte, wühlte dieser Gedanke sie auf eine Art und Weise auf, die sie nicht recht in Worte zu fassen wusste. Das allerdings, so ihre Überzeugung, lag nicht daran, dass sie dem Duke eine zärtliche Neigung entgegenbrachte. Fraglos hatte er sehr vieles an sich, was das Herz selbst einer vertrockneten Jungfer schneller schlagen ließ. Sie jedoch war viel zu vernünftig, um eine hoffnungslose Leidenschaft für jemanden zu entwickeln, der so gänzlich außerhalb ihrer Reichweite lag. Wäre er in seiner Vollkommenheit etwas weniger vollkommen – würde zum Beispiel seine Nase einen größeren Teil seines Gesichts einnehmen oder er in seinem Stand einige Stufen zu einem Earl herabsinken –, wäre sie für seine Reize wohl empfänglicher gewesen.

Nein, das Problem ging tiefer und war mehr als eine bloße Schwärmerei für einen unerreichbaren Lord, eine Situation, die sie mit Gelassenheit und Anmut hätte handhaben können. Davon war sie überzeugt, schließlich war sie viel zu vernünftig, um sich jeglicher Art von romantischer Verzweiflung zu ergeben. Ihre Bestürzung, fürchtete sie, gründete eher darin, dass sie unerwartet Gefallen an der Sache gefunden hatte, sowie in dem Gefühl der Kameradschaftlichkeit, das sich zwischen ihnen einstellte, als sie in ihrem Zimmer am Kamin zusammengesessen hatten, um die Verdächtigen in Mr. Otleys Mordfall durchzugehen. In diesen Augenblicken hatte sie sich vom Duke verstanden gefühlt wie sonst von niemandem, und der Gedanke daran, wie schnell er sie wieder vergessen würde, machte sie daher traurig und ruhelos.

Verstimmt von dieser düsteren Wendung ihrer Überlegungen, gab sich Beatrice einen Ruck. Ablenkung tat not. Sie dachte ja bloß an Kesgrave, weil in wenigen Tagen der erste Ball der Saison anstand. Ihre Angst davor nahm in gleichem Maß zu wie ihre Aufregung.

»Flora könnte ihn zeichnen«, sagte ihre Tante versonnen, während Dawson ihren leeren Teller abtrug.

Beatrice' Cousine, eine Tasse Schokolade in der Hand, hielt inne und sah ihre Mutter stirnrunzelnd an. »Ach ja?«

Tante Vera nickte energisch. »Du bist eine talentierte Künstlerin.«

»Danke, Mama«, antwortete Flora. »Ich habe tatsächlich das Gefühl, in den letzten zwei Monaten sehr viel besser geworden zu sein. Ich danke dir und Papa für den ausgezeichneten Lehrer.«

»Flora, lass das.« Russell warf seiner Schwester einen ungehaltenen Blick zu. »Spar dir deine Schmeicheleien.«

Gekränkt von der Unterstellung, sie wolle lediglich das Wohlwollen ihrer Eltern erheischen, beteuerte Flora, dass sie nichts und niemandem schmeicheln müsse. »Ich bedanke mich bloß für meine Zeichenstunden, so wie du das für deinen Boxunterricht auch tun würdest.«

Russell presste die Lippen zusammen. Flora hatte einen wunden Punkt getroffen. Seine Eltern zeigten sich wenig offen für sein Interesse am Faustkampf. »Ich habe keinen Boxunterricht, wie du weißt.«

»Wohl wahr«, erwiderte Flora mit breitem Grinsen.

Russell kochte innerlich.

»Du könntest doch eine Zeichnung von Mr. Davies anfertigen«, erläuterte Tante Vera, die das Gezänk ihrer Kinder wie immer geflissentlich ignorierte. »Nach Beatrice' Beschreibung.«

»O nein«, sagte Beatrice, die so erschrocken von dieser Idee war, dass sie die Worte sogar laut aussprach.

Floras Augen leuchteten. »Ja, das könnte ich tun«, meinte sie, bevor sie sich an ihre Cousine wandte, um ihr ihre Unterstützung zuzusichern. »Du musst mir nur alles genau beschreiben. Das Kinn zum Beispiel, ist es spitz oder rund? Dann zeichne ich etwas, und du sagst mir, ob ich das Original getroffen habe oder nicht.«

Beatrice konnte sich nichts Schrecklicheres vorstellen. »Ich glaube wirklich nicht …«

»Hervorragende Idee, Vera«, beschied Onkel Horace und blickte über seine Zeitung zu seiner Frau hinüber. »Ich weiß nicht, warum wir nicht früher draufgekommen sind.«

Sein Kompliment brachte ihre Tante zum Strahlen. »Du musst keine Angst haben, meine Liebe«, wandte sie sich an ihre Nichte. »Ich bin mir sicher, du kannst sein Aussehen bis zum letzten Haar auf seinem Kopf wiedergeben. Was solche Details angeht, bist du ja offenbar sehr gut«, fügte sie mit anklagendem Unterton hinzu.

Tante Vera war immer noch leicht verstimmt, dass ihre Nichte mit ihrer raschen Auffassungsgabe die genauen Umstände von Mr. Otleys Tod aufgedeckt hatte. Wäre Beatrice nur etwas zerstreuter gewesen, wie es sich für eine richtige Dame gehörte, wäre Vera noch immer mit ihren alten Klassenkameradinnen aus Mrs. Crawford's School for Girls befreundet und ihre eigene Tochter vielleicht mit dem Sohn eines Barons verlobt.

In ihrem Bemühen, dem toten Gewürzhändler Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen, hatte Beatrice ihrer Tante nämlich einen Bärendienst erwiesen.

»Wir können nach dem Frühstück anfangen«, sagte Flora. »Am besten im Empfangszimmer, da ist das Licht am besten.«

Mit einem halbherzigen Lächeln versuchte Beatrice, ein Bild von Mr. Theodore Davies in sich wachzurufen. Alles, was sie sah, war eine tiefrote Narbe, die sich quer über das Gesicht zog und das rechte Auge entzweizuschneiden schien. Mehr sah sie nicht vor sich, denn das war das einzige Merkmal, das sie ihrem erfundenen Liebsten verliehen hatte. Bis auf dieses eine entstellende Kennzeichen war der Ted ihrer Erinnerung ein Sammelsurium vager Charakterzüge: witzig, freundlich, intelligent.

Natürlich könnte sie sich alles ausdenken, alles, was sie wollte, schließlich gab es kein Vorbild, das ihrer Beschreibung als Vergleich dienen würde. Allerdings war es seltsam erschreckend, keinerlei Einschränkungen zu unterliegen. Was, wenn ihre Beschreibung zu einem Ungeheuer ausartete?

Oder, schlimmer noch, zu jemandem, den sie alle kannten?

So angespannt sie wegen der Zeichensitzung auch war, viel beunruhigender war der Gedanke, wie die Zeichnung verwendet werden würde. Würde Onkel Horace sie in eine Druckerei geben und vervielfältigen lassen, um sie seinen Briefen beizulegen? Würde er sie in den Anwaltskanzleien in der Chancery Lane auslegen? Würde er sie in den Tageszeitungen abdrucken lassen?

Beatrice' Wangen wurden heiß, als sie über die Annonce nachdachte, mittels derer ihre Tante um Informationen über besagten Kanzleischreiber ersuchte. Wenn sie seinen Namen in der Zeitung sah, gleich unterhalb des nach ihren Angaben angefertigten Bildes, wäre das …

Die Zeitung!

Beatrice hätte fast ihren Tee verschüttet, als sie erkannte, dass die Zeitung ihr einen Ausweg aus der misslichen Lage bot, die sie selbst herbeigeführt hatte. Natürlich! Sie musste nur eine Todesanzeige in der London Daily Gazette aufgeben. Onkel Horace, der das Blatt jeden Morgen gewissenhaft durchsah, würde darauf stoßen und die unglückselige Neuigkeit seiner Frau sofort mitteilen. Tante Vera wäre zwei Tage lang untröstlich, würde sich aber wieder fassen, sobald ihr dämmerte, dass sie nichts mehr tun konnte. Letzten Endes ereilte ja jeden der Tod.

Ungemein aufgemuntert von ihrem Plan, stimmte Beatrice freudig zu, sich mit Flora in einer halben Stunde im Empfangszimmer zu treffen, und entschuldigte sich. Sie hatte kaum etwas gegessen, war jetzt aber so darauf erpicht, die Annonce aufzusetzen, dass ihr keine Zeit mehr für Räucherheringe blieb. Rasch schenkte sie sich noch etwas Tee ein und nahm die Tasse mit auf ihr Zimmer.

Obwohl sie wenig Erfahrung im Aufsetzen von Todesanzeigen hatte, wusste sie, dass sie kurz und prägnant sein mussten. »Am Montag, dem 27., verstarb hierselbst Mr. Theodore Davies, jüngster Sohn von Mr. Harold Davies und hingebungsvoller Ehemann. Ein Mann von großer Güte, warmherzigem Wesen und unübertroffener Besonnenheit, lebte und starb er, wie es einem demutsvollen Christen geziemte.«

Sie las den Text dreimal durch, überprüfte Zeichensetzung und Rechtschreibung und schob ihn dann in einen Umschlag, um ihn an die Zeitung zu schicken. Sie wollte schon den Umschlag versiegeln, als ihr einfiel, dass auch eine Vergütung beizulegen war. Die Zeitung würde die Annonce sicherlich nicht kostenlos drucken.

Wie teuer war es, den erfundenen Tod eines erfundenen Kanzleischreibers anzuzeigen?

Beatrice hatte keine Ahnung. Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, würde sein, die Anzeige persönlich aufzugeben. Das hieß, sie müsste sich allein durch London bewegen, was sie noch nie getan hatte. Bei dem Gedanken an ein solch kühnes Unterfangen überfiel sie sofort ein Anflug von Panik. Sie hatte sich immer wohl gefühlt in der Metropole, aber sie war auch nie ohne den Schutz ihrer Familie oder in Begleitung eines Dienstmädchens unterwegs gewesen.

Mit Frauen, die allein durch die Stadt gingen, hatte Tante Vera ihr zu verstehen gegeben, würde es ein schlimmes Ende nehmen.

Nun war ihre Tante nicht unbedingt ein Quell wohlüberlegter Ansichten, dennoch hatte Beatrice das Gefühl, dass eine gewisse Vorsicht durchaus ratsam war, selbst am helllichten Tag. Also durchsuchte sie ihre Garderobe nach dem am wenigsten auffälligen Kleidungsstück. Angesichts der allgemeinen Tristheit ihrer Garderobe fiel es ihr überraschend schwer, eine Entscheidung zu treffen. Nach einigem Nachdenken wählte sie das graue Promenadenkleid, das sie fünf Jahre zuvor zur Trauer ihres Großvaters mütterlicherseits getragen hatte. Ein schlichtes, schmuckloses Kleidungsstück, praktisch in seiner Zweckmäßigkeit, ihr selbst damit nicht unähnlich, jedenfalls eines, in dem sie, wenn überhaupt, kaum Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde.

Nachdem die Annonce verfasst und die Garderobe gewählt war, gab es keinen Grund mehr, das Unvermeidliche hinauszuzögern, weshalb sie ins Erdgeschoss zurückkehrte. Flora wartete schon im Empfangszimmer, Skizzenblock und Kohlestift lagen auf dem Beistelltisch bereit. Ungeduldig blickte sie auf, als ihre Cousine eintrat, die es anscheinend kaum erwarten konnte, sich entweder der Aufgabe zu stellen, das Äußere eines unbekannten Fremden einzufangen, oder über denselben mehr aus erster Hand zu erfahren. Sämtliche Informationen, die die Familie zusammengetragen hatte, stammten von Miss Otley, nachdem Beatrice sich geweigert hatte, mit ihnen, inklusive ihrer Tante, darüber zu reden. Denn das, gab Beatrice vor, wäre einfach zu schmerzhaft gewesen.

»Fangen wir an«, sagte Flora und erkundigte sich als Erstes nach Mr. Davies' Kopfform. War sie rund, oval oder quadratisch oder vielleicht interessanter und komplizierter, etwa in Form eines Herzens?

Beatrice schloss die Augen, dachte kurz nach und entschied sich für einen herzförmigen Kopf, da ihr dieser am schwierigsten wiederzugeben zu sein schien.

Erfreut nickte Flora und leitete zur Nase des Kanzleischreibers über.

»Er hatte einen ausgeprägten Nasenrücken«, sagte Beatrice mit Blick zur Büste eines Verwandten mit Adlernase, die auf einem Sockel am Fenster stand.

»Gut«, kam es ermutigend von Flora. »Und wie breit ist der Nasenrücken. Ist er sehr schmal? Hat er irgendwelche Hubbel oder Dellen?«

Beatrice dachte kurz nach und beschrieb die Breite als mittelschmal, was in ihren Ohren ziemlich unsinnig klang, aber Flora nickte nur zustimmend. »Und auf halber Höhe hatte er einen Höcker.«

Nach einer Stunde legte Flora mit einem Seufzen den Kohlestift auf den Tisch und verkündete, dass dies eine sehr gute erste Sitzung gewesen sei. Sie hielt die Skizze hoch, die einen Gentleman mit festen Lippen, freundlichen Augen, einem spitzen Kinn und einer fast federartigen Narbe zeigte, die sich über sein Gesicht zog. Er sah dem Bild, das sie in ihrem Kopf hatte, kein bisschen ähnlich, dennoch schien er ihr irritierenderweise vertraut.

Flora, die ihr Schweigen als Zustimmung auffasste, meinte, die Einzelheiten würde sie morgen verfeinern. »Wir sind nah dran. Ich sehe es an deinem Blick.«

Unsicher, was ihre Miene tatsächlich preisgab, nickte Beatrice und dankte ihrer Cousine für die Zeichnung. »Deine Mutter hat recht. Du bist eine talentierte Künstlerin«, sagte sie – nicht nur, weil es wirklich so war, sondern auch, weil sie sich ganz unwohl damit fühlte, die Zeit ihrer Cousine auf diese Weise zu verschwenden. Die Geschichte ihrer unglücklichen Liebe zu Mr. Davies war die aus kühler Berechnung ersonnene, erste und einzige Lüge, die sie jemals in ihrem Leben erzählt hatte und die völlig außer Kontrolle geraten war

Es sollte ihr eine heilsame Lehre sein. Alles, was man über eine Lüge wusste, war, wo sie begann, aber man konnte nie wissen, wo sie enden würde und welche zerstörerischen Unwägbarkeiten sie mit sich brachte.

Nachdem Beatrice also beschlossen hatte, nie wieder zu lügen, setzte sie sich augenblicklich über diesen Beschluss hinweg, täuschte Schwindelgefühle vor und gab an, sich hinlegen zu wollen, bis es ihr wieder besser gehe.

»Ach, du Arme«, sagte Flora und schürzte mitfühlend die Lippen. »Für dich ist das alles bestimmt sehr schwer. Um ehrlich zu sein, ich verstehe nicht, warum sich Mama so sehr auf diesen Mr. Davies konzentriert. Ihre Theorie, wir könnten von dem Mann, den du geliebt hast, mehr über dich erfahren als von den zwanzig Jahren, in denen wir mit dir zusammengelebt haben, erscheint mir nicht recht schlüssig. Dennoch, man muss ihr zugestehen, keiner von uns hat dir eine monatelange geheime Affäre mit einem ungeeigneten jungen Mann zugetraut, vielleicht hat sie also doch recht, und wir kennen dich überhaupt nicht.«

Diese Beobachtung war voll und ganz zutreffend und gleichzeitig völlig falsch. Allerdings wollte Beatrice darauf keine intelligente Antwort einfallen. Statt zu antworten, nickte sie daher nur und verließ das Zimmer. In ihrer Schlafkammer legte sie sofort ihr graues Trauerkleid an, wählte eine Schute von ebenso gedeckter Farbe, verknotete die Bänder unter dem Kinn und vergewisserte sich, dass ihr Gesicht an allen Seiten, mit Ausnahme von vorn, verdeckt war. Dann überlegte sie, auf wie viel sich die Kosten für die Kutsche und die Todesanzeige belaufen würden. Da ihr weder das eine noch das andere geläufig war, nahm sie sich vier Shilling, schloss ihren Pompadour, öffnete ihn gleich wieder und gab eine weitere Münze hinzu.

Vorsichtig trat sie aus dem Zimmer in den leeren Gang, eilte zur Treppe und ging federnden Schrittes die Stufen hinunter. Kurz blieb sie stehen, sah sich um – sie war immer noch allein – und erwog die jeweiligen Vorteile eines eiligen Davonhuschens oder eines gemessenen Schreitens. Sie entschied sich für Zweiteres und blieb abrupt kaum einen Meter vor der Tür stehen, als plötzlich Dawn aus dem Salon kam und sie fest damit rechnete, entdeckt zu werden. Der Diener aber glitt an ihr vorüber, als wäre sie gar nicht da, und verschwand im Speisezimmer.

Draußen überkam Beatrice die nächste Unsicherheit. Sie war so darauf versessen, das Haus zu verlassen, dass sie keinen Gedanken daran verschwendet hatte, was sie tun würde, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte. Direkt vor dem Haus eine Mietkutsche anzuhalten wäre der Gipfel der Dummheit gewesen, also ging sie zum nördlichen Ende des Platzes, an dem eine belebtere Durchgangsstraße vorbeiführte. Dort winkte sie ein Gefährt heran und wies den Kutscher an, sie zu den Redaktionsräumen der London Daily Gazette zu bringen. Es herrschte dichter, frühnachmittäglicher Verkehr, der noch zunahm, als sie sich The Strand näherten. Sie kam ohne Zwischenfall dort an, stieg aus und trat auf den belebten Bürgersteig vor dem Gebäude, das die Zeitung beherbergte. Hausnummer hundertzweiunddreißig war ein hohes, schmales, schlichtes Backsteingebäude mit Sprossenfenstern. Als sie eintrat, war sie überrascht über die überwältigende Stille, die im Inneren herrschte. Angesichts der heftigen Konkurrenz im Zeitungsgewerbe und den marktschreierischen Schlagzeilen, mit denen die Blätter um die Aufmerksamkeit der Leserschaft buhlten, hatte sie sich eine fieberhaft überreizte Umgebung vorgestellt, in der Redakteure auf Reporter einbrüllten, Reporter auf Setzer einbrüllten und Setzer auf die Drucker und deren laut dröhnende Druckmaschinen. Stattdessen traf sie auf ein Dutzend fleißige Männer, die still an ihren Schreibtischen in dem niedrigen Raum arbeiteten.

Da Beatrice sie nicht stören wollte, stand sie einen Moment lang etwas verlegen auf der Schwelle und setzte sich erst in Bewegung, als die Eingangstür hinter ihr aufflog und ein Mann laut »Annoncen!« rief.

Obwohl die Stimme durch den stillen Raum dröhnte, sah niemand auf, nur ein dunkelhaariger Mann mit Brille nickte dem Neuankömmling zu und bedeutete ihm mit einer Geste, näher zu treten.

Angesichts der Wirksamkeit dieser Methode rief Beatrice: »Todesanzeige!«

Zu ihrer Überraschung erzielte sie damit die erwünschte Wirkung. Der zuständige Redakteur hob den Arm, wenn auch nicht den Kopf. Beatrice ging zu ihm und wartete, dass er ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm, was er mit seiner ausgestreckten Hand tat. Da sie seine Geste nicht sofort verstand, erklärte sie ihm, dass sie für die morgige Ausgabe eine Todesanzeige aufzugeben wünsche, hielt aber sofort inne, als er mit den Fingern schnippte. Sie zog die Notiz aus ihrem Pompadour und reichte sie ihm.

Er überflog den Zettel, bestätigte, dass die Anzeige morgen erscheinen würde, und bellte ihr einen Betrag zu.

Beatrice gab ihm die Shillinge, wartete kurz, um sicherzugehen, dass er nichts weiter von ihr benötigte, und dankte ihm für seine Mühen.

Der gesamte Vorgang verlief schnell und zweckmäßig, und Beatrice, die sich dazu gratulierte, die schwierige Angelegenheit mit Mr. Theodore Davies und seiner ärgerlichen Narbe so leicht gelöst zu haben, schritt zielstrebig in Richtung Ausgang. Sie war kurz davor – keinen Meter mehr, eher einen halben –, als ein Gentleman mit makellosem Coup-au-vent-Haarschnitt und mustergültigem orientalischen Krawattenknoten durch die Tür gestolpert kam, einen kurzen Moment durch die Luft zu fliegen schien, den Mund aufriss und anscheinend etwas sagen wollte, aber keinen Ton herausbrachte und abrupt vor ihren Füßen zu Boden fiel.

Aus seinem Rücken ragte ein Dolch mit edelsteinbesetztem Jadegriff.

2

Obwohl sich Beatrice für einen generell gutherzigen und mitfühlenden Menschen hielt, musste sie als Erstes an sich selbst denken, als sie den Gentleman sah, der im Gebäude 132 Strand nun vor ihr auf dem Boden lag.

Sie dachte nicht darüber nach, wie bemerkenswert unwahrscheinlich es war, zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten mit einem schockierenden Todesfall konfrontiert zu werden, sie wunderte sich auch nicht, unter welch unglücklichem Stern sie geboren war, dass ständig Leichen ihren Weg pflasterten. Nein, ihre Gedanken waren sofort bei ihrer Familie und den Konsequenzen, die sich daraus ergeben würden, wenn bekannt würde, dass sie sich exakt am selben Tag in der Redaktion der London Daily Gazette aufgehalten hatte, an dem die Todesanzeige ihres ehemaligen Geliebten aufgegeben wurde. Würde ihr Onkel die beiden Informationen in Zusammenhang setzen und seine Schlüsse daraus ziehen?

Ja, alles woran Beatrice denken konnte, während sie zusah, wie das Blut den exklusiven burgunderroten Mantel des Dandys tränkte, war, dass ihre Tante niemals erfahren durfte, dass Mr. Davies eine reine Erfindung war.

»Würden Sie bitte zurücktreten, Miss, machen Sie den Weg frei«, wies jemand sie an. Die Stimme war streng, gebieterisch und etwas ungeduldig, als wäre da jemand verärgert, dass sie ihm den Blick auf das Mordopfer verstellte.

Es war, wie sie jetzt erkannte, der dunkelhaarige Mann, der am nächsten zur Tür saß. Er drängte sich an ihr vorbei, ging auf die Knie, drückte dem Opfer die Finger an den Hals und bestätigte, was nach Beatrice' Dafürhalten keiner Bestätigung mehr bedurfte. »Wir haben einen Toten! Toter im Eingang«, rief er seinen Kollegen in der Redaktion zu. »Der Mister hier ist tot, so mausetot wie meine Großtante Martha.«

Erneut wies er Beatrice an, zurückzutreten, aber sie war wie versteinert vor Entsetzen. Der Zeitungsmitarbeiter packte den Jadegriff des Dolchs, der die feingeschnitzte Form eines Pferdekopfs hatte und mit Rubinen und eleganten Ornamenten aus Perlen verziert war, und zog ihn beherzt aus dem Rücken des Mannes.

Beatrice japste erschreckt auf.

Weitere Männer kamen herbei, mehr als sich ihrer Meinung nach im Gebäude aufgehalten hatten, sie drängten sich um den am Boden liegenden Mann, sagten, sie solle zurücktreten, und schoben sie sanft immer weiter nach hinten, bis sie nur noch mit Mühe den Hinterkopf des toten Dandys erkennen konnte.

Stimmengewirr erfüllte den Raum, die Reporter stritten über das weitere Vorgehen: Wen sollten sie in Kenntnis setzen, was sollten sie über den dramatischen Vorfall schreiben, der sich im Eingang zu ihrer Redaktion ereignet hatte?

Ein wahrer Glücksfall, sagte einer von ihnen etwas pietätlos.

Jemand rief, man möge den Toten umdrehen, wer, konnte Beatrice nicht ausmachen, worauf zwei Reporter den Gentleman auf den Rücken drehten, damit sie sein Gesicht in Augenschein nehmen konnten.